Positionen zur Urbanistik

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Positionen zur Urbanistik
Impulse zur Weiterentwicklung der Stadt- und
Raumforschung durch die interdisziplinäre
Zusammenführung raumbezogener
Wissenschaften
Oliver Frey, Florian Koch
Stadtforscherinnen und Stadtforscher sind mit der Frage, was Stadt eigentlich
ist, zuverlässig zur Verzweiflung zu bringen. Die Gründe für die Schwierigkeiten der Stadtforschung, ihren Untersuchungsgegenstand zu definieren, liegen zunächst in den grundsätzlichen Eigenschaften von Städten begründet.
Städte sind als politische Einheiten durch administrative Grenzen definiert,
bilden als Stadtregion einen diese Grenzen überschreitenden Lebensraum
der Bevölkerung und werden beispielsweise als Objekte in Kunst und Kultur
als Idee einer bestimmten Lebensform letztlich unabhängig von städtischen
Realitäten abgebildet. Darüber hinaus beeinflussen gesellschaftliche Veränderungen, wie sie sich beispielsweise mit Schlagwörtern wie Globalisierung,
digitale Medien, Klimawandel oder Heterogenisierung von Haushalts- und Lebensentwürfen beschreiben lassen, die Städte und führen zu neuen Lesarten
von Stadt-Räumen. Diese gesellschaftlichen Transformationen – so die These
dieses Beitrages – haben auch die Stadt- und Raumforschung mit ihren methodischen und analytischen Zugängen verändert.
Ziel dieses einführenden Beitrages sowie der Zusammenstellung der weiteren Forschungsarbeiten in den beiden Sammelbänden „Positionen zur Urbanistik“ ist es, Impulse zur Weiterentwicklung der Stadt- und Raumforschung
hin zu einer stärkeren, akademisch-institutionell verankerten Urbanistik zu
liefern. Aus diesem Grund haben wir den Versuch unternommen, einige Forschungsfelder und Forschungsfragen sowie ein erweitertes Methodenrepertoire für eine wissenschaftlich fundierte Urbanistik zu definieren. Wir wollen
verdeutlichen, dass aufgrund von ökonomischen, sozialen und kulturellen
Transformationsprozessen neue Herausforderungen für eine praxisorientierte sozialräumliche und baulich-materielle Gestaltung, Steuerung und Planung
der Stadt entstanden sind.
In dieser Einführung werden einige aus unserer Sicht zentrale Kennzeichen einer wissenschaftlichen Urbanistik benannt, die dazu beitragen sollen,
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Oliver Frey, Florian Koch
ihre Position im akademischen Diskurs zu festigen, und die auch denjenigen
Stimmen begegnen wollen, die ihre Beiträge vielleicht etwas vorschnell als
Modeerscheinung oder Ähnliches abtun. Wir sind überzeugt, dass mit einer
präziseren Definition des Begriffs „Urbanistik“ und einer damit einhergehenden Abgrenzung zu traditionellen Ansätzen der Stadt- und Raumforschung
ein wertvoller Beitrag zu einer integrativeren Sichtweise auf „das Städtische“
geleistet werden kann.
Eine wissenschaftliche Urbanistik bewegt sich – so unsere Positionierung
– in dem breiten Feld zwischen gesellschaftlicher Strukturierung, ihrer räumlichen bzw. örtlichen Ausprägung und einer planerischen sowie städtebaulichen und architektonischen Gestaltung städtischer Räume. Dabei werden
die spezifischen urbanen Lebensweisen sozialer Gruppen in ihren gesellschaftlichen Transformationsprozessen beschrieben und auf den konkreten
städtischen Raum bzw. die lokale Quartiersebene bezogen (vgl. Mackensen
2000b). Urbanistische Forschung sollte durch eine integrative Sichtweise auf
„das Städtische“ als ein zentrales Element ihrer Forschungsarbeiten begründet sein. Diese Sichtweise auf die Stadt und die sozialräumliche Ausdifferenzierung von Orten ebenso wie auf die Formen und Instrumente zur Steuerung
und Gestaltung städtischer Orte bzw. ihrer Teilräume durch die Stadtentwicklung und Raumplanung ist innerhalb des Forschungs- und Analysedreiecks
„Gesellschaft – Orte – Steuerung bzw. Gestaltung“ angesiedelt.
Mit einer stärkeren wissenschaftlichen Verankerung der Urbanistik würden
Forschungs- und Lehrbereiche gestärkt, die die aktuellen Transformationen
der ökonomischen, sozialen, kulturellen, geographischen, städtebaulichen
und zunehmend auch der ökologischen Strukturen der Städte und die dadurch verbundenen räumlichen Steuerungsaufgaben der Stadtentwicklung
in Ausbildung und Forschung thematisieren. Mit einer breiteren institutionellen Verankerung würden Bezüge zwischen dem Wandel städtischer Arbeits-,
Wohn- und Lebensformen, den zugrundeliegenden Stadtkonzepten und Leitbildern europäischer Stadtentwicklung sowie der Transformation des Modells
der „Europäischen Stadt“ (vgl. Koch 2010) und seinen stadtplanerischen Steuerungsansätzen zwischen der Architektur, dem Städtebau, der Raumplanung
sowie den raumbezogenen Sozialwissenschaften ausgebaut und ließen sich
dadurch verstetigen (vgl. Frey/Koch 2011). Im folgenden Abschnitt skizzieren
wir deshalb einige aktuelle Trends von Stadtgesellschaften, die – so unsere These – zu neuen Steuerungs-, Planungs- und Gestaltungsstrategien der
Raumplanung und Architektur führen und schließlich auch die treibenden
Kräfte für ein verändertes wissenschaftliches Verständnis und einer neuen
Rolle der traditionellen Stadt- und Raumforschung darstellen.
Positionen zur Urbanistik
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Aktuelle Trends der Stadtgesellschaften
Die zentralen Trends der ökonomischen, sozialen und kulturellen Transformationen von Stadtgesellschaften beruhen auf den veränderten ökonomischen
Strukturen des Postfordismus, welche neben den produzierenden und materiellen Grundlagen einer Stadtökonomie zunehmend auch die Bedeutung
nichtmaterieller bzw. wissensbasierter ökonomischer Rationalität in den Vordergrund rücken. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie die verbreitete Anwendung neuer Internettechnologien eröffneten
neue virtuelle Räume der Kommunikation und Information, welche die grundlegenden Wertemuster sozialer städtischer Beziehungen neu formiert haben.
Auch die veränderten Formen städtischen Wohnens und Arbeitens tragen zu
neuen Handlungs- und Verhaltensräumen bzw. Raumwahrnehmungen bei.
Im Zuge der gesellschaftlichen Transformationsprozesse seit den 1970er
Jahren mit ihren vielfältigen Ausprägungen – z. B. als Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft, als Erosion des Modells der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, als Informations- und Netzwerkgesellschaft in der Folge neuer Technologien und Organisationsformen (vgl. Castells
1996), als Bedeutungszuwachs von unterschiedlichen Wissensformen in der
Wissensgesellschaft (vgl. Stehr 1994), als globalisierte Gesellschaft aufgrund von
Flexibilisierung und Internationalisierung, als postmoderne Gesellschaft im Sinne eines Endes der Moderne (vgl. Bell 1973) – gewann die Sichtweise auf stärker
subjektorientierte Handlungs- und Wahlmöglichkeiten der Individuen gegenüber objektiven Klassenlagen mehr und mehr an Bedeutung (vgl. Hradil 1992).
Die Ausdifferenzierung der sozialen und gesellschaftlichen Strukturiertheit führt
zu einer Vielfalt der Orientierungs-, Einstellungs- und Handlungsmuster von Individuen und sozialen Gruppen. Diese Ausdifferenzierungs- und Pluralisierungsprozesse gegenwärtiger gesellschaftlicher Transformationen werden mithilfe
der Milieu- und Lebensstilkonzepte zu erfassen versucht. Pluralisierung, Fragmentierung und Heterogenisierung des Territoriums und der Lebensstile haben
wiederum eine Ausdifferenzierung der städtischen Orte und Räume zur Folge.
Damit wird sowohl eine städtebaulich-architektonische Gestaltung als auch
eine soziale Dimension erfasst, welche entweder die verstärkte Homogenität
oder eine zunehmende Heterogenität der Orte und ihrer dort vorhandenen sozialen Strukturen in den Blick nimmt. Insofern verlangt die Konzeption der städtischen Milieus eine Ausdifferenzierung von Orten und Räumen in der Stadt, die
zwischen der Struktur sozialer Lebensweisen und ihren jeweiligen räumlichen,
materiellen und physischen Qualitäten vermittelt (vgl. Dangschat 2007: 21ff.).
Dieser kurz beschriebene gesellschaftliche und soziale Wandel im Übergang von der Dienstleistungs- zur Wissensgesellschaft stellt die Bedeutung
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Oliver Frey, Florian Koch
und Erzeugung von Wissen und Innovationen für ein dynamisches Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der Städte in den Vordergrund. Die Formen einer wissensbasierten städtischen Ökonomie zeichnen
sich durch einen hohen Anteil von Beschäftigten im Forschungssektor sowie
im Dienstleistungsbereich aus. Dabei stehen neue Formen der Wissensproduktion in der Forschung, beim Wissensmanagement und bei der Wissensvernetzung im Mittelpunkt des ökonomischen Strukturwandels. Dabei wächst
die Bedeutung verschiedener Formen von Wissen (kodifiziertes und nichtkodifiziertes, implizites oder ‚tacit knowledge‘), welches an Personen gebunden und nur in ‚face-to-face‘-Interaktionen ausgetauscht werden kann. Diese
neuen Wissensformen – so die hier vertretene These – sind in einen ständigen
Veränderungsprozess eingebettet, der sowohl die räumliche Ebene als auch
die kommunikativen und sozialen Strukturen der Stadtgesellschaften prägen
und damit als Untersuchungsgegenstand urbanistischer Forschungen zunehmend zentraler werden wird. Dieser Übergang zu einer wissensbasierten Ökonomie wirkt sich sowohl auf die städtische Sozialstruktur – die Strukturierung
der Arbeitsverhältnisse sowie der alltäglichen Lebenswelten – als auch auf die
Strukturen der (Stadt-)Räume aus. Gerade die Forschungen zu den Qualitäten des „lokalen Raumes“, in denen sich auch neue Formen wissensbasierter
Arbeits- und Lebenszusammenhänge konzentrieren, haben die Aufgabe, die
Dichte und räumliche Nähe der Akteure, die Vielfalt an Wissensformen und
Wissensressourcen sowie den Austausch von Wissen zu analysieren.
Allgemeiner gesprochen: Die Veränderung der ökonomischen Strukturen
haben dementsprechend einen sozialstrukturellen Wandel sowie eine Transformation des (Stadt-)Raumes zur Folge, welcher in seinen Wechselwirkungen
durch urbanistische Forschungen bestimmt werden sollte.
Grundsätzlich lassen sich die Transformationsprozesse europäischer städtischer Gesellschaften auf den folgenden drei Ebenen ausmachen.
ƒƒ Sozio-demographisch: zunehmende Überalterungs- resp. Unterjüngungsprozesse, die in ihrer Bedeutung für den Wandel der Arbeits- und
Lebenswelten in den Städten noch wenig erforscht wurden. Das bedeutet, dass der Anteil von Menschen, die nicht mehr erwerbstätig sowie
älter als 75 Jahre sind, beträchtlich ansteigt. Die Zuwanderung allochthoner Bevölkerungsgruppen ist ein weiterer Faktor, der weitere Herausforderungen in Bezug auf die Integrationsleistung der Stadtgesellschaften mit sich bringt. Diese sozio-demographischen Prozesse wirken sich
auch unterschiedlich auf die spezifischen städtischen Teilräume aus.
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ƒƒ Sozio-ökonomisch: zunehmende Wohlstands- und gleichzeitige Verarmungstendenzen, die auch als sozialräumliche Differenzierungen in den
Städten sichtbar werden (Segregation und Konzentration), d.h. sozialräumliche Polarisationen nehmen innerhalb von Stadträumen zu.
ƒƒ Sozio-kulturell: Als Folge einer weiteren Ausdifferenzierung von Werthaltungen und Lebensstilen sowie der Arbeits- und Lebenswelt, veränderten ‚gender roles‘ sowie steigender Zuwanderung in die Städte ist eine
wachsende Ausdifferenzierung in soziale Milieus (Wertegemeinschaften)
und in Lebensstilen (stabile Handlungsmuster) festzustellen, die unter
dem Begriff der „Individualisierung“ diskutiert werden (vgl. Beck/ Gernsheim 1994). Diese Ausdifferenzierung drückt sich demnach in einer Pluralisierung von Wertemustern und einer Heterogenisierung von Lebensstilen aus.
Zusammenfassend ist zu betonen, dass diese kurz skizzierten gesellschaftlichen Transformationsprozesse auch die sozialräumliche und bauliche Steuerung, Planung und Gestaltung von Stadträumen vor neue Aufgaben stellen.
Diese sollen im Folgenden kurz benannt werden.
Neue Herausforderungen der Steuerung, Planung und
Gestaltung sozialräumlicher und baulich-materieller
(Stadt-)Räume
Eine wissenschaftlich orientierte Urbanistik stellt sich die Forschungsfrage
nach angemessener Steuerung sozialräumlicher Transformationsprozesse. Grundlage dieser Überlegungen ist dabei die Entwicklung von ‚Urban
Governance‘-Modellen, in denen letztlich das Verwischen der klaren Trennung von Steuerungsobjekt und Steuerungssubjekt zum Ausdruck kommt.
Dazu konnte es kommen, weil die positivistische Auffassung einer über rationales Verhalten und Handeln gesteuerten Entwicklung gesellschaftlicher
Zusammenhänge ins Wanken geraten ist. Das rationale Planungsverständnis,
welches von dem Bild des planenden Fachmannes geprägt war, der unter Zuhilfenahme objektiver wissenschaftlicher Methoden und Instrumente einen
‚guten‘ Plan entwickelt und umsetzt, wurde durch die Erkenntnis erschüttert,
dass Wissenschaft und Verwaltung in ihren Wertsetzungen und Normen viel
stärker als angenommen durch subjektive, emotionale und individuelle Faktoren geprägt sind. Dadurch wurden die Grenzen einer objektiven, rationalen Planung sichtbar: Fachliche Kompetenzen reichen nicht mehr aus, um die
vielfältigen und heterogenen Lebenswelten der Planungsbetroffenen zu ver-
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Oliver Frey, Florian Koch
stehen. Informationen über die Entwicklung von Lebenswelten unterschiedlicher Milieus und deren Bedürfnisse, über veränderte Nutzungsstrukturen
und Verhaltensweisen sind kaum mehr aus (objektiven) Statistiken ablesbar.
Eine urbanistische Forschung mit Planungsbezug – so die These – sollte sich
ihrer veränderten Rolle zwischen Steuerungssubjekt und Steuerungsobjekt
bewusst sein, dass die Ursachen und Bedingungen für eine sozialräumliche
Steuerung in einem neuen Wechselverhältnis zwischen Unplanbarkeit und
Steuerung bestehen.
Die Sichtweisen auf die Formen und Instrumente zur Steuerung und Gestaltung städtischer Orte bzw. ihrer Teilräume durch die Stadtentwicklung
und Raumplanung haben sich in den letzten Jahren ausdifferenziert. Aus der
Perspektive der Steuerung räumlicher Entwicklungen beziehen sich diese Herausforderungen vor allem auf die Konsequenzen der oben beschriebenen
Transformationsprozesse. Aufgrund der zunehmenden Heterogenität von
Akteuren in Steuerungs- und Planungsprozessen differenzieren sich auch die
jeweiligen Bewertungen und normativen Leitbilder zur Steuerung der städtischen Transformationsprozesse.
Soziale Gruppen und Individuen differenzieren sich in Bezug auf Interessenlagen und Bedürfnisse (sozio-kulturell), Ausstattung mit ökonomischem
Kapital (sozio-ökonomisch) sowie hinsichtlich demographischer Kennzeichen
und Handlungsmuster (Mobilitäts-, Konsum- und Freizeitverhalten) und repräsentieren in den Steuerungsprozessen entsprechend vielstimmigere Interessenlagen. Der Steuerungsprozess kann nicht als ein einseitiger, hierarchischer
Vorgang im Sinne einer ‚top-down‘-Planung gesehen werden, weil es eben
nicht mehr eindeutig ist, mit welchen Instrumenten welche Ziele für welche
Akteure erreicht werden können.
Die Stadtplanung bzw. Raumplanung hat bei der Gestaltung und Planung
von Räumen eine veränderte Rolle einzunehmen: und zwar bei der Analyse
(Mehrdeutigkeit von Modellen, Unsicherheiten und Ungewissheiten), bei der
Zielformulierung, bei der Projektdefinition und Umsetzung sowie bei der Evaluation. Um diesen Steuerungsherausforderungen begegnen zu können, werden seit geraumer Zeit diverse Governance-Ansätze diskutiert (Benz 2004),
welche z. B. Unsicherheiten, Unplanbarkeiten und Selbstregulierung als ein
weiteres Element von Steuerungsprozessen ansehen (vgl. Frey 2008).
Der gegenwärtige intensive soziale und ökonomische Wandel hat einen
zentralen Einfluss auf Steuerungsprozesse, auf die ‚Objekte‘ und ‚Subjekte‘ von
Steuerung und damit auch auf das Verständnis von Steuerung und Planung.
Bei den – anhand von Governance-Ansätzen geführten – Debatten, welche
Steuerungsformen und Steuerungsinstrumente zur Gestaltung von (Stadt-)
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Räumen geeignet sind, stehen das Verhältnis von Markt, Staat und Zivilgesellschaft sowie neue Formen der Koordination und Steuerung sozial-räumlichen
Verhaltens im Mittelpunkt. Die Rolle von Netzwerken, Kooperationen und
Partizipationsprozessen, neuen Aushandlungs- und Konfliktlösungssystemen
sowie neuen Formen der Kommunikation zwischen einer Vielzahl von Akteuren ist dabei der Gegenstandsbereich, der für urbanistische Forschungen mit
Planungsbezug im Vordergrund stehen müsste.
Stadträumliche Strukturen und Entwicklungen stehen in einem Wechselverhältnis von Wahrnehmungen, Interpretationen und Handlungen verschiedener Akteure, und zwar sowohl jenen auf der örtlichen Mikroebene als auch
jenen aus (über-)regionalen ökonomischen und politischen Strukturen. Die
Aufgabe der Koordination und Steuerung des sozial-räumlichen Handelns
sowie von sozial-räumlichen Strukturen sollte es sein, das Zusammenspiel
von Akteuren und die Wechselbeziehungen zwischen der Herstellung von
Raum und seinen Gestaltungs- und Planungsprozessen in den Blick zu nehmen. Dazu ist ein Verständnis des Raumes notwendig, bei dem mikro- und
makrosoziologische Theorien der Steuerung sowie der (Re-)Produktion von
städtischen Räumen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Im folgenden
Abschnitt werden deshalb die Merkmale eines erweiterten Raumverständnisses, welches für urbanistische Forschungen zentral ist, kurz skizziert.
Erweiterungen des traditionellen Raumverständnisses
in der Stadt- und Raumforschung
Die Raumsoziologie hat verdeutlicht, dass Raum in einem sozialen Konstruktionsprozess entsteht und in diesem Prozess das Handeln der Akteure und
Akteurinnen berücksichtigt werden muss. Die traditionelle Stadtsoziologie
benötigte keine Theorie des Raumes, da sie von einer partiellen Einheit zwischen Territorium und Lebensstilen ausgegangen ist. Diese Sichtweise kann
aufgrund der Pluralisierung, Fragmentierung und Heterogenisierung des Territoriums und der Lebensstile jedoch nicht länger aufrechterhalten werden.
Die These lautet dementsprechend, dass eine wissenschaftlich orientierte Urbanistik auf einer Raumtheorie aufbauen sollte, die den Ort als eine Verflechtung zwischen den baulich-manifesten und den sozial-psychischen Strukturen versteht und darstellen kann (vgl. Linde 1972).
Angestrebt wird ein Verständnis des Ortes, welches die Verbindungen zwischen der objekthaften Dinglichkeit und der sozialen Welt zur Grundlage hat.
In der materiell-physischen Objekthaftigkeit von Orten – so die These – zeigen sich Elemente der sozialen Welt. Aus diesem Grund werden die objekt-
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Oliver Frey, Florian Koch
haften Strukturen als „objektiviertes Soziales“ bezeichnet. An den physischen
Orten finden sich aber auch – vermittelt über kulturelle Symbole, Zeichen
und Images – soziale Strukturen wieder. Zwischen den materiellen Dingen
und der sozialen Welt bestehen Verbindungen, die beide Welten miteinander
kommunizieren lassen. Die sozialräumliche und gebaute Struktur der Stadt
kann zudem als ein „Aktant“ gelten, der im Sinne dieser „objektivierten sozialen Struktur“ als ein Akteur in der gesellschaftlichen Konfiguration wirkt.
In diesem Sinne wird auch die „Eigenlogik“ der Stadt als ein sozialräumlicher
Akteur verstanden, der „spricht“, „Atmosphären“ erzeugt und einen „Habitus
des Ortes“ hervorbringt.
Das gegensätzliche Denken zwischen der sozialen Welt auf der einen Seite
und der materiell-gebauten Umwelt auf der anderen Seite hebt sich auf, wenn
man den städtischen Raum als „objektiviertes Soziales“ versteht (vgl. Linde
1972; Giddens 1984; Pincon/Pincon-Charlot 1986). Das objektivierte Soziale
findet sich in den Dingen, Häusern und Orten genauso wie in den handelnden
Personen. Dabei bildet sich ein neues Raumverständnis. Soziale Beziehungen
sind durch städtebauliche Formen konturiert und stellen ein Beziehungsgeflecht dar, bestehend sowohl aus gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen wie aus sozialen Strukturen und Handlungen (vgl. Halbwachs 1938;
Chambart de Lauwe 1952).
Das Wechselverhältnis zwischen städtischen Orten und Individuen entspricht der Sichtweise auf raumgebundene und raumspezifische Kommunikation, die an einem bestimmten Ort sichtbar werden (vgl. Noller 1999).
„Raum“ wird dabei in Abgrenzung zum positivistischen, naturwissenschaftlichen Verständnis vom „Behälter- oder Containerraum“ konzipiert. In den Disziplinen Städtebau, Architektur und Raumplanung ist bislang die Vorstellung
von „objektiven“ Räumen vorherrschend, die sich objektiv vermessen lassen
und materiell-objektiv relationierbar sind. Der öffentliche Raum wird dabei
als neutrales Gefäß konzipiert, das materielle, körperliche Objekte in sich aufnimmt und deren Einzug bzw. Inkorporation zu einer Umwidmung des Raums
führt. Die jeweilige Infrastruktur oder Gebäudestruktur in einem bestimmten
Stadtquartier wird unter dem Aspekt der meist quantitativ messbaren Ausprägungen wie Dichte oder Häufigkeit gesehen. Das Verständnis als „Behälter- oder Containerraum“ geht von einem „absoluten Raum“ aus, der unbeweglich, konstant und unabhängig ist.
Fragt man aber nun nach den Wahrnehmungs‑, Deutungs‑ und Aneignungsstrategien städtischer Milieus, so steht die Konstruktionsleistung des
sozialen Akteurs bei der Gestaltung des Raumes im Vordergrund (zur Analyse sozialer Raumkonstruktionen vgl. Riege/Schubert 2005b). Das theoreti-
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sche Raumkonzept von Milieus zieht den Umstand in Betracht, dass Räume
kontextabhängig konstruiert werden. Kontextabhängigkeit meint, dass die
Sinnzusammenhänge sich in einem lokalen Kontext mit jeweils spezifischen
institutionellen Kulturen, Normen und Arbeitsabläufen befinden. Auch die
Werthaltungen, der Habitus und die sozialstrukturellen Merkmale innerhalb
unterschiedlicher städtischer Milieus bestimmen die Konstruktionsleistung
mit. Die Sichtweise der Individuen auf Räume unterscheidet sich nach Milieu‑, Geschlechts‑ oder Kohortenzugehörigkeit. Dieser Konzeption raumbezogener Aneignungsprozesse liegt daher ein theoretisches Verständnis von
gesellschaftlichen, relationalen Räumen zugrunde. Räume werden dabei als
aufeinander bezogene Anordnungen sozialer Güter, Menschen und anderer
Lebewesen konzipiert. Menschen und Dinge stehen dem Raum weder gegenüber, noch befinden sie sich außerhalb oder innerhalb. Sie sind Teil des Raumes, und soziale Akteure können den Raum durch Neupositionierungen oder
Sprechakte anders konstruieren. Erst die miteinander verknüpften sozialen
Güter und Menschen werden zum Raum (vgl. Löw 2001).
Transformationen der traditionellen
Wissenschaftsauffassung in der Stadt- und
Raumforschung
Die traditionelle Wissenschaftsauffassung in der Stadt- und Raumforschung
ist durch den jeweiligen disziplinären Fokus geprägt. Die Methoden und
Analysen der Stadtgeographie, der Stadtethnologie, der Stadtsoziologie,
der Stadtökonomie, der Stadtplanung, der Architektur, des Städtebau – so
die These dieses Beitrages – sind Veränderungsprozessen unterworfen und
können in ihrer Zusammenschau für eine wissenschaftlich verankerte Urbanistik in spezifischen Bereichen gebündelt werden. Durch diese sowohl
nebeneinander agierenden Disziplinen der Stadt- und Raumforschung als
auch durch eine Bündelung innerhalb der Urbanistik können Synergien für
neue Forschungsansätze zum Städtischen und zum Urbanen entstehen.
Die gegenwärtigen sozioökonomischen Transformationen der Gesellschaft
haben eine Phase des intensiven Wandels und Umbruchs der traditionellen
Wissenschaftsauffassung in der Stadt- und Raumforschung eingeläutet. Die
Fragen (und Antworten), in welcher städtischen Gesellschaft wir leben, welche Kategorien zur Beschreibung des sozialen und ökonomischen Wandels
angewandt werden und welche Triebkräfte die Ursachen der Transformation
darstellen, sowie die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für mögliche
Steuerungsformen fallen erstaunlich unübersichtlich aus. Die eindeutige Ana-
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Oliver Frey, Florian Koch
lyse sowie die klaren Prognosen wurden durch komplexe und vielschichtige
theoretische Sichtweisen innerhalb der Sozialwissenschaften abgelöst. Es ist
in den Sozialwissenschaften aber unbestritten, dass der gesellschaftliche resp.
städtische Strukturwandel von grundlegender Natur ist und einen Wandel in
den traditionellen Stadt- und Raumforschungsdisziplinen auf verschiedenen
Ebenen vorantreibt:
a) eine Veränderung des Wissenschaftsverständnisses im Sinne eines praxisbezogenen Diskurses über die interdisziplinäre Vermittlungsarbeit, b) eine
methodische Debatte über die Herausforderungen, empirisches Wissen über
die städtischen Transformationsprozesse zu erhalten, c) eine organisatorische
und institutionelle Debatte über die Konstitution der Stadt- und Raumforschung und nicht zuletzt d) eine inhaltliche Auseinandersetzung über die
zentralen Kategorien und Begriffe zur Beschreibung des städtischen Strukturwandels.
Eine wissenschaftlich fundierte Urbanistik rückt die wechselseitige Verknüpfung von gesellschaftlichen Strukturierungen und städtisch-räumlichen
Strukturen in den Vordergrund. In den Städten werden die gesellschaftlichen
Transformationsprozesse sozialräumlich sichtbar und empirisch beschreibbar;
gleichzeitig sind die Städte und ihre Bewohnerinnen und Bewohner Triebkräfte gesellschaftlicher Strukturveränderungen. Soziale, gesellschaftliche und
ökonomische Strukturen lassen sich nur durch die Verknüpfung mit räumlichen Gegebenheiten hinreichend darstellen und analysieren. Die zentralen
Kategorien und Methoden zur Beschreibung der räumlichen Eingebettetheit
sozialer Strukturen und Beziehungen verändern sich allerdings in der gegenwärtigen Umbruchsphase. Es ist aber unzweifelhaft, dass eine verstärkte Nachfrage nach diesen spezifischen Erklärungsmodellen innerhalb der raumbezogenen Sozialwissenschaften, der Architektur und der Raumplanung besteht.
Die Sozialwissenschaften sind mit ihren Theorien und Modellen in den medialen und politischen Diskurs eingeflossen, und auch die Stadtsoziologie wird
mit ihren Beschreibungen und Analysen der Siedlungsentwicklung im praxisnahen gesellschaftspolitischen Diskurs nachgefragt. Die Chicagoer Schule der
Stadtforschung in den 1920er Jahren beschrieb die Stadt als „Mosaik sozialer
Welten“. Sie hatte sich in vielfältigen Studien auf die Suche nach den kulturellen und sozialen Mustern von urbanen Lebensweisen und Lebensstilen
spezifischer sozialer Gruppen gemacht (vgl. Lindner 2004). Diese qualitativ,
ethnographisch und lebensweltlich orientierte Stadtforschung der Chicagoer Schule begründete eine Milieuforschung, welche die Ausprägungen
urbaner Lebensweisen in Beziehung zu den differenziert zu betrachtenden
städtischen Orten und Nachbarschaften setzt. Diese Stadtforschungen über
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urbane Lebensweisen haben ihren Ursprung in den Erfahrungen des Großstadtreporters (vgl. Lindner 1990). Der Großstadtreporter, in seiner Urform als
Polizeireporter, ist einem bestimmten Straßenzug oder einem anderweitig
abgrenzbaren Territorium zugewiesen. Die räumliche Ausdifferenzierung der
städtischen Strukturen erfolgt über lokale Ortsangaben von einzelnen Handlungen oder von Institutionen bzw. durch Zuordnung kollektiver Lebensweisen zu städtischen Quartieren, wodurch sich der städtische Raum erschließt.
Die sozialwissenschaftlich orientierte Stadtforschung bezieht in diesem
Forschungsfeld ihre qualitativen Methoden zur Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Strukturen und Lebensweisen sozialer Gruppen in den
Städten aus der Ethnographie der frühen Chicagoer Schule der 1920er Jahre
(vgl. Wirth 1938; Park 1925). Die quantitativ orientierten Methoden zur Analyse demographischer Transformationen städtischer Gesellschaften oder zur
Untersuchung sozialer Ungleichheit im städtischen Raum sowie zur Beschreibung sozialräumlicher Milieuausprägungen anhand spezifischer, statistisch
messbarer Indikatoren und Merkmalsausprägungen prägten im Gegenzug
stark die stadtsoziologischen und -geographischen Forschungen zwischen
den 1950er und 1980er Jahren in Deutschland (vgl. Saunders 1987; Schmals
1983). Diesen historisch geprägten Pfaden der Analyse gesellschaftlicher
Strukturen in den Städten liegen dementsprechend auch unterschiedliche
Erkenntnisinteressen und Werthaltungen zugrunde.
Kennzeichen einer wissenschaftlichen Urbanistik
Typische Fragestellungen der Urbanistik beziehen sich sowohl auf die räumliche und soziale Organisation innerhalb von Städten und ihre Rolle als Gestalter der sich globalisierenden Informations- und Kapitalflüsse als auch auf
die institutionellen und netzwerkartigen Beziehungen zwischen Städten bzw.
Stadtregionen. Aus diesen dynamischen Prozessen des städtischen Wandels
ergeben sich (wie gezeigt) neue Herausforderungen für die Stadtforschung,
die Stadtplanung und die Stadtpolitik. Angesichts sich verändernder Steuerungsprozesse und Steuerungsstrukturen urbaner Zusammenhänge sind
auch neue, innovative Organisationsformen von Stadtplanung notwendig
geworden. Thematische Felder urbanistischer Forschungen sind dabei a)
kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Wechselverhältnis und zur Bedeutung von städtischen Räumen und kulturellen bzw. kreativen Innovationen durch städtische Milieus; b) raumplanerische Leitbilder unterschiedlicher
Stadtkonzepte wie das Modell der Europäischen Stadt und deren Transformationen; c) Steuerungsformen sozialräumlicher städtischer Entwicklung und
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deren Wandel mit einer Einbettung in Planungstheorien und -debatten; d)
entwurfsorientierte und sozialwissenschaftliche Methoden einer Orts- und
Lebensweltenanalyse; e) veränderte städtische Steuerungsformen zwischen
Selbstorganisation und Städtewettbewerb sowie die Rolle unterschiedlicher
Partizipationsformen im Planungsprozess.
Die Aufzählung dieser beispielhaften thematischen Felder soll verdeutlichen, dass die Urbanistik durch eine gewisse „Disziplinlosigkeit“ gekennzeichnet ist, die wiederum durch die Vielzahl der fachlichen Herangehensweisen
an die Stadt verursacht und geprägt ist. Urbanistik reicht von Stadtsoziologie
und -ökonomie über die Stadtökologie bis hin zu Architektur und Städtebau.
Insofern verwundert es nicht, dass es zwischen diesen einzelnen Disziplinen
keinen Konsens über wesentliche Begriffe wie z. B. die Stadt gibt. Die Herausforderung einer wissenschaftlichen Urbanistik besteht darin, die unterschiedlichen (Fach-)Sprachen zu übersetzen, nebeneinander zu stellen und Verbindungen zwischen den Sichtweisen auf das Städtische herzustellen.
Urbanistik ist daher nach unserer Auffassung nur bedingt von bestimmten
Denkschulen oder Theorien geprägt, in denen die Gesamtheit der urbanistischen Fragestellungen versammelt wäre und zu denen sich die einzelnen
Forscherinnen und Forscher positionieren könnten, sondern ist vielmehr
auch durch eine subjektive Herangehensweise geprägt. Wie Stadt definiert
wird und welcher Ansatz zur Urbanistik gewählt wird, hängt vom Forschungsinteresse, von der eigenen Forschungsbiographie und nicht zuletzt von den
zur Verfügung stehenden Ressourcen ab. Dies widerspricht unserer Auffassung nach nicht der Wissenschaftlichkeit urbanistischer Forschungen, sondern macht deutlich, dass im Rahmen von Urbanistik – im Gegensatz zum
Verständnis der traditionellen Disziplinen einer Stadt- und Raumforschung
– eine Ausweitung von Kategorien, Begrifflichkeiten und Methoden möglich
wird und keine disziplinäre Verengung erfolgt. Auch wenn wir damit Gefahr
laufen, dass der Urbanistik nun ein ‚Anything goes‘-Charakter bescheinigt
und der Begriff zwar als grundsätzlich positiv konnotiert, letztlich jedoch als
inhaltsleer abgetan wird, möchten wir dennoch den Versuch unternehmen,
Merkmale einer wissenschaftlich verstandenen Urbanistik zu beschreiben,
die als Impulse für die Weiterentwicklung des Forschungsbereiches verstanden werden sollen. Offen – und ohne Zweifel in Zukunft deshalb genauer zu
untersuchen – sind einerseits Fragen der praktischen Umsetzbarkeit einer
wissenschaftlichen Urbanistik, z. B. in Bezug auf die meist disziplinär geprägte
Förderlandschaft oder die Implementierung urbanistischer Inhalte in bereits
bestehende, disziplinär geprägte Studienangebote der Universitäten, sowie
andererseits Aspekte des Austausches des in starkem Maße durch die Erfah-
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rungen in europäischen Städten geprägten Forschungsbereichs der Urbanistik mit Stadtforschungsansätzen aus anderen Weltregionen.
1. Interdisziplinarität der Urbanistik Die interdisziplinäre und fächerübergreifende Arbeitsweise in einer wissenschaftlich fundierten Urbanistik ist in
der Komplexität ihres Forschungsgegenstandes begründet. Die disziplinären Methoden und Forschungen der Stadtgeographie, Stadtethnologie, Stadtsoziologie, Stadtökonomie, Stadtplanung, der Architektur und
des Städtebaus werden miteinander kombiniert und bei spezifischen
Aspekten zusammengeführt. Für die interdisziplinäre Arbeitsweise ist
zentral, dass ein reines Nebeneinander dieser Fachgebiete keine hinreichend neuen Ergebnisse zum Verständnis des Städtischen hervorbringt,
sondern der Versuch unternommen wird, die disziplinären Grenzen zu
überwinden und Teilaspekte wie Sichtweisen zusammenzuführen.
2. Integrative Sichtweise der Urbanistik Der Urbanistik liegt eine integrative
Sichtweise auf städtische Räume zugrunde. Die Stadt wird in diesen Forschungsarbeiten zugleich als komplexes Gebilde wie auch als flexibler
Prozess verstanden. Die integrative Urbanistik fasst die Struktur- und Prozesshaftigkeit des Städtischen als Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen Makrostrukturen und der örtlichen Mikroebene auf. Lebensweltliches Handeln und Verhalten von sozialen Gruppen und Individuen wird
in Bezug zu den städtischen Strukturen und Orten gesetzt.1
3. Methodenvielfalt Das Methodenrepertoire der Urbanistik versucht, die
fruchtlose Gegenüberstellung quantitativer und qualitativer Verfahren
zu überwinden. An die Stelle der ‚reinen‘ Methodenlehre und Katego1
Die Aufgabe besteht in einer Weiterentwicklung der Stadt- und Raumforschung: Gesellschaftliche Strukturen (Ökonomie, demographische Struktur, soziale Strukturierung, Ideologie, Kultur) auf der Makroebene stehen in Beziehung zur Mikroebene der
Individuen und spiegeln diese in raumbezogenen Konfigurationen im Lokalen wider.
Die Stadt wird in dieser integrativen Sicht als die Ebene der Manifestation der räumlichen Strukturierungen sowohl der Makro- wie der Mikroebene verstanden. Die These
lautet, dass das Wechselverhältnis zwischen Mikro- und Makroebene komplexer und
vielschichtiger ist und diese Kategorien zu grobschlächtig und verkürzt sind. Vielmehr
müsste das Mikro-Makro-Problem vor dem Hintergrund der Verschmelzung zwischen
Struktur und Handlung analysiert und beschrieben werden. Sowohl auf der Makroebene der Gesellschaft wie auf der Mikroebene der Individuen und damit auch in der
räumlichen Gebundenheit auf der Ebene der Städte finden sich strukturelle und handlungsrelevante Kategorien. Die Konstruktion einer Dualität von „Mikro“ und „Makro“
verstellt den Blick auf die räumliche Konfiguration des Sozialen, in dem sich komplexere Wechselverhältnisse zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen
Strukturen abbilden und diese auch hervorbringen.
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Oliver Frey, Florian Koch
rienanwendung tritt nun eine Triangulation von Methoden. Die sozialwissenschaftlichen und entwurfsorientierten Methoden werden durch
interventionistische, aktionistische und praxisorientierte Verfahren und
Instrumente ergänzt.
4. Urbanistik an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxisorientierung
Das Ziel einer wissenschaftlich orientierten Urbanistik lautet, die Ergebnisse ihrer Forschungen auf eine praktische Umsetzungsmöglichkeit hin
zu orientieren. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Theorie und
Praxis begründet sich in der Zusammenführung sowohl gestalterischer
wie auch analytischer Sichtweisen unter dem übergeordneten Begriff
Urbanistik.
5. Essayistisch-reflexive Urbanistik Urbanistische Arbeiten knüpfen an die
Methoden der frühen Chicagoer Schule der Stadtforschungen an, die
wesentlich durch die journalistische Reportage geprägt war. Dahinter
steht die Auffassung, dass die Geschichten einer Stadt die Vielfalt urbaner Welten besser abbilden können als objektive Messbarkeit. Eine so
verstandene wissenschaftliche Urbanistik nimmt auch Erzählungen und
feuilletonistische Beschreibungen in ihren interdisziplinären Kanon auf,
um so eine Reflexion über ihren Gegenstand und ihre eigene Rolle im
städtischen Prozess anzustoßen.
6. Die Unschärfe der Urbanistik Die Urbanistik ist bestrebt (selbst in einer wissenschaftlich verstandenen Form), neben einer präzisen Definition und
Analyse von Begriffen und Zusammenhängen auch die unscharfen und
verschwommenen bzw. sich überlagernden und widersprüchlichen sozialen und kulturellen Bereiche des städtischen Lebens in den Forschungen abzubilden. Städtische Strukturen und Prozesse sind in ihrer sozialen
und gesellschaftlichen Verfasstheit oftmals auch unbestimmt. Dadurch
entstehen Informationen und Daten, die verschwommen sind und in der
Analyse keine eindeutigen, messbaren Ergebnisse von Verhaltens- oder
Handlungsweisen im urbanen Raum hervorbringen. Im Sinne der Theorie der ‚Fuzzy-Logic‘, die für die Modellierung von Unsicherheiten und
Unschärfen entwickelt wurde und es darüber hinaus erlaubt, in mathematischen Modellen Angaben wie „ein bisschen“, „ziemlich“ oder „stark“
zu erfassen, können in urbanistischen Forschungen unscharfe Begriffe
und Definitionen bzw. Beschreibungen sinnvoll sein.
Positionen zur Urbanistik
27
7. Urbanistik im Wechselverhältnis zwischen baulich-materiellen Räumen und
sozialen Handlungsräumen Die Urbanistik thematisiert die Wechselbeziehung zwischen sozialen und räumlichen Strukturen der Städte sowohl
die lebensweltlichen wie die räumlich-gestalterischen Transformationsprozesse in städtischen Räumen und Orten. Der Zusammenhang zwischen sozialen Beziehungen und ihren räumlichen Ausprägungen an Orten und physischen Dingen ist von dem französischen Soziologen Émile
Durkheim als „Morphologie social“ beschrieben worden: Die physischen
Substrate als Voraussetzungen des sozialen Lebens müssen laut Durkheim zugleich als soziale Produkte desselben betrachten werden (vgl.
Durkheim 1897).2
8. Urbanistik an der Schnittstelle zwischen Analyse und Gestaltung Dadurch
können Synergien entstehen, da das Verständnis von Urbanistik sowohl
durch die Verwendung analytischer sozialwissenschaftlicher Methoden
als auch durch innovative urbanistische Interventionen im Stadtraum
geprägt ist. Angestrebt wird, einen Beitrag zur Grundlegung entwurfsorientierten Arbeitens durch eine vorausgehende sozialwissenschaftliche
Analyse der städtischen Orte und ihrer Kontexte zu leisten.
2
Eine Unterscheidung zwischen dem physischen Substrat und der sozialen Welt liegt in
dem Grad der ungleichen Ausprägungen, wie in ihnen soziales Leben verankert und
strukturiert ist. Durkheim ordnet mit dem Begriff der Morphologie soziale Tatsachen
in die Struktur der dinghaften Welt ein und zeigt auf, dass die Formen des Städtischen
– die Art und Weise des Wohnens ebenso wie die politischen und rechtlichen Strukturen – eine Verankerung in der physischen Umwelt besitzen. Die morphologischen
Strukturen der Städte, die im Laufe der historischen Entwicklung produziert wurden
und sich herausgebildet haben, beeinflussen und prägen die Akteure des städtischen
Lebens. Die physischen Elemente wie Straßen, Gebäude, Denkmäler besitzen oftmals
eine längere Prägekraft als die ihnen zugrundeliegenden ökonomischen, sozialen,
kulturellen oder historischen Umstände, die zu ihrer Produktion beigetragen haben
(vgl. Lefèbvre 1974: 330 – 335). Die Zusammensetzung sozialer Gruppen, ihre territoriale Verteilung, die Bilder und Erinnerungen sind an jedem städtischen Ort spezifisch
strukturiert (vgl. Halbwachs 1938). In diesem Sinne konstituiert sich in der städtischen
Welt ein spezifisches Milieu, das sich aus Personen, Orten und Dingen zusammensetzt
und nach gewissen Regeln im städtischen Raum angeordnet ist.
Urbanistische Forschungen versuchen u. a., diese Regeln der sozialräumlichen Verteilung zu erforschen, und verstehen dabei die Städte sowohl als „Territorium“ als
auch durch ihre Bevölkerung und ökonomische Struktur geprägte Räume. Trotz unterschiedlicher Sichtweisen innerhalb der Urbanistik werden die Stadt und ihre Orte
einerseits als materieller Rahmen und Einheit für städtisches Leben und ihre Milieus,
andererseits auch als räumliche und soziale Konfigurationen sowie Beziehungsknoten
zwischen sozialen Subjekten betrachtet.
28
Oliver Frey, Florian Koch
Positionen zur Urbanistik – Vorwort zu den beiden
Sammelbänden
Die vorliegenden Sammelbände „Positionen zur Urbanistik I“ und „Positionen
zur Urbanistik II“ sollen einerseits die Vielfalt urbanistischer Forschungsfelder
aufzeigen und andererseits eine Verbindung zwischen diesen zunächst unabhängig voneinander existierenden Ansätzen herstellen. Die Bücher bilden
auch den Versuch, künftige Ansätze des komplexen Felds „Urbanistik“ zu identifizieren. Die Autorinnen und Autoren der Bände behandeln Themen, die sich
grob in die Kategorien „Stadtkultur“, „Neue Methoden der Stadtforschung“,
„Stadtentwicklung und soziale Gruppen“, „Stadtplanung und Steuerung“ sowie „Architektur, Gestaltung und Städtebau“ einordnen lassen.
Die Sammelbände beruhen einerseits auf der Tagung „Die Zukunft der
europäischen Stadt“, die im September 2009 an der TU Wien stattgefunden
hat und bei der über 30 Forschungsarbeiten aus verschiedenen Feldern der
Stadtforschung präsentiert wurden. Andererseits versammeln die beiden
Sammelbände weitere Arbeiten aus dem Arbeitsbereich „Urbanistik“ des Departments für Raumentwicklung, Infrastruktur- und Umweltplanung der TU
Wien.
Für die finanzielle Förderung von Seiten der Fakultät Architektur und
Raumplanung, des Departments für Raumentwicklung, Infrastruktur- und
Umweltplanung sowie des Fachbereichs Soziologie (ISRA) und der Stadt Wien
(MA 7, Wissenschaftsförderung) sowie des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft möchten wir uns an dieser Stelle bedanken.
Der zweite Sammelband wird mit einem „virtuellen ExpertInnengespräch“
zwischen 11 Professorinnen und Professoren unterschiedlicher Disziplinen der
raumbezogenen Wissenschaften eingeleitet. Dieses vielstimmige Gespräch
zeigt Potentiale und Hindernisse für eine wissenschaftlich stärker verankerte
Urbanistik auf. Wir möchten uns an dieser Stelle herzlich bei den Interviewten
für die Beteiligung an diesem Gespräch bedanken!
Den Autorinnen und Autoren der beiden Sammelbände danken wir zum
einen für die gute Zusammenarbeit sowie dafür, dass sie uns ihre Beiträge für
diese zwei Sammelbände zur Verfügung gestellt haben! Last but not least ein
Dankeschön an Stephan Hartmann für die Unterstützung beim Layout sowie
insbesondere an Christoph Roolf, der die Beiträge sorgfältig und umsichtig
lektoriert hat!
Positionen zur Urbanistik
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Literatur
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