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10.04.2012
Gericht
Verwaltungsgerichtshof
Entscheidungsdatum
10.04.2012
Geschäftszahl
2012/06/0021
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
2012/06/0023
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kail und den Hofrat
Dr. Waldstätten, die Hofrätin Dr. Bayjones, den Hofrat Dr. Moritz sowie die Hofrätin Mag. Merl als Richter, im
Beisein des Schriftführers Mag. Zöchling, über die Beschwerden 1.) der Stadtgemeinde S, vertreten durch
Hohenberg Strauss Buchbauer Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Hartenaugasse 6 (Beschwerde
Zl. 2012/06/0021) sowie 2.) der I A in S, vertreten durch Mag. Wolfgang Leitner, Rechtsanwalt in 8160 Weiz,
Schulgasse 1, gegen den Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom 6. Dezember 2011, Zl. FA13B12.10-S433/2011-3, betreffend eine Bausache (mitbeteiligte Partei in beiden Beschwerdeverfahren: M M in W),
zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Steiermark hat der Erstbeschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 und
der Zweitbeschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 jeweils binnen zwei Wochen bei
sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem am 22. Februar 2011 bei der beschwerdeführenden Gemeinde eingebrachten Baugesuch vom
28. Jänner 2011 kam die Zweitbeschwerdeführerin um die Erteilung der baubehördlichen Bewilligung für die
Errichtung eines Wohnhauses mit fünf Wohneinheiten inklusive Nebengebäude (nach Abbruch eines
bestehenden Hauses) auf einem Grundstück im Gemeindegebiet ein. Ein Bebauungsplan besteht nicht.
Die mitbeteiligte Partei ist Miteigentümerin eines unmittelbar angrenzenden Grundstückes und erhob
rechtzeitig Einwendungen gegen das Vorhaben; soweit für das Beschwerdeverfahren erheblich, sprach sie sich
gegen die vorgesehenen Balkone an der ihrem Grundstück zugewandten Gebäudefront aus.
Der Bürgermeister erteilte mit dem erstinstanzlichen Bescheid vom 7. April 2011 die angestrebte
Baubewilligung mit verschiedenen Vorschreibungen und erachtete (in der Begründung des Bescheides) die
Einwendungen der Mitbeteiligten als unbegründet. Zur Begründung heißt es dazu nach Hinweis auf
§ 13 (Abs. 2) und § 4 Z 29 Stmk. BauG, dass als Grenzabstand nicht der Abstand zur Vorderkante eines
Balkones, sondern der zur jeweiligen Gebäudefront gelte. Bei der Breite zur Festlegung der Balkone "werde
jedoch dann, wenn die Gebäudefront bereits an den Mindestgrenzabstand zum Nachbarn heranreiche, § 12 Stmk.
BauG angewendet, der nähere Bestimmungen zur Zulässigkeit von Bauteilen vor der Straßenflucht-, Baufluchtoder Baugrenzlinie enthalte. Entsprechend § 12 Abs. 1 Z 2 leg. cit. dürften Balkone u. dgl. bis 1,50 m diese
Linien überragen. Daraus ergebe sich, dass der Balkon über dem Erdgeschoß mit 1,50 m den Mindestabstand
von 3 m überragen dürfe, und der Balkon über dem ersten Obergeschoß den Mindestabstand von 4,0 m ebenfalls
um 1,50 m. Das Vorhaben entspreche dem.
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Verwaltungsgerichtshof
10.04.2012
Die Mitbeteiligte erhob Berufung, in der sie geltend machte, die Begründung des erstinstanzlichen
Bescheides übergehe die Terrasse des Dachgeschoßes. Diese reiche zu nahe an ihre Grundgrenze.
Mit Berufungsbescheid des Gemeinderates vom 23. Mai 2011 wurde der Berufung keine Folge gegeben
und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt. Zusammengefasst schloß sich die Berufungsbehörde der Beurteilung
der Behörde erster Instanz an.
Die Mitbeteiligte erhob Vorstellung, in der sie geltend machte, dass auch im Berufungsbescheid die
Dachterrasse nicht erwähnt werde, die den erforderlichen Grenzabstand zu ihrem Grundstück nicht einhalte.
Mit dem angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde der Vorstellung Folge gegeben, den
Berufungsbescheid behoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an die Berufungsbehörde
verwiesen.
Nach Darstellung des Verfahrensganges und Wiedergabe gesetzlicher Bestimmungen heißt es zur
Begründung, nach den Planunterlagen weise das projektierte dreigeschossige Gebäude, bezogen auf seine
Außenwände (ohne vorspringende Bauteile), folgende Grenzabstände zur Grundgrenze zum Grundstück der
Mitbeteiligten auf: im Erdgeschoß und im 1. Obergeschoß 4 m, im zweiten Obergeschoß 6 m.
Die erforderlichen Grenzabstände würden durch herausragende Bauteile, nämlich durch den Dachvorsprung
und den Balkon im zweiten Obergeschoß, unterschritten. Der Dachvorsprung erstrecke sich auf die volle
Gebäudebreite und weise eine Auskragung von 2 m auf. Der Balkon im zweiten Obergeschoß weise an dieser
Gebäudeseite eine Länge von rund 9,5 m, einen Vorsprung von 1,5 m und eine Brüstungshöhe inklusive
Balkonplatte von 1,7 m auf. Die beurteilungsrelevante Gebäudeseite sei im zweiten Obergeschoß 8,6 m breit.
Zur Beurteilung der Frage, ob der erforderliche Grenzabstand eingehalten werde, sei die Frage erheblich, ob
diese Auskragungen bzw. Vorsprünge "das gewöhnliche Ausmaß" im Sinne des § 4 Z 29 Stmk. BauG einhielten
oder überschritten.
Dachvorsprünge dienten typischerweise als Witterungsschutz für die Fassade eines Gebäudes und wiesen
im Allgemeinen Auskragungen im Bereich zwischen 60 cm und 100 cm auf. Im konkreten Fall diene der sich
auf die volle Gebäudebreite erstreckende Dachvorsprung mit einer Auskragung von 200 cm dagegen
ausschließlich als Überdachung für die im 2. Obergeschoß befindliche Balkonanlage (im Plan als Terrasse
bezeichnet). Dem Dachvorsprung komme folglich der Charakter eines Vordaches zu. Vordächer hingegen
dienten typischerweise der Überdachung eines Eingangs oder dergleichen und wiesen daher im Allgemeinen
eine sehr beschränkte Ausdehnung entlang einer Gebäudefassade auf. Da das Vordach im gegenständlichen Fall
über die gesamte Gebäudebreite reiche, sei davon auszugehen, dass die betrachtungsrelevante 2-m-Auskragung
das gewöhnliche Ausmaß eines Vordachs überschreite und somit die Vertikalebene entlang des Dachrandes
(Dachvorsprunges) als Gebäudefront heranzuziehen sei. Davon ausgehend betrage der im Plan dargestellte
Grenzabstand des 2. Obergeschosses (Dachgeschosses) 4 m. Entsprechend der Abstandsbestimmung des § 13
Abs. 2 Stmk. BauG habe der erforderliche Grenzabstand für dieses Geschoß jedoch 5 m zu betragen.
Der Balkon selbst sei länger als die eigentliche beurteilungsrelevante Gebäudeseite und weise zudem in der
Ansicht eine Höhe von rund 60 % der Geschoßhöhe auf. Typischerweise seien Balkone merklich kürzer als das
Gebäude selbst. Die Länge des Balkons überschreite daher das gewöhnliche Ausmaß. Hinzu komme, dass die
Ansichtshöhe des Balkons (Brüstungshöhe inklusive Balkonplatte) mit 1,70 m (= 60 cm der Geschoßhöhe) das
Maß einer typischen Ansichtshöhe (beispielsweise 1,0 m Höhe für die Absturzsicherung + 0,1 m Spalt zwischen
der Absturzsicherung und Balkonplatte + 0,20 m für die Balkonplatte selbst = 1,30 m) erheblich überschreite. Es
sei daher auch im Fall der Ansichtshöhe von einer deutlichen Überschreitung des gewöhnlichen Ausmaßes
auszugehen. Es ergebe sich daher, dass die Gebäudefront in der Ebene der Balkonvorderkante anzusetzen sei.
Davon ausgehend betrage der im Plan dargestellte Grenzabstand des 2. Obergeschosses 2,5 m, der gesetzliche
Mindestabstand für dieses Geschoß habe allerdings, wie bereits dargelegt, 5 m zu betragen.
Zusammenfassend ergebe sich somit, dass sowohl der Dachvorsprung als auch der Balkon des 2.
Obergeschoßes das gewöhnliche Ausmaß eines Vordaches bzw. Balkons überschritten, die Gebäudefront
folglich entlang des Dachvorsprunges bzw. in der Ebene der Balkonvorderkante anzusetzen sei und der
Grenzabstand im Bereich des 2. Obergeschosses lediglich 2,5 m betrage. Damit werde der erforderliche
Grenzabstand unterschritten, sodass Rechte der Vorstellungswerberin verletzt worden seien.
Dagegen richten sich die vorliegenden Beschwerden wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und
Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und in (gesonderten)
Gegenschriften die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerden beantragt.
Auch die mitbeteiligte Partei hat eine Gegenschrift erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Im Beschwerdefall ist das Steiermärkische Baugesetz 1995, LGBl. Nr. 59 (Stmk. BauG), in der Fassung der
Novelle LGBl. Nr. 49/2010 anzuwenden.
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Verwaltungsgerichtshof
10.04.2012
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist das Mitspracherecht des Nachbarn im
Baubewilligungsverfahren in zweifacher Weise beschränkt: Es besteht einerseits nur insoweit, als dem Nachbarn
nach den in Betracht kommenden baurechtlichen Vorschriften subjektiv-öffentliche Rechte zukommen, und
andererseits nur in jenem Umfang, in dem der Nachbar solche Rechte im Verfahren durch die rechtzeitige
Erhebung entsprechender Einwendungen wirksam geltend gemacht hat (vgl. das Erkenntnis eines verstärkten
Senates vom 3. Dezember 1980, Slg. Nr. 10.317/A, uva.). Das gilt weiterhin auch für den Nachbarn, der i.S. des
§ 27 Stmk. BauG die Parteistellung behalten hat.
Gemäß § 26 Abs. 1 Stmk. BauG kann der Nachbar gegen die Erteilung der Baubewilligung Einwendungen
erheben, wenn diese sich auf Bauvorschriften beziehen, die nicht nur dem öffentlichen Interesse, sondern auch
dem Interesse der Nachbarn dienen (subjektiv-öffentlich-rechtliche Einwendungen). Das sind Bestimmungen
über
"1. die Übereinstimmung des Vorhabens mit dem Flächenwidmungsplan und einem Bebauungsplan, soweit
damit ein Immissionsschutz verbunden ist;
2. die Abstände (§ 13);
3. den Schallschutz (§ 43 Abs. 2 Z. 5);
4. die Brandwände an der Grundgrenze (§ 51 Abs. 1);
5. die Vermeidung einer Brandgefahr, einer sonstigen Gefährdung oder unzumutbaren Belästigung (§ 61
Abs. 1, § 63 Abs. 1 und § 65 Abs. 1);
6.
die Baueinstellung und die Beseitigung (§ 41 Abs. 6)."
§ 4 Stmk. BauG enthält Begriffsbestimmungen; danach bedeutet
"7.
Baufluchtlinie: Linie, in die eine Hauptflucht oder eine Kante eines Bauwerkes straßenseitig zu
stellen ist;
9.
Baugrenzlinie: Linie, die durch oberirdische Teile von Gebäuden nicht überschritten werden
darf; für Nebengebäude können Ausnahmen festgelegt werden;
29.
Gebäudefront: Außenwandfläche eines Gebäudes ohne vorspringende Bauteile, wie
z.B. Balkone, Erker, Vordächer jeweils in gewöhnlichen Ausmaßen; an Gebäudeseiten ohne Außenwände
gilt die Vertikalebene entlang des Dachrandes als Gebäudefront;
55.
Straßenfluchtlinie: die Grenze der bestehenden oder künftigen öffentlichen Verkehrsfläche;"
Die §§ 12 und 13 Stmk. BauG lauten auszugsweise:
"§ 12
Bauteile vor der Straßenflucht-, Bauflucht- oder Baugrenzlinie
(1) Sofern ein Bebauungsplan nichts anderes bestimmt, dürfen folgende Bauteile über die Straßenfluchtoder Baugrenzlinie vortreten:
1. Zierglieder, Gebäudesockel, Schaufenster u.dgl. bis 20 cm, bei Gehsteigen über 2,0 m Breite bis 40 cm;
2. Hauptgesimse, Dachvorsprünge, nach außen öffenbare Fensterflügel, Gitter, Beleuchtungskörper,
Werbeeinrichtungen u. dgl. bis 1,0 m, Balkone, Erker, Schutzdächer, Markisen u.dgl. bis 1,5 m; sie müssen
jedoch mindestens 4,5 m über der Verkehrsfläche liegen; über Gehsteigen mit einer Breite von über 2,0 m
genügt eine Mindesthöhe von 3,0 m;
3. Luftschächte, Lichteinfallsöffnungen, Kellereinwurföffnungen, Putzschächte u.dgl. bis 1,0 m.
(2) Für Bauteile untergeordneten Ausmaßes sind Überschreitungen zulässig.
(3) An Bauten, die zum Zeitpunkt der Festlegung der Baufluchtlinie schon bestehen und ganz oder teilweise
vor der Baufluchtlinie liegen, dürfen an den vor der Baufluchtlinie liegenden Teilen nur Instandsetzungsarbeiten
und innere Umbauten vorgenommen werden."
"§ 13
Abstände
(1) Gebäude sind entweder unmittelbar aneinander zu bauen oder müssen voneinander einen ausreichenden
Abstand haben. Werden zwei Gebäude nicht unmittelbar aneinandergebaut, muß ihr Abstand mindestens so viele
Meter betragen, wie die Summe der beiderseitigen Geschoßanzahl, vermehrt um 4, ergibt (Gebäudeabstand).
(2) Jede Gebäudefront, die nicht unmittelbar an einer Nachbargrenze errichtet wird, muß von dieser
mindestens so viele Meter entfernt sein, wie die Anzahl der Geschosse, vermehrt um 2, ergibt (Grenzabstand).
(3) …"
Im Beschwerdefall ist strittig, ob das projektierte Gebäude an der dem Grundstück der Mitbeteiligten
zugewendeten Seite den erforderlichen Grenzabstand einhält; die belangte Behörde hat dies wegen der
Dimensionen des Dachvorsprunges sowie des Balkons im zweiten Obergeschoß verneint. Maßgebliche
Rechtsgrundlagen hiezu sind § 13 Abs. 2 iVm § 4 Z 29 Stmk. BauG. Diesbezüglich kommt der Mitbeteiligten
als Nachbarin nach dem Katalog des § 26 Abs. 1 Stmk. BauG ein Mitspracherecht zu.
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Verwaltungsgerichtshof
10.04.2012
Die Gemeindebehörden haben sich bei ihrer Beurteilung allerdings auch entscheidend auf § 12 Stmk. BauG
gestützt. Dazu ist festzuhalten, dass solche Baulinien weder verordnet noch (etwa in einem Grundlagenbescheid
gemäß § 18 leg.cit.) festgelegt wurden. Der Argumentation im erstinstanzlichen Bescheid (die auch im
Berufungsbescheid übernommen wurde) ist zunächst entgegenzuhalten, dass sich § 12 Abs. 1 Stmk. BauG
(betreffend die Zulässigkeit des Vortretens bestimmter Bauteile) nur auf Straßenflucht- und Baugrenzlinien
bezieht, nicht auch auf Baufluchtlinien (wie in den gemeindebehördlichen Bescheiden angenommen). Wäre zum
Grundstück der Beschwerdeführerin eine Baugrenzlinie festgelegt worden, bedeutete dies nur, dass diese durch
oberirdische Teile von Gebäuden nicht überschritten werden dürfte (soweit nicht die Ausnahmen des § 12 zum
Tragen kommen), nicht aber, dass ohne Rücksicht auf die Abstandsbestimmungen des § 13 leg. cit. jedenfalls an
diese Linie herangebaut werden dürfte; vielmehr sind auch bei der Festlegung einer Baugrenzlinie die
Abstandsbestimmungen des § 13 leg. cit. einzuhalten. Anzumerken ist schließlich, dass dem Nachbarn mangels
Aufzählung im Katalog des § 26 Abs. 1 Stmk. BauG kein Mitspracherecht hinsichtlich der Einhaltung der
Bestimmungen des § 12 leg. cit. zukommt (siehe dazu das hg. Erkenntnis vom 8. Mai 2003, Zl. 2003/06/0051).
Zu § 4 Z 29 leg. cit. hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach ausgesprochen (siehe dazu die
hg. Erkenntnisse vom 30. März 2004, Zl. 2003/06/0059, vom 9. September 2008, Zl. 2007/06/0005, oder auch
vom 27. Jänner 2009, Zl. 2008/06/0149), dass diese Bestimmung keine absoluten Maße (wie etwa im § 12 leg.
cit.) normiert, mit welchen solche Bauteile in den Grenzabstand ragen dürfen, noch auch konkrete relative Maße
(beispielsweise die Abmessung solcher Bauteile im Verhältnis zu einer Höhe oder Länge der Gebäudefront).
Unzulässig sind "vorspringende Bauteile", die so ausgeformt sind, dass sie gleichsam als "vorgeschobene
Gebäudefront" in Erscheinung treten. Weiters ist zu bedenken, dass es sich dabei um eine Ausnahmebestimmung
handelt, die im Allgemeinen restriktiv auszulegen ist. Dabei darf auch nicht übersehen werden, dass es sich bei
den Abstandsbestimmungen um Schutzvorschriften handelt, die eine gehörige Belichtung und Belüftung der
Gebäude sicherstellen sollen. Ob ein Bauteil als "vorspringender Bauteile im gewöhnlichen Ausmaß" als
abstandsrelevant anzusehen ist oder nicht, ist vor diesem Hintergrund nach den Umständen des Falles nicht nach
seiner Bezeichnung durch die Baubehörden oder die Parteien des Verfahrens zu beurteilen, sondern nach seiner
Erscheinung und insbesondere seinen Dimensionen und deren Relation zur Gebäudefront. Es kommt dabei auch
nicht darauf an, ob solche Bauteile im Prinzip ortsüblich sind, weil davon die Frage zu unterscheiden ist, ob
solche Bauteile in den Grenzabstand ragen dürfen (siehe dazu das bereits genannte hg. Erkenntnis vom
30. März 2004, Zl. 2003/06/0059). Aus § 13 Abs. 2 iVm § 4 Z 29 Stmk. BauG ergibt sich auch, dass Bauteile,
die nach dem allgemeinen Verständnis nicht als "Gebäudefront" anzusehen sind, für die Abstandsvorschriften
wie eine Gebäudefront zu qualifizieren sind, nämlich, wenn es sich um vorspringende Bauteile handelt, auf die
die Negativvoraussetzung des "gewöhnlichen Ausmaßes" nicht zutrifft (Vordächer, Balkone etc.; vgl. auch § 4
Z 29 letzter Halbsatz leg. cit. - an Gebäudeseiten ohne Außenwänden die Vertikalebene entlang des
Dachrandes).
Hinsichtlich des Dachvorsprunges ist aus der Argumentation der Beschwerdeführer, Vorsprünge dieses
Ausmaßes seien ortsüblich (was allerdings von der Mitbeteiligten in ihrer Gegenschrift bestritten wird), nichts zu
gewinnen, weil § 4 Z 29 Stmk. BauG beim Kriterium "im gewöhnlichen Ausmaß" nicht auf spezielle lokale
Gegebenheiten abstellt. Sie machen aber zutreffend weiters geltend, dass die (eigentliche) Gebäudefront des
zweiten Obergeschosses einen Grenzabstand von 6 m einhält, aber nach der Regel des § 13 Abs. 1 Stmk. BauG ließe man vorspringende Bauteile außer Betracht - einen solchen von bloß 5 m einzuhalten hätte. Der
Dachvorsprung rage demnach nicht 2 m, sondern bloß 1 m in den Abstandsbereich, und Letzteres sei ein Maß,
das die belangte Behörde ohnedies als üblich ansehe. Diese Argumentation ist jedenfalls vor dem Hintergrund
des Beschwerdefalles zutreffend. Ganz abgesehen davon, dass sich die Mitbeteiligte im zugrunde liegenden
Verwaltungsverfahren nicht gegen diesen Dachvorsprung ausgesprochen hat, ist sie projektgemäß nicht
schlechter gestellt, als wenn das zweite Obergeschoß einen Grenzabstand von 5 m aufwiese (was sie
hinzunehmen hätte) und das Dach um 1 m vorspränge, was die belangte Behörde selbst als nicht ungewöhnlich
bezeichnet hat.
Das zweite Obergeschoß springt an dieser Front gegenüber dem ersten Obergeschoß um 2 m zurück, auch
seitlich ist ein Rücksprung gegeben. Die Fläche des Rücksprunges ist teils als Flachdach, teils als Terrasse
projektiert, die sich entlang des weit überwiegenden Teiles dieser Front und auch um die Ecke entlang des
größten Teiles einer Längsseite erstreckt. Diese Terrasse wird - auch entlang der Längsseite - durch einen
vorgelagerten Balkon erweitert, der - bezogen auf die hier relevante Front - um 1,5 m über die Front des unteren
Geschoßes vorspringt (und damit einen Grenzabstand von bloß 2,5 m einhält). Die belangte Behörde ist
diesbezüglich mit ihrer Qualifikation im Recht, dass dieser Balkon auf Grund seiner Dimensionierung (seiner
Mächtigkeit) abstandsrelevant im Sinne des § 4 Z 29 Stmk. BauG ist. Das Beschwerdeargument in diesem
Zusammenhang, der Balkon trete deshalb so hoch in Erscheinung (nach den Plänen 1,70 m), weil sich unterhalb
der Balkonplatte eine Balkonschürze befinde (dies als Schutz vor Witterungseinflüssen), verfängt nicht, weil die
Frage, ob eine bautechnische Maßnahme sinnvoll erscheint oder nicht, von der Frage des einzuhaltenden
Grenzabstandes zu unterscheiden ist. Es geht dabei um die Dimensionierung (Mächtigkeit) insgesamt und nicht
um einzelne Teilkomponenten. Betrachtete man bloß isoliert die Tiefe des Bauteiles und meinte man, wie die
Gemeindebehörden, dass ein Balkon um 1,50 m in den Abstandsbereich ragen dürfte (was dahingestellt bleiben
soll), bedeutete dies im Übrigen im Beschwerdefall, dass dieser Balkon, der dem zweiten Obergeschoß
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Verwaltungsgerichtshof
10.04.2012
zuzuordnen ist, das einen Grenzabstand von 5 m einzuhalten hat, einen Grenzabstand von 3,5 m einhalten
müsste.
Die tragenden Gründe eines aufhebenden Vorstellungsbescheides entfalten für das fortgesetzte Verfahren
Bindungswirkung. Die belangte Behörde hat sich im angefochtenen Bescheid auf zwei solcherart tragende
Aufhebungsgründe gestützt, nämlich hinsichtlich des Dachvorsprunges einerseits und des Balkons andererseits.
Letzteres ist, wie dargelegt, zutreffend, ersteres unzutreffend. Da der angefochtene Bescheid unteilbar ist, musste
er nach dem Gesagten zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit
aufgehoben werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008.
Wien, am 10. April 2012
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