Das Erhabene und die Musik

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(Wiederholung vom Juli 2009)
"Eine Überwältigung unserer ganzen Natur" – Das Erhabene und die Musik
Ein Radioessay von Björn Gottstein
Sprecher:
Hubertus Gertzen (Autor).
Doris Wolters (Zitate)
Autor
Es gab da ein Buch, das wurde in den Achtzigern zu einem ganz besonderen Geschenk:
Douglas Hofstadters Gödel, Escher, Bach. Teenagern wie mir wollte man die Faszination
des Denkens vor Augen führen. Ein bildungsbeflissener Onkel, ein mit den Eltern
befreundeter Studienrat und all die anderen Kulturoptimisten – sie alle drückten einem
dieses Buch in die Hand und blickten einem dabei bedeutungsvoll in die Augen, wie um
einem mitzuteilen, dass man jetzt die höheren Weihen des erwachsenen Lebens
empfange und in die Untiefen des menschlichen Daseins eintauchen werde.
Meine Freunde und ich haben dieses Buch nie angefasst. Wir frotzelten und
kommentierten das Buch sarkastisch: "Toll, was man mit dem gesunden
Menschenverstand alles machen kann." Denn darum sollte es in diesem Buch ja gehen:
die Schönheit abstrakter Modelle und die Virtuosität des Denkens. Wir wollten damit nichts
zu tun haben. Nicht weil wir faul waren oder vielleicht Angst hatten, der Materie nicht
gewachsen zu sein, sondern weil wir ahnten, dass sich hinter diesem Buch ein
Kulturbegriff verbarg, der uns nicht behagte. Selbst ich, der ich immerhin Geige spielte und
mit Bartók mehr anfangen konnte als mit den Sex Pistols, wollte mich mit diesem Buch
nicht anfreunden. Heute würde ich sagen: Es war das Raunen, das uns abschreckte. Und
zwar zu recht. Die Idee von erhabener Größe, die damit einherging, wirkt bis heute
altmodisch und schal.
Nichts gegen Kurt Gödel und seine Unvollständigkeitssätze, mit denen er die Grundfeste
der Mathematik erschütterte. Nichts gegen die paradoxalen Grafiken M. C. Eschers, die
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die Schlüssigkeit des Sehens infrage stellte. Und vor allem nichts gegen die Musik Johann
Sebastian Bachs, die in ihrer logischen Schönheit ein eigenes Klanguniversum erschuf.
Bach vor allem verkörperte jene Kunst, in der der Mensch über sich hinaus wuchs. Auch
als skeptisch-renitenter Teenager ließ man sich von sechsstimmigen Fugen beeindrucken,
die er aus dem Stehgreif improvisierte hatte, Fugen, deren Stimmen den strengen Regeln
des Kontrapunkts gehorchten und die derart ineinander geflochten waren, dass sie die
Vorstellungskraft der Hörers sprengten. Aber der Tonfall, in dem darüber gesprochen
wurde, die Selbstgewissheit und Überheblichkeit, die man aus diesem Denken ableitete,
die erfüllte einen mit Zweifel. "Pure Vernunft darf niemals siegen", fasste die Band
Tocotronic diesen Gedanken Jahre später einmal zusammen. Mit der "puren Vernunft" ist
nicht nur das rationale Handeln der protestantischen Ethik gemeint, die das Leben vom
Exzess und Rausch reinigt. Es ist damit auch jene Selbstherrlichkeit angesprochen, mit
der sich der Mensch über die Natur erhebt. Kant und Schiller haben genau diesen Prozess
in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen über das Erhabene gestellt. Indem wir uns
vernünftigerweise, "vernünftelnderweise" möchte man fast sagen, unsere Überlegenheit
vor Augen führen, wenden wir die Bedrohung ab, die vom erhabenen Gegenstand
ausgeht. So lassen sich ihre Ausführungen über das Erhabene vielleicht
zusammenfassen. Das Erhabene läutert – und es verleitet zur Selbstherrlichkeit.
In die Achtzigerjahre fällt noch ein ganz anderes Erlebnis, das eine Vorahnung des
Erhabenen gewährte und das auch mit Musik und Klang zu tun hat. Ich besuchte damals
zum ersten Mal Fußballspiele, zweite Bundesliga auf dem Aachener Tivoli. In der Masse
aufzugehen, Zeuge zu werden von der kollektiven Stimme der Fans, ja ein Teil von ihr zu
werden, die martialischen Schlachtrufe über sich ergehen zu lassen und – mehr noch – die
spontane Entladung von Gefühl, die ein Tor begleiten konnte, das wirkte schon damals
schön und schauerlich, ergreifend und beängstigend.
Das Erhabene, das Sublime, wie es im Englischen und im Französischen heißt, beschreibt
eine Grenze. "Sub limes": unter der Grenze liegend. Die Grenze, die das Erhabene
markiert, verweist auf etwas anderes, auf ein metaphysisches Reich. Man könnte Gott
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dazu sagen. Aber wer diese Grenze in einem Fußballstadion erlebt, kann sich auch etwas
anderes darunter vorstellen. Das ist kein Plädoyer für massenpsychologische
Manipulationen, sondern zunächst einmal die Feststellung, dass das Erhabene einen Weg
weist, der über unser Dasein hinausführt, der uns, theologisch gesprochen, von uns selbst
erlöst. Musik und Klang können diesen Weg andeuten, beschreiben, markieren. Wie
dieser Weg beschaffen ist und wohin er führt, darum soll es im Folgenden gehen.
Musik 1:
Johann Sebastian Bach:
Canon perpetuus aus: Das musikalische Opfer
Ausschnitt: 0'35
Musica Antiqua Köln
00113 ARCHIV PRODUKTION 413642-2
Autor
"Erhaben nennen wir das, was s c h l e c h t h i n groß ist", brachte Immanuel Kant es
einmal auf den Punkt. Schlechthin groß, weil es den Maßstab der Sinne übersteigt, weil es
größer oder mächtiger ist, als wir es uns vorzustellen in der Lage sind. Erhaben sind vor
allem Naturphänomene: ein Erdbeben, ein Orkan, der Ozean, die Berge. Musik ist
erhaben, wenn sie die Vorstellung erhabener Ereignisse oder Gegenstände evoziert: die
berühmte Sturmszene aus Wagners Fliegendem Holländer oder die Alpensinfonie von
Richard Strauss. Aber wie klingt das Erhabene? Was muss der Komponist tun, um dem
Hörer Größe und Unermesslichkeit zu vermitteln?
Nehmen wir den hohen Streicherton, mit dem Gustav Mahlers erste Sinfonie beginnt. Ein
Naturbild. Die Streicher markieren den Horizont. Die einzelnen Laute und Motive entfalten
sich ruhig und weihevoll vor diesem Ton, der unantastbar über allem zu stehen scheint. Es
ist eine erhabene Stille, die von ihm ausgeht. Gleiches gilt natürlich für die Tiefen. Die
Tondichtung Also sprach Zarathustra beginnt mit einem Orgelpunkt: tremolierende
Kontrabässe, ein Orgelton, Pauken. Strauss bereitet seinem Helden ein unerschütterliches
Fundament, die Architektur der Ewigkeit. Er nennt den Abschnitt "Sonnenaufgang", und es
ist, als erblicke die Welt zum ersten Mal das Licht der Sonne. Strauss komponiert einen
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Schöpfungsmythos. Dass Stanley Kubrik das Motiv in seinem Film 2001 außerdem mit
den Weiten des Weltraums in Zusammenhang brachte, unterstreicht die erhabene
Wirkung der Passage noch.
Lange hohe und tiefe Töne sind also tönende Topoi des musikalisch Erhabenen.
Ähnliches gilt für bestimmte Intervalle, für Quarten, Quinten und Oktaven. Das
"Gipfelmotiv" der Alpensinfonie besteht aus nichts anderem. Quarten, Quinten und
Oktaven sind, physikalisch gesehen, einfache Schwingungsverhältnisse. Sie wirken
monumental und im Gegensatz zur Sekunde und zur Terz, zur Sexte und Septime völlig
richtungslos. Dissonanzen sind nur dann zulässig und sinnvoll, wenn der Komponist den
Konflikt zuspitzt, wenn die Begegnung mit dem Erhabenen zur Bedrohung wird, wenn
Gefahr für Leib und Seele droht. Die Prototypen des Erhabenen aber sind harmonisch
schlicht, wie das aufsteigende Naturmotiv im Zarathustra: C-G-C, eine Quarte ergänzt die
Quinte zur Oktave. Der Anfang der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens entfaltet
seine Aura nach einem ähnlichen Prinzip: ein hohes D, ein Quartfall, ein Quintfall. Auch
hier lässt der Komponist eine Welt entstehen, erhebt sich der Künstler zum gottgleichen
Schöpfer, wird der Hörer Zeuge einer Klang gewordenen Genesis.
Gleiches lässt sich vom Rhythmus sagen. Auch hier darf der Komponist keine allzu
großen Sprünge wagen. Lange Töne, einfache Proportionen; ganze Noten, punktierte
Halbe – so schreitet die erhabene Kunst dahin. Und die Klangfarbe? Kann eine Piccolo
erhaben klingen? Eine Harfe? Eher nicht. Wir ordnen den Instrumenten Charaktere zu: Die
Piccolo wird als schrill und ekstatisch empfunden, die Harfe als verspielt und galant. Ein
Sturm braust nicht durch einen Triangel, eine Celesta löst in der Regel kein Erdbeben aus.
Es sind vor allem die volltönenden Blechbläser und wuchtige Schlaginstrumente, von
denen ein entsprechender Signalcharakter ausgeht: von einer vollmundigen Fanfare oder
dem Naturklang der Hörner. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit, denn entscheidend
ist natürlich die Größe des Ensembles, die Summe der zur Verfügung stehenden
Instrumente.
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Ein großes Sinfonieorchester oder ein großer Chor beeindrucken schon optisch. Mit dem
großen Apparat geht aber vor allem ein enormer Schalldruck einher: wer die tösende
Brandung oder das Grollen des Donners musikalisiert, darf hinter dem Original nicht
zurückbleiben. Orchester mit über 100 Musikern auf dem Podium sind Anfang des 20.
Jahrhunderts keine Seltenheit. Man denke an Schönbergs Gurrelieder, an Gustav Mahlers
Sinfonie der Tausend. Das "Gipfelmotiv" der Alpensinfonie wird von unerreichten 16
Hörnern vorgetragen. Mahler führte die orchestrale Opulenz auf die Differenzierung der
Klangfarbe zurück. Als ihn einmal eine Schülerin fragte, was es damit auf sich hätte,
erklärte er, dass es den Zeitgenossen um Farben und Balance gehe. Der Wunsch nach
größeren Orchestern entspräche im Wesentlichen dem nach neuen unverbrauchten
Farben und die seien ausschließlich zum Preis eines vergrößerten Apparates zu haben.
Denn sobald ein vierstimmiger Posaunenchor die Klangbalance störe, müssen andere
Gruppen – insbesondere die der Streicher – derart verstärkt werden, dass sie sich auch an
sehr lauten Stellen durchsetzen können. Klangreiche Orchester sind zunächst also auch
immer laute Orchester. Die Komponisten verfügten somit – um im Bild zu bleiben – nicht
nur über mehr sondern auch über kräftigere Farben. Aber natürlich geht es auch um den
Schallpegel selbst. Das Orchesterfortissimo gewinnt Ende des 19. Jahrhunderts an Wucht.
Die dynamischen Höhepunkte bei Bruckner, Strauss und Mahler sind – buchstäblich –
niederschmetternd. Sie erdrücken den Hörer mit ihrem bloßen Schalldruck. Bis zu 120 dB
misst ein großes Sinfonieorchester im Fortissimo. Das entspricht dem eines
Kampfflugzeugs aus nicht allzu großer Entfernung. Wer will sich dagegen auflehnen? Wer
will behaupten, dass er dieser Musik reflektierend und distanziert begegnet?
Die beschriebenen Mittel sind die des 19. Jahrhunderts. Sie finden sich in der
Orchesterliteratur von Haydn bis Mahler. Aber natürlich ist Obacht geboten. Nicht jede
offene Quinte ist erhaben, nicht jedes Blechbläserfortissimo gewährt einen Blick auf
Höheres und Jenseitiges. Genauso wenig lassen sich die genannten Techniken
versatzstückhaft zu einem erhabenen Kunstwerk montieren, wie ein Rezensent der
Allgemeinen Musikalischen Zeitung umsichtig erkannte, als er im Jahre 1810 den Sturm
aus Beethovens Pastoral-Sinfonie evaluierte:
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Zitator
Gewöhnlich fassen Componisten von niederem Range, wenn sie uns einen Sturm
darstellen wollen, den höchsten Moment desselben auf, und lassen, um recht natürlich zu
seyn, weder die ausübenden Musiker, namentlich den Paukenschläger, nebst den beyden
Trompeten- und Flötenbläsern, noch die Zuhörer zu Athem kommen, glauben sie nun eine
Zeit lang genug getobt und gerast zu haben, so brechen sie unvermuthet ab […] Nicht so
Beethoven. Zwar sind auch ihm die höchsten Grade des Orkans Gegenstände der
Schilderung: allein er verschmäht dabey so wenig die langsame Annäherung, als die
allmälige Entfernung des Wetters. So vernehmen wir mit den beyden ersten Tacten in dem
Tremolo der Contrebässe und Violoncelle den fernen Donner, die Violinen malen uns in
den folgenden 5 Tacten die leise, unruhige Bewegung der Luft, eine Wirkung des
komenden Gewitters. Nach und nach rückt das Wetter näher heran, und beym 21 Tact
erscheint es uns, unter dem starken Eintreten aller Blasinstrumente und einem 4 Tacte
langen Paukenwirbel, in seiner ganzen Furchtbarkeit. Die hohen Töne der
dreygestrichenen Octave f, e ges, welche die erste Violine hervorbringt; das
ununterbrochene, den heulenden Sturm ausdrückende Schreyen der Hoboen, Hörner,
Fagotte und Trompeten; die anstrebenden Sechzehnthelfiguren in den Bässen, welche
das Rollen des Donners nachahmen; die häufigen Dissonanzen, vorzüglich der
verminderte Septimenaccord mit seinen Verwechselungen – ein getreues Bild der Gefühle
des Grausens und Entsetzens – alles erfüllt mit grossen und erhabenen Empfindungen.
Musik 2:
Ludwig van Beethoven:
Gewitter und Sturm aus Sinfonie Nr. 6
Ausschnitt: 35’’
New York Philharmonic Orchestra
Leitung: Leonard Bernstein
00149 CBS, MK 42222
Autor
Die Unmittelbarkeit des dynamischen Höhepunkts, die körperliche Erfahrung im
Konzertsaal wirft eine weitere Frage auf. Wie erleben wir das Musikalisch-Erhabene?
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Bislang war davon die Rede, dass das Erhabene unser Vorstellungsvermögen übersteigt.
Und bevor wir uns über die musikalische Wirkung Gedanken machen, ist es vielleicht
sinnvoll, verschiedene Typen des Erhabenen zu unterscheiden. Die wichtigste
Unterscheidung, die im Laufe der Jahrzehnte immer wieder modifiziert worden ist, geht auf
Kant zurück. Er nannte die unermessliche Größe des Ozeans und des Weltalls das
Mathematisch-Erhabene. Die Kraft der Naturgewalten hingegen subsumierte er unter dem
Begriff des Dynamisch-Erhabenen. Schiller sprach vom Kontemplativ-Erhabenen und vom
Pathetisch-Erhabenen. Gustav Schilling, der 1835 erstmals einen Lexikoneintrag zum
Musikalisch-Erhabenen verfasste, unterschied das Geistig-Erhabene und das KörperlichErhabene. Sie alle meinen ein Gleiches. Dass nämlich dort nur das Vorstellungsvermögen
angesprochen wird, während hier der Mensch dem Schrecken mit Leib und Seele
ausgesetzt ist. Wer, wie Caspar David Friedrichs berühmter Mönch, am Meer steht, mag
angesichts der unermesslichen Weite des Ozeans erschaudern, existenziell bedroht wird
er davon nicht. Wer aber, wie der Fliegende Holländer, mit seinem Schiff in einen Orkan
gerät, ist der Naturgewalt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Mathematisch-kontemplativ-geistig-erhaben ist der hohe Streicherton, mit dem Mahlers
erste Sinfonie beginnt, aber auch eine Fuge von Bach, die sich in ihrer Komplexität der
menschlichen Auffassungsgabe entzieht. Das Tuba mirum aus dem Requiem von Hector
Berlioz hingegen, durch dessen physische Gewalt sich Eduard Hanslick zu Boden
gedrückt fühlte, ist dynamisch-pathetisch-körperlich-erhaben.
Nun wurde hier bislang stillschweigend davon ausgegangen, dass die Musik das
Erhabene nur abbilde, dass sie die Topoi des Erhabenen aufgreift und deren
Eigenschaften abbildet. Was aber sollte eine Fuge von Bach abbilden? Was käme hier
zum Ausdruck, außer die Musik selbst? Das aber hieße im Umkehrschluss, dass die
Musik selbst schon erhaben ist, dass Töne etwas sein können, dass unser
Vorstellungsvermögen übersteigt. Wenn wir eine Bach-Fuge hören, ist der Prozess
erhabenen Staunens noch reflektiert. Wer die Komplexität nicht mehr zu fassen bekommt,
muss dieser Nichtfassbarkeit erst gewahr werden. Er muss sich beim Hören in den
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Stimmen verlieren. Das ist beim Körperlich-Erhabenen anders. Denn da wird das
Publikum auch körperlich vereinnahmt. Wenn Hanslick über die physische Gewalt der
Musik klagt, dann muss man ihm entgegenhalten, dass diese physische Gewalt Teil des
ästhetischen Erfahrungshorizonts des Requiems ist. Berlioz ermöglicht es ihm, das Tuba
mirum realiter zu durchleben. Der Text des Requiem lässt daran keinen Zweifel:
Zitator
"Laut wird die Posaune klingen / Durch der Erde Gräber dringen / Alle hin zum Throne
zwingen. / Schaudernd sehen Tod und Leben / Sich die Kreatur erheben / Rechenschaft
dem Herrn zu geben.
Autor
Es war die Literaturwissenschaftlerin Bettine Menke, die in ihren Ausführung über die
Prosopopoia und die Fähigkeit der Dinge, zu sprechen, vehement darauf hingewiesen hat,
dass man musikalische Metaphern ernst nehmen müsse, dass wenn von einer
"musikalischen Erschütterung" die Rede ist, man auch eine körperliche Einwirkung
unterstellen müsse. Mit Bezug auf Beethovens Orchesterstück Wellingtons Sieg spricht sie
vom ...
Zitator
... Ton, der Mittönen macht, der Unwiderstehlichkeit seines Einwirkens, des Nachhallens in
den Ohren und Körpern, das Tönen, dessen Einwirkung nicht beherrscht wird. Die
Hörenden, denen Beethovens Schlacht, 'auf ihr Timpanum' schlagend, ihren Körpern sich
einträgt, sind – hörend – nicht Herr ihrer Sinne, 'geraten außer sich' oder sind 'ganz
betäubt'.
Autor
Und mit einem Verweis auf Brentano, der vom Dröhnen des Orchesters bei Beethoven
spricht, heißt es weiter:
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Zitator
Dröhnen ist die Metapher und die akustische Manifestation der Schlacht nicht nur als DisSonanz, deren Versöhnung die Consoni der Harmonie sind, sondern als der Lärm, als der
sich die Gewaltsamkeit der Schlacht in die Körper einträgt, eingetragen hatte in den
Effekten – so war in den zeitgenössischen Besprechungen zu lesen – von Beethovens
Musikstück. Es war die Affizierung der Körper der Hörenden, die die Rede vom
Schlachtgemälde einlöste.
Autor
Genau dagegen hatte sich die Musikästhetik aber nun Jahrhunderte lang gewehrt. Man
hatte nichts wissen wollen von der Körperlichkeit des Klangs, von betäubten Hörern, von
einem Publikum, das außer sich gerät. Musik stand lange im Verdacht, als körperlich
affizierte Kunst nicht über den nötigen geistigen Gehalt zu verfügen. Vor allem Kant hatte
sich in der Kritik der Urteilskraft derart geäußert und die Musikästhetik legte es bis weit ins
19. Jahrhunderts darauf an, diesen Verdacht auszuräumen. Der Musikwissenschaftler
Bernd Sponheuer hatte diesen Prozess beschrieben und erkannt, dass die Trennung
zwischen Kunst- und Unterhaltungsmusik als ein Akt der Purifikation aufgefasst werden
muss, bei dem der körperliche Aspekt der Musik geopfert werden musste, um sie als
Kunst im Sinne der idealistischen Ästhetik zu retten. Musik wollte nicht, wie Kant es
unterstellte, Genussmittel sein, sondern ein Medium der Metaphysik. Und da störte es
natürlich, wenn das Publikum tanzte, wenn es Gefühle empfand, statt die Form hörend
nachzuempfinden.
Neben Kant hatte es ganz besonders Schiller auf die Musik abgesehen. In seinem Essay
Über das Pathetische aus dem Jahre 1793 heißt es:
Zitator
Auch die Musik der Neuern scheint es vorzüglich nur auf die Sinnlichkeit anzulegen und
schmeichelt dadurch dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, nicht
ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben sein will. Alles Schmelzende wird daher
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vorgezogen, und wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal ist, so wird plötzlich
alles Ohr, wenn eine schmelzende Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Tierische
gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die
trunkenen Augen schwimmen, der offen Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern
ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome der
Berauschung stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, dass die Sinne schwelgen, der
Geist aber oder das Prinzip der Freiheit im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks
zum Raube wird. Alle diese Rührungen, sage ich, sind durch einen edeln und männlichen
Geschmack von der Kunst ausgeschlossen, weil sie bloß allein dem Sinne gefallen, mit
dem die Kunst nichts zu verkehren hat."
Autor
Das ist eine geradezu infame Verleugnung, ja die Demontage einer ganzen Kunstform, die
Schiller sich da herausnimmt. Künste wie die Musik regen im Hörer, so Schiller in seinem
zur gleichen Zeit entstandenen Text "Über das Pathetische", einen bloß physischen
Widerstand,
Zitator
"den auch der Wurm äußert, wenn man ihn tritt, und der Stier, wenn man ihn verwundet."
Autor
Es versteht sich, dass die Musikästheten in den Jahrzehnten, die folgten, aus einer
gewissen Bedrängnis heraus agierten, dass sie versuchten, diesen Verdacht um jeden
Preis auszuräumen. Christian Friedrich Michaelis war der erste, der Kants Modell des
Erhabenen auf die Musik übertrug. Er verweist auf die viele formale Kriterien, erkennt das
Erhabene aber vor allem dort, wo die Töne ...
Zitator
... erschütternd heftig sich hören lassen, wodurch die Einbildungskraft des Hörers sich
mächtig aufgehalten sieht, wenn sie das Ganze auffassen will, daß sie gleichsam an einer
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grenzenlosen Tiefe schwebt.
Autor
Als Gustav Schilling die Idee vom Musikalisch-Erhabenen 1835 enzyklopädisch
zusammenfasste, veranschaulichte er seine Position am Beispiel des Seesturms und
seiner musikalischen Entsprechung. Die "Größe der Kraft" des Seesturms solle sich
möglichst in einer "concentrirten Tonmasse" niederschlagen. Und er fügte an, dass die
Tonmasse "mit ihrem ersten Erscheinen zwar fast erschüttert", dass sie "aber gerade
dadurch den Hörer für das Erhabene empfänglich macht". "Zwar fast" wohlgemerkt, um
bloß den Verdacht nicht zu erregen, dass es sich hier um einen bloß physischen Reflex
handelt. Ähnlich äußerte sich E. T. A. Hoffmann in seinem Text über "Alte und neue
Kirchenmusik". Ohne das Erhabene zu nennen, spricht er doch von einer neuen
Kunstepoche, die sich erhaben, "mit donnerndem Posaunenton", mitteilt.
Zitator
Diese Zeit, in der, wie mit tausendstimmigem, donnerndem Posaunenton, sich die
Allgewalt der ewigen, über uns thronenden Macht verkündet, so dass der in dumpfes
Hinbrüten versunkene Mensch, aus der Betäubung geweckt, den Ton vernehmend und
das Wort verstehend, wieder an sich selbst glaubt – diese Zeit, in der sich die Ohnmacht
alles verkehrten Strebens, aller Befangenheit im irdischen Treiben um irdischen Zweck so
deutlich offenbart, in der der Geist, wie durch einen Himmelsstrahl erleuchtet, seine
Heimat erkennt und in dieser Erkenntnis Mut und Kraft erwirbt, die Bedrängnisse des
Irdischen zu ertragen, ja ihnen zu widerstehen – diese uns jetzt aufgegangene Zeit wird
jeder leichtsinnigen Entartung in der Kunst Einhalt tun und ihrer tiefsten, geheimnisvollsten
Einwirkung durch die Musik des Menschen Brust sich willig öffnen.
Autor
Es dauerte Jahrzehnte, bis ein Musiktheoretiker wie Hugo Riemann 1888 bekannte, dass
für ihn "das Gefühl der eigenen Körperlichkeit auch beim Hörgenuss eine Hauptrolle"
spiele. In seiner Schrift Wie hören wir Musik? heißt es weiter:
12
Zitator
"Die umfassende Macht des Fortissimo des vollen Orchesters mit seinen drei Trompeten,
vier Hörnern, drei Posaunen und womöglich noch mehreren riesigen Blasinstrumenten
äußert ohne Zweifel auch eine elementare Wirkung auf unser Empfinden, kann aber nicht
wohl als Äußerung unseres Seelenlebens subjektiviert werden, sondern steht uns
erdrückend, vernichtend als überlegene Macht eines Außer-uns-Seienden gegenüber mit
der Wirkung des Erhabenen, das wir gleichzeitig entzückt anstaunen, während uns im
Gefühl unserer eigenen Kleinheit vor seiner Größe graut."
Autor
Man darf bei alledem nicht vergessen, was schon eingangs angesprochen wurde, dass
der Weg zum Erhabenen, in der Vorstellung Kants und aller, die ihm folgten, immer über
die Vernunft führt, jene Vernunft, mit der sich der Mensch über die Bedrohung oder die
Herausforderung, die vom Erhabenen ausgeht, hinwegsetzt. Das ist erst einmal gut
gemeint. Es ist, bei Schiller zumal, ein Freiheitsmoment darin enthalten; der Mensch
erhebt sich selbst über die Natur, und wird gerade dadurch mündig und frei. Der Körper
steht diesem geistigen Akt der Sublimation im Wege. Ähnliches ahnte man übrigens schon
in der Antike; Aristides vermutete, dass der Körper den Menschen schwerhörig mache und
dass ein körperloser Mensch in der Lage wäre, überirdische Sphärenklänge zu
vernehmen. Das Erhabene würde dann, so ließe sich der Gedanke zu Ende denken,
überflüssig, denn der Mensch wäre ja dadurch selbst in jenes Reich getreten, zu dem ihm
das Erhabene den Zugang qua Grenze aufzeigt und versperrt.
Wir können also davon ausgehen, dass man im 19. Jahrhundert auf zwei verschiedenen
Wegen zum Musikalisch-Erhabenen hat finden können. Zum einen, indem der Hörer der
Musik analytisch begegnet, die Chiffren des Erhabenen entziffert und sich so der
Erhabenheit der Musik bewusst wird. Das ist die saubere, unbedenkliche Lösung, wenn
man so will. Zum anderen, indem sich der Hörer der Musik aussetzt und den Ton selbst
wie ein Naturereignis wahrnimmt, indem er den Klang in seiner Physikalität wirken lässt
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und – um mit Schiller zu sprechen - den ganzen Körper wollüstig erzittern lässt. Und dann
kommt die Musik zu ihrem wahren Recht, wenn sie, wie Wagner es einmal formuliert, "die
Überwältigung unserer ganzen Natur" ermöglicht, und zwar, so Wagner weiter "gegen die
erkenntnisstolze Vernunft."
Musik 3:
Richard Wagner: Der fliegende Holländer
Ausschnitt: 20’’
Chicago Symphony Orchestra
Leitung: Daniel Barenboim
06019 TELDEC CLASSICS, 4509-99595-2
Autor
Wagners Plädoyer für das Erhabene, für "die Überwältigung unserer ganzen Natur" und
gegen die Vernunft ist zweischneidig. Zum einen ahnt man, dass hier ein anderes
Musikverständnis wirksam wird, welches über die formal-vergeistigten Zusammenhänge
hinausgeht, wie man sie bei seinem größten Kontrahenten, dem Wiener Musikkritiker
Eduard Hanslick, findet. Man darf nicht vergessen, dass Ästhetik immer auch etwas mit
Ethik zu tun hat. Auch das Musikalisch-Erhabene diente zunächst einmal moralischen
Zwecken. Es diente der Erbauung und der ästhetischen Erziehung. Wo Wagner sich für
die musikalische Überwältigung ausspricht, wo er also auch den Rausch, den Exzess und
die Gewalt in der Musik sucht, gibt er das ethische Potenzial der Musik preis. Wagners
Musikverständnis hat viel zu tun mit dem Dionysischen, das Nietzsche 1872 in der Wagner
gewidmeten Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik beschrieben hat.
Kommen wir noch mal auf Wagners frühe Oper Der fliegende Holländer zurück. Das
Stück, das 1843 uraufgeführt wurde, fasst vieles von dem, was gesagt wurde, zusammen.
Der Seesturm, der zu Beginn der Oper wütet, ist in seiner Gewalt erhaben. Aber auch das
ewige Leben, zu dem der Holländer verdammt ist, löst einen erhabenen Schauder aus.
Hinzu kommt das Meer, das in seiner Ausdehnung den Hintergrund weitet. Wagner
arbeitet mit einem außergewöhnlich großen Orchester. Es wurde in den zeitgenössischen
14
Kritiken viel über die akustischen Dimensionen des Werks diskutiert. Es findet sich kaum
eine Rezension, die nicht auf das gewaltige Orchestertosen anspielt. Man bemängelte die
Neigung zu "übermäßig starker Instrumentierung, besonders bei Anwendung der BlechInstrumente". Der Komponist häufe "Massen auf Massen" und begrabe darunter "alle die
Schönheiten, welche sich auch in diesem Werke finden, und betäubt am Ende nur, anstatt
zu ekffektuiren". Die Ouvertüre wirke "mehr betäubend als verständlich"; die Chöre
"suchen sich, vom Orchester unterstützt, gegenseitig durch Lärmen zu überbieten". Der
wortführende Kritiker seiner Zeit, Ludwig Rellstab, schrieb:
Zitator
Daher macht es uns der Componist fast unmöglich, ihm mit beharrlicher Aufmerksamkeit
zu folgen; er ermüdet uns rein mechanisch, schon seine Ouvertüre stumpft die Nerven für
den feineren Genuss ab!
Autor
Rellstab hält Wagner für das Mitglied eines fiktiven Ordens, über dessen Kunsttempel
geschrieben steht:
Zitator
Das Unendliche der Kunst wird durch die Unersättlichkeit in den Mitteln erzeugt.
Autor
Der wiederum wehrte sich gegen die Vorwürfe. Er rechtfertigte sich aber nicht, sondern
leugnete.
Zitator
Für was einen konfusen, falschen Priester muss mich die Welt halten, wenn ich mit
Worten das Drama predige, und von meinen Werken dagegen es hieße, in ihnen herrsche
die musikalische Betäubung und das Lärmen!
15
Autor
Gerade Wagner hatte mit seinen Attacken gegen die Grande Opera und dem Urteil
"Wirkung ohne Ursache" gegen überladenen Bombast ausgesprochen. Entscheidend am
Holländer ist aber ja gerade, dass die orchestrale Wucht nicht als bloßer Effekt
verständlich wird, sondern stets hintergründig die Handlung begleitet. Die positive Kritik,
die es dann doch auch gab, schätzte eben dies an der Partitur des Fliegenden Holländers:
dass sich die üppige Orchestrierung am Stoff selbst entzündete. "Ein dunkles Kolorit und
gewisse Sturmeffekte, welche der Gegenstand vollkommen motivierte", schrieb der
Wagner zugetane Hector Berlioz. Und Liszt ergänzte, dass bei Wagner ...
Zitator
... den das Studieren und Analysieren seiner Werke in stiller Kammer durchaus nicht
zufrieden stellt, der verlangt, dass die Massen an der von ihm geschilderten
Gemütsbewegung teilnehmen
Autor
... dass bei Wagner also der "Gefühlsinhalt ein wahrhaftiger" sei ...
Zitator
... so wahrhaftig, dass man im Orchester beinahe den Schlag der Herzens zu vernehmen
glaubt.
Autor
An Glaubwürdigkeit gewannen die ungestümen Klänge des Holländers noch durch die
zum Mythos stilisierte Erzählung vom Sturm, in den Wagner angeblich 1839 während
einer Überfahrt von Riga nach Paris geriet. Vor diesem Hintergrund verstand man das
gewaltige Aufbrausen des Orchesters als authentische Naturschilderung, die über die
pittoreske Scheinwelt der Bühne hinausgehend selbst zur Natur wird. Dieser Zug gewinnt
angesichts des kleinbürgerlichen Ambientes, auf das der Holländer an der norwegischen
Küste stößt, freilich noch an Plakativität. Wagner identifizierte sich mit seiner Titelfigur, und
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zwar weit über das Selbstverständnis des bloß nachahmenden Künstlers hinaus. Liszt
schrieb damals:
Zitator
Die Menge liebt nur ein Scheinbild der Gefahr, nur ein Scheinbild der Leidenschaft – ihr
genügt ein Scheinbild des Leides –, auch mit einem Scheinbild der Freude ist sie
zufrieden. Er aber, Wagner, ist im Gegenteil weder der Poet noch der Maler von
Scheinbildern. Ihm widerstreben die Halbheiten und Mitteltinten, die halben Situationen
und Charaktere, und in der Anlage seines Fliegenden Holländers ist er schroffer und
weitergehend als in seinen anderen Produktionen. Er hat sich innerlich mit diesem
Menschen identifiziert, dem das Dasein eine Züchtigung geworden, der verurteilt zum
Leben, den Tod herbeisehnt und ihn wie ein geliebtes Wesen, ja wie einen Gott
heraufbeschwört, dem der Tod Wonne und Seligkeit sein würde. Sprosse auf Sprosse
stieg er die mystische Leiter hinab, die in die Tiefe des jähen Schlundes führt, dem jene
Wonne entsteigt, aus dem jene Seligkeit winkt. Er hat seine endlose Leere durchmessen,
sein tiefes Dunkel durchforscht, seine eisigen Schauer gefühlt, seine unaussprechliche
Trauer erfasst. Er hat ausgesprochen, was sein Geist dort erlebt, was sein Herz
vernommen, was seine Sinne empfunden.
Autor
Die Identität von Komponist und tragischem Held, die Liszt anführt, hat sich zu einem
Gemeinplatz der Rezeption entwickelt. Hört man den Holländer als Künstlerdrama, in dem
der schmerzverzehrte Komponist seinem eigenen Leiden eine Stimme verleiht, dann
gewinnen auch die Allmachtsfantasien der Titelfigur an Bedeutung – Fantasien, die den
Holländer in die Verdammung stürzen, als er höhere Gewalten höhnisch herausfordert.
Fantasien, die Wagner an seiner statt auslebt, wenn er der Naturgewalt musikalisch
habhaft wird.
Wagners Fantasien zielen auf eine Kunst, die emotionale Verinnerlichung und
musikalische Entäußerung zur Deckung bringt. Um das Publikum an der Gefühlswelt des
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Holländers teilhaben zu lassen, war es unerlässlich, das verfügbare Ausdruckspotential
auszureizen und die Orchestersprache zum Äußersten zu treiben. Auch wenn Wagner,
wie Carl Dahlhaus beklagt, der "Verklärung von Gewalt durch einen Rausch aus dem
Geist der Musik" den Weg bereitete, wird es Wagner selbst kaum um die rauschhafte
Verklärung von Gewalt gegangen sein. Aber Wagners Opern sind eben auch keine
Benimmlehre, sondern eine Schule des Fühlens. Die Gewalt des Orchestersturms als
ästhetische Erfahrung zu sublimieren, blieb dem Hörer überlassen. Thomas Mann
erkannte in seinem Aufsatz über Leiden und Größe Richard Wagners von 1933 ganz
recht:
Zitator
Es wäre kindliche Barbarei, zu glauben, Höhe und Intensität der Kunstwirkung ergäben
sich aus dem gehäuften Maß ihrer sinnlichen Aggression.
Autor
Dass dieses gehäuftes Maß sinnlicher Aggression durchaus von Bedeutung sein kann, ist
auch Thomas Mann nicht entgangen. Allein, das Kunstwerk kann seine eigene Exegese
nicht gleich mitliefern. Die Erfahrung des Erhabenen aus der akustischen Schilderung des
Seesturms abzuleiten, ist Aufgabe des Hörers.
Musik 4:
Richard Wagner: Der fliegende Holländer
Ausschnitt: 40’’
Berliner Philharmoniker
Leitung: Herbert v. Karajan
06646 EMI CLASSICS, 566108-2
Autor
Was also ist das Erhabene, wenn es nicht der moralischen Erbauung dient, sondern vom
Betrachter, vom Hörer verlangt, Bedrohungen und Herausforderungen zunächst realiter zu
durchleben, um sich dann, ästhetisch geläutert, über sie zu erheben? Kant nannte das
Erhabene ein Gefühl, Schiller eine Wirkung. Edmond Burke, der 1757 mit seiner
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Philosophischen Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und
Schönen eines der schönsten, weil persönlichsten Bücher über das Erhabene schrieb,
führt die vom Erhabenen ausgehende Lust auf Triebe und Instinkte zurück und
schlussfolgert, dass es der Selbsterhaltungstrieb sei, der den Donner ferner Kanonen zu
einem ästhetisch kategorisierbaren Ereignis macht.
Das Erhabene ist nicht schön. Es galt sogar lange als Gegenmodell zum Schönen, so wie
sich das Komische und das Tragische widersprechen und ergänzen. Die zerstörerische
Kraft, die vom Erhabenen ausgeht, kann eben auch zerstören. Ein Krieg oder ein
Erdbeben sind keine bewundernswerten Spektakel, keine erbaulichen Ereignisse, sondern
brutale Realitäten, die Menschenleben kosten. Es stellt sich überhaupt die Frage,
inwiefern das Erhabene etwas Wünschenswertes ist. Kant hat das Gefühl des Erhabenen
deshalb als "negative Lust" beschrieben. Hinzu kommt, dass die ästhetische Ausformung
des Erhabenen, zumal in der Musik, zu gewissen Plattitüden führt. Wie gesagt: die Quarte,
die Quinte, die Oktave.
Tatsächlich korrespondieren eigene Erfahrungen ja mit den theoretisch dargelegten
Ausführungen zum Erhabenen. Aber das Erhabene wirft Fragen auf. Wo genau liegt der
Lustgewinn? Ist es wirklich die Transzendenz und das an der Grenze des Vorstellbaren
Liegende? Oder weidet man sich vielleicht feige an der Vorstellung des Grauens, das
einen selbst nicht gefährdet? Die suchtartigen Wiederholungen, mit denen man die
Anschläge des 11. Septembers betrachtete, lösten damals eine Debatte aus über das
Erhabene und den Terror. Vom Erhabenen ist es zum brutalen Verbrechen und zur
verheerenden Katastrophe nicht weit.
Hinzu kommt, dass das Erhabene eine eigene Geschichte hat und dass der deutsche
Faschismus diese Geschichte mit einem schweren Makel versah. Die Ästhetik des
Nationalsozialismus vertraute der Rhetorik des Erhabenen. Sie missbrauchte diese
Rhetorik, gewiss. Aber die ließ sich eben auch missbrauchen. Lyotard, neben Adorno
einer der ersten, die den Begriff des Erhabenen nach 1945 wieder aufgriffen und
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hinterfragten, stellte einen Zusammenhang zwischen der Ästhetik des Erhabenen und der
Ideologie des Faschismus her. Das Erhabene, so Lyotard, verweist auf etwas, das sich
nicht darstellen lässt. Das, was es darstellt, ist lediglich das Gleichnis einer höheren
Macht, so wie sich Gott eben auch nicht darstellen, sondern nur symbolisch repräsentieren
lässt oder gar mit einem Bilderverbot belegt wird. Auch der Faschismus geht von einer
höheren, nicht darstellbaren Idee aus, die sich nicht darstellen, sondern nur in Form von
Symbolen andeuten lässt. Die Monumentalität der faschistischen Architektur lässt nur
ahnen, wie groß die Macht ist, der sie dient. Dass es diese höhere Macht nicht gibt, dass
die Vorstellung, die das erhabene Monument weckt, eine Lüge ist, steht auf einem
anderen Blatt.
Die Erkenntnis, dass sich das Erhabene missbrauchen lässt, führte nach 1945 zu einem
generellen Unbehagen. Man verzichtete zunächst auf die rhetorischen Mittel des
Musikalisch-Erhabenen, ja man grenzte sich vom Kunstverständnis der Spätromantik
insgesamt ab. Man könnte vielleicht versuchen, die die Wahrnehmung überfordernde
Komplexität der seriellen Musik mit dem Erhabenen in Zusammenhang zu bringen , aber
weder war es so gemeint, noch wurde es je so wahrgenommen. Die Skepsis an
romantischer Prahlerei und musikalischer Größe findet sich übrigens schon im frühen 20.
Jahrhundert. Mit den Miniaturen, die Webern, manchmal auch Schönberg und Berg
pflegten, mit dem "kleinen Stück" setzte man sich deutlich von großen Formen wie der
"Großen Sonate" ab.
Dass sich das Erhabene aber auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch
behaupten konnte, hat mehrere Gründe. Zum einen geschah 1948 etwas Unerwartetes.
Der bildende Künstler Barnett Newman veröffentlichte den Text The Sublime Is Now.
Newman behauptete nicht nur, dass das Erhabene die Bestimmung aller Kunst sei. Er war
auch bemüht, das Erhabene mit der Bildersprache des abstrakten Expressionismus in
Einklang zu bringen. Newman malte verschwommene Bildflächen, auf großformatiger
Leinwand. Diese Bilder sollen unbedingt aus der Nähe betrachtet werden, um die Grenze,
die der Rahmen setzt, aus dem Blickfeld zu nehmen. Hinzu kommt, dass Newman viele
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seiner Bilder mit einem schmalen Streifen versah, der größere Farbflächen voneinander
trennte. Dieser Streifen sei eine Grenze, die das Nichts von einem Etwas separiere,
merkte Lyotard einmal an. Das Erhabene wurde infolge der von Newman angeregten
Debatte umgedeutet. Jetzt ging es nicht mehr um Naturgewalten, sondern um die
Transzendenz der Abstraktion, um die "Realität der transzendenten Erfahrung", wie es bei
Newman heißt. Newmans Malerei legte es darauf an, dem Betrachter eine jede vertraute
Erfahrung übersteigende Erfahrung zu ermöglichen. Der Betrachter wird unmittelbar
betroffen und überwältigt. Er muss hinter jegliche Ordnung zurückgreifen, sei sie nun
begrifflicher, mathematischer, geometrischer oder auch ganz allgemein ästhetischer Natur.
Newman nannte diesen Rückgriff einen Rückgriff auf die "absolute Emotion".
Auch Jean-Francois Lyotard, dem wir die wichtigsten Texte zum Erhabenen im 20.
Jahrhundert verdanken, hat Newmans Idee vom Abstrakt-Erhabenen aufgegriffen. Für
Lyotard ist das Erhabene zunächst eine Denkfigur der Aufklärung, die notwendig wurde,
um das zu beschreiben, was sich nicht rational ordnen, kategorisieren und fassen ließ.
Aber erst die Avantgarde, so Lyotard, hat eine Sprache gefunden, in der die Unfassbarkeit
der Welt ihren Platz findet. Der Kunst ist es aufgetragen, auf die Nichtdarstellbarkeit
anderer, nicht materieller Realitäten hinzuweisen und dadurch das Undarstellbare
darzustellen, die Heraufkunft von etwas Neuem, Unbekanntem, nicht Identifizierbaren.
Gibt es eine entsprechende Entwicklung in der Musik? Es gibt sie. Man findet sie in den
Klangflächenkompositionen der Sechzigerjahre. György Ligetis Orchesterstück
Atmosphères lässt sich, als bewegter Cluster aus auf engstem Raum verwobenen
Stimmen, leicht mit den Farbflächen amerikanischer Provenienz vergleichen. Auch
Giacinto Scelsis fernöstlich inspirierte Klangmeditationen konfrontieren den Hörer mit einer
konturlosen, unüberwindbaren Materie. Aus der Idee des drones, wie man ihn zum
Beispiel vom Didgeridoo kennt, ist dann eine ganze Stilrichtung hervorgegangen, die den
fülligen Grundton zu einer massiven Klangwand, zu einer wall of sound, ausweitete.
Oberflächlich betrachtet ist der Klang unbeweglich und statisch. Die Stücke bleiben
vollkommen ereignislos, der Klang entwickelt sich nicht, die Musik ist richtungslos.
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Innerlich aber bebt der drone. Idealerweise deckt der Klang das gesamte Spektrum vom
schmerzhaften Fiepen bis zum subsonischen Bass ab; die zahlreichen Schichten
überlagern ergänzen sich zu einem farbigen rauschähnlichen Klang. Stockhausen hat im
Rahmen seines Opernzyklus Licht mehrfach solche Klangkompositionen realisiert.
Pioniere der Laptopmusik wie Carl Stone oder Christian Fennesz aalten sich über Jahre
hinweg in derartigen Klangkonstruktionen und der japanische Klangkünstler Merzbow
steigerte sie gar ins Brachiale. So wie die Bilder von Newman groß zu sein hatten, muss
ein solcher drone laut sein und lang, als Versprechen der Ewigkeit. Als Hörer taucht man
in diesen Ton, man liefert sich ihm ergeben aus und schmiegt sich in einer ans Pränatale
grenzenden Geborgenheit an. Die Ränder verschwinden, aus der Klangfassade wird ein
Klangambiente, in dem der Hörer vollkommen aufgeht und aufgehoben ist.
Letztlich ist dieser Klang nicht so weit von den monumentalen Akkordfolgen der
romantischen Orchestermusik entfernt, nicht so weit zumindest wie die Farbflächen
Barnett Newmans von den Schlachtengemälden eines Wilhelm von Kaulbach. Wohl auch,
weil Musik als nicht gegenständliche Kunstform ohnehin zur Abstraktion neigt, steht sich
das Musikalisch-Erhabene des 19. und das des 20.Jahrhunderts näher, als dies in der
Literatur oder der bildenden Kunst der Fall ist.
Der drone ein musikalisches Pendant zum Erhabenen der abstrakten Expressionisten um
Barnett Newman oder Marc Rothko. Seine musikhistorische Genese hängt aber ganz
zentral noch mit einem anderen Aspekt zusammen, mit dem technischem Fortschritt. Der
drone ist vorzugsweise elektroakustischer Natur. Im elektronischen Studio lassen sich die
beschriebenen Klangeffekte leicht herstellen.
Nun hat man im 20. Jahrhundert neben dem Mathematisch-Erhabenen und dem
Dynamisch-Erhabenen auch gelegentlich vom Technisch-Erhabenen gesprochen, von der
Vorstellung also, dass technische Gewalten entstanden sind, die dem Menschen, ähnlich
wie die Natur, als Bedrohung und Herausforderung gegenüberstehen. Man hat das
bebende Schnurren eines leistungsstarken Motors erhaben genannt. Und das ist kein
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perfider Einfall der Automobilindustrie, sondern – im Gegenteil – eine genaue
Beobachtung, in der das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine seinen Ausdruck
findet. Neu am Technisch-Erhabenen ist, dass zu Größe und Kraft eine weitere Dimension
hinzu kommt, nämlich die Geschwindigkeit. Die Überwindung des Raums, die mit dem
Eisenbahnverkehr, dem Flugverkehr und der Raumfahrt einhergeht, durchbricht eine
Vorstellungsbarriere, auch wenn die Begeisterung für Technik letztlich nur Teil jener
fragwürdigen Selbstherrlichkeitsrhetorik ist, die das Erhabene seit jeher begleitet.
Gleichwohl wäre Musik durchaus in der Lage, das Technisch-Erhabene zu reflektieren.
Wer aber die elektronische Musik nach Formen des Erhabenen durchforstet, wird
enttäuscht. Denn letztlich findet man nur potenzierte Formen all jener Techniken, die
schon für die Orchestermusik galten. Die Bässe liegen jetzt noch tiefer, die Höhen noch
höher und so weiter und so fort. Die elektronische Musik hat es vielleicht versäumt, ihre
eigene Entstehungsgeschichte zu hinterfragen und die ästhetischen Implikationen der
Technik, derer sie sich bedient, auch aufzubereiten. Vielleicht ist Lou Reed etwas
derartiges gelungen, als er 1975 sein als unhörbar geltendes Feedback-Monument Metal
Machine Music veröffentlichte. Auf den Punkt brachte es einmal die Band Pink Floyd, die
sich für die Rückseite ihres Albums Ummagumma mit ihrem gesamten Equipment
ablichten ließ. Wie Waffen vor einem Bomber sind die Verstärker, Lautsprecher und
Instrumente aufgereiht, als ob die Band mit diesen akustischen Waffen gleich die Welt
erobert. Peinlich wirkte es damals, lächerlich heute. Vielleicht hat sich Napoleons
berühmter Satz, dass es vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein kleiner Schritt sei, zu
oft bewahrheitet, als dass man sich der Gefahr eines solchen Ausrutschers aussetzen
mag. "La sublime est à la mode", hieß es in den Achtzigerjahren. Und tatsächlich wurde
man damals noch einmal neugierig, was es mit dieser vergessenen und schwierigen
Kategorie auf sich hat. Man hat sogar versucht, das stille Stück von John Cage, die
berühmten 4 Minuten und 33 Sekunden, als erhabenen Abgrund oder die erweiterten
Spieltechniken eines Komponisten wie Lachenmann als erhabene Grenzüberschreitung zu
beschreiben – alles ohne Erfolg. Und schließlich ist das Interesse am Erhabenen doch
auch wieder versiegt.
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Man muss keineswegs leugnen, dass uns ein lustvoller Schauder packt, wenn wir am
Kölner Dom hinauf blicken, dass man zwischen Beklemmung und Begeisterung erstarrt,
wenn man auf den dynamischen Höhepunkt einer Bruckner-Sinfonie zusteuert, und
meinetwegen sogar, dass man einen Kitzel verspürt, wenn man das Gaspedal eines
Rennwagens unter seinem rechten Fuß vibrieren spürt. Nur geht damit vielleicht keine
existenzielle, das Menschsein betreffende Erfahrung mehr einher, sondern eher noch ein
Thrill, ein Abenteuer, ein aufregender Moment. Der Mensch sucht sich nicht mehr im
Spiegel des Erhabenen, sondern hat längst andere Reflexionsebenen gefunden, um sich
seiner gewahr zu werden. Dass die Selbstherrlichkeit und das Raunen, die mit dem
Erhabenen einhergehen, dann auch verstummen, wäre ein wünschenswerter Nebeneffekt.
Unbefriedigend daran bleibt, dass wir bei all den Debatten und Beispielen, immer noch
nicht recht wissen, wo und vor allem warum uns das Erhabene packt und ergreift.
Eines aber bleibt unhinterfragt, dass nämlich das Erhabene gerade für die Musik des 19.
Jahrhunderts eine herausragende Rolle spielt und dass wir diese Musik vielleicht nicht
verstehen können, wenn wir nicht wissen, was Komponisten, Hörer, Kritiker und
Rezensenten zu hören glaubten, wenn sie im Konzertsaal saßen. Es gibt im 20.
Jahrhundert also neben dem Abstrakt-Erhabenen und dem Technisch-Erhabenen
vielleicht noch eine dritte Perspektive, nämlich die historische. Völlig unverhofft erklang im
vergangenen Herbst auf den Musiktagen in Donaueschingen ein Stück, das den ganz
unverblümten Titel The Sublime trug. Der Komponist, Saed Haddad, Jahrgang 1972,
kommt aus Jordanien. In seinem Stück für großes Ensemble spielt er mit den rhetorischen
Mitteln des Erhabenen, mit Klangweite, Ambitus und Dynamik, mit der Monumentalität des
Einfachen und Überwältigung durch das Chaos, die er aber in ein zeitgenössisches
Klanggewand kleidet.
Musik 5:
Saed Haddad: The Sublime
Ausschnitt : 30’’
Ensemble Modern
Leitung: Franck Ollu
Eigenproduktion des SWR
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Autor
Auf einen Kommentar hat Haddad verzichtet. Stattdessen zitiert aus jenem Buch, mit dem
1757 die Geschichte des Erhabenen in der Moderne recht eigentlich begann, aus den
Philosophischen Untersuchungen von Edmund Burke.
Zitator
Der Grund dafür, dass ein großartiges Kunstwerk so anregend ist, liegt darin, dass es
nicht vor allem schön ist, sondern erhaben. Während die Schönheit eines Kunstwerkes
Liebe oder Bewunderung hervorrufen mag, erweckt die Erhabenheit eines Kunstwerkes
Ehrfurcht oder Erstaunen über seine Rätselhaftigkeit und Kraft. Erstaunen ist jener
Zustand der Seele, in dem alle ihre Bewegungen unterbrochen sind.
Musik 6:
Saed Haddad: The Sublime
(s.o.)
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