Recherche: Entpolitisierung der Jugend? Überall in den Medien redet man von der „Entpolitisierung“ der Jugend. Sinkende Wahlbeteiligung, geringes Interesse an den politischen Parteien und allgemein zurückgehendes Engagement sind zu beobachten. In der letzten Ausgabe der Shell – Jugendstudie von 2002 wurde dies wissenschaftlich untersucht. Die wichtigsten Erkenntnisse, gestützt durch weitere Quellen (siehe Anhang), stelle ich im Folgenden dar. Lange Zeit begnügte man sich mit der Frage danach, ob sich jemand als politisch „interessiert“ oder „nicht interessiert“ bezeichnet. Eine genaue Betrachtung ermöglicht dies zwar nicht, aber man kann mit den bekannten Daten eine zeitliche Veränderung aufzeigen. Als politisch interessiert bezeichnen sich 55 57 47 43 34 1984 10. Shell Jugendstudie 1991 11. Shell Jugendstudie 1996 12. Shelljugendstudie 1999 13. Shell Jugendstudie 2002 14. Shell Jugendstudie Nach diesen Zahlen sinkt das Interesse der Jugend an der Politik erschreckend. Um zu differenzieren, wird in der Studie die Einstellung der Jugendlichen zur Staatsform, den vorhandenen Institutionen, den Parteien und dem politischen Handeln betrachtet. Aus der Shell – Jugendstudie geht hervor, dass die Demokratie als Staatsform bei den Jugendlichen internalisiert ist. Als internalisiert wird eine tiefe Verankerung von Normen und Werte im Denken und Handeln der Jugend bezeichnet. Zwar äußern sich 27 % im Westen und 52 % im Osten als mit der Demokratie unzufrieden. Jedoch ist dies eher als „… Kritik an den Lebensverhältnissen bzw. Reaktionen auf persönliche Chancen in Beruf und Gesellschaft“(1) zu verstehen. Wird der Akzent in dieser Frage auf die Demokratie allgemein als Staatsform gelegt, so fällt die Ablehnung sehr gering aus. 74 % im Westen bzw. 54% im Osten halten die Demokratie für eine gute Staatsform. Der nächste Faktor, der zu betrachten ist, sind die Institutionen. Diese vertreten den Staat und handeln an seiner Stelle. Das Vertrauen, welches Bürgerinnen zentralen Institutionen entgegenbringen, ist ein klassischer Faktor um das Vertrauen in das politische System zu beurteilen. Es ist ersichtlich dass ein starkes Vertrauen den staatlichen Institutionen entgegengebracht wird, die nicht von der Parteipolitik abhängig sind. Auch nichtstaatliche Organisationen genießen eine hohe Akzeptanz. Dazu zählen Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen. 1 - sehr w enig Vertrauen ... 5 - sehr viel Vertrauen Kirche 2,5 2,6 2,6 2,7 2,7 Bundesregierung 2,7 Parteien Unternehmerverbände Ost West 2,9 Bügerinitiativen 2,9 2,9 Gew erkschaf ten 3 Bundesw ehr Umw eltschutzgruppen 3,1 3,1 3,1 3,3 3,2 Menschenrechtsgruppen 3,2 Polizei 3,2 Gerichte 3,5 3,5 3,6 3,4 3,6 Auffällig ist jedoch auch das unterdurchschnittliche Vertrauen in politische Parteien, Kirchen und Unternehmerverbände. Um eine Erklärung für die starke Ablehnung von politischen Parteien zu finden wurden Jugendliche gebeten, zu verschiedenen Aussagen Stellung zu beziehen. Ganze 89 % stimmten der Aussage zu, dass ihre Generation sehr große Probleme haben wird, ihre Rente zu beziehen, 85 %, dass die Politiker selbst am Desinteresse der Jugendlichen schuld wären und 81 %, dass an der Jugend zuviel gespart wurde und dies ein Fehler für die Zukunft des Staates wäre. Diese Kritik an dem Handeln der Politiker wird noch deutlicher, wenn die Jugendlichen befragt werden, wem sie eine Lösung der Probleme in Deutschland zutrauen. 37 % trauen es keiner Partei zu und 19 % machen keine Angabe. Da die Jugend die Politik der Erwachsenen kritisiert, wäre die logische Schlussfolgerung, sich in der Politik zu engagieren. Voraussetzung dafür wäre aber, dass die Jugend von der Wirksamkeit ihrer Aktivitäten überzeugt wäre. Diese aber sehen für sich wenig Gestaltungsspielraum in der Politik. Zu hinterfragen ist nun, ob ein fehlendes Engagement auch auf anderen gesellschaftlichen Ebenen zu beobachten ist oder allein ein Problem der Politik ist. Die Shell – Jugendstudie zeigt eindeutig, dass nicht die häufig diskutierte finanzielle Entschädigung oder Freizeit, sondern der Spaß Jugendliche zum Engagement bewegt.. „Diese Ergebnisse überraschen, lassen sie sich doch nicht mit dem beliebten Bild von der Jugend, die angeblich nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht ist und sich nicht um das Gemeinwohl schert, in Übereinstimmung bringen“. (2) Analysiert man die Daten tiefer, finden sich zwei unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen. Die erste ist nutzenorientiert und die zweite zielorientiert. Bei nutzenorientierten Jugendlichen ist für das Engagement entscheidend, dass Freunde mitmachen, es etwas ganz anderes wie in der Schule / Betrieb getan wird und es keine Vorschriften gibt. Für den zielorientierten Jugendlichen sind die mögliche Mitbestimmung, das Einbringen eigener Fähigkeiten und die Erreichbarkeit eines Ziels wichtig. Die Zustimmung zu dieser Einstellung steigt leicht mit höherem Alter an. Auch hier ist eine Nutzenorientierung festzustellen, doch liegt hier der Nutzen in dem Inhalt, der Form und der Funktion des Engagements Gymnasium Realschule Hauptschule 22 – 24 Jahre 18 – 21 Jahre 15 – 17 Jahre 12 – 14 Jahre Ost West Gesamt Verteilung der Motivationsdimension „Nutzenorientierte Motivation“ in verschiedenen Sozidemografischen Gruppen (Mittelwert) 17,0% 17,1% 16,7% 17,3% 17,6% 17,0% 16,2% 18,1% 17,2% 16,1% Verteilung der Motivationsdimension „Zielorientierte Motivation“ (Mittelwert) Gesamt 12 – 14 15 – 17 18 – 21 22 – 24 Jahre Jahre Jahre Jahre 17,5% 16,9% 17,7% 17,8% 17,6% Betrachten wir die Ergebnisse, so kann schon von einer „Politikverdrossenheit“ der Jugend gesprochen werden, aber nicht von einem Desinteresse an unserer Gesellschaft. Die Gründe hierfür sind vielseitig und sicherlich nicht nur bei der Jugend zu suchen. „…Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Rationalisierung und Abbau oder Verlagerung von Beschäftigung sind inzwischen nicht mehr „bloß“ eine Randbedingung des Aufwachsens…Sie haben inzwischen vielmehr das Zentrum der Jugendphase erreicht, indem sie ihren Sinn in Frage stellen“. (3) Jugendliche befinden sich nicht mehr in einem Schonraum vor den Problemen der Erwachsenen, sondern sind von ihnen direkt betroffen. Sie glauben nicht mehr an eine rosige Zukunft oder gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Sie fühlen sich von den Erwachsenen im Stich gelassen. Dies sollten diese als eine Herausforderung ansehen, ihre gängigen Denkschablonen und Kategorien zu überdenken und sich der Situation anzupassen. Die Jugend äußert sich in immer mehr Strömungen und Artikulationsformen. Trotzdem versucht man sie in eine Schablone zu pressen. Punks, Techno-Szene, Metaller, Hip-Hopper, Sprayer, Skater, Biker, Öko-Freaks- Individualisten, Tanzschüler u.s.w. - all diese Gruppen haben Botschaften an das Gemeinwesen. Diese werden selten gelesen, sondern man stellt die Jugend gerne als unpolitische Partygeneration dar. Aber die Jugend ist nicht mehr als braves Parteivolk geeignet. Sie lehnen das Handeln der Erwachsenen ab, da sie dieses als egoistisch, umweltfeindlich und kapitalistisch ansehen. Sie kritisieren eine Welt, die von den Erwachsenen erbaut und gestaltet wurde. Dieser ernstzunehmenden Kritik entziehen sich Erwachsene gerne und bezeichnen dies vereinfacht als „Politikverdrossenheit“. Viele Erwachsenen zeigen sich in dieser Hinsicht nicht kritikfähig und fordern stattdessen einen Anpassungsprozeß der Jugend. Somit erhalten sie eine Jugend, die sie verdienen. Der Trend des politischen Engagements Jugendlicher geht in Richtung unkonventioneller und projektorientierter Formen der politischen Beteiligung. Bei Bewegungen wie Antikriegsproteste und globalisierungskritischer Mobilisierung sind Jugendliche erheblich beteiligt. Auch eine 2002 durchgeführte Initiative von Schülern für den Friedensprozess zeigt die Politik, die von Jugendlichen betrieben wird. 210 000 Jugendliche beteiligten sich aktiv daran. Der Begriff „politisches Interesse“ wird häufig einseitig festgelegt. In einer fluiden, sich fließend verändernden Gesellschaft, muss auch die Frage nach möglichen politischen Ausdrucksformen immer wieder neu überdacht und festgelegt werden. Quellen: www.shell-jugendstudie.de (1) U. Schneekloth, Demokratie, ja – Politik, nein? Einstellung Jugendlicher zur Politik (in: Deutsche Shell (Hg.) 2002, S. 101 (2) A. Fischer, Engagement und Politik (in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.) 1997, S. 324) (3) Fischer/Münchmeier, Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht /in: Jugendwerk der Deutschen Shell(Hg.) 1997, S.13) (4) Roth/Rucht,(in: dies. (2000)); U. Schneekloth, (Demokratie, ja – Politik, nein? Einstellung Jugendlicher zur Politik (in: Deutsche Shell (Hg.) 2002, S. 91 – 137); (5) Fischer/Münchmeier, (Die gesellschaftliche Krise hat die Jugend erreicht (in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.) 1997, S 11 – 23)); (6) W. Heitmeyer, (Es geht um Macht, (in: Die Zeit, 28.01.1999)); (7) R. Roth,(in: Beerhorst et al. (Hg.) 2004, S 409 – 426);Lebenslagen in Deutschland, Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, S.95;