Prof. Dr. Rudolf Taschner Mathematiker im Gespräch mit Petra

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Sendung vom 4.1.2010, 20.15 Uhr
Prof. Dr. Rudolf Taschner
Mathematiker
im Gespräch mit Petra Herrmann
Herrmann:
Willkommen zum alpha-Forum. Unser heutiger Studiogast ist Professor Dr.
Rudolf Taschner, Mathematiker an der Technischen Universität Wien. Von
unseren Journalistenkollegen in Österreich ist er 2004 zum "Wissenschaftler
des Jahres" gekürt worden, 2007 zum "Kommunikator des Jahres". In
Österreich spricht man von Ihnen als dem "Marcel Prawy der Mathematik".
Für unsere deutschen Zuschauerinnen und Zuschauer sei erklärt: Marcel
Prawy war ein wunderbar unterhaltsamer Professor für Musik und
Operngeschichte. Fühlen Sie sich geschmeichelt, mit ihm verglichen zu
werden?
Taschner:
Ja, schon. Er war zwar ein bisschen älter als ich und ist inzwischen leider
schon verstorben, aber wir waren sogar im selben Klub. Er war eine sehr
inspirierende und faszinierende Gestalt des Fernsehens, damals, als man
noch wirklich Bildungsfernsehen in großem Rahmen machte. Ich glaube, es
könnte auch eine Zukunft des Fernsehens sein, dass man das Bilden der
Bevölkerung als einen gewissen Wert erachtet.
Herrmann:
Sie haben sich ja ebenfalls der Volksbildung verschrieben: Sie arbeiten
nämlich nicht nur an der Universität, sondern Sie haben sich zum Ziel
gesetzt, die Mathematik auch als kulturelle Errungenschaft bekannt zu
machen, populär zu machen. Dazu haben Sie diverse Bücher geschrieben,
Ihr jüngstes Buch trägt den Titel "Rechnen mit Gott und der Welt". Andere
Bücher von Ihnen heißen "Zahl, Zeit, Zufall" oder "Der Zahlen gigantische
Schatten". Das ist alles schon sehr, sehr beeindruckend.
Taschner:
Der Ausdruck "gigantische Schatten" stammt von Schiller und kommt in der
"Bürgschaft" vor, denn der Damon sieht beim Zurückeilen "der Bäume
gigantische Schatten". Das ist also ein Zitat.
Herrmann:
Sie haben aber auch ganz modern im Internet das Projekt "math.space"
gegründet. Dort wird Mathematik anschaulich gemacht für Schüler jeden
Alters. Wie gehen Sie da vor?
Taschner:
math.space gibt es nicht nur im Internet, sondern zuerst und vor allem im
Museumsquartier in Wien. Das Museumsquartier ist eines der größten
Museumsareale der Welt und dort haben wir einen kleinen Platz und der
heißt "math.space": Dort wird die Mathematik in verschiedensten
Veranstaltungen als kulturelle Errungenschaft vorgestellt und nahegebracht,
und zwar kleinen Kindern bis hinauf zu den Erwachsenen; wir machen das
also von drei Jahren bis 103 Jahre. Es gibt im Internet dann sogenannte
Podcasts, in denen Vorträge von mir nachträglich angesehen und gehört
werden können, und zwar unter der Internetadresse "mathcast.org". Wir
zeigen dort, dass die Mathematik eigentlich der Beginn der Aufklärung ist.
Ich kann dazu als Beispiel eine kleine Geschichte erzählen. Im Mittelalter
mussten die Menschen noch zu Rechenmeistern laufen, um dort rechnen
zu lassen. Sie haben also Geld dafür bezahlt, dass ihnen so ein Meister
eine Rechnung durchführt. Wenn man so und so viele Weizensäcke
geerntet hat und so und so viele Knechte hat, wie viele Säcke hat dann
jeder Knecht erarbeitet? Dafür muss man dividieren können. Wie aber kann
man eine römische Zahl durch eine andere römische Zahl dividieren? Es ist
nämlich gar nicht so einfach, mit römischen Zahlen dergestalt zu rechnen.
Selbst das Multiplizieren von LXVII mit LVIII ist gar nicht so einfach. Dazu
gab es eben im Mittelalter die Rechenmeister, die für ihre Arbeit
selbstverständlich Geld verlangen konnten. Einer dieser Rechenmeister, ein
gewisser Adam Ries, hatte dann die Idee, man könnte den Leuten doch ein
neues Zahlensystem beibringen, nämlich die arabischen Zahlenzeichen.
Plötzlich konnte damit dann jeder selbst rechnen. Dadurch, dass nun alle
rechnen konnten, ist das Rechnen Allgemeingut geworden. Man musste
nun nicht mehr irgendjemandem glauben, der für seine Rechenkünste Geld
verlangte. Denn man musste das, was der ausgerechnet hatte, ja glauben,
weil man es selbst nicht überprüfen konnte. Stattdessen konnte nun jeder
selbst rechnen! Dieses war, wie auch Kant meinte, der Schritt aus der
Unmündigkeit heraus – und insofern war das bereits Aufklärung. Die
Mathematik stand dafür also Pate.
Herrmann:
Die Mathematik wollen Sie also mithilfe von Geschichten den Schülerinnen
und Schülern und auch Erwachsenen nahe bringen. Sie haben in mehreren
Veröffentlichungen geschrieben, die Mathematik würde falsch unterrichtet
werden und sei nur deswegen ein Angstfach. Wie sollte man denn die
Mathematik richtig unterrichten?
Taschner:
Nun ja, ich weiß zunächst einmal gar nicht, ob wirklich Mathematik oder
doch nur Rechnen unterrichtet wird, denn das ist ja doch etwas ganz
Verschiedenes. Ein Finanzbeamter z. B. betreibt keine Mathematik, aber er
rechnet viel bzw. er lässt die Maschinen viel rechnen. Am Ende ist die
Rechnung fertig und die Finanzbescheide werden zugestellt. Eigentlich ist
da nicht viel Wissenschaft dahinter und spannend ist das Ergebnis
höchstens dann, wenn man selbst den Steuerbescheid zugeschickt
bekommt. Aber in mathematischer Hinsicht ist darin nichts verborgen. Das
heißt also, man muss unterscheiden zwischen dem Rechnen und der
Mathematik. Bei einer Sprache sollte man ja auch unterschieden zwischen
der Grammatik und einem Gedicht. Man soll den Kindern selbstverständlich
das Rechnen beibringen, man soll ihnen beibringen, was Prozente
bedeuten, man sollte ihnen z. B. auch sagen: "Wenn du später als
Erwachsener mal einen Kredit aufnehmen wirst, dann bedenke, wie viel
genau du zurückzahlen musst. Denn das kann man wirklich alles ganz
genau ausrechnen." Das alles sollte man also den Kindern beibringen. In
Österreich wird im Moment etwas geprobt, bei dem wir hoffentlich auch
wirklich zu einem Ziel kommen: Es gibt bei uns inzwischen sogenannte
Standardbeispiele, die den jungen Menschen zum Abschluss ihres
zehnjährigen oder zwölfjährigen bzw. dreizehnjährigen Daseins als
Schülerin oder Schüler aufgedrückt werden. Sie müssen am Ende ihrer
jeweiligen Schulzeit also diese Standardbeispiele rechnen können. Das sind
Kompetenzen und Fähigkeiten, die man halt einfach haben muss in der
heutigen Zeit. Aber das hat gar nichts, wirklich gar nichts mit Mathematik zu
tun, denn das ist Ausbildung, aber nicht Bildung. Mathematik ist nämlich
das, was darüber hinausgeht. Denn die Zahlen selbst sind für einen
Mathematiker oder eine Mathematikerin eigentlich ziemlich egal. Die
einzelne Zahl sagt gar nichts! Was soll ich mit der Zahl 1003 schon groß
anfangen? 1003 ist für den Don Giovanni interessant, denn das ist die Zahl
der Spanierinnen, die er erobert hat. Aber als Zahl selbst ist 1003 nur ein
Schema, ein Fossil. Das Einzige, was man von dieser Zahl weiß, ist, dass
es damit nicht aufhört: Es kommt danach noch 1004, 1005, 1006 usw. usf.
Dieses Zählen ist nämlich ein Projekt, das nie zu einem Ende kommt. Jede
Zahl, die man sich einfallen lässt, wie z. B. fünf Milliarden und so und so
viele Millionen, ist an sich eine kleine Zahl. Denn es sind nicht nur fünf
Milliarden und so und so viele Millionen Zahlen davor, sondern es warten
noch unendlich viele Zahlen, die größer sind als diese Zahl, darauf, gezählt
zu werden. Wenn man fünf Milliarden mit fünf Milliarden multipliziert,
bekommt man, wie man annehmen würde, eine riesengroße Zahl. Aber
auch diese Zahl ist in Wirklichkeit klein, denn auch jenseits von dieser Zahl
sind unendlich viele Zahlen noch nicht gezählt und genannt. Dieses
Hingehen auf das Unendliche ist ein ganz neuer und anderer Gedanke als
z. B. bloßes Rechnen.
Herrmann:
Ist die Mathematik die Wissenschaft von der Unendlichkeit?
Taschner:
Die Mathematik ist in der Tat die Wissenschaft vom Unendlichen.
Herrmann:
Daniel Kehlmann hat zu einem Ihrer Bücher das Vorwort geschrieben. Wir
kennen Daniel Kehlmann vor allem als Autor des Bestsellers "Die
Vermessung der Welt". In diesem seinem Roman ist einer der beiden
Haupthelden der geniale Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Das ist
allerdings ein recht skurriler Zeitgenosse, der selbst in der Hochzeitsnacht
aus dem Bett springt, um eine mathematische Formel aufzuschreiben.
Mathematiker stehen bei uns generell ein wenig im Ruf des Skurrilen,
Weltfremden. Ist der Mathematiker so?
Taschner:
Vielleicht wollen wir Mathematiker auch ein bisschen so sein, ein bisschen
schrullig, ein bisschen weltfremd? Denn damit kann man sich ja auch ein
bisschen von der Welt und ihren Problemen und Abgründen eskamotieren
und in eine Wissenschaft hineintreten, in der wirklich alles sehr schön ist,
weil dort nämlich alles regelmäßig ist, weil alles geordnet ist, weil dort
"Kosmos" herrscht. Sie müssen nämlich bedenken, dass dieser Begriff
entstanden ist, weil die Menschen den Himmel betrachtet haben: Dort am
Himmel herrscht Ordnung – und "Kosmos" ist das griechische Wort für
etwas "Schönes". Es stammt z. B. das Wort "Kosmetik" auch davon ab.
Hier unten auf der Erde jedoch erleben wir Chaos. So ist es für einen
Mathematiker doch ganz gut, wenn er sagen kann: "Lassen wir das Chaos
mal beiseite, darum sollen sich die anderen kümmern, während ich mich
jetzt in meinen Kosmos hineinversetze und einfach über diese esoterischen
Dinge nachdenken werde!" Und das Komische ist: Wenn man lange
darüber nachdenkt, zeigt es sich, dass das, was man herausbekommt,
erneut mit dieser Welt zu tun hat. Man fällt also immer wieder auf diese Welt
zurück. Das ist etwas ganz Eigenartiges und manchmal so intensiv, dass
sich ein Physiker wie z. B. Eugene Wigner darüber gewundert hat, warum
es diese unreasonable effectivness of mathematics eigentlich gibt, also
diese unglaubliche Wirksamkeit der Mathematik in der Welt. Beim Licht ist
es z. B. so, dass sich die Photonen nach ganz eigenartigen
mathematischen Gesetzen bewegen: Wir wissen nicht, warum sie das so
tun, aber sie machen es und wir können diese Gesetze aufschreiben und
wir können das alles nachrechnen. Die Lichtteilchen gehorchen diesen
Gesetzen wie brave Bürger eines Staates – und es gibt keinen einzigen
Verbrecher unter diesen Photonen!
Herrmann:
Das ist schön. Was macht der Mathematiker eigentlich wirklich? Rechnet er
den ganzen Tag? Pascal hat ja einmal gesagt: "Ich rechne nur, um meine
Kopfschmerzen zu vergessen." Rechnen Sie gerne?
Taschner:
Das ist doch interessant: Pascal hat gerechnet, um seine Kopfschmerzen
zu vergessen, während die meisten Menschen sagen, dass Sie
Kopfschmerzen gerade deswegen bekommen, wenn sie rechnen müssen.
So eigenartig sind also wir Menschen. Das Rechnen mit Zahlen mache ich
gelegentlich schon noch: Ich mache das aber nur, um das zu üben, damit
ich das auch weiterhin einigermaßen gut kann. Ja, das kommt schon vor,
obwohl ich gar kein guter Kopfrechner bin. Ich kenne Leute, die viel, viel
besser sind im Kopfrechnen. Meine Frau z. B. ist unglaublich gut im
Schätzen und meilenweit besser als ich. Während ich immer noch
angestrengt nachdenke, weiß sie schon, wie viel das ungefähr ausmachen
wird, wenn man so und so viel investiert oder wenn man so und so viel
Prozent Gewinn haben wird. Das kann ich also gar nicht so gut. Aber es
kommt immer noch vor, dass ich, um den "Rost" im Hirn wegzubekommen,
ein bisschen rechne. In Wirklichkeit ist doch das Denken, das hinter dem
Rechnen steht, das Interessante. Und Nachdenken kann man immer: wenn
man im Wald und auf der Heide spazieren geht oder wenn man im
Kaffeehaus sitzt, was in Wien ja wunderbar möglich ist, denn dort kann man
lange, lange sitzen und bekommt immer ein neues Glas Wasser serviert,
sodass man weiterdenken kann. Das sind jedenfalls gute Quellen, um beim
langsamen Denken auch wirklich auf etwas zu kommen. Es gibt aber auch
Mathematiker, die unglaublich schnell denken. Zu dieser Sorte gehöre ich
jedoch nicht, ich bin einer, der ganz langsam denkt und nur behäbig durch
die Gegend zieht. Aber der große Mathematiker John von Neumann z. B.
konnte so schnell denken, dass andere ganz baff waren, wie geschwind er
seine Rechnungen vollzog. Nur die Computer waren noch schneller, aber
dafür hat er sie ja erfunden.
Herrmann:
Mathematik ist Denken, wie Sie sagen, und die Mathematik gilt ja auch so
ein bisschen als Königsdisziplin der Wissenschaften. Die Mathematik ist die
einzige universelle Sprache, die wir haben, denn sie wird überall auf der
Welt verstanden. Würde denn die Mathematik auch auf einem anderen
Stern verstanden werden? Angenommen, wir würden mit einer anderen
Zivilisation in Kontakt treten wollen: Würden wir das mit mathematischer
Hilfe tun müssen?
Taschner:
Der Mathematiker Hans Freudenthal, ein Schüler des großen holländischen
Mathematikers Luitzen E. J. Brouwer, der eine der gewaltigsten Gestalten
der Mathematik des 20. Jahrhunderts war, hat eine Sprache entworfen, die
er Lincos genannt hat, die "lingua cosmica", mit deren Hilfe man mit dem
"kleinen Prinzen" auf dem Asteroid B 612 sprechen könnte. Aber was sagt
man denn dem "kleinen Prinzen", wenn er so weit entfernt ist und man nur
Funkkontakt zu ihm hat? Wie kann man ihm mitteilen, dass das eigene
Herz auf der linken Seite schlägt? Er weiß ja nicht einmal, was ein Herz ist.
Wie könnte man also das Wort "Herz" übersetzen? Selbst die Wörter
"rechts" und "links" wären nur schwer zu übersetzen. Aber man könnte ihm
funken: bibib, also zwei Bibs. Dann bibibib, also drei Bibs und dann
bibibibibib, also fünf Bibs, dann 7 Bibs, dann 11 Bibs, dann 13 Bibs usw.
Wenn er das hört, wird er irgendwann kapieren: "Aha, da funkt jemand die
Primzahlen!" Denn die Primzahlen sind überall, sind auf der ganzen Welt
die gleichen. Dabei ist es an sich natürlich völlig uninteressant, dass die Zahl
17 eine Primzahl ist, aber dass die 17 in dieser Folge von Primzahlen
vorkommt, ist wichtig. Er weiß dann also: "Aha, da draußen im Weltall gibt
es also irgendeine Zivilisation, die die Primzahlen kennt. Wir könnten doch
mal damit anfangen, uns zu unterhalten." Man würde sich also zunächst
einmal über Primzahlen unterhalten, was ja ganz eigenartig ist, denn man
würde eben nicht über das Wetter oder so sprechen, sondern über die
Primzahlen. Das Wetter vergeht, die Primzahlen bleiben ewig, die bleiben
sogar dann ewig, wenn wir Menschen schon längst vergangen sind und in
diesem weiten Universum nur noch unsere Funksignale existieren. Auch
wenn das Universum vergangen ist: 65537 ist ewig eine Primzahl.
Herrmann:
Auch unser Alltag hat ja viel mit Mathematik zu tun. Man muss ja z. B. nur
einmal die Entwicklung der Digitalisierung betrachten, die rasante
Entwicklung der DVDs usw. Man hat fast den Eindruck, man kann
heutzutage alles auf der Welt mit Zahlen beschreiben. Gibt es denn auch
Dinge, die man nicht mit Zahlen ausdrücken kann?
Taschner:
Die Sache wird immer gefährlicher, gell? Denn es ist ja so, dass ich der
Ansicht bin, dass heute viel mehr gerechnet wird als je zuvor. Die Kameras
hier im Studio, die unser Gespräch aufnehmen, nehmen das nicht
irgendwie auf irgendwelchen Bildschirmen oder Bändern analog auf, auf
denen dieses Bild gespeichert wird. Nein, es wird alles digital
aufgenommen! All das, was man auf dem Fernsehschirm sieht, ist nichts
anderes als die Botschaft von Zahlen, die ausgerechnet worden sind.
Überall, wo wir hingehen, ist das so. Selbst dann, wenn wir einen banalen
Einkauf in irgendeinem Supermarkt tätigen, laufen diese Zahlen umher. Das
Interessante ist, dass heute zwar unfassbar viel gerechnet wird – denn
diese Maschinen rechnen ohne Ende –, aber keiner mehr selbst rechnen
kann. Wenn man jemanden fragt, wie eine Rechnung zustande gekommen
sei, dann bekommt man heute als Antwort: "Das hat der Computer so
errechnet! Der Computer hat mir das mitgeteilt." Das heißt, man tut so, als
wäre der Computer quasi der liebe Gott. Früher wurde vor dem Altar
Weihrauch geschwenkt, heute betet man die Maschine an, sie möge doch
hochfahren, damit man die richtigen Zahlen erfährt. Das heißt, wir sind den
Zahlen extrem verfallen – das ist ganz schlimm. "Was zählt?", fragt der
Politiker. "Wie rechnet sich das?", fragen die Leute. "Unsere Zahlen liegen
auf dem Tisch", wird in Diskussionen behauptet. Und wenn die Zahlen erst
einmal auf dem Tisch liegen, dann kann man nichts mehr dagegen tun,
denn diese Zahlen sind angeblich die Wahrheit.
Herrmann:
Aber Zahlen waren doch zunächst einmal nur Mittel zum Zweck. Der
Mensch hat sie dann aber sehr schnell symbolisch aufgeladen. Es gibt
Glückszahlen und Lieblingszahlen und schon in Goethes "Faust" gibt es
das "Hexeneinmaleins": "Du musst versteh'n! / Aus Eins mach Zehn, / Und
Zwei laß geh'n / Und Drei mach gleich, / So bist du reich..." So heißt es also
schon bei Goethe. Haben Sie denn auch eine bestimmte Lieblingszahl?
Taschner:
Um davor Ihre eigentliche Frage von soeben auf den Punkt zu bringen: Es
ist eben nicht alles Zahl, bei Gott nicht! Zahl ist nur ein
Oberflächenphänomen und die Welt ist doch ganz, ganz tief. Ja, es
kommen schon Lieblingszahlen vor in meinem Leben. Ich habe mir immer
schon die Zahl 313 als Lieblingszahl genommen. Das ist selbstverständlich
eine Primzahl, aber mich interessiert sie, weil diese Zahl auf dem
Autokennzeichen von Donald Duck zu lesen ist.
Herrmann:
Was hat Donald Duck mit Mathematik zu tun?
Taschner:
Nun ja, vielleicht doch ein bisschen. Sie müssen bedenken, dass er die
Ikone eines modernen Kunstwerks ist. Er ist nicht so geschaffen, wie die
Venus von Milo, die nach genauen Proportionen gemacht worden ist. Denn
es stecken natürlich auch wieder mathematische Gesetze dahinter, wie der
Mensch gebaut ist: Das ist alles nach dem Goldenen Schnitt gebaut. Der
Goldene Schnitt ist die Einteilung einer Strecke dergestalt, dass sich das
Verhältnis der Gesamtstrecke zum längeren Teilstück genauso verhält wie
das längere Teilstück zum kürzeren Teilstück. In diesem Goldenen Schnitt
steht z. B. das Verhältnis der Gesamtlänge der Venus von Milo zur Länge
von ihrer Fußsohle bis zum Nabel. Daher ist dann auch die Länge von der
Sohle bis zum Nabel und vom Nabel bis zur Stirn ebenfalls wieder im
Goldenen Schnitt. Selbst das Verhältnis von der Gesamtlänge des Kopfes
und der Länge vom Kinn bis zur Nasenwurzel befindet sich im Goldenen
Schnitt, genauso wie das Verhältnis der Länge vom Kinn bis zur
Nasenwurzel und der Länge von der Nasenwurzel bis zum Scheitel. Das ist
also sozusagen die klassische Schönheit. Und Donald Duck passt da nicht
hinein! Ihm kann man den Goldenen Schnitt antun, wie man will, er wird
nicht hineinpassen. Also ist er sozusagen das moderne Kunstwerk, denn
der moderne Künstler sagt sich: "Ich möchte doch einmal sehen, wie das
aussieht, wenn es anders ist." Trotzdem können wir uns mit Donald sofort
identifizieren: mit seinem Pech, mit seinen Schwierigkeiten, seine Neffen zu
erziehen, mit seinen Schwierigkeiten mit seinem Onkel usw. Wir wissen
nämlich: All das ist ja unsere Welt! Und trotzdem ist er völlig anders: Das
macht das Ganze so spannend und so süß. Und dann prangt eben auch
noch die Zahl 313 auf dem Nummernschild seines Autos, eines Autos, das
niemals zur Inspektion gebracht werden muss, weil es eh andauernd kaputt
ist.
Herrmann:
Sie haben es vorhin bereits erwähnt: Mathematik hat mit Aufklärung zu tun
und nicht mit Aberglauben, mit Glückszahlen usw. Die Mathematik hat also
mit der Aufklärung und mit der Beherrschung der Welt zu tun. In einem Ihrer
Bücher haben Sie diesbezüglich ein Datum genannt, nämlich den 28. Mai
585 vor Christus. Was hat da dieser Thales von Milet gemacht?
Taschner:
Es wurde selbstverständlich auch schon vor diesem 28. Mai 585 vor
Christus gerechnet. Ägyptische und babylonische Astronomen hatten ja
bereits den Kosmos erforscht. Dort, im Kosmos, hatten sie Mathematik
entdeckt, denn die Zahlen sind ja von den Sternen herabgekommen, indem
sie diese Rhythmen der Sternensysteme entdeckt haben: Wie ändert sich
die Phase des Mondes? Wie kommt der Sirius immer wieder über den
Horizont empor? Wie schauen die Rhythmen der Finsternisse von Mond
und von Sonne aus? Denn auch die Sonnenfinsternisse haben einen
Zyklus, und diesen Zyklus haben die babylonischen Astronomen genau
gekannt – aber niemandem verraten. Daher konnten sie dem Volk immer
sagen: "Morgen wird sich die Sonne verfinstern! Wir haben das von den
Göttern erfahren!" Und das Volk war begeistert, dass die Astronomen
Kontakt zu den Göttern haben. In Wirklichkeit jedoch haben sie nur
gerechnet, denn sie haben diesen Rhythmus gekannt.
Herrmann:
Erich von Däniken hatte also nicht recht, es hat dafür also keine
außerirdischen Wesen gebraucht, die haben einfach nur gerechnet damals.
Taschner:
Genau, die sind nicht notwendig: " Entia non sunt multiplicanda praeter
necessitatem", wie es in Wilhelm von Ockhams "Rasiermesser" heißt. Es
sind also keine außerirdischen Wesen notwendig für die Erklärung dessen,
was man z. B. damals schon auf die Sekunde genau wusste, nämlich,wie
lange eine Phase von einem Neumond bis zum nächsten Neumond dauert.
Das konnten diese babylonischen Astronomen eben einfach ausrechnen.
Der Thales nun muss sich da bei ihnen irgendwie liebfreund gemacht
haben, denn sie haben ihm mitgeteilt, wie dieser Rhythmus berechnet wird,
wie diese Chaldäische Periode bzw. diese Sarosperiode lautet. Thales
konnte dann also selbst auch ausrechnen, wann wieder eine
Sonnenfinsternis sein wird. Er hat dann gesehen, dass es eine Schlacht
geben wird und dass genau zum Zeitpunkt dieser Schlacht es erneut eine
Sonnenfinsternis geben wird. "Se non è vero, è ben trovato." Auch wenn
diese Geschichte nicht wahr sein sollte, ist sie doch gut erzählt. Er hat das
also einem der Schlachtenführer, wenn man so will, einem der damaligen
Politiker gesagt. Und es war eben damals schon so: Was man einem
Politiker sagt, erfährt in kürzester Zeit die ganze Welt. Insofern hat er also an
diesem 28. Mai im Jahr 585 vor Christus die Mathematik zu einer
öffentlichen Wissenschaft gemacht: Jeder kann Mathematik betreiben! Das
war die große Leistung der Griechen: "Wir lassen das nicht geheim, wir
verkünden das von den Dächern!"
Herrmann:
Er hat also der einen Partei der Schlacht diese Sonnenfinsternis
vorausgesagt, während die Soldaten der anderen Partei dachten, das wäre
ein Wink der Götter, sie wären zum Untergang verurteilt – und davonliefen.
Taschner:
So hat der Logos den Aberglauben besiegt. Denn die Mathematik ist, wenn
Sie so wollen, das Urbild des Logos. Und gleich darauf trat dann
Pythagoras auf, der gefragt hat: "Wieso kann man eigentlich rechnen?" Er
ist daraufgekommen, dass das daran liegt, dass wir die Zahlen als das
Urding aller Dinge verstehen können: Wer zählen kann, der versteht etwas,
was man nicht weiter hinterfragen kann! Man kann nämlich nicht fragen:
"Was meinst du eigentlich mit der 'Fünf'?" Die Antwort kann nur lauten:
"Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf. Das ist die Fünf und dahinter steckt nichts
weiter!" Die Zahl ist also wirklich etwas ganz Fundamentales. Der
Pythagoras schimpft dann auf all diejenigen, die diese schönen Zahlen, die
die Grundlage allen Verstehens bilden, verwenden, um armselige
Rechnungen und Bank- und Handelsgeschäfte durchzuführen. Er
empfindet alles, was diese Menschen machen, als schrecklich: Die würden
nur addieren und subtrahieren, während man in Wirklichkeit multiplizieren
müsse, weil das bei den Zahlen viel, viel interessanter sei. Diejenigen
Zahlen, die man eben nicht durch Multiplikation erhalten kann, sind die
Primzahlen und daher die Geheimnisvollsten von ihnen.
Herrmann:
Die Mathematik ist aber nicht nur von dem offensichtlich und ganz klar
Zählbaren fasziniert, sondern auch vom Zufall. Hier kommt nun die
Wahrscheinlichkeitsrechnung ins Spiel. Alle Leute wollen wissen, ob es
denn ein System gibt, mit dem man z. B. im Lotto oder auch im Roulette
gewinnen kann. Pascal hat einmal gesagt: "Es gibt ein System, aber
letztlich gewinnt immer die Bank!" Wie ist das? Kann man das ausrechnen?
Taschner:
Nun ja, man sagt ja Pascal nach, er habe das Roulette erfunden, was aber
eine Legende ist, die wohl nicht so ganz stimmt. Er hat zwar eine Arbeit
über das Roulette geschrieben, nämlich die "Histoire de la Roulette", aber er
hat damit Rollkurven gemeint, was eigentlich nichts mit dem Glücksspiel zu
tun hat. Aber man sagt ihm nach, dass er ein System gefunden habe, wie
man beim Roulette gewinnen kann: Wenn man immerzu nur auf Schwarz –
oder eben immerzu nur auf Rot – setzt, dann liegt die Chance, dass man
gewinnt, wenn man von der "Null" absieht, ja bei 50 Prozent, und wenn man
dann meinetwegen einen Dukaten auf Schwarz setzt, dann ist er halt weg,
wenn Rot kommt. Wenn also Rot kommt und der Dukaten weg ist, dann
muss man beim nächsten Spiel, bei dem man wieder auf Schwarz setzt,
den Einsatz verdoppeln. Das heißt, man setzt dann zwei Dukaten auf
Schwarz. Das System lautet also: Wenn man verliert, setzt man beim
nächsten Spiel den doppelten Einsatz. Wenn man mehrmals hintereinander
verloren hat, muss man eben 16, 32 oder gar 64 Dukaten auf Schwarz
setzen. Wenn man bei 64 Dukaten Einsatz dann endlich gewinnt, bekommt
man für seinen Einsatz 128 Dukaten. Was aber hat man insgesamt
gewonnen? Denn von diesen 128 Dukaten muss man ja abziehen, was
man bis dahin vergeblich gesetzt hatte. Man hat zuerst einen Dukaten,
dann zwei Dukaten, dann vier Dukaten, dann acht Dukaten usw. gesetzt
und verloren. Wenn man diese Dukaten alle zusammenzählt, dann kommt
man auf 127 Dukaten, die man bis dahin eingesetzt und gegen die Bank
verloren hat. Man hat also nach so vielen Spielen nur einen Dukaten
Reingewinn gemacht. Man kann ja nun immerhin sagen: "Langsam ernährt
sich das Eichhörnchen." Wenn man viel Zeit und eine große Geldbörse hat,
dann kann man dieses Spiel ziemlich lange auf diese Weise betreiben.
Wenn man mit diesem langsamen Zugewinn zufrieden ist, kann man also
mit dem permanenten Verdoppeln u. U. gewinnen. Aber die
Kasinogesellschaft macht nun Folgendes, sie sagt: "Wir wollen ja nicht,
dass Sie sich komplett verschulden! Sie dürfen also nicht allzu viel in einem
Spiel setzen und deswegen setzen wir einen Maximaleinsatz fest. Über
dieses Limit hinaus darf niemand setzen." Genau das macht dann aber
diese ganze Verdoppelungsmethode kaputt. Damit man beim Roulette
gewinnen kann, gibt es also nur drei Möglichkeiten. Einstein hat gesagt, die
einzige Chance zu gewinnen, besteht darin, dass man die Jetons aufhebt,
die auf dem Boden herumliegen. Aber da wird man nur wenig finden. Die
zweite Methode besteht darin, dass man vor dem Kasino steht und
Spielsysteme verkauft: Damit gewinnt man! Allerdings darf man nicht selbst
danach spielen, sondern darf sie nur verkaufen, was aber an sich kein sehr
anständiges Geschäft ist. Die dritte Methode ist, selbst ein Kasino zu
eröffnen, denn das Kasino gewinnt immer! Das Kasino gewinnt sicher!
Machen wir ein einfacheres Spiel, um das zu veranschaulichen. Nehmen
wir an, wir würden würfeln und ich biete ihnen 500 Euro, wenn Sie eine
"Sechs" würfeln. Das ist doch kein schlechtes Versprechen und jeder würde
mitmachen. Anders wird es natürlich, wenn ich sage: "Aber ich möchte,
dass Sie mir für jeden Wurf 100 Euro zahlen! Ihr Spieleinsatz, um spielen zu
dürfen, beträgt also bei jedem Wurf 100 Euro." Sie zahlen also 100 Euro,
und wenn Sie eine "Sechs" würfeln, dann bekommen Sie von mir 500 Euro.
Herrmann:
Das heißt, ich muss dann doch recht schnell die Sechs würfeln.
Taschner:
Ja, das würde ich Ihnen sehr empfehlen. Sie können natürlich irgendwann
einmal Glück haben, aber auf lange Sicht werde ich mit Sicherheit
gewinnen: Das ist genauso sicher, wie der Satz des Pythagoras richtig ist.
Der Schweizer Mathematiker Jakob Bernoulli hat festgestellt: Wenn man
dieses Spiel sehr, sehr lange spielt, dann wird man mit Sicherheit reich. Ich
weiß also, wie man reich wird. Und tatsächlich ist es so, dass auch die
Kasinos das genauso wie bei diesem einfachen Würfelspiel machen,
allerdings auf eine etwas komplizierte Art. Denn es ist ja klar: Der Würfel ist
so gebaut, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine "Sechs" kommt, genau
ein Sechstel ist. Ich gebe Ihnen aber nur das Fünffache Ihres Einsatzes,
wenn Sie eine "Sechs" würfeln. Ein bisschen was bleibt mir also immer,
genauer gesagt: sogar relativ viel. Und daher könnte man mit dieser
Methode ganz bestimmt reich werden: wenn man die Bank bzw. das
Kasino ist. Ich weiß auch ganz bestimmt, dass diejenigen, die das Spiel als
Spieler und nicht als Bank spielen, auf lange Sicht mit Garantie verlieren.
Wenn man nur lange genug spielt, verliert man auch im Kasino mit
Garantie. Wenn Sie nur kurz spielen und plötzlich gewinnen, dann gibt es
nur eine Bitte an Sie: "Spielen Sie nie mehr wieder!"
Herrmann:
Aber "Stein, Papier und Schere", dieses berühmte Knobelspiel, das
ebenfalls in einem Ihrer Bücher vorkommt, kann man sehr wohl spielen.
Gibt es auch hier ein System?
Taschner:
Ja, es gibt auch hier ein System, mit dem man zumindest nicht verlieren
sollte. Sagen wir mal, ich hätte ein System, das folgendermaßen aussehen
würde: Ich spiele zuerst Stein, dann Papier, dann Schere, dann wieder
Stein, dann wieder Papier, dann wieder Schere usw. Wenn Sie mir dabei
zusehen, werden Sie bald merken, wie ich spiele, welche Strategie ich habe
und es daher schon vorher wissen, was ich als Nächstes machen werde.
Selbst wenn ich etwas komplizierter vorgehe, also z. B. zuerst Stein, dann
Schere, Papier, Stein, Stein, Schere, Schere, Papier, Papier, Stein, Stein,
Stein usw. spiele, würden Sie irgendwann merken, nach welcher Strategie
ich spiele. Normalerweise spielen ja Kinder dieses Spiel in der Pause oder
in der Mathematikstunde, wenn ihnen fad ist. Aber wenn man mit Einsatz
spielt, wenn z. B. der Einsatz pro Spiel 1000 Euro beträgt, dann macht man
sich bestimmt die Mühe, sich die Spielzüge des Gegners aufzuschreiben.
Man kann dann sogar einen Computer programmieren, um herauszufinden,
wie der Gegner spielt und wie man dessen Strategie überwinden kann. Wie
kann man also gegen jemanden gewinnen, der immerzu versucht, die
eigene Strategie herauszufinden? Indem man ohne Strategie spielt! Das
heißt, man muss rein zufällig entweder Stein oder Papier oder Schere
spielen.
Herrmann:
Das heißt, man darf bei diesem Spiel eigentlich nicht denken.
Taschner:
Ja, aber das ist das Schwerste! Hier wirklich zufällig zu wählen, ist
außerordentlich schwierig. Sie müssten also eigentlich unter dem Tisch
einen versteckten Würfel haben und auswürfeln, was Sie spielen: Bei "Eins"
und "Zwei" spielen Sie "Stein", bei "Drei" und "Vier" spielen Sie "Schere" und
bei "Fünf" und "Sechs" dann eben "Papier". Je nachdem wie der Würfel fällt,
spielen Sie dann.
Herrmann:
Derjenige, der also absolut nicht denkt bei diesem Spiel, sondern alles vom
Zufall abhängig macht, unterläuft damit jedes System. Das ist doch für uns
Normalsterbliche sehr tröstlich.
Taschner:
Ja, das ist bei so manchem Spiel wirklich die beste Strategie: nicht denken!
Herrmann:
Mathematik und Statistik, das ist ein weiteres heißes Thema, über das viel
gesprochen wird. Churchill hat ja einmal gesagt: "Ich glaube nur den
Statistiken, die ich selbst gefälscht habe." Kann man denn heutzutage
statistischen Zusammenhängen vertrauen?
Taschner:
Churchill soll das so gesagt haben, ich glaube vielmehr, dass ihm das
einfach nur nachgesagt worden ist.
Herrmann:
Trotzdem wäre das aber ein schöner Satz.
Taschner:
Das hieße also, man dürfte nur Statistiken vertrauen, die man selbst
gemacht hat. Nun, wo kann man denn überhaupt Statistiken anwenden?
Das ist eine sehr tiefe Frage. Wir versuchen ja wirklich, alles auf Zahlen zu
reduzieren. Der Einzelne wird als Einzelfall gleichsam in die große Masse
eingebracht, was aber nichts daran ändert, dass man als Mensch selbst
trotzdem ein Einzelfall ist und bleibt. Die Statistik hilft einmal also bei der
einzelnen Krankheit gar nicht viel, wenn man selbst krank ist. Dem
Krankenhaus hingegen hilft die Statistik sehr viel, aber einem selbst, wenn
man persönlich betroffen ist, hilft sie eigentlich gar nicht. Was sagt es mir,
wenn mir der Arzt eröffnet, man müsse operieren und die Chance, nach der
Narkose möglicherweise nicht mehr aufzuwachen, sei ganz, ganz klein?
Wenn man dann aber doch betroffen ist, hilft einem diese statistische
Wahrscheinlichkeit gar nichts, weil man nun einmal nicht zu nur 0,1 Prozent
tot sein kann. Die Frage ist also sehr, sehr heikel, wozu man Statistiken
brauchen kann und wozu nicht, wem sie etwas nützen und wem nicht. Aber
es wird so viel Schindluder getrieben mit den Statistiken. Heftiges Rauchen
korreliert z. B. positiv mit Krebserkrankungen. Das hat natürlich einen
bestimmten Grund, denn die Rauchinhaltsstoffe erzeugen tatsächlich u. U.
Mutationen, die zum Krebs führen. Aber es gibt in Österreich im Burgenland
auch eine positive Korrelation zwischen der Häufigkeit, mit der sich dort
Störche auf den Dächern niederlassen, und der Geburtenrate. Das ist aber
noch kein Grund dafür, dass der Klapperstorch die Kinder bringt. Man kann
also mit Statistiken viel Sinnvolles oder wenig Sinnvolles anstellen. Wenn
man eine Statistik richtig "frisiert", dann kann man sogar begründen, dass
das viele Telefonieren mit dem Handy Karies erzeugt oder was auch immer
man gerade statistisch belegen möchte. Das heißt, man muss der Statistik
immer mit einer gewissen Vorsicht begegnen. Obwohl das Ganze ja auch
wirklich beeindruckend ist. Denken Sie nur einmal an einen
Bundestagswahlabend: Um 18.00 Uhr schließen die Wahllokale und um
18.01 Uhr wissen Sie schon ungefähr, wie ganz Deutschland gewählt hat.
Das ist doch großartig! Das ist ein Erfolg der Rechenkunst, der Kunst, etwas
vorausberechnen zu können: Da werden Wählerstromanalysen
durchgeführt, die man dann für alle weiter extrapoliert. Das ist unglaublich.
In den USA ist das sogar ganz gemein. Dort wird schon verkündet, wer der
neue amerikanische Präsident ist, wenn die Wahllokale in Hawaii noch gar
nicht geöffnet haben. Das heißt, man ging letztes Mal in Hawaii zum
Wählen und wusste doch schon längst, dass Obama zum neuen
Präsidenten gewählt worden ist. Hm, das ist schon ein bisserl schwierig,
denn dann stellt sich ja schon die Frage, was da das eigene Wahlverhalten
noch bedeutet gegenüber der Kraft der Statistik. Irgendwie ist das wirklich
nicht sehr schön. Man soll meiner Meinung nach der Statistik durchaus
einen großen Stellenwert beimessen, aber man muss eben auch sagen,
dass sie nicht alles ist. Denn den Einzelfall wird sie niemals betreffen. Aber
gerade der Einzelfall ist der, der das Interessante ist. Denn ich bin ja z. B.
nicht in die Durchschnittsfrau verliebt, sondern ich bin in eine bestimmte
Frau verliebt.
Herrmann:
Wie kommen Mathematiker eigentlich auf die Ideen, die Sie dann
weitertreiben? Geschieht das mittels Deduktion oder haben Sie auch mal
intuitive Eingebungen, sodass Ihnen plötzlich ein Gedanke durch den Kopf
schießt, von dem Sie sagen, dass Sie darüber weiter nachdenken sollten,
weil es dabei wirklich um etwas Interessantes geht?
Taschner:
Das Zweite ist das Richtige. Sie haben vorhin gesagt, die Mathematik sei
die Königin der Wissenschaft. Das nehmen wir natürlich dankbar zur
Kenntnis, denn es stimmt selbstverständlich. Der große Mathematiker
Grauer aus Göttingen hat jedoch auch einmal gesagt: "Mathematiker sind ja
gar keine Wissenschaftler, das sind Künstler!" Es ist auch tatsächlich so. Bei
einem mathematischen Kongress war einmal der große englische
Mathematiker und Zahlentheoretiker Harold Davenport anwesend. Er
wurde gefragt: "Sie haben jetzt diesen Kongress besucht und gehört, was
diese Leute alles vorgetragen haben. Wie hat es Ihnen denn gefallen?"
Davenport antwortete darauf: "Well, they did what could be done!" Und das
war ein vernichtendes Urteil. Denn das war einfach nicht interessant. In
anderen Wissenschaften mag so etwas die Regel sein, aber in der
Mathematik geht es nur um das Interessante, um das Überraschende. Wie
kommt aber ein Mathematiker auf das Überraschende? Das ist gar nicht so
einfach zu beantworten.
Herrmann:
Durch Intuition, Kreativität?
Taschner:
Ja, schon. Ich selbst bin ja nur ein kleines Licht, aber mein Lehrer hat mir
mal gesagt, er habe zwei Mal in seinem Leben wirklich das große Glück
gehabt, an so etwas geschnuppert zu haben. Das kommt wirklich nur ganz
selten vor. Der große Gauß, dieser schrullige Mann, wird von Kehlmann in
seinem Buch wunderbar geschildert: Gerade als er diese enormen
Zahnschmerzen hat, hat er sein großes Erlebnis, ein Erlebnis, von dem er
später sagen wird, dass das wirklich einzigartig gewesen sei in seinem
Leben und entscheidend für sein ganzes weiteres Leben – und das, obwohl
Gauß ja wirklich viele, viele Sachen entdeckt hat wie z. B. das Theorema
Aureum, Theorema Elegantissimum und diverse weitere großartige
Gesetze. Aber das wirklich Spannendste ist ihm eben damals knapp vor
seinem Abitur passiert: Er fand trotz seiner Zahnschmerzen heraus, dass
man das regelmäßige Siebzehneck mit Zirkel und Lineal konstruieren kann.
Das war wirklich eine Meisterleistung, weil es nach dem regelmäßigen
Fünfeck völlig unklar war, welches regelmäßige Primzahleck – also mit
Primzahlen als Eckenzahl – man noch konstruieren kann. Er ist eben darauf
gekommen, dass das Siebzehneck das nächste ist. Für ihn war das eine
Geistesgabe, die ihm Gott geschenkt hat. Kehlmann schildert, dass er bei
dieser Entdeckung riesige Zahnschmerzen hatte, was natürlich ein bisschen
erfunden ist. Gauß fand dann heraus, dass das nächste konstruierbare
Primzahleck das 257-Eck ist und danach erst wieder das 65537-Eck. Und
er schrieb, er wisse auch, nach welcher Formel das ginge. Aber weiter
führte er das nicht aus. Die Frage ist also, was dann das nächste
konstruierbare Primzahleck ist.
Herrmann:
Das bringt mich zur nächsten Frage: Kann man denn in der Mathematik
überhaupt noch etwas Neues entdecken? Ist unsere Welt nicht schon durch
und durch berechnet?
Taschner:
Nun, das nächste Primzahleck hat bis heute noch niemand
herausgefunden!
Herrmann:
Es gibt Theorien in der Mathematik, die ich komplett gar nicht mehr
verstehen: wenn es z. B. um Paralleluniversen, um multiple Universen, um
die Stringtheorie geht usw. Für mich als Normalmensch ist es völlig
unvorstellbar, wie man Dinge berechnen kann, von denen man gar nicht
weiß, ob es sie überhaupt gibt. Wie verhält sich der Mathematiker da?
Taschner:
Das, was Sie jetzt ansprechen, sind physikalische oder kosmologische
Vorstellungen, bei denen die Mathematik nur ein paar Hilfsmittel liefern
kann, aber das wirkliche "Vorstellen" betreiben dann die Physiker, wenn sie
sagen, sie wüssten, was das ist.
Herrmann:
Sie selbst sind ja ebenfalls Physiker.
Taschner:
Da gibt es z. B. diese Theorie, dass das Universum am Anfang aus Strings
bestand. Die "Ursuppe" war also quasi eine Nudelsuppe, in der sozusagen
diese Strings geschwommen sind. Aber das Ganze ist in der Tat nur sehr,
sehr schwer zu verstehen, das stimmt. Ich weiß nicht, ob die Leute das
wirklich …
Herrmann:
Kann man das noch rechnen?
Taschner:
Nein, man kann da nur noch ganz wenig rechnen. Ganz einfache Fälle
kann man ausrechnen, aber bei den weiteren wird gesagt: "Das wird schon
irgendwie gehen. Wir hoffen darauf, dass wir das eines Tages können. Wir
versuchen jetzt aber zuerst einmal, die einfachsten Prozesse zu verstehen.
Ansonsten müssen wir da schweigen." Aber es gibt auch in der Mathematik
solche Bereiche, in denen ich mich definitiv überhaupt nicht auskenne. Sie
müssen sich ja vorstellen, dass das Gebiet der Mathematik unvorstellbar
verzweigt ist. Ich kenne einen Kollegen, der über Klone forscht und mir
gelegentlich davon erzählt: Ich weiß bis heute noch nicht so genau, was so
ein Klon ist. Diese Klonforschung hat nichts mit der biologischen
Klonforschung zu tun, sie haben beide nur den Namen gemein. Es gibt in
der Mathematik Theorien über topologische Mannigfaltigkeiten, die derart
komplex sind, dass sie wirklich unvorstellbar sind. Lew Semjonowitsch
Pontrjagin, einer der großen Mathematik, soll blind gewesen sind und wohl
deswegen eine unglaubliche geometrische Vorstellungskraft entwickelt
haben. Das heißt, wenn man die Sinne weglässt, kann man sich u. U. sogar
etwas vorstellen, was man sich mit dem Augensinn nicht einmal denken
konnte. In diesem Fall bietet die Blindheit also einen gewissen Vorteil. Auch
Beethoven, der in den letzten Jahren seines Leben komplett ertaubt ist, hat
ja ganz am Schluss seines Lebens bei den letzten Streichquartetten
Sachen geschrieben, von denen man sagt, dass sie heute noch unfassbar
modern klingen. Warum? Weil er einfach die Grenzen der Musik, die das
Hören zu seiner Zeit bestimmten, locker übergangen ist. Es gibt also das
Unvorstellbare, das aber trotzdem in diesen Zeichen steckt. Und da lebt
man sich eben ein. Die Leute, die das können, spüren, was sie meinen.
Das zu vermitteln braucht halt immer eine gewisse Zeit. Und weil das so ist,
gehört man dann eben zum Zirkel derer, die wissen, während die anderen
nur zuschauen und sagen können: "Ja, gut, macht weiter. Wir klopfen euch
auch gerne und brav auf die Schulter!"
Herrmann:
Ich habe öfter mal mit Mathematikern gesprochen und dabei kam es immer
wieder zu solchen Sätzen wie: "Diese Gleichung ist schön! Dieser Beweis
ist schön!" Heißt "schön" auch "richtig"? Wir haben ja vorhin schon kurz vom
Goldenen Schnitt, vom Goldenen Rechteck gesprochen. Psychologen
haben festgestellt, dass ein Mensch dann, wenn er gebeten wird, ein
Rechteck zu zeichnen, intuitiv eine Art Goldenes Rechteck zeichnet. Sind
dem Menschen also bestimmte mathematische Gesetzmäßigkeiten quasi
eingeschrieben, die er deswegen als schön empfindet, weil sie auch richtig
sind?
Taschner:
Ja, richtig müssen sie schon sein, damit sie schön sind. Etwas Falsches als
schön zu bezeichnen, ist doch eine, sagen wir mal, sehr schwierige
Aufgabe. Aber richtig alleine reicht ja nicht aus.
Herrmann:
Nein? Das verstehe ich jetzt gar nicht.
Taschner:
Nein, richtig alleine reicht nicht aus.
Herrmann:
Das heißt, es gibt mehr als "richtig"?
Taschner:
Nein, ich meine nur: Richtig alleine reicht nicht aus, um schön zu sein. Es
gibt z. B. den sogenannten Vierfarbensatz, der recht einfach zu beschreiben
ist: Wenn man z. B. eine Landkarte von mehreren Binnenstaaten zu
erstellen hat und die einzelnen Staaten dabei so färben möchte, dass in
jedem Fall zwei nebeneinander liegende Staaten immer verschiedenfarbig
sind, dann reichen vier Farben aus, um eine solche Landkarte zu färben.
Um diesen Satz zu beweisen, musste man bis jetzt Computer bemühen. All
diese Beweise sind sehr, sehr lang und nach langer Rechnerei des
Computers durchzuführen. Eigentlich ist man daher in der mathematischen
Gemeinschaft der Ansicht, dass der Satz selbst zwar recht schön, aber sein
Beweis überhaupt nicht schön ist, weil man den Computer dazu verwenden
muss und daher die Details gar nicht wirklich erkennen kann. Man muss
also noch warten, bis man dafür einen wirklich schönen, den einsichtigen
Beweis findet.
Herrmann:
Der schöne Beweis ist also der einsichtige Beweis, der Beweis, der ganz
klar ist?
Taschner:
Ja, das ist der Beweis, von dem man sagt: "Es ist ja unglaublich, dass es so
leicht geht!" Ein schöner Beweis ist z. B. der Beweis von Euklid, dass selbst
die längste, die umfangreichste Liste von Primzahlen niemals vollständig
sein kann. Euklid sagt, dass über diese Liste hinaus immer noch eine
weitere Primzahl existiert. Warum ist eine Liste der Primzahlen niemals
abgeschlossen? Man muss nur alle Zahlen dieser Liste miteinander
multiplizieren – da kommt dann schon eine riesige Zahl heraus – und zum
Produkt aus diesen Zahlen einfach eine 1 hinzufügen. Die Zahl, die man
dadurch bekommt, ist durch keine einzige Primzahl von dieser Liste teilbar,
denn es würde immer eine 1 als Rest bleiben. Das heißt, diese riesengroße
Zahl, die man dadurch bekommt, hat entweder andere Primzahlen, die sie
teilt, oder sie ist selbst eine neue Primzahl. Damit ist bewiesen, dass diese
vorgelegte Liste von Primzahlen nicht vollständig ist. Dieser Beweis ist kurz,
aber ideenreich, und wenn man ihn einmal begriffen hat, sagt man sich:
"Das ist ja unglaublich! Dass das so einfach geht!" Wenn man diesen
Beweis aber nicht sofort begreift, dann sagt man: "Ich verstehe das immer
noch nicht! Was meint Euklid denn da?" Und dann gibt es plötzlich diesen
Sprung nach vorne in der Erkenntnis, wenn man ihn auf einmal versteht.
Man ist dann richtig begeistert, dass man das verstanden hat und sagt: "Ja,
dieser Beweis ist schön!" Schönheit hat also damit zu tun, dass etwas
plötzlich genau als stimmig, sonnenklar und evident erscheint, was vorher
opak und diffus war. Dieser Zugang, dieses Verstehenkönnen ist überhaupt
das Spannendste, was es gibt. Auch wenn man versucht, jemandem etwas
zu erklären, hat man ja ab und zu das Gefühl: "Ja, ich glaube, ich habe es
so rübergebracht, dass mein Gegenüber das verstanden hat." So eine
Erklärung, so eine Hilfe beim Verstehenkönnen geschieht bei mir so, dass
ich da ja selbst auch mit engagiert bin und selbst immer wieder nachdenke,
wie so ein Beweis wirklich geht. Ich unterrichte gerne an der Tafel immer
wieder dieselben Dinge, nämlich die Grundlagenfragen der Mathematik. Ich
versuche mir dabei immer selbst klar zu werden, warum das so ist, wie es
ist und wieso das so funktioniert. Das heißt, ich versuche selbst, auch
immer wieder neu zu verstehen. Denn das sind ja tiefe Dinge, um die es da
geht. Neu zu verstehen, dass 6 mal 7 42 ist, brauche ich nicht: Das ist
einmal gelernt, dann ist es da und fertig, aus. Das ist also zu einfach. Aber
schon beim Beweis des Euklids sieht es anders aus. Ich habe ihn soeben
noch einmal erzählt und bin schon wieder begeistert darüber, dass es so
einfach geht. Das ist schön.
Herrmann:
Sie unterrichten ja auch manchmal noch an Ihrer alten Schule, dem
Theresianum, Schüler.
Taschner:
Ja, das habe ich gemacht.
Herrmann:
Das ist doch ungewöhnlich für einen Universitätsprofessor. Macht es Ihnen
denn so viel Spaß, den Schülern z. B. beizubringen, wie einfach und schön
ein Beweis sein kann?
Taschner:
Ich war selbst auf dieser Schule, auf dem Theresianum, die 1746 von der
Landesherrin Österreichs, nämlich von Maria Theresia gegründet worden
ist. Ich habe dort gleichsam aus Dankbarkeit immer wieder einmal eine
Klasse unterrichtet. Das ist jetzt aber vorbei. Es war schon eine
Herausforderung für mich, das zu machen. Es war z. B. auch unglaublich
spannend für mich, wenn sie mal einen Fehler gemacht haben, denn ich
habe mich dann immer gefragt: Warum hat jemand so gedacht? Das ist
wirklich sehr interessant, denn Fehler sind lehrreich: Fehler sind für mich
lehrreich, um zu sehen, wie man etwas auch anders – allerdings falsch –
sehen könnte, um zu verstehen, dass der Gedanke, den man selbst als so
einfach ansieht, doch immer noch irgendwelche Haken und
Widerborstigkeiten in sich hat. Diese Haken und Widerborstigkeiten habe
ich dann immer wieder versucht auszuschließen, zu glätten usw. Das ist
schon eine spannende Aufgabe. Mathematik zu unterrichten ist in dieser
Hinsicht viel interessanter, als meinetwegen Biologie zu unterrichten. Was
sollte man da, wenn Sie so wollen, schon groß falsch machen? Bei der
Mathematik hingegen kann man im Unterricht unglaublich viel falsch
machen, sodass man sich als Unterrichtender sagt: "So, beim nächsten Mal
muss ich es ein bisschen besser machen." Darum höre ich auch nicht auf
zu unterrichten, wobei ich mich aber inzwischen ganz auf die Universität
beschränkt habe, denn das ist ein bisschen einfacher für mich. Da kann
man zwar auch viel falsch machen, aber die Studenten sind, wie ich fürchte,
weniger kritisch als die Schüler.
Herrmann:
Und aufs Bücherschreiben haben Sie sich ebenfalls verlegt. In Ihrem letzten
Buch lautet ein Kapitel "Mathematik und Fußball". Was haben denn diese
beiden Bereiche miteinander zu tun?
Taschner:
Ja, knapp bevor ich in diesem Buch über den Zusammenhang von
Mathematik und dem lieben Gott schreibe, denn das Buch trägt ja den Titel
"Rechnen mit Gott und der Welt", schreibe ich darin tatsächlich über die
Mathematik und den Fußball. Das ist ganz interessant, denn schon alleine
der Ball beim Fußball ist eine recht eigenartige Sache: vor allem dieser
klassische Fußball, der aus diesen schwarz-weißen Vielecken besteht. Das
ist schon eine eigenartige geometrische Figur. Wie kommt dieser runde Ball
eigentlich zustande? Denn das ist ja keine ganz exakte Kugel wie z. B. eine
Seifenblase. Nein, das ist ein Ding, das aus verschiedenen Teilstücken
zusammengenäht ist und eben nicht exakt kugelförmig ist. Erst durch das
Aufblasen wird dieses Ding einigermaßen kugelförmig. Wenn man einen
solchen Fußball nicht aufbläst, hätte man ein dreidimensionales Ding vor
sich in der Form eines Polyeders. Der Polyeder wird auch Vielflach genannt.
Aus wie vielen Flächen, aus wie vielen Ecken und Kanten besteht also ein
Fußball? Wie sind die einzelnen Flächen überhaupt zusammengesetzt? An
dieser Stelle komme ich dann auch auf eine Theorie zu sprechen, die auf
den großen griechischen Philosophen Platon zurückgeht, der erkannt hat,
dass die Welt aus solchen Vielflachs besteht, nämlich aus fünf Stück. Platon
hat eigentlich nur an vier geglaubt, das Fünfte ist dann durch Aristoteles
hinzugekommen: die quinta essentia, also die Quintessenz, das fünfte
Element. Es gibt also diese fünf Polyeder und eines davon ist ein
sogenanntes Ikosaeder: Wenn man von einem Ikosaeder die Ecken
abschneidet, bekommt man plötzlich den Fußball. Der Fußball ist, wenn Sie
so wollen, die Welt: die Welt, mit der man spielt. Ein Spiel mit einem Fußball
ist also sozusagen ein Spiel mit der ganzen Welt, und wenn der Ball hin und
her fliegt, dann sieht man, wie sich das Schicksal hin und her bewegen
kann. Und manchmal gleitet er sogar in ein Tor.
Herrmann:
Wir sehen, die Mathematik ist keine weltabgewandte, nur abstrakte
Wissenschaft, sondern sie hat viel mit unserem Alltagsleben zu tun, quod
erat demonstrandum, was zu beweisen war. Eine allerletzte kurze Frage:
Sie sprechen ja auch Russisch und mir selbst ist aufgefallen, denn auch ich
habe diese Sprache mal gelernt, dass der Plural im Russischen erst nach
der Zahl 4 kommt. "Vier Stunden" würde also noch im Singular ausgedrückt
werden, "fünf Stunden" hingegen im Plural. Warum stellt man sich im
Russischen die "Vier" als Einzahl vor und die "Fünf" als Mehrzahl?
Taschner:
Im Russischen ist die Einzahl bis zur "Vier" in der Tat eigenartig, denn es
heißt, übersetzt, tatsächlich: eine Stunde, zwei der Stunde, drei der Stunde,
vier der Stunde, fünf der Stunden, sechs der Stunden. Das geht dann so
weiter bis 20. Das ist meines Erachtens deswegen so, weil man erst ab der
Zahl "Fünf" wirklich zu zählen beginnen muss. "Eins" muss man nicht
zählen, bei der "Zwei" sehe ich auch, dass da meinetwegen zwei Hände da
sind, bei "Drei" ist es genauso. Vier Dinge kann man als vier Dinge
sozusagen immer noch sofort erkennen: Das geht gerade noch.
Herrmann:
Auch Affen können bis vier zählen.
Taschner:
Ja, das stimmt. Ab der Zahl "Fünf" muss man als Mensch wirklich zu zählen
anfangen, da reicht der Blick, die Anschauung nicht mehr aus. Mit "Fünf"
beginnt also die Welt, gezählt zu werden.
Herrmann:
Herr Professor Taschner, ich bedanke mich ganz herzlich für das
aufschlussreiche Gespräch.
Taschner:
Ich danke Ihnen.
Herrmann:
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, ich wünsche Ihnen noch einen
angenehmen Tag und viel Spaß mit der Mathematik.
© Bayerischer Rundfunk
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