1 14. SHELL JUGENDSTUDIE (2002) ALLGEMEIN Beitrag zur wissenschaftlichen wie gesellschaftsweiten Diskussion über die Jugend in Deutschland Beitrag zum besseren Verständnis der Jugend in Deutschland "In der Tradition der Jugendstudien hat Shell keinen Einfluss auf Konzeption, Inhalte oder Auswertung genommen. Allein die finanziellen Mittel für die Jugendstudie werden von Shell zur Verfügung gestellt." Projekt wurde geleitet von Prof. Klaus Hurrelmann und Prof. Mathias Albert von der Universität Bielefeld in Kooperation mit Infratest Sozialforschung, einem der renommiertesten Institute im Bereich der Sozialforschung Schwerpunkt liegt auf dem Politikverständnis von Jugendlichen und ihre geschlechtsspezifischen Zugangsweisen zur Politik Entschluss, den vorliegenden Schwerpunkt zu setzen: Mittlere und ältere Generation sowie die Verantwortlichen in Parteien, Regierungen und Verbänden sind teilweise beunruhigt und irritiert über die nicht zu übersehende Distanz der jungen Generation gegenüber dem Alltagsbetrieb der etablierten politischen Organisationen Umfang der vorliegenden Untersuchung: 2500 Jugendliche der Altersgruppe 12 bis 25 Jahre (ausführliche Befragung auf Grundlage eines standardisierten Fragebogens; Zeitraum: Mitte März bis Mitte April 2002) Auswahl nach einer für Deutschland repräsentativen Stichprobe 20 ausführliche Einzelinterviews mit einem offen gehaltenen Leitfaden (Jugendliche mit besonderen Formen von persönlichem Engagement) Ziel: Kombination quantitativer und qualitativer Erhebungsverfahren 2 ERGEBNISSE Junge Generation blickt insgesamt optimistisch auf ihre persönliche Zukunft, d.h. insgesamt herrscht unter ihnen eine positive Grundstimmung Jugend orientiert sich an scheinbar widersprüchlichen Maximen: gutes Aussehen Markenkleidung tragen Nutzung neuer Technik (Handy, Internet etc.) Karriere machen Treue zu sich selbst und gegenüber anderen gesellschaftlich aktiv sein ist ok, sich in Politik einmischen out!! Grundlegender Wertewandel ist feststellbar Aufsteigen statt aussteigen Die Jugendlichen orientieren sich an konkreten und praktischen Problemen, die für sie mit persönlichen Chancen verbunden sind ZENTRALE BEDEUTUNG DES BILDUNGSNIVEAUS Aktuelle Ansichten und Lebensumstände werden vor dem Hintergrund des eigenen Bildungsniveaus beeinflusst. Dies gilt auch für die Einschätzung späterer gesellschaftlicher Chancen Etwa die Hälfte aller Befragten strebt das Abitur oder eine fachgebundene Hochschulreife an (mehr Mädchen als Jungen) Deutlichere Benachteiligung auf der Seite der Jugendlichen, die ein geringes Bildungsniveau aufweisen Schlechtere Chancen, ihre beruflichen Wünsche einzulösen Geringere Zufriedenheit über ihre gegenwärtige Lebenssituation Bildungsniveau in Deutschland wird nach wie vor in hohem Maße "vererbt" 75 % der Schüler, deren Väter das Abitur besitzen, streben ebenfalls das Abitur oder eine fachgebundene Hochschulreife an 25 % der Schüler streben dies an, die aus Familien mit Volksschul- oder einfachem Hauptschulabschluss kommen 3 CLIQUE, FAMILIE UND KARRIERE Etwa 70 % der Jugendlichen sind in Cliquen eingebunden Gleichzeitig wird aber der Familie ein hoher Stellenwert eingeräumt (ca. 75 % der Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren wohnen noch bei der Herkunftsfamilie) Gut 90 % geben an, mit ihren Eltern gut klarzukommen, auch wenn es ab und an einmal Meinungsverschiedenheiten gibt Fast 70 % würden oder wollen ihre Kinder genau so oder wenigstens ungefähr so erziehen, wie sie selber von ihren Eltern erzogen worden sind (deutlich mehr als in früheren Shell Jugendstudien) Alles in allem zeigt sich demnach ein hohes Maß an Akzeptanz und Übereinstimmung zwischen den familiären Generationen 75 % w / 65 % m meinen, dass man eine Familie zum "Glücklichsein" brauche Mehr als 66 % der Jugendlichen wollen später eigene Kinder Kinderwunsch und "Kinder kriegen" werden aber als zwei verschiedene Sachverhalte gesehen Das Durchschnittsalter, in dem Frauen in Deutschland heute Kinder bekommen, steigt tendenziell weiter an Konsequenz: Die Wahrscheinlichkeit nimmt bei immer mehr Frauen zu, dass sie gar keine Kindern bekommen werden WERTEWANDEL – DIE PRAGMATISCHE GENERATION Im Unterschied zu den 80er Jahren nehmen Jugendliche heute eine stärker pragmatische Haltung ein 4 Sie wollen praktische Probleme in Angriff nehmen, die aus ihrer Sicht mit persönlichen Chancen verbunden sind Übergreifende Ziele der Gesellschaftsreform oder die Ökologie stehen hingegen nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der meisten Jugendlichen Mitte/Ende 80er Jahre: für 83 % war "umweltbewusstes Verhalten wichtig 2002 sind es nur noch 59 % Wichtigkeit eines politischen Engagements: von 33 % auf 23 % Im Laufe der 90er Jahre sind den Jugendlichen Leistung, Sicherheit und Macht wichtiger geworden Mitte der 80er Jahre: für 62 % waren "Fleiß und Ehrgeiz" wichtig 2002 sind es bereits 75 % "Streben nach Sicherheit": von 69 % auf 79 % "Macht und Einfluss": von 27 % auf 36 % Die Mentalität der Jugend hat sich insgesamt von einer eher gesellschaftskritischen Gruppe in Richtung der gesellschaftlichen Mitte verschoben, was auch verstärkt für die originär gesellschaftskritischere Gruppe der Studierenden gilt Trotz der Ferne von der "großen Politik" sind die Jugendlichen in ihrem näheren und ferneren Lebensumfeld eine gesellschaftlich aktive Gruppe Soziale Aktivität Politisches Engagement INDIVIDUALITÄT UND SICHERHEIT IN NEUER SYNTHESE Annahme, der Wertewandel verlauf relativ stetig in Richtung "postmaterialistischer" Selbstverwirklichungs- und Engagementwerte und ginge mit einem Rückgang von Leistungsund Anpassungswerten einher, hat sich als vorschnell erwiesen!! Entwicklung der Jugend in den letzten 15 Jahren ist anders verlaufen, bedingt auch durch veränderte Rahmenbedingungen Hohe Leistungsanforderungen bei gleichzeitig erhöhtem Risiko Schulisches wie berufliches Versagen 5 Risiken der persönlichen Sicherheit in einer Welt offener Grenzen und überlasteter öffentlicher Sicherheitsapparate Es wäre in einer derartigen Situation naiv oder kontraproduktiv ("Protest" bzw. "Null-bock"), sich dieser neuen Lage nicht anzupassen hinsichtlich eigener Wertorientierungen Deshalb: Erhöhung der Leistungsanstrengungen und aktives "Umweltmonitoring" (aufmerksame Überprüfung der sozialen Umwelt auf Chancen und Risiken, um Chancen zu ergreifen und Risiken zu minimieren) Deshalb: Ausbildung eines ausgeprägt positiven Denkens, konzentriert auf die persönliche Perspektive (ideologisch unterfütterter Pessimismus früherer Generationen ist passé) Vor allem weibliche Jugendliche sind Trägerinnen dieser leistungsorientierten und unideologischen Einstellung Annäherung an Verhaltensmuster männlicher Altersgenossen ("Macht und Einfluss", "Karriere machen", "Verantwortung übernehmen" etc.), ohne allerdings ihre geschlechtsspezifischen Besonderheiten ("emotionaler", "toleranter", "umweltbewusster", "sozial hilfsbereiter" etc.) aufzugeben. Immer mehr Jugendliche verknüpfen "moderne" Werte mit "alten" Werten wie Ordnung, Sicherheit und Fleiß Neues, unbefangenes Verhältnis zu den so genannten deutschen Sekundärtugenden, ohne den damit verbundenen "altbürgerlichen Staub" zu übernehmen!!! DIFFERENZIERUNG DER JUGENDLICHEN IN MENTALITÄTSGRUPPEN "Selbstbewusste Macher" (ca. 25 %) im Besitz des mentalen Rüstzeugs, um sich den Anforderungen der ganzen Breite des neuen Lebens zu stellen "Recht und Ordnung" sowie Verinnerlichung des "Leistungswettbewerbs" besitzen hohe Priorität besonderer Ehrgeiz 6 persönliche Ziele liegen in der Übernahme verantwortlicher Positionen mit Einfluss und Ansehen Leistungsgedanke wird stärker betont als soziales Denken und Engagement Förderung einer produktiven gesellschaftlichen Entwicklung "Pragmatische Idealisten" (ca. 25 %) aktive und optimistische Gruppe, die bevorzugt aus bildungsbürgerlichen Schichten stammt und zu 60 % weiblich ideelle Seite des Lebens steht im Vordergrund sicherheitsbewusst, ohne ideologisch "verscheuklappt" zu sein ("Recht und Ordnung", "Leistungswettbewerb" werden anerkannt und für wichtig gehalten) Soziales Denken und Engagement wird stärker betont als Leistungsgedanke Höhere Priorität auf einer weiteren und allseitigen Humanisierung der Gesellschaft "Robuste Materialisten" verstärkte Skepsis in eigene persönliche Zukunft Probleme, den Leistungsanforderungen gerecht zu werden reagieren mit Durchsetzungswillen und äußerer Stärke auf ihre ungünstige Situation Im Zweifelsfall bewusste Übertretung sozialer Regeln und Übereinkünfte selten Sympathie zu gesellschaftlichen Randgruppen ablehnende Haltung gegen Ausländer / kleine Mehrheit neigt zu politischem Radikalismus Gesellschaft muss in Bezug auf Einhaltung von Regeln und Gesetzen rigoros auf diese Minderheit reagieren, weil sie keine andere Argumentationsweise kennen oder kennen wollen Erst danach "weichere" Maßnahmen sinnvoll "Zögerliche Unauffällige" verstärkte Skepsis in eigene persönliche Zukunft Probleme, den Leistungsanforderungen gerecht zu werden reagieren mit Resignation und Apathie auf ihre ungünstige Situation generell Sympathie mit gesellschaftlichen Randgruppen Aufgabe der Gesellschaft, diese Gruppe sozial besser zu integrieren 7 RÜCKLÄUFIGES INTERESSE AN POLITIK Anteil der politisch interessierten Jugendlichen ist von 55 % (1984) über 57 % (1991) auf inzwischen 34 % gesunken Politisches Interesse ist abhängig vom Bildungsniveau Mehrheit der Jugendlichen verortet sich mittelinks; politischem Extremismus wird eine klare Absage erteilt Auffallend ist, dass die Neigung der Jugendlichen zu der Partei der Bündnis 90/Die Grünen deutlich abgenommen hat Insgesamt trauen 37 % gar keiner der Parteien eine entsprechende Kompetenz (Lösung der Probleme in Deutschland) zu, weitere 19 % geben dazu keine Antwort EINSTELLUNG ZU DEMOKRATIE UND GESELLSCHAFT Überwiegende Mehrheit hält Demokratie für eine gute Staatsform Kritisch wird allerdings die konkrete demokratische Praxis gesehen, vor allem die etablierten politischen Parteien ("Parteiverdrossenheit" "Demokratieverdrossenheit") Wahlen sind in der Jugend kein "Selbstläufer", viele Jugendliche müssen für eine Beteiligung erst gewonnen werden (nur 35 % gehen in jedem Fall wählen, 37 % wahrscheinlich) FAZIT: MEHRHEIT DER JUGENDLICHEN SIND EGOTAKTIKER Sie fragen die soziale Umwelt ständig sensibel nach Informationen darüber ab, wo sie selbst in ihrer persönlichen Entwicklung stehen. 8 Es gilt das Beste aus einer unklaren und teilweise widersprüchlichen Lebensituation zu machen und vorhandene Chancen so wahrzunehmen wie sie sich anbieten. Die egotaktische Grundeinstellung ist so gesehen die angemessene Antwort auf die Offenheit der Struktur der Lebensphase Jugend, deren Ausgang in das verantwortungsvolle Erwachsenenalter ungewiss geworden ist.