Die Alben des Jahres - Wasser

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Magazin
Wasser Prawda
Die Alben des Jahres
Etta James
Johnny Otis
Neues aus Canada: Wunderknaben, Doktoren und Axtmörder
Warum noch immer Menschen an Hustenbonbons ersticken
Bertram Reinecke, Volker Altwasser
Darwin in Vorpommern: Judith Schalansky
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G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d
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K arl Valta: Plak ate und
Fotogr afiken
In Zeiten des Internets und des Wegwerf-Flyers ist die Plakatkunst ein wenig in Vergessenheit geraten. Der Maler und Grafiker Karl Valta zeigt
in seiner Ausstellung in der wirkstatt (Greifswald, Gützkower Str. 83) Arbeiten, die vor allem Blueskonzerte in Vorpommern ankündigten. Ergänzt
wird die Ausstellung durch Fotografien und Fotografiken, die in Pommern
auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze entstanden sind.
Öffnungszeiten: Montag - Freitag 12-18 Uhr
Editorial
schen natürlich das tägliche Schreiben, das Hören zahlloser neuer Platten und wiederentdeckter
Kostbarkeiten. Und der Blick auf die auch nach
vier Wochen noch reichlich eingehenden Stimmen für die Bluesplatten des Jahres 2011. Denn
mehr als wir selbst zu glauben wagten, fieberten
Künstler, Manager und nicht zuletzt Fans mit und
brachten unser Magazin weltweit ins Gespräch.
Denn gerade für Bluesmusiker ist es wichtig, in
der Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen zu
werden, um Tourneen zu ermöglichen und die
Plattenverkäufe zu beleben. Endlich ist diese
Umfrage vorbei, mit für uns teilweise sehr überraschenden Ergebnissen. Wir stellen hier Sieger
und Platzierte nochmals ausführlich vor und liefern all die Details.
Immer wieder fragen uns Musiker, Booking
Agenturen oder Manager, wo man in Deutschland eigentlich auftreten könnte. Das ist ein
Symptom für die Lage der Live-Szene hierzulande: Es fehlt den Veranstaltern schlicht das Geld,
um auch unbekannteren Musikern eine Chance
Fast vier Wochen sind seit der ersten pdf-Ausgabe geben zu können. Und in Gegenden wie dem
vergangen. Vier Wochen voller Planungen, Ideen Raum Vorpommern gibt es inzwischen überund Debatten über Layout und Stil. Und dazwi- haupt kaum noch Menschen, die Geld und Lust
haben, Blueskonzerte zu veranstalten. Wer von
Inhalt
Euch uns helfen kann mit Adressen, Hinweisen
oder gar mit der Organisation eigener Konzerte,
melde sich bitte per email oder über unsere Facebook-Seite. Aktuell suchen beispielsweise der
australische Blues- und Countrymusiker 8 Ball
Aitken und Sean Chambers nach Möglichkeiten
für Tourneen durch Deutschland.
Nur wenige Tage nacheinander starben zwei der
ganz wichtigen Vertreter des Rhythm & Blues.
Johnny Otis mag seit Jahren vor allem in Europa
ein wenig in Vergessenheit geraten sein. Schon
seit Weihnachten letzen Jahres war dagegen der
Tod von Etta James nach jahrelanger Krankheit
erwartet worden.
Im Feuilleton widmen wir uns in dieser Ausgabe
komplett der (jungen) Literatur aus dem Nordosten. Erik Münnich stellt den in Greifswald lebenden Jürgen Landt vor und sprach mit dem
Lyriker und Verleger Bertram Reinecke. Uwe
Roßner traf sich mit dem inzwischen in Rostock
lebenden Volker Altwasser. In den Rezensionen
geht es um zwei Bücher von Judith Schalansky.
Unser erster Film des Monats ist Clint Eastwoods
„J. Edgar“ mit Leonardo DiCaprio und Naomi
Watts.
Impressum
Blues 2011 - Die Alben des Jahres
4
Nathan Nörgel: Neues aus Kanada
10
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag
Greifswald veröffentlicht und erscheint einmal monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de
verschickt.
Redaktion:
Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.)
Leiter Feuilleton: Erik Münnich
2. European Blues Challenge13
The Wiyos15
16
Angela Perley & The Howlin‘ Moons
Mitarbeiter dieser Ausgabe: Robert Klopitzke, Uwe Roßner
Etta James 17
Jürgen Landt: Warum Menschen immer noch an
Hustenbonbons ersticken29
Adresse:
Redaktion Wasser-Prawda
c/o wirkstatt
Gützkower Str. 83
17489 Greifswald
Tel.: 03834/535664
www.wasser-prawda.de
mail: [email protected]
Bertram Reinecke: Verstehen ist, eine Melodie weiter pfeifen. 33
Dem Meer abgelauscht: Volker H. Altwasser im Gespräch 35
Anzeigenabteilung:
[email protected]
Rezensionen37
Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda
zu.
Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des
Erscheinungs-Monats.
Johnny Otis21
Album des Monats: Joe Louis Walker - Hellfire
23
Rezensionen24
Film des Monats: J.Edgar (Clint Eastwood)
39
Vier Autoren und ein Lektor oder: Provinz ist nicht immer
Provinz40
Die nächste Ausgabe erscheint am 22. März 2012.
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3
© wasser-prawda
Musik
Blues 2011 - Die Alben des
Jahres
2662 Leser haben abgestimmt. Insgesamt wurden in den fünf Kategorien
17714 Stimmen auf insgesamt 67 Alben verteilt. Hier sind die Ergebnisse
der ersten Umfrage zu den Blues-Alben des Jahres der „Wasser-Prawda“.
24.41
25.40
26.30 27.24 28.20 Kaum eine Kategorie war so umkämpft wie diese. Aber das lag einfach auch daran, dass hier bekannte
Interpretinnen wie Ana Popovic,
Louisiana Red, Gregg Allman und
Johnny Winter gleichberechtigt neben noch jüngeren Künstlern wie
Dana Fuchs, Johnny Childs oder
Mariëlla Tirotto & the Blues Federation standen. Und außerdem
gibt es die denkbar bunteste Mischung zwischen dem Pianoblues
von Marcia Ball, Gitarrenblues der
verschiedensten Richtungen, Soulblues und Bluesrock. Die Endplazierung
ist letztlich das Ergebnis massiver Fanoffensiven der Musiker auf den ersten
fünf Rängen.
1. 1511
2. 1324
3. 900 4. 760
5. 719
6. 478
7. 447
8. 280 9. 185 10.140 11.136 12.132 13.120 14.107 15.97 16.96 17.87
18.84
19.83
20.70
21.68
22.51
23.46
Roomful of Blues - Hook, Line & Sinker
THE DUKE ROBILLARD BAND - Low Down and Tore Up
Rod Piazza & The Mighty Flyers - Almighty Dollar
Tracy Nelson - Victim of the Blues
Wentus Blues Band - Woodstock
Anfangs sah es fast so aus, als könne Timo Gross bei den deutschen
Veröffentlichungen keiner gefährlich werden. Höchstens noch Jimmy Reiter. Doch dann drehte sich
im Laufe der Wochen das Bild
komplett. Für mich überraschend
der Platz 2 mit dem Cologne Blues
Club. Denn deren Album hab ich
bislang noch nicht hören können.
Überraschend für mich das Abschneiden von Henrik Freischlader. Und ebenso auch die Erfolge
von Jessy Martens und Dynamite
Philip Fankhauser - Try My Love
Ana Popovich - Unconditional
Beth Hart & Joe Bonamassa - Don‘t Explain
Dana Fuchs - Love To Beg
Mariëlla Tirotto & the Blues Federation - Dare To Stand Out
Candye Kane - Sister Vagabond feat. Laura Chavez
Gina Sicilia - Can‘t Control Myself
Louisiana Red & Little Victor‘s Juke Joint - Memphis Mojo
Johnny Childs - Groove
Gregg Allman - Low Country Blues
Johnny Winter - Roots
Little G Weevil - The Teaser
Cash Box Kings - Holler & Stomp
Tedeschi Trucks Band - Revelator
Mike Zito - Greyhound
Marcia Ball - Roadside Attractions
Earl Thomas with Paddy Milner & The Big Sounds - See It My Way
Tab Benoit - Medicine
Lightinin‘ Malcolm - Renegade
Morland & Arbuckle - Just A Dream
Hugh Laurie - Let Them Talk
Ernest Lane - 72 Miles from Memphis
Sugar Ray & The Bluetones - Evening
Daze.
1. 640
2. 341 3. 332 4. 327
5. 271
6. 270
Jessy Martens & Band - Brand New Ride
Cologne Blues Club - Our Streets
Dynamite Daze - Scarecrows on Rampage
Jimmy Reiter - High Priest of Nothing
Henrik Freischlader - Still Frame Replay
Timo Gross - Falllen from Grace
Auch wenn Fan-Aktionen für einzelne Nominierte im Laufe der Zeit
für gewisse Veränderungen sorgten, ist bei den Akustikalben der
Sieg von Big Daddy Wilson von
Anfang an unumstritten geblieben.
Und als ich schon fast befürchtete,
ich wäre der Einzige Fan von Rory
Blocks aktuellem Album, wurde
ich prompt eines besseren belehrt.
Auch wenn ich mit Reverend Peyton allein zu stehen scheine....
4
© wasser-prawda
Musik
1. 703
2. 325
3. 291
4. 225
5. 161
6. 110
7. 69 8. 60
9. 50
10.26
11.23
12.20 13.18
14.14
4. 338 Big Daddy Wilson - Thumb A Ride
Sunday Wilde - What Man!?? - Oh THAT man!! 5. 160 6. 135 Rory Block - Shake ‚em On Down
7. 96
8. 58
9. 48
10.45
Richie Arndt, Timo Gross, Alex Conti - Crossing Borders
8 Ball Aitken - The Tamworth Tapes
Bernd Kleinow - The Harp
Swamp - Mes Amis
John Pippus - Wrapped Up In The Blues
Biber Herrmann - Love & Good Reasons
Reverend Peyton‘s Big Damn Band - Peyton on Patton
Mary Flower - Misery Loves Company
Matt Walsh Acoustic Quartet - A Part Of Me
Pokey LaFarge - Middle of Everywhere
Ray Bonneville - Bad Man‘s Blood
4. 335 5. 200 6. 71 7. 70 8. 49 9. 27 Herzlichen Glückwunsch an alle Gewinner und Platzierten - und vielen
Dank an unsere Leser für die rege Mitarbeit!
Als wir im Dezember die Umfrage gestartet haben, hätten wir nie im
Traum daran gedacht, welche Reaktionen wir damit auslösen würden.
Gleich von Beginn an waren vor allem einige der nominierten Musiker mit Eifer dabei, ihre Fans zu aktivieren. Das ging hin bis zu Pressemeldungen in den kanadischen Medien oder Aufrufen via Facebook,
Bandnewsletter oder Homepage. Das zeigt, wie wichtig eine gute Medienlandschaft gerade auch für Bluesmusiker ist - und wie schwer es für
sie ist, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Und daher fragten in den letzten Wochen auch immer mehr Manager oder BoogingAgenturen nach den Zwischenständen an. Für die ist ein Sieg immer
auch eine Möglichkeit, Tourneen zu ermöglichen in einer Zeit, wo immer mehr Veranstalter kein Geld mehr haben, um auch unbekannteren
Künstlern eine faire Chance zu geben. Und wenn denn auch nur eine
Tour auf Grund unserer Umfrage stattfinden sollte, dann hätte ich noch
mehr erreicht, als ich gehofft habe.
Wer sich fragt, wie wir zu unseren Nominierungen gekommen sind: Zuerst haben wir nur Alben aufgenommen, die wir im Laufe des Jahres
2011 selbst gehört und rezensiert hatten. In Kategorien wie „elektrisch
(international)“ haben wir da schon eine erste subjektive Vorauswahl
der Alben getroffen, die wir selbst für besonders gelungen halten. Später
fanden sich Leser, die zu Recht weitere Alben nachnominierten, die in
unserem Vorschlag nicht vorgekommen waren. Bei einem „kleinen aber
feinen“ Magazin wie unserem, bleiben da naturgemäß Lücken.
Magda Piskorczyk - Afro Groove
Nina van Horn - Ashima, India Tour
Sean Chambers - Live from The Long Island
Eric Bibb - Troubadour Live with Stefan Astner
Eric Clapton & Wynton Marsalis - Play the Blues Live from Jazz at Lincoln Center
JJ Grey & Mofro - Brighter Days
Tommy Castro - The Legendary Rhythm & Blues Revue Live!
Mad Dawgs - ...live!
The Streetrats - à3
Doch je mehr wir als unabhängiges und faires Magazin bekannt werden,
desto mehr Musiker und Labels wollen auch von uns rezensiert werden.
So ist die Zahl der zugesandten Alben seither gewaltig gewachsen. Und
ebeno auch die der Anfragen wegen der Veröffentlichung von Artikeln
und Tourdaten. Darüber sind wir sehr froh und dankbar. Denn es zeigt
uns, dass wir mit unserer Arbeit nicht ganz neben der Spur liegen können. Auch wenn uns vor Jahren mal ein Profi gesagt hat, wir würden
einmal an unserer Arroganz zu Grunde gehen. Aber wenn es um Musik
und Literatur geht, da sind wir stolz darauf, nur das zu behandeln, was
es unserer Meinung nach wirklich verdient hat und wovon wir auch eine
Ahnung haben.
Noch bunter gemischt als in den
anderen Kategorien ist die DebütAbteilung. Vom Texas-Boogie a
la ZZ Top (The Mezcaleros) über
klassischen Gitarrenblues (Richard Carr), Soulblues mit Hiphop (Tweed Funk) bis zum akustischen Ausflug in die Frühzeit des
Blues bei Bena & Ptazek reichte da
das Spektrum. Und anders als bei
den Blues Music Awards habe ich
hier nur wirkliche Debüts aufgenommen. Jemand der wie Johnny
Childs schon andere Platten aufgenommen hat, musste sich dem Wettbewerb in den anderen Kategorien
stellen.
Bleibt zu hoffen, dass man von den Debütanten des Jahres 2011 bald neue
Alben zu hören bekommt. Die Chancen stehen ja recht gut: Bena & Ptacek
sind bald bei der European Blues Challenge in Berlin zu erleben während
Tweed Funk gerade noch in Memphis bei der IBC kämpfen. Hip Shakin
Mama dagegen ist schon seit Wochen im Studio für das nächste Album.
Und Samantha Fish und Sena Ehrhardt werden beim ständigen Touren
hoffentlich genügend Ideen für neue Songs finden.
1. 961 2. 619 3. 377 Anmerkungen aus der Redaktion
Dass Nominierungen für die Blues
Music Awards und Verkaufszahlen
nicht alles sind, zeigt sich besonders deutlich bei den Live-Alben
des Jahres. Hier gewinnt mit fast
doppelt so vielen Stimmen wie
die Zweitplatzierte die polnische
Sängerin und Gitarristin Magda
Piskorczyk, Die Branchenlieblinge und Altstars wie Eric Clapton,
JJ Grey & Mofro oder Tommy
Castro landen weit abgeschlagen
im Mittelfeld. Allerdings ist dieses
Ergebnis auch aus kritischer Sicht
der Redaktion vollkommen gerechtfertigt.
1. 824 2. 478 3. 469 Sena Ehrhardt Band - Leave The Light On
Richard Carr - Tell Everybody
Bena & Ptaszek - Music of the Mississippi River
Tweed Funk - Bringin‘ It
Dave Moretti Blues Revue - Bluesjob
Nicky Estor - Blues and Friends
Joel DaSilva and the Midnight Howl
In diesem Sinne sind wir auch voller Elan in das Bluesjahr 2012 gestartet und sind schon gespannt, wen wir am Jahresende für die Alben des
Jahres nominieren dürfen. Wenn man schon im Januar solch hervorragende Werke zu hören bekommt wie „Hellfire“ von Joe Louis Walker
oder die neue Scheibe von Dani Wilde, dann kann man optimistisch in
die Zukunft blicken. Ich hoffe darauf, das Ihr mir schon im Laufe der
nächsten Wochen jede Menge Vorschläge unterbreitet, welche Künstler
man hier unbedingt rezensieren und vorstellen sollte, damit die Auswahl
im Dezember noch bunter wird als 2011.
Und ich erwarte Eure Vorschläge auch dahingehend, wie man die einzelnen Kategorien künftig gestalten sollte. Eine kleine Änderung werde
sicherlich vornehmen: Der Bluesrock wird in diesem Jahr eine extra Kategorie erhalten. Nicht umsonst hat diese Musik ja so viele Fans in aller
Welt. Auch wenn ich selbst damit immer mal meine Probleme habe.
Wahrscheinlich werde ich für (klassischen) Soul und Gospel ebenfalls
Kategorien aufnehmen.
The Mezcaleros - Road To Texas
Samantha Fish - Runaway
Hip-Shakin Mama & The Leg Men - Reclaim Your Land
Euer Raimund Nitzsche
(Chefredakteur)
5
© wasser-prawda
Platten
Unredigiert: Die Rezensionen der Sieger Und
Platzierten
Vorbemerkung
Es sind Unmengen Platten, die man im Laufe
des Jahres gehört und rezensiert hat. Manche
bleiben lange in Erinnerung und im CD-Player.
Bei anderen verblasst die Erinnerung schneller.
Und vielleicht würde man heute einiges anders
schreiben. Doch genau das wollen wir nicht tun.
Wir veröfentlichen von den Siegeralben die Rezensionen in der Form, wie wir sie ursprünglich
geschrieben haben.
Die hier fehlenden Rezensionen finden sich in
der ersten Ausgabe unseres pdf-Magazins im Rezensionsteil bzw. im Special zum kanadischen
Blues. Nur das Album von The Cologne Blues
Club konnten wir bislang noch nicht rezensieren, weil wir es noch nie gehört haben.
Dennis Walker (der schon für B.B. King und Robert Cray gearbeitet hat) ist ein Album, dass von
der ersten Note an gefangen nimmt: So klingt
eigentlich Memphis Blues - warme Songs mit fetten Bläsern und einer Gitarre, die sich sanft in die
Ohren bohrt. Ein großteil der Lieder der Platte
stammen aus Fankhausers Feder, einige von Walker (wie etwa das großartige „Don‘t Be Afraid of
the Dark“) - und sie sind alle hörenswert.
Wer Musik etwa wie die von James Hunter - oder
die „London Days“ von BB & The Blues Shacks
mag, muss dieses Album hören. Allen anderen sei
es dringend ans Herz gelegt. „Try My Love“ kann
man jetzt zu den besten Neuveröffentlichungen
in Deutschland zählen. Schade, dass die Platte
im letzten Jahr an mir vorüber gegangen ist.
Raimund Nitzsche
Alben des Jahres in
der Redaktion
Ganz bewußt haben wir ja die Leser nach ihrer Meinung gefragt. Wir in der Redaktion
haben natürlich auch eine. Und die wollen
wir hiermit kundtun:
Bluesalbum - elektrisch (international)
1. Johnny Childs - Groove
2. Philipp Fankhauser - Try My Love
3. Earl Thomas with Paddy Milner & The
Big Sounds - See It My Way
4. Sugar Ray & The Bluetones - Evening
5. Hugh Laurie - Let Them Talk
Bluesalbum - elektrisch (national)
1. Jimmy Reiter - High Priest of Nothing
2. Timo Gross - Fallen from Grace
3. Dynamite Daze - Scarecrows on Rampage
Philipp Fankhauser - Try
My Love
(Membran)
Dienstag, den 03. Mai
2011:
Die Presse bezeichnet
ihn als letzten oder einzigen Mohikaner des Blues
in der Schweiz. Die Musik von Philipp Fankhauser klingt allerdings mehr nach Memphis als
nach den Alpen. „Try My Love“ wird jetzt versehen mit vier Bonus-Tracks auch in Deutschland
veröffentlicht.
Bin ich froh, dass ich kein Profi bin. Denn der
dürfte nicht guten Gewissens zugeben, dass er
von Philipp Fankhausen noch nie etwas gehört
hat. Denn schließlich hat der 1974 geborene
Sänger und Gitarrist seit 1989 einen ganzen Stapel Platten - mit der Checkerboard Blues Band
ebenso wie als Solist - veröffentlicht. Und mit
seinem 2008 erschienenen „Love Man Riding“
hat er die Bluesplatte mit den höchsten Verkaufszahlen aller Zeiten in der Schweiz veröffentlicht.
Als die Nachfolgeplatte „Try My Love“ in meinem Player landete, da war das also für mich eine
völlige Neuentdeckung. Und zwar eine von der
angenehmsten Sorte. Denn das von Produzent
Ana Popovic - Unconditional (Eclecto
Groove/inakustik)
Mittwoch, den 31.
August 2011
Auf ihrem sechsten
Studio-Album „Unconditional“ spielt sich die aus Serbien stammende Gitarristin Ana Popovic quer durch sämtliche
Bereiche des zeitgenössischen Blues. Gast im Studio waren unter anderem Sonny Landreth und
Jason Ricci. Wenn man sich „Unconditional“
anhört, dann kann man der Vorstellung schwer
widersprechen, dass bestimmte Orte einfach den
Geist ihrer Musik bewahren und ihn auch an
Musiker weitergeben, die sich diesen Orten hingeben. Denn eigentlich hätte man von der aus
Belgrad stammenden Ana Popovic nicht wirklich
ein Album mit Blues erwartet, der eindeutig nach
New Orleans klingt. Hier haben die Studios der
Stadt, in denen die zwölf Songs aufgenommen
wurden, offenbar abgefärbt.
Blues sei einer der konservativsten Musikstile
überhaupt, meint Popovic. Und sie meint das in
einem durchaus direkten Sinn. Wenn man ihn
zu sehr verändern wolle, sei er nicht länger Blues.
Und gerade in der Reduktion aufs Wesentliche
6
Bluesalbum 2011 akustisch
1. Big Daddy Wilson - Thumb A Ride
2. Matt Walsh Acoustic Quartet - A Part Of
Me
3. 8 Ball Aitken - The Tamworth Tapes
4. Bernd Kleinow - The Harp
Livealbum 2011
1. Magda Piskorczyk - Afro Groove
2. Sean Chambers - Live from The Long
Island Blues
3. Nina van Horn - Ashima, India Tour
Debüt 2011
1. Hip-Shakin Mama & The Leg Men Reclaim Your Land
2. Bena & Ptaszek - Music of the Mississippi River
3. Tweed Funk - Bringin‘ It
4. Richard Carr - Tell Everybody
© wasser-prawda
Platten
besteht diese Musik durch die Zeiten. Gerade die
Schönheit dieses Grundgerüstes - und die Konzentration auf das Instrument machten für sie
den Blues aus, schreibt sie in den Linernotes zu
„Unconditional“.
Und so erwartet den Hörer denn auch kein irgendwie gewollter „NuBlues“, kein hochgezüchteter Bluesrock, sondern ganz klassischer Blues
mit einer der besten Gitarristinnen der Gegenwart auf dem Album. Dabei ist es völlig egal, ob
es sich um Klassiker des Blues aus dem Repertoire etwa von Koko Taylor, Buddy Guy oder
Nina Simone oder von Popovic selbst geschriebene Songs handelt. „Unconditional“ stellt für
mich einen der Höhepunkte des Bluesjahres dar.
Nathan Nörgel
gegen den weichgespülten Soulpop. Ich konnte
die Proteste verstehen. Das ist nichts, was Fans
von Aretha Franklin oder meinetwegen Sharon
Jones befriedigen könnte.
Dass ich beim gleichen Set zwischendurch
„Something‘s Got A Hold On Me“ von „Don‘t
Explain“ spielte, merkten die Kenner auf. Denn
diese Stimme irgendwo zwischen Rockröhre
(nein, ich werde den Vergleich zu Janis nicht
ziehen!) und Seelenstriptease a la Etta James ist
ziemlich einzigartig. Und dazu die Gitarre von
Bonamassa, die genau den nötigen Biss hat und
sich niemals in den Vordergrund schiebt.
Solche Glanzstücke gibt es auf „Don‘t Explain“
ein paar. Etwa die Tom Waits Nummer „Chocolate Jesus“. Oder das mit jeder Menge Leidenschaft präsentierte „Sinner‘S Prayer“. Oder das
von diversen Radiostationen gleich in die Rotation genommene „I‘ll Take Care of You“. Soul
und Blues kann man eben nicht ohne ein entsprechendes Leben singen. Alles andere ist nur
quasi-Soul oder eben ein farbloser Abklatsch. Im
Zweifelsfall sollte man „Don‘t Explain“ als Vergleich heranziehen. Aber eigentlich ist das Album
dafür zu schade. Man sollte es einfach so hören
und genießen.
Nathan Nörgel
Beth Hart & Joe Bonamassa Don‘t Explain (mascot)
Donnerstag, den 15.
September 2011
„Don‘t Explain“ präsentiert Beth Hart als eine
Soul- und Bluessängerin, die keinerlei Vergleiche mit selbsternannten
Souldivas zu scheuen
braucht. Joe Bonamassa
unterstützt sie mit seiner Bluesgitarre bei Songs
von Tom Waits bis zu Gil Scott-Heron.
Als ich letztens in meiner Lieblingskneipe auflegte, hab ich mal wieder paar Hörerwünsche erfüllt. Als ich da zu Adele kam, schaute eine Frau
verzückt. Der Rest der Anwesenden protestierte
inneren und äußeren
Welten des Songschreibers.
Als Big Daddy Wilson im letzten Jahr die
German Blues Challenge gewann, da war das
nur zum Teil eine Mogelpackung. Natürlich
stammt der Sänger und Schlagzeuger aus den
Vereinigten Staaten, genauer aus North Carolina. Doch seit Jahren schon ist er aus der deutschen Bluesszene nicht mehr wegzudenken. Und
gemeinsam mit seiner deutschen Band hat er
auch den größten Teil der Lieder seines aktuellen
Albums geschrieben (lediglich „Brother Blood“
stammt von den Neville Brothers).
Das, was Wilson als Fortsetzung seiner „Love Is
The Key“-Tour versteht, hat er in den Songs textlich und akustisch umgesetzt: Lyrisch und voller
Soul singt er sich durch Stücke, die vom Unterwegssein vor allem in den Weiten der zwischenmenschlichen Beziehungen handeln. Angesichts
des Zusammenspiels von Wilson mit seinen Gitarristen Jochen Bens und Michael van Merwyk
kann man verstehen, warum sich Musiker wie
Eric Bibb schon jetzt begeistert zeigen: Das ist
schlicht und einfach akustischer Blues der absoluten Sonderklasse.
Und nicht nur Fans von Bibb oder Keb‘ Mo
sollten dem Album eine Chance einräumen.
Sondern schlicht alle, denen es beim Blues mehr
auf Soul und Feeling, auf Geschichten und Ehrlichkeit als auf aufgesetzte technische Rafinesse
ankommt. Obwohl auch die hier ihre Freude
haben werden. Denn bei aller Zurückhaltung ist
das Zusammenspiel des Trios eine Klasse für sich.
Raimund Nitzsche
Rory Block - Shake `em On
Down (Stony Plain/Fenn)
Mittwoch, den 20.
2011
Big Daddy Wilson - Thumb A Juli
Als Jugendliche begegRide (Ruf)
nete Rory Block dem
Mittwoch, den 18. Mai 2011
Bluesman Mississippi
Das Unterwegssein ist schon immer eines der Fred McDowell. Mit
zentralen Themen des Blues gewesen. „Thumb A ihrer aktuellen CD
Ride“, das neue Album von Big Daddy Wilson „Shake ‚Em On Down“
beschreibt mit seinen 13 Songs Reisen durch die würdigt sie den großar-
7
© wasser-prawda
Platten
tigen Gitarristen und Geschichtenerzähler.
Jessy Martens & Band - Brand
New Ride
Tribute-Alben sind immer eine zweiseitige Angelegenheit. Denn einerseits lenken sie das Interesse auf die gewürdigten Personen und ihr Werk.
Und gleichzeitig reizen sie unwillkürlich zu Vergleichen zwischen dem Gewürdigten und demjenigen, der hier einen musikalischen Tribut zollt.
Wenn Rory Block sich dem Werk von Mississippi Fred McDowell widmet, dann ist das ein
durchaus gerechtfertigter Tribut. Hat sie doch als
Jugendliche mehr als ein Wenig von dem eigensinnigen Gitarristen („I Don‘t Play No Rock ‚n‘
Roll!“) gelernt. Andererseits setzt die Sängerin
mit dem aktuellen Album eine Serie von Würdigungen für die Väter des Mississippi-Blues fort.
Zuletzt hatte sie sich hier die Lieder von Son
House und Robert Johnson neu interpretiert.
Die Höhepunkte von „Shake ‚Em On Down“
sind allerdings nicht Blocks Interpretationen
von McDowells Songs, sondern Stücke wie das
autobiografische „Mississippi Man“, wo sie ihre
Begegnung mit dem Mentor beschreibt oder
der Opener „Steady Freddy“, wo sie zeigt, wie
sie seinen Gitarrenstil inzwischen zu ihrem ganz
eigenen gemacht hat. Bei den sieben McDowellStücken handelt es sich nicht unbedingt um
die bekanntesten Nummern (so fehlt etwa das
durch die Stones berühmt gemachte „You Gotta Move“). Doch wenn sie Lieder wie „Kokomo
Blues“ oder den Titelsong interpretiert, kann
man nachfühlen, warum Rory Block heute als
eine der wichtigsten Interpretinnen des Country Blues gilt: Ganz sicher ist sie eine der besten
akustischen Gitarristinnen, die es derzeit in dieser Welt gibt.
Wenn man dem Album etwas vorwerfen will (was
nicht nötig ist), dann ist das Rory Blocks Gesang.
Während sie auf den sechs Saiten eine Meisterschaft erreicht hat, die keine Vergleiche zu scheuen braucht, ist ihr Gesangsstil irgendwo bei dem
weißen Mädchen aus New Yorker Folkzirkeln
stehen geblieben: Hier fehlt den Liedern einfach
die schiere Kraft, die sie bei ihrem Mentor einfach durch seine stimmliche Präsenz hatten. Aber
diesen Vorwurf könnte man ebenso auch in einen Vorteil umdeuten: Die sexuell aufgeladenen
Texte der urtümlichen Mississippi-Deltas erhalten so eine Unschuld und Zerbrechnlichkeit, die
sie in einem ganz neuen Licht betrachten lassen.
Raimund Nitzsche
Donnerstag, den 17.
November 2011
Erstmals war die Besetzung Jessy Martens &
Band Anfang 2011 auf
den Bühnen des Landes
aktiv. Erfolge feierte die
Sängerin mit ihrer rockenden Band unter
anderem beim Bluesfestival in Eutin und mit der
Nominierung für den German Blues Award. Jetzt
erscheint mit „Brand New Ride“ ein erstes Album mit eigenen Titeln.
Dass Jessy Martens eine der besten Bluessängerinnen in Deutschland ist, hat sich mittlerweile
herum gesprochen. Gerade als Entertainerin hat
die 24jährige zur Zeit wenig Konkurrenz, wie sie
im Frühjahr etwa beim Bluesfestival in Eutin bewies: Trotz Mistwetters hatte sie mit ihrer jungen
Band die Massen von Anfang bis Ende im Griff
und versprühte dabei selbst jede Menge Spaß.
(Dass man das Konzert mittlerweile auf CD vertreibt, ist gut zu verstehen.)
Wie allerdings die Mischung aus Rockband,
Bluespianist und Jessy Martens im Studio funktionieren würde, war mir nicht klar. Allerdings
wurden etwaige Bedenken schon bald ausgeräumt: „Brand New Ride“ bringt die Power der
Konzerte ziemlich nahtlos rüber. Und auch die
komplett von der Band und Freunden geschriebenen Songs passen zu der Bandmixtur. Vom
Titelsong an rockt die Truppe gehörig, lässt den
Funk krachen und macht auch sonst noch jede
Menge Druck. Und über all dem diese Stimme
zwischen Gurren, Röhren und Schreien. Das ist
nicht gelackt, nicht intellektuell hinterfragt, das
ist einfach nach außen getragene Emotion irgendwo zwischen Rock und Blues.
Schwächen hat die Scheibe für mich bei den
wenigen langsameren Nummern wie „Undone“
oder „Fool 4U“. Dass Martens auch Balladen aus
Blues und Soul singen kann, konnte man ja auf
ihrem Debüt mit Jan Fischer‘s Blues Support hören. Hier funktioniert das für mich nicht so gut.
Das dürfte einfach daran liegen, dass gerade die
Herren an Gitarre, Bass und Schlagzeug viel zu
gerne rocken und sich bei Balladen nicht so wohl
fühlen. Aber darüber kann man leicht hinweghören. Es sind ja gerade die explosiven Bluesrocksongs, für die man Jessy Martens und ihre Band
mag.
Nathan Nörgel
8
Cologne Blues
Club - Our
Streets (pepper
cake/zyx)
Da wir diese Platte leider noch nicht gehört
haben, können wir sie
hier auch nicht mit einer Rezension würdigen.
Vielen Dank an unsere Leser, dass sie diesen Vorschlag auf die Liste gebracht haben.
Dynamite Daze - Scarecrows on
Rampage (Stormy Monday/inakustik)
Freitag, den 05. August 2011
Ihr erstes Album nannten Dynamite Daze damals
gleich ganz unbescheiden „Greatest Hits“.
Jetzt folgt mit „Scarecrows On Rampage“
bei Storny Monday Records die Fortsetzung
mit psychedelischem
Bluesrock oder wie
auch immer man die
Musik von diesem deutsch-schottisch-italienischem Quartett auch umschreiben will.
Dass es bei Dynamite Daze ohne eine gehörige
Portion Wahnsinn abgehen würde, war nicht zu
erwarten. Denn schon ihre ersten Songs, die wir
hier damals zu hören bekamen, waren ganz schön
durchgeknallt (in einem positiven Sinn). Jetzt
also schicken sie ihre Strohmänner zur Randale
(wenn ich denn den Albumtitel richtig verstehe).
Und auch das verheißt keine Sonnenscheinlyrik
für Schmetterlingsfreunde. Sie selbst nennen ihre
Musik mittlerweile „Garageblues From Hell“.
© wasser-prawda
Platten
Ich würde eher sagen: Voodoo-Bluesrock aus
dem Irrenhaus - ist auch egal. Für Garageblues
jedenfalls ist die Musik der Männer schon ein
ganzes Stück zu perfekt produziert, wurde der
ganze Dreck im Studio wegpoliert.
Das macht aber Songs wie das gnadenlos groovende „Monkey Fever“ oder den Düster-Walzer
„Bertram“ nicht weniger reizvoll. Und wenn sich
die Combo um Sänger und Harpspieler Dirty
Didi auf eine Zugfahrt durch Transsylvanien begeben, wird auch die instrumentale Meisterschaft
der Mannen mehr als deutlich. Insgesamt ein gerade für Bluesrockfans und für Leute die düstere Musik zwischen Tom Waits, Isaac Allen und
ähnlichen Kneipenpoeten schätzen empfehlenswertes Album. Mir selbst fehlt - neben ein wenig stilistischer Abwechslung insgesamt (aber ich
bin ja nun auch eher ein nicht Blues-Rocker) ein
Textheft zum Album. Denn was Shakira in dem
Song „Shakira“ wirklich für eine Rolle spielt,
hat sich mir bislang nicht ganz erschlossen. Und
auch die anderen Geschichten würde ich gerne
noch nachlesen.
Nathan Nörgel
spricht aber immer dem Anspruch von Phil,
die klassischen Bluesnummern wie „The Kokomo Medley“ oder das sich grandios steigernde
Bluesrock für alle ohne Altersbeschränkungen zu
„I‘m a Woman“, bei denen Magda Piskorczyk
machen.
sich und das Publikum derartig in Trance spielt,
dass einem zeitweise im heimischen Zimmer
noch der Atem stockt. Neben Magda ist da
besonders das Bluesharpspiel von Billy Gibson
(2009 bei den Blues Music Awards als bester
Bluesharpspieler ausgezeichnet) erwähnenswert.
Aber auch Magdas „normale“ Band (Aleksandra
Siemieniuk - g, dobro; Marcin Jahr - dr; Adam
Rozenman - perc) wechselt da vom funkigen
Groove nahtlos über zu afrikanisch anmutenden
Rhythmusorgien. Von diesen folkigen Anfängen
geht das Konzert dann zu Soulbluesnummern
über (in dem Fall hauptsächlich von Gibson
gesungen.) Fast logisch erscheint es dann, dass
das Ende der ersten CD auch Nummern afrikanischer Komponisten beinhaltet, die Piskorczyk
auch in ihrer Originalsprache interpretiert. Und Samantha Fish - Runaway
es fällt kein Bruch auf, weil für sie diese Musik
(Ruf)
alle von dem „Afro Groove“ beseelt ist. Und es
Montag, den 11. April 2011
sind gerade die Kreuzungen, an denen die
Noch 2010 kannten
Musik besonders spannend wird. Wie etwa
die wenigsten Blues„Crossroads“, einer der Bonustitel auf der
fans außerhalb von
zweiten CD, der nun gar nichts mit Johnsons
Kansas City die SängeCrossroad Blues zu tun hat, sondern eine
rin und Gitarristin
Annäherung an die Kreuzung von Mississippi
Samantha Fish. Doch
und Mali aus der Sicht einer europäischen
die Einladung zur
Musikerin.
Bluescaravan 2011
Raimund Nitzsche
könnte zum Start einer
Magda Piskorczyk -Afro Groove
(Artgraff)
Sonntag, den 20. November 2011
Nicht nur im Blues und
Gospel sieht Magda
Piskorczyk ihre Wurzeln sondern auch in
der Musik Westafrikas
und beim Soul. Wie
nahtlos das auch in
einem Konzert ineinander übergehen kann,
zeigt ihr aktuelles Live-Album „Afro Groove“,
bei dem sie unter anderem von dem in Memphis beheimateten Mundharmonikaspieler Billy
Gibson begleitet wird. Die Traditionslinien von
Afrika zum Mississippi-Delta und schließlich bis
nach Europa sind noch immer lebendig. Das
beweisen etwa solche Filme wie „Feel Like Goin
Home“ von Scorsese oder ähnlich gelagerte
Plattenprojekte vergangener Jahre, die etwa John
Lee Hooker oder Corey Harris mit Musikern
aus Westafrika paarten. Auch wenn der Blues
nirgendwo anders als am Mississippi geboren
wurde, die Musik, aus der er schließlich entstandt, kommt zu einem großen Teil aus Afrika.
Und wer heute Blues im traditionellen Sinne
spielen will, sollte sich auch der Musik etwa der
Griots bewußt sein. „Afro Groove“, zum größten Teil am 11. September 2010 beim Satyrblues Festival Tarnobrzeg aufgenommen, spannt
diese Bandbreite ganz locker. Da sind einerseits
The Mezcaleros - Road To Texas
Vor einem Jahr schrieb ich in diesem Magazin
über Phil, der in seinem Homestudio in Paris an
der Neuerfindung des texanischen Bluesrock im
Geiste von ZZ Top arbeitete. Damals kritisierte ich noch, dass die Songs regelrecht nach einer kompletten Band verlangten. Die hat er mit
seinen Mezcaleros gefunden. Und mit der hat er
genau dort weitergearbeitet, wo er aufgehört hatte. „Road To Texas“ mag beim ersten Hören fast
wie ein Klon von ZZ Top anmuten. Doch was
die Mezcaleros spielen,
geht über den simplen
Bluesrock an vielen
Stellen hinaus. Da finden sich Ausflüge nach
Louisiana („Cajun River“) und ab und zu
auch Anklänge an die
Musik etwa eines Mark
Knopfler. Und wenn die Dobro klagt, dann ist
der Weg ins Mississippi-Delta zumindest vorgezeichnet. Das ist nirgendwo revolutionär ent-
9
Weltkarriere werden.
Ende April 2011 erscheint mit „Runaway“ das
Debüt Fishs für Ruf Records. Ein Labelchef wie
Herr Ruf müsste man sein - ich könnte mir
keinen schöneren Job vorstellen, als in aller Welt
junge und vielversprechende Bluesmusiker
ausfindig zu machen und zu produzieren.
Gerade bei den Powerfrauen hat das Label in
den letzten Jahren ganz erstaunliche Entdeckungen gemacht. Joanne Shaw Taylor oder Dani
Wilde tummeln sich voller hochangemessenem
Selbstvertrauen inzwischen unter den ganz
Großen des Blues und Bluesrock. Und auch von
Meena wird man in den nächsten Jahren hoffentlich noch mehr hören. Eine ähnliche Karriere könnte auch die 22jährige Samantha Fish
machen. Das ist jedenfalls mein Eindruck beim
Hören ihres internationalen Debüts „Runaway“.
Waren Fishs Beiträge auf dem „Girls with
Guitars“-Album mit Wilde und Cassie Taylor
teilweise noch von einer jugendlichen Unsicherheit oder auch Unfertigkeit geprägt, sind die
zehn fast komplett selbstgeschriebenen Lieder
von einer fast an Vollkommenheit grenzenden
Schönheit. Musikalisch spielt sich die Scheibe
zwischen klassischem Blues und treibendem
Bluesrock ebenso ab wie im Jazz und in Verweisen an Hardrock der 70er und dem Rhythm &
Blues der frühen Stones. Damit wird klar, dass
sich Fish nicht anbiedern mag an irgendwelche
Schubladendenker. Denn dazu hat sie einfach zu
viele musikalische Ideen, die sie entsprechend
druckvoll und mitreißend bei der Aufnahmesession mit Casssie Taylor (bg) und Produzent
Mike Zito in einem Berliner Studio auf Band
gebannt hat. Höhepunkte des Albums sind
neben dem Titelsong vor allem „Down In The
Swamp“ und die wundervolle Jazzballade
„Feelin‘ Allright“.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Musik
The Harpoonist & The Axe Murderer: Whiskey & Bluesrock statt Bluet und Death Metal.
Neues aus K anada
Wie angekündigt gibt es auch in dieser Ausgabe ein paar Empfehlungen
zum Blues aus Kanada. Mit dabei unter anderem ein Doktor und ein Duo,
das trotz des martialischen Namens keinen Heavy Metal sondern knochentrockenen Bluesrock spielt. Ein Rundumschlag von Nathan Nörgel.
auf einem Segelboot befinde. Und dafür ist jetzt
eindeutig nicht die richtige Jahreszeit.
Also dann: Blues aus Kanada. Ring frei zur
zweiten Runde.
The Jimmy Bowskill Band
Nein, nein, nein und nochmals nein! Ich beteilige mich nicht daran, die nächsten Gitarrenwunderkinder des Blues hochzujubeln. Meine liebste
Gitarristen-Neuentdeckung der letzten Wochen
ist schon über 70 und spielt irgendwo in Singapur eine gepflegte E-Gitarre im Stil des jungen
Peter Green. Auf Platz zwei ist eine bei youtube veröffentlichte alte Frau in Weißrussland, die
ihre Slide-Gitarre mit einer Glühbirne spielt und
sich dabei von niemandem aus der Ruhe bringen
lässt. Und ich bin nun wirklich beim Bluesrock
ein sehr voreingenommener Hörer. So wird es für
den geschätzten Leser kaum verwunderlich sein,
dass mir bislang der kanadische Gitarrist und
Sänger Jimmy Bowskill ein völlig Unbekannter
war. Bis mir „Back Number“ in den Player kam.
Und das ist schon sein fünftes Werk. Und er hat
- so die Anmerkungen der Plattenfirma - erstmals
einen Großteil der Songs dafür geschrieben. Für
Blues-Rock-Fans ist das Album eine Empfehlung
Jimmy Bowskill
wert.
in meinem Kopf immer zurecht suche: Tiefver- Kurz und knapp: Die Jimmy Bowskill Band
Da ist doch tatsächlich der Winter noch gekom- schneite Wälder, Kälte jenseits des Vorstellungs- ist in der Besetzung mit Daniel Reiff (dr), Ian
men in den hohen Norden Deutschlands. Win- vermögens. Und dazu ein ordentliches Kamin- McKeown (bg, tb) und natürlich Jimmy Bowster richtig mit Schnee und Frost, mit schneiden- feuer, um den Winter draußen vor dem Haus zu kill (voc, g, tp, p) ein heftig nach vorne rockendes
dem Wind und kalten Füßen. Irgendwie passt lassen. Und natürlich Musik. Denn ich kann das Trio. Jeder für sich ist mehr als kompetent auf
das ja zu den Bildern, die ich mir von Kanada Heulen des Windes nur ertragen, wenn ich mich seinem Instrument. Und die Band ist großartig
10
© wasser-prawda
Musik
aufeinander eingespielt. Leider überzeugt mich
das Album dennoch nicht. Und das liegt einfach
daran, dass ich zu kaum einem der Songs irgendeine emotionale Beziehung aufbauen kann. Die
Musik - ob nun mit voll aufgerissener Anlage
oder bei normaler Bürolautstärke - geht einfach
an mir vorbei.
Nur wenn Bowskill zur Trompete und sein Basser zur Posaune greift, schleicht sich unwillkürlich ein Lächeln auf mein Gesicht: Endlich einmal wird in der Ballade „The Spirit of Town“ das
Terrain des Bluesrock verlassen. Und man merkt
in der Geschichte über die Veränderungen von
Bowskills Heimatstadt Bailierboro, was man in
der Zukunft von dem gerade 21 Jahre alt gewordenen Musiker noch erwarten kann. Wenn er
es denn wagt, die in der Szene sicherlich erfolgversprechenden Bahnen eines bluesrockenden
Gitarrenwunders zu verlassen. Ich würde es mir
auf jeden Fall wünschen. Vielleicht bringt ihn da
die Zusammenarbeit mit dem Songwriter Ron
Sexsmith noch auf gute Ideen. Sexmiths „Least of
My Worries“ (und das gemeinsam verfasste „Little Bird“ zeigen da eine gute Richtung auf. Für
Bluesrock-Fans ist das Album auf jeden Fall eine
Empfehlung. Für mich bleiben leider unter dem
Strich nur drei Songs positiv in Erinnerung....
Vielleicht bin ich einfach schon ein zu alter und
festgefahrener Typ? (Ruf/in-akustik)
Doch auch mich kann mancher Bluesrock spontan begeistern. Etwa der von der Band, die auf
den einladenden Namen
te Shawn doch als elfjähriger von seiner Großmutter eine Harmonika erhalten. Und dazu ein
Buch: Harmonica for the Musically Hopeless.
Eigentlich also ein hoffnungsloser Fall. Aber vielleicht ist das Buch doch hilfreich gewesen. Wenn
man denn Songs wie „Shake it“ hört, dann ist
da keinerlei unmusikalische Hoffnungslosigkeit
mehr im Spiel.
„Checkered Past“ heißt das Debüt, was das Duo
im Herbst 2011 veröffentlicht hat. Und wenn
man das hört, versteht man wiederum die Verweise auf die Black Keys oder die White Stripes:
Voller Respekt für die Blueswurzeln wird hier
eine Rockmusik dargeboten, die jeden IndieRockschuppen zum Kochen bringen dürfte. Das
klingt absoulut robust und ist sicherlich nichts
für feinsinnige Puristen, für die schon mit der
Einführung des elektrischen Stromes der Blues
geendet hat. Es rockt! Es ist laut. Es groovt. Es
reizt zum Tanzen. Und man vergisst sofort, dass
da nur zwei Menschen Musik machen: Shawn
Hall schafft es, Gesang und Bluesharp aufs Engste zu verbinden. Und Matthew Rogers legt zu
seinem heftigen Gitarrenspiel mit Fußpercussion einen derartigen Groove aus, dass weder
Bass noch Schlagzeug irgendwo vermisst werden.
Und - darauf legen HAM Wert: hier sind keinerlei elektronische Helferlein am Werk: keine
Programmierung, keine vorproduzierten Rhythmustracks und auch kein Loop-Pedal. Alles, was
auf dem Album funktioniert, geht auch live auf
der Bühne. Und das würd ich gerne mal erleben.
schen Exkursen abgerundet wird.
Das Vergnügen geht schon beim Opener los.
Denn Manx und Breit gelingt es, dem eigentlich
völlig totgecoverten „Sunny“ von Bobby Hebb
eine ganz eigene melancholische Note zu verpassen. Ähnliches gilt auch für die zweite Coverversion der Scheibe, „Mr. Lucky“ von John Lee
Hooker. Das klingt jetzt nicht ungeschliffen und
rumpelnd, wie man sich eigentlich den HookerBoogie spoatan vorstellt sondern ausgesprochen
elegant. Und passt damit zu den restlichen Stücken, die aus der Feder der beiden stammen:
„Nothing I Can Do“ etwa ist ein entspannter
Shuffle, bei „Hippy Trippy“ gibt es Ausflüge in
die psychedelischen Klangwelten der 60er mit
Sitar-Anklängen. Fast ganz traditionell geht es
dann bei „Little Ukelele“ zu.
Für europäische Hörer könnte man - Vergleiche
etwa zu Hank Shizzoe ziehen, der die Roots- und
Bluesmusik immer durch seine Brille neu deutet.
Und das ist etwas, was vielen Bluesrockern heute abgeht: Der Blick auf die Tradtion in großem
Respekt und die Suche nach ganz eigenen Geschichten und Klangidealen, um diese umzusetzen. In dem Sinne ist „Strictly Whatever“ nicht
nur ein wirklich gutes Bluesalbum für ruhige
Abende sondern auch ein Lehrstück dafür, wie
man heute traditionelle und gleichzeitig aktuelle
Bluessongs schreibt.
The Harpoonist & The Axe
Murderer
hört.
Bandnamen können ja ganz schön für Verwirrung sorgen. Aber es macht unheimlichen Spaß,
all den verschiedenen Geschichten hinter einem
Namen wie diesem nachzugehen.
Eine der Legenden um den Namen „Der Harpunist und der Axtmörder“ für das aus Vancouver
stammende Duo bezieht sich auf eine fiktive Liebesbeziehung zwischen Kapitän Ahab und der als
Axtmörderin angeklagen (und später freigesprochenen) Lizzie Borden. Damit könnten sich Hall
und Rogers mit dem in Greifswald ansässigen
Captain A-Harp und seinen Blues Whales verbunden fühlen. Und außerdem: Der manische
Waljäger voller Rachegefühlen auf den Wal, der
ihn verstümmelte und die Frau, die verdächtigt
wurde, ihren Vater und die Stiefmutter erschlagen zu haben.... großartige Story. Nur leider erfunden.
Sie mögen es, wenn man sie mit Bands wie den
Black Keys vergleicht. Denn der Bandname „The
Harpoonist & The Axe Murderer“ könnte sonst
ja zu Assoziationen aus dem Death Metal führen.
Dabei meinen die beiden Kanadier Shawn Hall
and Matthew Rogers doch, sie würden Blues für
eine sich ändernde Welt spielen.
Eigentlich ist die Deutung, wenn man die Darstellung auf der Homepage der Band zugrundelegt viel prosaischer: Harpoonist ist einfach eine
etwas kreative Bezeichnung für den Harpspieler.
Und wegen des heftigen Schrammelns auf seiner
Klampfe, wird aus dem Gitarristen eben der Axe
Murderer. Dabei war den beiden nicht unbedingt
eine Karriere als Band in die Wiege gelegt. Hat-
Melanie Dekker
Harry Manx & Kevin Breit
gehen in ihrer Musik wesentlich filigraner vor. In
der kanadischen Akustik-Szene - und längst darüber hinaus - sind Harry Manx und Kevin Breit
jeder für sich Superstars. Breit etwa hat schon auf
diversen Hit-Alben von Norah Jones, Cassandra
Wilson oder k.d. lang gespielt, stand aber auch
mit Hugh Laurie, Lou Reed oder Roseanne Cash
im Studio.
Und Harry Manx wurde in Kanada schon sieben
Mal mit dem Maple Blues Award ausgezeichnet.
Während langer Aufenthalte etwa in Indien, Brasilien, Europa und Japan hat er deren Musikstile
aufgenommen und daraus einen eigenen Stil geformt, der ab und zu selbst die Traditionen der
klassischen indischen Ragas mit denen des Blues
verbindet.
Ihr aktuelles Album heißt verwirrenderweise
„Strictly Whatever“. Und darauf kann man so
ziemlich alle Instrumente, die man mit Saiten
versieht, hören (ok, an eine Harfe kann ich mich
im Moment nicht erinnern). Und sie fabrizieren eine äußerst schmackhafte Mixtur aus Blues,
Folk, Roots-Rock, die mit ein paar weltmusikali-
11
Und wenn wir schon bei Wofühlmusik sind,
kann man eigentlich Melanie Dekker erwähnen.
Ok, was sie macht, hat nun gar nichts mit Blues
zu tun, aber diese Freiheit nehme ich mir einfach
mal heraus. Ihre Wurzeln hat die Songwriterin in
den Niederlanden. Heute lebt sie in Vancouver.
Und mit ihrem aktuellen Album „Here & Now“
tourt sie jetzt auch wieder durch Deutschland.
Sheryl Crow, Melissa Etheridge oder Shania Twain lauten die metaphorischen Hilfskrücken, mit
denen Kollegen Werk und Stimme von Melanie
Dekker umschreiben. Stilistisch könnte man ihr
aktuelles Album auch mit den Schlagworten:
Pop, Folk, Country umschreiben. Aber (ich zahle
freiwillig ins Phrasenschwein) hier ist mal wieder die Summe deutlich mehr als die Einzelteile.
Denn „Here & Now“ wirkt als Album wie aus
einem Guss und nimmt den Hörer für zwölf Lieder mit auf eine erholsame akustische WellnessTour.
Es sind die kleinen Momente, die hier und jetzt
aufblitzen, an die man sich erinnert am Abend.
Das reiche Mädchen, das für sein Lebensglück
auf die Suche nach einem mindestens ebensoreichen Boy geht. Die Einsicht, dass man mal
wieder ein gewaltiger Trottel war. Die Sehnsucht,
© wasser-prawda
Musik
Bringt bisher UnErhörtes zu Dir!
den Geliebten immer wieder zu küssen aus Freude, dass man ihn endlich gefunden hat. Und sei
es auch alle zwanzig Minuten. Oder der ewige
Hippietraum mit all den glücklichen Menschen,
die sich befreien von den Zwängen dieser Welt.
Nein, hier werden kaum politische Statements
abgegeben. Der gesellschaftliche Anspruch der
Musik wird nicht als Parole vor sich hergetragen. Was es zu der Welt zu sagen gibt, ist in und
zwischen den Zeilen der Musik verpackt. Und
das tut bei Melanie Dekker nicht weh. Sondern
führt höchstens zu Anfällen von beruhigenden
Tagträumen. Und die können ja durchaus nicht
nur heilsam sein, sondern auch zu Änderungen
darin führen, wie man danach durch diesen Tag
weitergeht.
Marshall Lawrence
Ich bin ja nun jemand, der nicht gerne zum Doktor geht. Das wird von mir konsequent aufgeschoben, bis es wirklich nicht mehr anders geht.
Komischerweise ist das mit Marshall Lawrence
auch so. Ich höre seit Beginn meiner Recherchen
immer wieder seine Songs. Doch eine Rezension
oder gar ein längerer Artikel wollte mir bislang
nicht einfallen.
Lawrence nennt sich nicht nur „Doctor of the
Blues“ und verordnet seinen Bekannten im Internet immer wieder den Blues als Medizin.
Marshall Lawrence ist wirklich ein Doktor der
Psychologie. Und so geht das mit seinen Verschreibungen in Ordnung. Besonders da sie immer mit einem freundlichen Lächeln daher kommen. Wesentlich martialischer sind da schon die
Plakate, die zur Zeit in Kanada für die „Schwergewichtsmeisterschaften“ in Sachen Bluesgitarre
werben. Auch um diesen Titel bewirbt sich der
ausgezeichnete Slide- und Picking-Virtuose.
Aber selbst da geht es eigentlich nur um eines:
um einen mitreißenden Akustikblues, der ganz
nahe dran sein könnte an den historischen Quellen. Nur dass man eben von Lied zu Lied überlegt, wo diese Quellen eigentlich sind: tief im
Delta für die Slide-Attacken auf der Resonatorgitarre. Doch im nächsten Stück wähnt man sich
dann schon wieder irgendwo an der Ostküste,
wo das Fingerpicking im Ragtime-Stil zu Hause war. Und spätestens dann wird klar, dass die-
se Vergangenheit eben eine von vorn bis hinten
imaginierte ist. Was Marshall Lawrence macht,
ist eben nicht wirklich traditionell, sondern irgendwie „neo“. Oder um es gelehrter auszudrücken: So wie Corey Harris oder auch Taj Mahal
im akustischen Blues oder auch C.W.Stoneking
mit seiner Version des Hokum-Blues schafft er
aktuelle Musik, die ben nur so klingt wie die alten Vorbilder.
Damit wirbt er im übrigen selbst und nennt seine Musik „Neo-Delta Blues & Roots“ oder auch
Acid-Blues. Denn - und das merkt man spätestens beim dritten oder vierten Titel: Diese Musik
nimmt einen mit auf einen Trip, wenn man sich
drauf einlässt. Die Rhythmen ziehen einen unwillkürlich in den Bann. Und Lawrence‘ Stimme
hat was hypnotisches. Und schon ist man drin in
dem Blues-Delta des Dokors und lauscht seinen
Geschichten.
Sein aktuelles (2010 erschienenes) Album trägt
den Titel „Blues Intervention“. Das traditionelle
Bluessongs mit all den bekannten Themen vom
Abschied, vom Liebeskummer, vom Unterwegssein zwische Louisiana, Detroit oder der kanadischen Prairie, wo der Doktor einst ein Cowgirl
liebte (auch wenn deren Vater dagegen war, denn
schließlich war der Sänger kein Anwalt oder ähnlich abgesicherter Mann). Diese Bluesgeschichten sind tatsächlich das eine Form der Therapie
ohne Verschreibung und vor allem ohne schädliche Nebenwirkungen: Dieser Blues macht einen
ruhig und zufrieden und lässt einen die Schmerzen des Alltags wesentlich gelassener betrachten.
CACTUS ROCK RECORDS ist
ein unabhängiges MailorderLabel mit Sitz in Sachsen.
Unsere Bands und Solo-Acts
kommen aus dem Südwesten
der USA, Deutschland und
Europa. Wir agieren als echte
Alternative zum Mainstream.
U n d bei uns steht der
Künstler im Mittelpunkt!
_____________________________
Zu unserer CACTUS ROCK
RECORDS-Family gehören:
ASTRA KELLY (USA/Ca)
BRAD BROOKS (USA/Ca)
CHEEPNESS (USA/Az)
CHRIS HOLIMAN (USA/Az)
CHRISTIAN & 2120’s (SWE)
KEN ANDREE (USA/Tx)
LISA NOVAK (USA/Tx)
LITTLE GREEN (SWE)
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MATHIAS SCHÜLLER (D)
MEZCALEROS (FRA)
RAINER PTACEK † (USA/Az)
REVEREND SCHULZZ (D)
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NEW Releases:
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Kontakt: [email protected]
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© wasser-prawda
Musik
2. European Blues Challenge
21.30 Uhr: Lubos Beña (Slowakei)
Gemeinsam mit dem tschechischen
19 Bands aus ebensovielen Ländern Europas
Bluesharp-Spieler Ptacek hatte der Lubos
werden am 16. und 17. März in der Berliner
Bena mit „Music of the Mississippi River“ ein
Kulturbrauerei gegeneinander antreten. Dem
äußerst gelungenes Album vorgelegt, auf dem
Gewinner der von der European Blues Union
selbst Nummern von Ray Charles so klangen,
organisierten 2. European Blues Challenge
winken Auftritte bei den wichtigsten Bluesfes- als wären sie schon Anfang des 20. Jahrhunderts im Delta entstanden. Leider wurde dieses
tivals des Kontinents. Hier das Feld der Wettbewerber in der Reihenfolge ihres Auftretens: Duo mit dem Beginn 2012 aufgelöst und Bena
wird bei der EBC als One-Man-Band auftreten (g, voc, dr). Seit Anfang des Jahres war er
16.3. 20 Uhr: Ismo Haavisto Band (Finnunterwegs im Mississippi-Delta, um sich dafür
land)
Ismo Haavisto ist einer der bekanntesten Inspirationen zu holen.
Bluesharpspieler Finnlands. Unter anderem hat
er schon mit Kim Wilson, Lurrie Bell, Jessie 22.00 Uhr: Roland Tchakounte (FrankMae Hemphill und Steve Guyger zusammen reich)
gespielt. Außerdem ist er ein Songschreiber, Der französische Vertreter bei der European
der nicht nur für die eigenen Bands sondern Blues Challenge ist ein Beispiel dafür, dass
auch für andere Künstler Lieder verfasst. Mit nationale Kategorien bei dieser Musik eigentseiner 2000 gegründeten Band spielt er eine lich völlig fehl am Platze sind. Roland TschaMischung aus Blues mit ein wenig Rock&Roll, kounte lebt zwar in Frankreich. Doch geboren
Soul und Country. Zur Ismo Haavisto Band ge- wurde der Sänger und Gitarrist in Kamerun.
hören außerdem noch der Gitarrist Jonni „Si- Und er singt seine Bluessongs komplett in seidekick Johnny“ Seppäla, der Jazz-Drummer ner Muttersprache. Als seine wahren musikalischen Helden sieht er dementsprechend nicht
Mikko Järvinen und Bassist Jape Huotari.
nur die Urväter des Blues wie Son House oder
Robert Johnson sondern auch Ali Farka Touré.
20.30 Uhr: The Downstrokes (Kroatien)
Mit seiner Band The Downstrokes hat der kroatische Gitarrist Nebosja Buhin Nebo schon
2010 seine Heimat bei der International Blues
Challenge in Memphis vertreten. Bislang hat
er fünf Instrumental-Alben veröffentlicht und
fünf Mal als bester Pop/Rock-Gitarrist des
Landes ausgezeichnet. Dabei hat er nie wirklichen Instrumentalunterricht erhalten.
21.00 Uhr: John F. Klaver Band (Niederlande)
Den niederländischen Gitarristen John F. Klaver nennt Kollege Matt Schofield den interessantesten Gitarristen Hollands seit langer Zeit.
Klaver, der unter anderem in den USA an der
The University of the Pacific und am Amsterdamer Konservatorium studiert hat, gründete
gleich nach dem Abschluss seine Band, zu
der heute noch Iris Sigtermans (bass), Martijn
Klaver (drums) und Bob Fridzema (hammond)
gehören. Gemeinsam spielen sie eine Mixtur
aus Blues, Funk und Soul.
22.30 Marco Marchi & The Mojo Workers
(Schweiz)
Als 2011 in der Schweiz erstmals ein nationaler Blueswettbewerb abgehalten wurde,
waren von einer Jury vier Bands für das Finale
nominiert worden. Drei traten tatsächlich an.
Und Marco Marchi mit seinen Mojo Workers
gewann - wenn man den Berichten im Internet Glauben schenken darf - sehr souverän
mit seinem ganz traditionellen Blues im Stil
der 20er bis 50er Jahre. Als erste Schweizer
durften sie daher jetzt in Memphis bei der IBC
dabei sein. Und sie sind natürlich Vertreter ihres Landes in Berlin. Wer Fans von Musikern
wie C.W. Stoneking oder Pokeye LaFargue ist,
wird hier seine helle Freude haben.
23.00 Chehols (Litauen)
Die Chehols - manchmal werden sie nach dem
Titel ihres Debütalbums „The Gypsy Cowboys“ genannt - entstanten aus der Idee von
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paar Freunden, die gemeinsam Straßenmusik
machten. Irgendwann kam da nicht bloß etwas
Taschengeld zusammen sondern vor allem
auch Anfragen von Bars, die die Mixtur aus
Blues, Rockabilly und Rhythm & Blues gerne
bei sich hören wollten.
23:30 Slavek Wierzcholski I Nocna Zmiana
Bluesa (Polen)
Nocna Zmiana Bluesa wurde schon in den
80er Jahren gegründet und gilt heute als eine
der populärsten Bluesbands des Landes.
Immerhin schon 20 Alben wurden veröffentlicht und selbst in amerikanischen Magazinen
rezensiert. Gründer der Band noch immer
der Chef ist Sławek Wierzcholski an der
Bluesharp, der sein Handwerk teilweise in
Chicago bei den absoluten Meistern erlernte.
Auch wenn die Band einmal als ganz traditionelle Bluesband anfing: Heute ist „The Blues
Nightshift“ eine Akustiktruppe, die neben dem
Blues auch Einflüsse aus der Singer-/Songwriterszene aufnehmen. Immerhin sind die Zeiten, wo man für The Blues Brothers Konzerte
eröffnete schon einige Jahre vorbei.
24:00 Lightnin‘ Guy & The Mighty Gators
(Belgien)
Den Abschluss der ersten Runde macht am
Freitag Lightnin‘ Guy aus Belgien. Der
Gitarrist und Bluesharpspieler hatte die belgische Challenge mit 41 Prozent aller abgegebenen Stimmen souverän gewonnen.
Begleitet wird er von seiner Band The Mighty
Gators (Thierry Stievenart/Drums, Willy
Devleeschouwer/g, Dominiek Buyse/bass).
Samstag, 17. März - 20:00 Vasko The Patch
(Bulgarien)
Vasko The Patch (eigentlich heißt er Vasil Georgiev) zählt in Bulgarien zu den Helden der
Revolution, mit der der Kommunismus sein
Ende fand. Mit seiner Poduene Blues Band
und Songs wie „Communism is Going Away“
oder „Bureaucrat“ trat er auch bei Demonstrationen während der Wende in Bulgarien
auf. Die Lieder wurden zu Hits in Bulgarien.
Vasko meint, die Bulgaren würden auf Grund
ihrer Erfahrungen den Blues besonders verstehen. In Berlin tritt der Schlagzeuger/Harpspie-
© wasser-prawda
Musik
ler/Sänger/Gitarrist Vasko gemeinsam mit dem
Sänger seiner Poduene Blues Band Kamen
„The Barrel“ Doytchinow auf.
20:30 Dago Red (Italien)
Ähnlich wie die Mojo Workers aus der
Schweiz sieht die italienische Band Dago Red
ihre Art von Musik eher in der Tradition des
vor-elektrischen Blues und Folk. Ziemlich erfolgreich macht das die sechsköpfige Band im
Übrigen schon seit 1998. Aber - und das ist ja
für solch einen Wettbewerb unabdingbar: Sie
schreiben ihre eigenen Songs und diese sind
durchaus im Heute verwurzelt.
21:00 Slidin‘ Slim (Schweden)
Anders Landelius, seit Jahren unterwegs in
der europäischen Bluesszene als Slidin‘ Slim,
gründete mit 12 Jahren seine erste Punkband.
Und aus dem Geist spielt er auch heute noch
seinen rauhen und heftigen Blues, ob nun als
Solist unterwegs oder etwa mit Magda Piskorczyk (Polen) oder dem amerikanischen Harpspieler Jimmy Z.
21:30 Norbert Schneider (Österreich)
(Foto)
„Medicate My Blues Away“ - mit diesem
Song will Norbert Schneider nicht nur bei der
Blues Challenge in Berlin dabei sein. Nein,
der Bluessongwriter steht auch in der Vorauswahl für den Eurovision Song Contest in Baku
in diesem Jahr. Wenn man sich die paar kurzen Kostproben im Internet anhört, dann kann
man sich auf eine witzige und lässige Mixtur
aus Ragtime, Blues, Pop und ein wenig Soul
freuen.
22:00 Rita Engedalen & Backbone (Norwegen)
Eine ganz und gar einzigartige Sängerin
schickt Norwegen mit Rita Engedalen in den
Wettbewerb. Das was sie singt und schreibt ist
ganz klar Blues, aber es ist Blues der auch die
ganze Folkgeschichte zwischen Mississippi
und Appalachen mit reflektert. Und das trägt
sie mit einer Power und Leidenschaft vor, dass
man sich auf ein großes Ereignis freuen kann.
Begleitet wird sie in Berlin von der Band
Backbone.
22:30 Mingo & the Blues Intruders (Spanien)
2003 gründete der Mundharmonikaspieler
Mingo Balaguer die Blues Intruders, weil er
endlich auch singen wollte. Zuvor war er international ziemlich erfolgreich mit der Caledonia Blues Band auf Tour selbst in Chicago
und vor Johnny Winter. Mit den Blues Intruders will der die ganze Stilbreite zwischen
dem reinen Chicagoblues (Natürlich nennt er
Little und Big Walter als seine größten Vorbilder) über den Texasblues bis hin zum Jump
Blues abdecken. Kann man drauf gespannt
sein.
23:00 Ben Poole (Großbritannien)
Jeff Beck und John Mayall haben ihn schon
gelobt. Auch Gary Moore hatte den britischen
Gitarren-Junior Ben Poole noch zu Lebzeiten
wahrgenommen. Man spricht gar von einem
der besten Bluesgitarristen, die in den letzten
Jahren in Großbritannien entdeckt wurden.
23:30 The Blues Express (Dänemark)
Mit The Blues Express schickt Dänemark
wahrscheinlich eine der jüngsten Bands überhaupt in den Wettbewerb. Getroffen haben
sich vier zwischen 1988 und 1995 geborene
Musiker (Frederik Tygesen - g, Rindom Nielsen - dr, Sergio Ingemann Jensen - p Dyrlund
- voc) und der bereits 1978 geborene Bassist
Rasmus Bruun vor einem Jahr bei einer Jamsession. Entsprechend besteht ihre Bluesmischung auch aus allem was gut und bekannt
ist zwischen Robert Johnson, B.B. King, Al
Green und Ray Charles.
24.00 Michael van Merwyk (Deutschland)
Als Begleiter von Big Daddy Wilson war Gitarrist Michael van Merwyk gerade in Memphis bei der IBC zu erleben. In Berlin wird
er sich mit Bluesoul von seiner anderen Seite
zeigen. Denn nicht nur auf der akustischen
sondern auch mit der E-Gitarre und als Sänger
und Songwriter ist er einer der bemerkenswertesten Musiker der deutschen Szene. Im März
erscheint zudem mit „New Road“ ein neues
Album von ihm.
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00:30 T. Blues Mob (Georgien)
Letzte Band im Wettbewerb ist die 1998 von
Sänger und Bassist Koka Tskitishvili in Tiblissi gegründete Gruppe T.Blues Mob. Seit ihrer
Gründung war die Band mit ihrer Mixtur aus
Blues, Rock und ein wenig Soul in ganz Europa auch bei großen Festivals zu erleben.
Mitch Ryder & Engerling auf
Tour
Auch 2012 geht Mitch Ryder wieder gemeinsam
mit Engerling auf Tour durch Deutschland. Erstes Konzert ist am 16. Februar in Halle.
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16.02. Halle, Objekt 5
17.02. Erfurt, HsD
18.02. Isernhagen, Bluesgarage
19.02. Torgau, Kulturbastion
22.02. Magdeburg, Feuerwache
23.02. Rheinberg, Schwarzer Adler
24.02. Dortmund, Piano
25.02. Solingen, Cobra
26.02. Bonn, Harmonie
29.02. Braunschweig, Barnabys
01.03. Bremen, Meisenfrei
02.03. Hamburg, DownTown
03.03. Forst, Manitu
04.03. Thyrow, Kulturscheune
07.03. Berlin, Frannz
08.03. Nürnberg, Hirsch
09.03. Bern (CH), Mühle Hunziken
10.03. Freiburg, Jazzhaus
11.03. Miltenberg, Beavers
13.03. München, Garage Deluxe
14.03. Wetzlar, Franzis
15.03. Lorsch, Rex
16.03. Dresden, Tante Ju
17.03. Affalter, Linde
18.03. Schöneiche, Kulturgiesserei
© wasser-prawda
Musik
Gefangen zwischen K ansas und dem Lande Oz
Es ist eine äußerst abgedrehte imaginierte Version des Landes Oz, in die
uns The Wiyos mit ihrem aktuellen Album „Twist“ entführen.
Von Nathan Nörgel
Zwischen Blues, Rock, Oldtime Jazz und Surf
drehen sich die 14 Stücke von Twist vollkommen um die verschiedenen Figuren des Buches
„The Wizard of Oz“ bzw. um die legendären
Verfilmungen des Klassikers.
Irgendwann um 1890 gab es im Stadtteil Five
Points in Manhattan eine irische Straßenbande
mit dem Namen The Wiyos. In dieser rauhen
Zeit waren sie die Härtesten im Viertel. Es war
2002 als Michael Farkas in eine Bar in Five
Points kam. Dort saß Parrish Ellis mit seiner
Gitarre in einer Ecke. Farkas packte seine Harp
aus und schon einen Tag später waren sie eine
Band und spielten im legendären CBGB. Später wuchs die Truppe, die sich nach der Gang
benannte noch um den Bassisten Joseph „Joebass“ Dejarnett und den Multiinstrumentalisten Teddy Weber an. Und sofort ging man auf
Tour durch die Lande. Der erste Tourbus war
- den Angaben der Band zufolge - ein ausgedienter Schulbus, der gleich zweimal in Brand
geriet, bevor man auch nur in New Orleans ankam. Überall, wo es möglich war, trat man auf
mit einer Show ganz im Stile der 20er und 30er
Jahre (rein akustisch - alle Mann versammelten
sich um ein einziges Mikro). Diese allerdings
wurde dargeboten mit der Energie und der Unverschämtheit des Punk, mit dem die Musiker
aufgewachsen waren. Wo man keinen Gig bekam, wurde eben auf der Straße gespielt. Oft
auch tauchte man unangemeldet bei Musikmessen oder -tagungen auf und spielte in Piratenmanier frech in der Hotelloby. Auch vor
Auftritten in Stripclubs schreckte man nicht
zurück. Schon in den ersten Jahren kam man so
auf die stolze Zahl von mehr als 200 Konzerten im Jahr. Und die Band wurde nicht nur in
den elitären Folk-Kreisen zum angesagten Act.
Auch erste Tourneen in Europa konnten bald
angegangen werden. Und das brachte der Band
letztlich den Durchbruch.
Denn 2009 wurden sie in einer Dokumentation der BBC über amerikanische Folkmusiker
vorgestellt. Und das führte dazu, dass Bob
Dylan sie höchstpersönlich als Vorband für
eine Stadiontour durch die Staaten engagierte,
bei der er gemeinsam mit Willie Nelson und
John Mellencamp auftrat. Dazu trug natürlich
auch ihr im gleichen Jahr erschienenes Album
„Broken Land Bell“ bei, bei dem sie ihre Mix-
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tur aus swingendem Oldtime-Blues und den
Rhythmen von New Orleans noch Trip-HopBeats angereichert wurde, die von Adam Matta als „human beat box“ beigesteuert wurden.
2010 verließen Parrish und Joebass die Band.
Seither sind The Wiyos als Trio unterwegs mit
dem Bassisten „Sauerkraut“ Seth Travins. (Der
erhielt seinen Spitznamen daher, dass er eine
spezielle ökologische Sauerkrautmarke kreiierte....)
© wasser-prawda
Musik
Irgendwann bekam die Band mit, dass ihre
Musik die Grundlage für ein multimediales
Tanzprojekt über „The Wizard of Oz“ diente.
Und das brachte sie auf die Idee, selbst ein Album aufzunehmen, das auf diesem Buch und
ebenso auf der klassischen Verfilmung desselben basiert. Und damit wird die Geschichte
erst wirklich verworren. „Twist“ nämlich ist
eine derartig witzige und aberwitzige Wundertüte an musikalischen und textlichen Einfällen,
dass die Scheibe selbst bei Anwendung brutaler Gewalt in kein Genre passen wird. Klar
finden sich klassische Blues- und Jazzklänge,
wie man sie von The Wiyons erwarten durfte.
Doch dann sind da plötzlich heftige Bluesrocker, Ausflüge in die Lyrik- und Soundwelten
von Tom Waits, psychedelische Abschweifungen und diverse Anklänge an Beatles und
Pink Floyd. Zum akustischen Instrumentarium
kommen jetzt auch E-Gitarren und extra synthetisch klingende Keyboards.
Eine lineare Nacherzählung der Reise von Dorothy auf dem Gelben Backsteinweg ist das
Album nicht, auch wenn es mit dem wundervollen Bluesrocker „Yellow Limes“ beginnt.
Nein, in einer traumhaften Sequenz springt das
Album in die Innenwelten der einzelnen Figuren wie der Vogelscheuche, dem Löwen oder
dem Eisernen Holzfäller. Oder es lädt dazu ein,
mit diesen in den quietschbunten TechnicolorKulissen unterwegs zu sein. Letztlich hat ja
jeder seine eigenen Erinnerungen an dieses
Zauberland. Und kann diese jetzt mit einem
unwahrscheinlich phantasievollen Soundtrack
neu besuchen. Undwillkürlich und unwiderstehlich wird man in diesen Wirbel hineingezogen. Und fragt sich hinterher, wann man zuletzt
ein derartig buntes und großartiges Popalbum
gehört hat.
Angela Perley & The Howlin‘
Moons
Die Ausgangsmaterialien für zeitgemäße Americana-Musik sind ziemlich vielfältig. Doch es
braucht mehr als cleveres Zitieren von Vorbildern für mitreißende Musik.
Ok, „I Like You Fine“, der Opener der EP „Fireplace“ schielt ganz deutlich in Richtung Mainstream-Radio. Aber das muss ja nicht schlecht
sein. Denn dieser Song hat nicht nur die Gefälligkeit und die glänzende Produktion, um
ins Programm-Umfeld zu passen. Aber das Lied
hat auch die gewisse Sehnsucht und den Herzschmerz, um sich gleich in den Gehörgängen
festzusetzen. Doch wofür Angela Perley & The
Howlin‘ Moons eigentlich stehen, wird erst da-
nach deutlich: Country, Rockabilly und Rootsrock als Verneigung vor Legenden wie Wanda
Jackson oder Patsy Cline und anderen hört man
aus den restlichen vier Songs der Ende Januar in
Großbritannien erscheinenden Scheibe heraus.
Und das rockt nicht nur gehörig nach vorne und
macht einen riesigen Spaß.
Und in den ruhigeren Momenten spürt man
auch die Liebe zu Loretta Lynn und dem Country der Carter Family. Es geht um die traditionellen Themen des Country: um Liebe und Tod, um
Eisenbahnen und natürlich immer wieder auch
um den Mond. Aber bei allen Referenzen: Angela Perley ist als Sängerin beileibe keine Kopie.
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Wie sie jenseits des Kitschverdachtes sehnsüchtig singt oder rotzig rockt, macht sonst niemand
wie sie. Und als Songschreiberin beherrscht sie
die Kunst, ihre aus verschiedenen Perspektiven
geschriebenen Geschichten so persönlich darzubieten, dass man bereit ist, ihr jedes Wort zu
glauben.
Außer Perley gehören zu der 2009 gegründeten
Band The Howlin Moons noch Chris Connor
(g, voc), Billy Zehnal (bg) und Steve Rupp (dr)
zu den heulenden Monden. „Fireside“ ist die
bislang dritte EP der Band. Und mit der soll
jetzt offensichtlich auch jenseits des Atlantic ein
Markt erschlossen werden.
© wasser-prawda
Musik
Etta James (1938-2012)
Schon zu Weihnachten 2011 war klar, dass das Leben von Etta James nicht
mehr lange dauern würde. Die Leukämie, an der sie ein Jahr gelitten hatte,
war nicht mehr heilbar. Zusätzlich litt sie an einer fortgeschrittenen Alzheimer-Krankheit. Am 20. Januar 2012 erlag die Sängerin ihren schweren
Krankheiten. Von Raimund Nitzsche
Geboren wurde die Sängerin von Hits wie „At
Last“ oder „Tell Mama“ am 25. Januar 1938 als
Jamesetta Hawkins in Los Angeles. Ihre Mutter
war selbst noch ein Teenager bei ihrer Geburt,
ihren Vater lernte sie damals jedenfalls nicht
kennen. Und statt ihrer Mutter waren es Freunde und Verwandte, die sich um sie kümmerten.
Als sie für eine Weile bei ihren Großeltern lebte,
begann sie in der Baptistengemeinde im Chor
mit zu singen und erhielt so ihren ersten Gesangsunterricht. Bald schon wurde sie eine der
Solistinnen des Chors und trat mit ihm auch im
Radio auf. Doch als sie zwölf Jahre alt war, starb
ihre Pflegemutter und sie zog zu ihrer leiblichen Mutter nach San Francisco. Da diese sich
allerdings weiterhin nicht um sie kümmerte, trat
Etta bald als jugendliche Straftäterin in Erscheinung. Doch da war zum Glück noch die Liebe
zur Musik.
1952 wurde sie mit ihrem Trio „The Creolettes“
von Johnny Otis entdeckt. Und mit ihm machte
sie dann auch bald ihre ersten Aufnahmen. Die
Creolettes wurden zu „The Peaches“ nach Ettas
Spitznamen. Und die Mädchen unterzeichneten
einen Plattenvertrag bei Modern Records. Doch
auch wenn Lieder wie „The Wallflower“ regional und überregional in den R&B-Charts recht
erfolgreich waren, kam ihr großer kommerzieller
Durchbruch erst mit ihrem Wechsel zu Chess
Records Anfang der 60er Jahre.
Das enge Verhältnis zu den Labelgründern
Leonard und Phil Chess bot ihr bei allen Turbulenzen ihres persönlichen Lebens einen sicheren
Rückhalt, etwas was sie bis dahin eigentlich nie
hatte.
Ein Jahrzehnt war sie dort eine der erfolgreichsten Sängerinnen in den USA. Denn vom DooWop-Stil ihrer frühen Jahre hinweg entwickelte
sich die Sängerin hin zu einer Frau, die gleichermaßen in den verschiedensten Stilen überzeugen
konnte.
So ist ihr Debütalbum „At Last“ im Grunde
noch typische Popmusik mit viel Pathos und
jeder Menge Streichern. Und doch merkt man
etwa im Titelsong, dass hier eben eine Sängerin
ist, die genau diesen Pomp nutzt, um damit
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ihre Gefühle auf den Punkt zu bringen. Und
mit anderen Stücken etwa wie den beiden
Willy Dixon-Nummern „Spoonful“ und „I
Just Wanna Make Love To You“ präsentierte sie
sich gleichzeitig schon als neue Powerfrau des
Blues, die ähnlich wie Big Mama Thornton den
Männern um Muddy Waters oder Howlin‘ Wolf
zeigen kann, wie der Hammer hängt.
Auch wenn Chess natürlich eine der stärksten
Haus-Bands der Musikgeschichte hatte, gelangen der empfindsamen Sängerin ihre besten
Aufnahmen 1967 in den Fame Studios von
Muscle Shoals. Dort nam sie Klassiker wie „Tell
Mama“ auf und zeigte, dass in ihr eben nicht
nur die großartige Soul- und Balladensängerin
steckte. Nein - mit diesen Nummern sang sie
auf Augenhöhe mit solchen Vertreterinnen des
rhythmischen Soul wie Aretha Franklin. Doch
als dann Anfang der 70er Jahre die Disco-Musik
aufkam, war es mit ihren Erfolgen zunächst
vorbei. Allerdings war es nicht nur der Wandel
im Musikgeschmack der Hörer, der das öffentliche Interesse an der Musik von Etta James
© wasser-prawda
Musik
Etta James bei einem Konzert in Deauville (Frankreich) im Juli 1990. (Foto: Roland Godefroy)
verminderte. Immer wieder wurde sie durch ihre
jahrzehntelange Abhängigkeit von Drogen und
Medikamenten ausgebremst. Immer wieder kam
sie deshalb mit dem Gesetz in Konflikt. Und
sie überschrieb die Urheberrechte ihres besten
selbstverfassten Songs „I‘d Rather Go Blind“
dem Vernehmen nach an ihren Dealer, als sie
Stoff brauchte.
Es waren Musiker wie die Rolling Stones, die
dafür sorgten, dass Etta James trozdem nicht in
Vergessenheit geriet. Mit ihnen war sie sie etwa
1978 und 1980 auf Tournee. Und 1982 sang sie
sogar bei der Eröffnung der Olympischen Spiele
in Los Angeles. Aber eigentlich war sie zu dieser
Zeit eine Sängerin, die man mehr mit ihrer großen Vergangenheit in Verbindung brachte und
nicht mit ihren aktuellen Alben.
Das änderte sich erst in den 90er Jahren des 20.
Jahrhunderts. Endlich hatte sie es geschafft, ihre
Sucht in den Griff zu bekommen. Nach einer
Magenoperation bekam sie auch ihr massives
Übergewicht in den Griff.
Und sie nahm endlich wieder Alben auf, die
bei Kritik und Fans for allem in der Bluesszene
gefeiert wurden. Platten wie „Let‘s Roll“ (2003)
tauchten zwar nicht mehr in den Pophitparaden
auf, erlangten aber hohe Platzierungen in den
Bluescharts. Für „Let‘s Roll“ wurde Etta James
mit einem Grammy ausgezeichnet. Ihr Leben
inklusive den Drogenabstürzen hat sie in ihrer
Autobiografie Rage to Survive geschildert.
Immer häufiger war sie in den letzten Jahren
mit ruppigen Äußerungen in der Öffentlich-
keit aufgefallen. Etwa als Beyoncé (die im Film
„Cadillac Records“ Etta James verkörpert hatte)
zu Barack Obamas Amtseinführung „At Last“
singen durfte. Das passte Etta ganz und gar
nicht - schließlich sah sie dieses Lied quasi als
ihr eigenes Markenzeichen.
Dreamer“ nochmals ein Studioalbum heraus.
Ganz bewusst kündigte sie das als ihren Abschied von der Musikszene an. Denn bei aller
noch vorhandenen Kraft, die sie in die Interpretationen von Songs aus Soul, Blues und Rock
noch legen konnte: Ihre Kraft ließ rapide nach.
Und irgendwann war sie auf ständige Pflege und
Auch wenn das 1941 von Mack Gordon und
Betreuung angewiesen. Hieran entzündete sich
geschriebene Lied zuvor schon ein Hit etwa für
ein Familienstreit, der in der Öffentlichkeit mit
Glenn Miller, Ray Anthony, Miles Davis oder
mehr als Befremdung aufgenommen wurde. Als
Chet Baker war. Aber es ist ähnlich wie mit
ihr Mann eine Million Dollar aus ihrem Verdem von Otis Redding geschriebenen „Respect“: mögen auf seinen Namen überschreiben wollte,
Als Aretha Franklin das Lied gesungen hatte,
kam es zu einem Gerichtsverfahren. James‘ Sohn
war es für alle anderen Interpretationen vorbei.
Donto, der seit 2008 die Geschäfte der Sängerin
Auch wenn nach Etta James noch Musiker „At
führte, warf dem Stiefvater vor, sich am VermöLast“ sangen, klang doch immer ihre Stimme
gen privat bereichern zu wollen. Über Monate
durch. Ob das nun Cindy Lauper, Jonie Mithinweg konnte die Behandlung der Sängerin
chell, Ella Fitzgerald oder Mariah Carey waren.
kaum finanziert werden. Erst per Gerichtsbeschluss wurden letztlich 350.000 Dollar für ihre
Das Verhalten von Etta James wurde für die
Pflege freigegeben.
Plattenfirma immer weniger einzuschätzen: War
hier nur eine Frau, die gerne auf den Putz haute, Kurz vor Weihnachten 2011 teilten die Ärzte
die sich keine Meinung vorschreiben ließ? Das
schließlich mit, dass gegen die fortschreitende
würde zu ihrem schon immer auch lauten und
Leukämie keine Behandlung mehr möglich sei.
selbstbewußten Auftreten passen. Irgendwann
Nachdem sie die Intensivstation nach wenigen
wollten sie James vor der Öffentlichkeit fast
Tagen verlassen konnte, starb sie zu Hause im
abschirmen aus Angst vor weiteren Ausbrüchen. Kreise der Familie.
Doch spätestens seit 2009 machten sich auch
Fans immer mehr Sorgen um ihr Wohlergehen. „At Last“ erklang auch auf ihrer Beerdigung.
Irgendwann konnte sie wegen einer mittlerweile Gesungen allerdings wurde das Lied nicht von
als Alzheimer diagnostizierten Demenz nicht
Beyoncé sondern von Christina Aguilera in
mehr für sich selbst sorgen. Und dann kam auch einer Weise, die die Trauergäste zu standing
noch eine Leukämiebehandlung hinzu.
ovations hinriss. Und das ist wahrlich ein für die
Beisetzung einer solch großartigen Sängerin ein
Nach einigen Jahren Pause kam 2011 mit „The
würdiges Ereignis.
18
© wasser-prawda
Musik
Hörempfehlungen
den Stones („Miss You“) oder CCR („Born On
The Bayou“).
Es soll hier weder eine komplette Discographie
noch eine definitive Liste der zwingend in einer
Sammlung notwendigen Aufnahmen geliefert
werden. Die Auswahl hier ist zutiefst persönlich
und führt die Sampler und Alben auf, die mich
in den letzten Jahren begleitet haben. Dabei liegt
der Fokus vor allem auf dem Spätwerk der Sängerin.
Die Ergebnisse sind aufs Ganze gesehen durchwachsen: Dylans Gospelsong lässt leider die gemeinte Dringlichkeit vermissen, dass man unbedingt einem Herren dienen müsse im Leben.
Und Al Greens „Rhymes“ ist mehr ein Remake
des Originals als eine eigene Interpretation.
Tell Mama: The Complete Muscle Shoals Sessions
Die Fame-Studios von Muscle Shoals zählen in
der Geschichte des Soul zu den wichtigsten Aufnahmeorten. Nicht nur Aretha Franklin oder
Dusty Springfield nahmen dort auf. Dorthin
schickten Label wie Atlantic (oder im Falle von
Etta James Chess/Cadet) ihre Künstler, wenn
sie ihnen einen absolut passenden Sound geben
The Chess Box
wollten. Und ermöglichten so die Entstehung
Warum gehörte Etta James eigentlich zu den
von ein paar der besten Alben der Geschichte.
wichtigsten Künstlern bei Chess in Chicago?
Ich erinnere hier nur an „Dusty In Memphis“
Und was ist der beste Weg, sich dem Werk dieser
oder Franklins „I Never Loved A Man“.
Sängerin zu nähern? Die Antwort auf beide Fragen ist für mich diese liebevoll aufgemachte Box
1967 schickte Leonard Chess Etta James in die
mit drei CDs.
Fame-Studios von Muscle Shoals. Mit „Tell
Mama“ kam eines der besten Alben der Sängerin.
Neben dem fast kompletten Debütalbum „At
2002 wurde das Album mit fünf bislang nicht
Last“ (für manche sowieso ihre beste Platte überverwendeten Liedern neu auf CD vorgelegt.
haupt) finden sich hier ihre größten Hits von
1960 bis zum Ende von Chess Records.
Bei verschiedenen Sessions zwischen August 1967
und August 1968 nahm Etta James mit den dorDas Faszinierende daran ist, wie vielseitig Etta
tigen Studiomusikern unter dem Produzenten
James damals schon war: Es gibt Jazzstandards,
Rick Hall insgesamt 22 Titel auf. Da finden sich
Popsongs und funkigen Southern Soul ebenso wie
Cover wie das von Otis Redding übernommerotzigen Chicago-Blues. Und das in einer ständine „Security“ oder Jimmy Hughes‘ „Don‘t Lose
gen Abwechslung. Selbst totgecoverte Songs wie
Your Good Thing“. Entstanden ist ein packender „St. Louis Blues“ oder „One For My Baby“
des Soulalbum zwischen rhythmischen Krachern
sind sofort als Etta-James-Interpretationen ohne
wie dem Titelsong oder My Mother In Law und
Makel zu erkennen. Und man hört den Stücken
Stücken, die manche Kritiker als „R&B noir“
nicht an, dass sie mittlerweile mehr als 50 Jahre
zu bezeichnen sich genötigt sahen: Tieftraurige
alt sind - sowohl bei Chess direkt als auch in anSoulballaden wie „I‘d Rather Go Blind“.
deren Studios wie bei Fame Records wurde für
das weibliche Aushängeschild des Blueslabels nur
In der Mischung ist diese Platte eines der ganz
das Beste aufgeboten.
wichtigen Alben des Soul überhaupt, auch wenn
sie die Spitzenpositionen der Charts ebensoweUnd für die 2000 veröffentlichte Box wurden
nig erklimmen konnte wie die ausgekoppelten
noch bis danin noch unveröffentlichte Stücke
Singles. Wer sich nur eine Platte von Etta James
(etwa ihre Interpretation von „Light My Fire“
zulegen will, sollte diese kaufen.
der Doors) aus den Archiven geholt. Bis auf Teile
von CD 3 (aus den Jahren, wo die Drogen Etta
immer wieder in ihrem Schaffen hinderten) gibt
es hier eigentlich keinerleich Schwachstellen, we- Martriarch of the Blues
der in der Interpretation noch in der Songaus- Jerry Wexler nannte Etta James einmal die „earth
wahl. Und das umfangreiche Booklet ersetzt das mother of the blues“, also die Frau, ohne die eiendlose Stöbern in den verstreuten biografischen gentlich in der Geschichte des Blues kaum was
Quellen und zeichnet den Lebensweg bis zum denkbar ist. Das 2001 erschienene „Matriarch of
the Blues“ ist so etwas wie eine musikalische TriEnde von Chess liebevoll nach.
butforderung der Chefin: Mit stimmlicher GeLeider ist diese Box mittlerweile fast nicht mehr walt fordert sie von den Herren der Schöpfung
zu finden. Ansonsten würde ich sie ohne Zweifel Lieder ein. Die elf Songs wurden bekannt durch
Elvis („Hound Dog“), Ray Charles („Come Back
zu einem Pflichtkauf erklären.
Baby“), Bob Dylan („Gotta Serve Somebody“),
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Doch wenn Etta sich die weißen Rocker vornimmt, dann geht die Post ab: „Miss You“ der
Stones hat bei ihr eine derartige Portion Sex
zwischen den Noten, dass der Jugendschutz einschreiten müsste. Und „Born On The Bayou“
von John Fogerty wird zu dem mitreißenden
Stück New-Orleans-Funk, das es eigentlich immer schon sein sollte.
Und ehrlich: „Hound Dog“ mag zwar durch Elvis zum Hit geworden sein. Aber schon immer
war das ein Song für starke Frauen. Big Mama
Thorntons Fassung ist da eigentlich noch immer
unübertroffen. Doch auch die hier zu findende
Fassung von Etta James sollte deutlich machen,
dass kein Mann das rechtmäßig singen darf.
Let‘s Roll
Die Gitarren schreien, der Rhythmus rockt, und
Etta James macht von der ersten Note an klar:
Mit ihr ist auch im 21. Jahrhundert noch zu
rechnen. Auch wenn sie mittlerweile im Mainstram vollkommen ignoriert wird. Den Fans von
Blues und klassischem Soul ist das egal. Und
wenn dabei Alben wie „Let‘s Roll“ herauskommen, dann kann kommt man zwar nicht in die
Popcharts, aber dafür auf die wichtigen Bluesfestivals. Und natürlich bekam man damals dafür
© wasser-prawda
Musik
einen Grammy.
Es sind heftige Bluesrocker wie „Blues Is My
Business“ und rockiger Southern Soul („Strongest Weakness“, „Leap of Faith“), die „Let‘s Roll“
zu einem ihrer besten Alben überhaupt machen.
Manche fühlten sich dabei an die besten Zeiten
von Ike & Tina Turner erinnert. Was allerdings
auch daran liegt, dass Etta Tina auch schon beeinflusst hat, als die mit ihrer Karriere begann.
by „Blue“ Blands „The Dreamer“ und „Welcome
To The Jungle“ von Guns ‚n‘ Roses.
„Welcome To The Jungle“ wird in ihrer Interpretation zu einer ordentlichen Funknummer
ganz ohne Referenzen mehr an den Metal der
80er/90er Jahre. Und „Boondocks“ von der
Country-Band Little Big Town bekommt ebenso
eine tiefe Dosis Swamp-Grooves aus Louisiana
verpasst.
Die anderen Stücke des Albums sind da schon
wesentlich weniger überraschend: Der Opener
„Groove Me“ ist auch hier ein typischer Soulsong
im Sound von Memphis. Otis Reddings Ballade „Cigarettes & Coffee“ macht zwar deutlich,
dass Etta James Stimme langsam alt geworden
ist. Doch noch immer kann sie einen mit der
Intensität ihres Gesangs schlichtweg umwerfen.
Auch Ray Charles („In The Evening“) oder Bobby „Blue“ Bland („The Dreamer“) kommen ihrer
Art des Singens entgegen.
All The Way
Mit Alben wie „Let‘s Roll“ hatte Etta James mit
großem Erfolg deutlich gemacht, dass sie auch
am Anfang des 21. Jahrhunderts noch heftig rockenden Blues und Soul singen konnte. Überraschend kam daher für viele das 2006 veröffentlichte „All the Way“. Denn das ist ein fast
überproduziertes Popalbum mit Songs zwischen
1930 und den 90er Jahren. Und die Mixtur überrascht ebenso sehr: Von Songs aus dem American Songbook („All The Way“) über Bernsteins
„West Side Story“ („Somewhere“) bis zu John
Lennon („Imagine“) und Simply Red („Holding
Back The Years“) oder R. Kelly („I Believe I Can
Fly“).
Wenn sie dann „Too Tired“ (von Johnny „Guitar“ Watson) singt, dann ist das ein wirklicher
Abschied: Der muntere Begleitsatz kann nicht
davon ablenken, wie ernst sie diesen Text für sich
genommen haben muss. Es ist ein Abschied von
den Fans und dem Leben auf der Bühne. Noch
ergreifender ist dann nur noch die Schlussnummer, Little Miltons „Let Me Down Easy“. Da
wird in jeder Note, jeder Nuance klar, dass der
Abschied eben nicht mit einem Knall kommt,
sondern im Bewußtsein, dass danach nichts mehr
kommt in diesem Leben. Die Sehnsucht richtet
sich darauf, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern danach noch etwas kommt. Lass mich jetzt
einfach gehen...
„The Dreamer“ mag nicht das beste Album der
Leider leidet das Album nicht nur an der fast ste- langen Karriere von Etta James sein. Doch es
rilen Produktion sondern vor allem auch daran, zählt in seiner Endgültigkeit zu den schönsten
dass einige Interpretationen schlicht langweilig musikalischen Abschiedsgeschenken, die man
geraten sind. „Imagine“ ist hierfür ein abschre- sich vorstellen kann.
Raimund Nitzsche
ckendes Beispiel. Besser kommen hier Songs wie
James Browns „It‘s A Mans Mans World“ mit seiner spanischen Gitarrenbegleitung oder „Purple
Rain“, das von James mit jeder Menge GospelFeeling dargeboten wird. Und natürlich Bobby
Womacks „Stop on By“, das hier mit dem nötigen dreckigen Funk daherkommt.
Bringt bisher UnErhörtes zu Dir!
CACTUS ROCK RECORDS ist
ein unabhängiges MailorderLabel mit Sitz in Sachsen.
Unsere Bands und Solo-Acts
kommen aus dem Südwesten
der USA, Deutschland und
Europa. Wir agieren als echte
Alternative zum Mainstream.
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Künstler im Mittelpunkt!
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Zu unserer CACTUS ROCK
RECORDS-Family gehören:
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RAINER PTACEK † (USA/Az)
REVEREND SCHULZZ (D)
RIVER ROSES (USA/Az)
STEFAN SAFFER (D)
_____________________________
NEW Releases:
The Dreamer
Ganz offiziell hatte Etta James „The Dreamer“
als ihr Abschiedsalbum angekündigt. Mit noch
immer kraftvoller Stimme singt sie darauf elf
Songs aus den letzten Jahrzenten zwischen Bob-
www.cactusrock-records.com
Kontakt: [email protected]
20
© wasser-prawda
Musik
Johnny Otis (1921-2012)
Johnny Otis war ein echtes Phänomen. Als Kind griechischer Einwanderer
wurde er zum Pionier des schwarzen Rhythm & Blues. Er war Bandleader, Talentsucher, Showmaster, Rock & Roll Star, Prediger und Journalist,
außerdem Maler und Bildhauer und Lebensmittelhändler. Am 17. Januar
2012 starb Otis in Los Angeles.
Kann man sich eine eigentlich fremde Kultur
völlig zu eigen machen? Der als John Veliotes geborene Johnny Otis war schon als Kind so sehr
von Jazz und Blues begeistert, wuchs zudem in
einer Gegend auf, wo fast nur Farbige wohnten.
Und so wuchs von Anfang an seine Liebe zu deren Kultur immer weiter an. Schließlich legte er
sich auch einen neuen Namen zu, weil der einfach mehr nach dieser Musik klang. Und nicht
nach dem Sohn eines griechischen Lebensmittelhändlers.
Angefangen hat er als Schlagzeuger und spielte
eine Weile mit dem Swing-Orchester von Count
Otis Matthews und wechselte dann zu Harlan
Leonard‘s Rockets, die im Club Alabam in Los
Angeles die Hausband waren. Doch schon bald
wurde Otis gefragt, ob er nicht ein eigenes Orchester gründen könnte für größere Veranstaltungen. 1945 erschienen die ersten Platten mit
dieser Big Band, unter anderem ein elegantes
Arrangement von „Harlem Nocturne“, das zu
einem kleineren Hit wurde. Bei anderen Singles
stand Jimmy Rushing am Mikrofon.
Auch für andere Musiker saß Otis zu der Zeit auf
dem Schlagzeugstuhl. Und dabei zeigte sich, wie
vielseitig er war: Sowohl für den wilden Shouter
Wynonie Harris als auch für den sanften BarBlueser Charles Brown war er im Studio. Und
auch für das Orchester von Count Basie war er
kurzzeitig als Schlagzeuger unterwegs.
Zwar ging er mit dem eigenen Orchester bis
1947 regelmäßig ins Studio. Doch richtig bekannt wurde er erst, als er mit einem Partner den
„Barrelhouse Club“ eröffnete. Sein Orchester
löste er auf und stürzte sich ganz auf den populären Rhythm & Blues und suchte nach jungen
Talenten, die er dann oft für Jahre an sich band.
„Little“ Esther Phillips war bald der erste große
Star seiner California Rhythm And Blues Caravan. Hinzu kamen weitere Sänger wie Mel Walker oder die Gesangsgruppe The Robins und der
Gitarrist Pete Lewis. Allein 1950 hatte er mit diesem Talentpool zehn Top-Ten Hits wie „Double
Crossing Blues“. Otis selbst spielte inzwischen
meist Vibraphon, später auch Klavier. Das Barrelhouse war der erste Nachtclub von L.A., der
sich vollkommen dem Rhythm & Blues widmete. Und das machte seinen Erfolg aus.
Und auch wenn zu Beginn der 50er Jahre die Erfolge zunächst kleiner wurden, blieb Otis weiter
aktiv als Talensucher. So entstand etwa „Hound
Dog“ mit der großartigen Big Mama Thornton
mit seinem Orchester. Und er nahm auch mit
dem noch jungen Little Richard Platten auf, als
der noch bei Peacock Records unter Vertrag war.
Auch Jackie Wilson und vor allem Etta James
begannen ihre Karriere bei ihm. Etta begegnete
er, als sie auf der Straße mit ihrem Gesangstrio
21
auftrat. Mit ihr produzierte er Singles wie „The
Wallflower“, die in den R&B-Charts ziemlich
erfolgreich waren. Als Solistin startete James allerdings erst richtig nach ihrem Wechsel zu Chess
Records durch.
Aus der Rhythm & Blues Caravan wurde in den
späten 50er Jahren die Johnny Otis Show. Und
mit „Willie and the Hand Jive“ hatte er einen regelrechten Rock & Roll Hit. Dabei sang er dann
auch selbst und spielte das Piano.
Die gesamte Otis Show war auch in der Fernsehshow vertreten, die er ab dieser Zeit für acht
Jahre regelmäßig jede Woche im Fernsehen von
Los Angeles präsentierte. Auch gründete er seine
eigene Plattenfirma Dig Records, auf der er seine
letzten Entdeckungen veröffentlichte.
In den 60er Jahren war die Zeit für die großen
Rhythm & Blues Shows allerdings langsam zu
Ende. Und damit auch die Hitsingles für Otis.
Alben aus den spätsechzigern näherten sich
klanglich dem Soul und Funk an und zitierten
die Ideale der Hippiebewegung.
Allerdings wurden einzelne Scheiben unter Pseudonymen wie „Snatch and the Pootangs“ (1969)
veröffentlicht und mit großen Aufschriften wie
„For Adults Only“ versehen. Stücke wie „Two
Girls In Love (With Each Other)“ waren akustisch hart an der Grenze zur Pornophonie. Und
© wasser-prawda
Musik
Sebastopol in Nordkalifornien, wo Johnny Otis lange wohnte und wirkte.
das öffentliche Preisen der freien Liebe und das
Singen über Geschlechtsteile in derartig freizügiger Sprache war den ursprünglichen Fans des
kultivierten Rhythm&Blues-Pioniers schwerlich
zu vermitteln. Und selbst heute bringen es hartgesottene Gangsterrapper nur selten fertig, in einem einzigen Song derartig oft „Motherfucker“
unterzubringen, wie Otis in „Two Time Slim“....
Letztlich blieb Otis aber dem Rhythm & Blues
über die ganzen Jahre treu und erzog seinen Sohn
Shuggie zu einem erfolgreichen Gitarristen. In
den 60ern hatte er ihn erstmal in seiner Band
präsentiert. Und als 1982 „The New Johnny
Otis Show“ bei Alligator erschien, war Shuggie
einer der schon etablierten Stars. Andere waren
etwa die Sängerin Margie Evans, die damals mit
dem American Folk Blues Festival auch in Europa zu erleben war. Bis in die Mitte der 90er Jahre
folgten regelmäßig weitere Alben.
Schon in den 60ern begann Otis zudem eine
politische Karriere. Nachdem er sich vergeblich
um einen Sitz im kalifornischen Senat beworben
hatte, wurde er Stabschef für Mervin Dymally,
der nach diversen Stationen in der kalifornischen
Regierung bis in den U.S.-Kongress gelangte.
Außerdem schrieb er Bücher wie „Listen To The
Lambs“ (über die Rassenunruhen von 1965,
veröffentlicht 1968) oder „Upside Your Head!
Rhythm & Blues on Central Avenue“ (1993).
Auch als Maler und Holzbildhauer war er aktiv
und veröffentlichte dazu umfangreiche Bildbände.
In den 90ern zog er in die Nähe von Sebastopol
nördlich von San Francisco, wo er sich eine Farm
gekauft hatte. Dort führte er außerdem zeitweise
einen Lebensmittelladen, der genauso ein Café
22
und ein Bluesclub war. Und er gründete eine eigene Gemeinde, für die er in Personalunion als
Pfarrer, Chorleiter und Bandchef tätig war. Allerdings bestand die Landmark Community Gospel
Church nur wenige Jahre, bis er sie vor allem aus
gesundheitlichen Gründen wieder auflöste. Live
aus der Powerhouse Brauerei in der Region präsentierte er auch noch eine wöchentliche RadioShow, bei der die Hörer eingeladen waren, zum
Frühstück vorbei zu kommen.
Als allerdings Otis Gesundheit immer mehr
nachließ und er außerdem zurück nach Los Angeles gezogen war, lief die Show immer mehr
ohne seine Beteiligung weiter. Die letzte Ausgabe
der Johnny Otis Show ging am 19. August 2006
über den Äther.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Platte Des Monats
Joe Louis Walker:
Hellfire
Wer bei dem neuen Album von Joe Louis Walker auf entspannten kalifornischen Blues gewartet haben sollte, dürfte mehr als überrascht sein: Auf
„Hellfire“ präsentiert sich der Gitarrist so intensiv wie noch nie zwischen
Chicago-Blues, Jimi Hendrix und Gospel.
Man kann seine Brillianz durch Subtilität unter
Beweis stellen. Aber man muss nicht. Denn zu
oft wird man auf diesem Wege einfach übertönt
und überhört. Das ist Joe Louis Walker lange Jahre so gegangen. Alben wie „Blues of the Month
Club“ sind großartige Werke. Unter Kollegen ist
er eh angesehen. Schon mehrfach wurde er mit
dem begehrten Blues Music Award ausgezeichnet. Doch ist der Mann so bekannt etwa wie Robert Cray (mit dem er vor Jahren oft verglichen
wurde? Nein, das ist er nicht. Und das ist mehr
als ungerecht. Aber „Hellfire“, sein erstes Album
bei Alligator, sollte daran etwas ändern.
Denn hier lässt Walker (produziert und am
Schlagzeug begleitet von Tom Hambridge, der
unter anderem schon „Livin Proof“ für Buddy
Guy aufnahm) sämtliche Zurückhaltung fahren.
Von der ersten Note an springt aus den Boxen
dieser Gitarrensound, predigt diese Gospel-gestählte Stimme und lässt sich nicht ignorieren.
Aber das Thema „Hellfire“ kann man auch nicht
so nebenbei als banale Spielerei abhandeln. Nein:
Der Kampf zwischen Gut und Böse, den man Foto: Joseph A. Rosen
mal vereinfachend als Thema des Albums ausma- Joe Louis Walker - Hellfire (Alligator/in-akustik)
chen kann, verlangt nach vollem Einsatz.
VÖ.: 31. Januar 2012
Homepage: http://joelouiswalker.com/
Und so mutiert die so elegante Gitarre Walkers Alligator: http://www.alligator.com/
immer mal wieder zu einem an Hendrix gemahnenden Ungetüm. Und Walker selbst predigt mit
vollem Einsatz vom Kampf in der Nachfolge Jesu
in einer mitreißenden Mixtur aus Blues, Soul,
Gospel, Rock und Funk: persönlich, engagiert,
und mit einer Meisterschaft auf der Gitarre interpretiert, die einen sprachlos und glücklich zurück lässt.
Wer nach „Hellfire“ nochmal den Vergleich zu
Robert Cray bringt, braucht einen Termin beim
Ohrenarzt. Und mich würde es nicht wundern,
wenn Walker mit diesem Album zu seinen bislang vier Blues Music Awards noch einige mehr
hinzu bekommen würde. Verdient wäre das auf
jeden Fall. Einfach nur großartig!
Raimund Nitzsche
23
© wasser-prawda
Platten
Blick auf die Hitliste der Virtuosen.
Nicht umsonst ist ihr 2011 erschienenes Album „Spreadin‘ Around“
von Lesern und Hörern verschiedener Medien in unserem Nachbarland zum besten Bluesalbum des
Jahres gewählt worden.
Die Vorbilder sind zahlreich und
doch äußerst unterschiedlich: Muddy Waters, die Vaughan-Brüder
oder Elmore James stehen gleichbereichtigt neben dem Jazz-Orga8 Ball Aitken - Alive In nisten Jimmy Smith. Und natürlich
darf man Howlin Wolf oder die
Tamworth
2011 war der aus Queensland in Fabulos Thunderbirds nicht verNordaustralien stammende Blues- gessen: Rock, Blues, etwas swinman 8 Ball Aitken zunächst gewal- gender Rhythm & Blues und eine
tig vom Pech verfolgt. Beim bedeu- Prise Funk und Soul. Das sind die
tenden Tamworth Country Festival Zutaten für die Musik der Veldman
wollte er sein neues Album „The Brothers.
Tamworth Tapes“ vorstellen. Doch
durch die Flutkatastrophe wurden
die CDs vernichtet. Dennoch lieferte er in Tamworth ein mitreißendes
Konzert ab, das jetzt pünktlich zum
Festival als Livealbum vorliegt.
Hatte man bei den letzten Studioalben von 8 Ball Aitken die Frage äußern können, ob dieser urwüchsige
Sänger und Gitarrist jetzt endgültig
den Weg hin zum Countryrocker
gehen würde, der wird gleich beim
Opener von „Alive In Tamworth“
Und wem das zu abstrakt klingt:
eines besseren belehrt: Gleich 13
Man nehme einen großartigen
Minuten lang rockt 8 Ball in bester
Hammond-Spieler, der gleichzeitig
Boogiemanier eines John Lee Hoonoch eine amtliche Bluesharp spielt
ker durch seinen „Crocodile Song“.
(Bennie Veldman), einen GitarrisUnd das Publikum geht von Anfang
ten und Sänger (Gerrit Veldman).
an mit, dass es eine Art hat. Und
Das sind die Brüder, die der Band
spätestens bei „Cyclone Country“
den Namen geben. Hinzu kommen
oder „Chocolate, Jack Daniels &
noch Marco Overkamp (dr) und
LSD“ sind sämtliche Fragen gegenDonald vand der Goes (bg). Seit
standslos, weil Songs wie diese einsieben Jahren ist diese Band schon
fach und vor allem einfach großaräußerst erfolgreich in der niedertige Lieder sind, denen man gerne
ländischen Bluesszene unterwegs.
zuhört.
Gerade erst wieder wurden sie in
Insgesamt 15 Songs umfasst das
vier Kategorien für die nationalen
Album, die meisten von den beiBlues Awards nominiert.
den letzten Alben „The Tamworth
Und wie es dazu kommt, kann
Tapes“ und „Rebel with a Cause“.
man gut auf „Spreadin Around“
Alle werden von seiner rauhen
nachfühlen und nachhören: Wenn
Slide-Gitarre und ein wenig Persie loslegen, dann zielen sie nicht
cussion vorangetrieben, die selbst
auf den anerkennenden Blick der
den Oldie „John Henry“ noch eine
Kollegen sondern einzig darauf,
Frischzellenkur verpasst. Und wenn
die Hörer im Herzen und in den
er zwischendurch seine grotesken
Tanzfüßen zu erreichen: Soviel
Geschichten aus dem sumpfigen
Gefühl wie möglich - ohne jemals
Norden Australiens erzählt, fühlt
auch nur in die Nähe des Kitsch zu
man sich, als wäre man live dabei.
geraten, soviel Rauhheit wie nötig.
Wenn man denn dem extremen AkUnd Spielfreude mehr, als man in
zent folgen kann, was mir erst beim
ruhigem Zustand ertragen kann.
zweiten oder dritten Hören gelang.
Klar natürlich, dass die Songs des
Raimund Nitzsche
Albums nicht komplett aus den
Federn der Band stammen. (Man
The Veldman Brothers nehme nur mal „Everyday I Play
The Blues“: Wer da nicht die Vorla- Spreadin‘ Around
ge sofort heraushört, muss die KlasThe Veldman Brothers aus den
se wiederholen. Ähnliches gilt auch
Niederlanden sind ein Beispiel
für „Evil“.) Aber das macht nichts,
dafür, wie man Bluesrock heute
spielen sollte: Geradewegs aus dem weil die ganze Scheibe von vorn bis
Herzen nämlich und nicht mit dem hinten nach der Band klingt und
so auch die „Inspirationen“ verinnerlicht wurden. Und damit macht
„Spreadin Around“ eben unwahrscheinlich viel Spaß. Ich hoffe, dass
die Veldman Brothers mit diesem
Werk auch in Deutschland die Aufmerksamkeit finden, die sie verdienen. Eine Menge nämlich.
Nathan Nörgel
Kulturförderung beantragen könnte
- kurz gesagt: das ist Modern Jazz/
improvisierte Musik, wie man sie
hier eigentlich kaum erwartet hätte.
Doch für das Album ist diese Suite
eindeutig einer der überraschendsten Höhepunkte für den Rezensenten. (Stormy Monday/in-akustik)
Raimund Nitzsche
Henning Pertiet - MasChris Kramer - Kramer
terpieces Vol. 1
Ich liebe es, wenn jemand Blues kommt!
am Klavier spielt. Oder auch Boogie Woogie. Doch wenn dazu keine Band spielt oder kein Gesang
kommt, dann ergreift mich dann
schnell eine Übersättigung oder
noch schlimmer: die Langeweile. Denn wie groß ist die Zahl der
möglichen Themen, wie flexibel
die Begleitung in der linken Hand:
schnell glaubt man da, bereits alles
gehört zu haben.
Bei „Masterpieces Vol. 1“ ist mir das
nicht passiert. Klar kommen hier
klassische oder eigene Kompositionen von Henning Pertiet zu Gehör,
laufen die Bässe in feinster Boogiemanier durch die Gegend.
Doch jedes Mal, wenn man glaubt,
sich ausklinken zu können aus dem
Hörprozess, überrascht einen der
Solist: Plötzlich kommt dann nach
dem frisch gerockten Honky Tonk
Train Blues von Meade Lux Lewis
ein Ausflug in die abstrakten Klangwelten von Theolonius Monk („Blue
Monk“). Und endlich kapiert der
Rezensent auch, wieso dieser Jazzer
sich zeitlebens auch auf seine Blueswurzeln berufen hat. Später kommt
dann nach noch Ellingtons „G-Jam
Boogie“ zu einer solistischen Pianodarbietung. Und in anderen Stücken glaubt man dann auch noch
Anspielungen auf Bach in der Lesart von Jaques Louissier zu vernehmen. Richtig heftig wird es dann
bei „Lingony Ext“, einer zwölfminütigen Suite, in der Pertiet eigene
Themen mit solchen von Monk
kontrastiert. Hier ist die Boogiemäßige Leichtigkeit vorbei, hier fordert
der Künstler über die ganze Zeit die
völlige Aufmerksamkeit. Denn das
ist eindeutig keine Tanzmusik mehr
für einen fröhlichen Samstagabend.
Das gehört eindeutig in den Bereich
dessen, wofür man mit vollem Recht
24
Chris Kramer ist unbestritten einer der Meister der Bluesharp in
Deutschland. Mit seinem neuen
Album „Kramer kommt!“ präsentiert er sich außerdem als deutschsprachiger Rockmusiker zwischen
Lindenberg und dem frühen Westernhagen.
Mit Peter Maffay hat er in den letzten Jahren zusammengespielt. Aber
auch mit dem Gitarristen Mick
Taylor (klar, dem Mick Taylor von
den Stones). Nach Angaben seiner Homepage hat er mittlerweile
12000 Schülern den Umgang mit
der Mundharmonika beigebracht.
Und wenn zu seinem Geburtstag
am 3. Februar 2012 sein neues Album „Kramer kommt!“ in die Läden
kommt, dann hat er als Vertrieb gar
Sony im Rücken. Wahrhaftig selten
für einen Bluesman hierzulande.
Doch eigentlich gehört die Scheibe
(trotz unüberhörbarer Bluesanklänge) auch eher in die Rockschublade,
Unterabteilung Deutschrock. Und
damit beginnen zumindest für den
Rezensenten die Probleme mit der
Scheibe, die musikalisch gut daherkommt und ganz amtlich groovt
zwischen Blues, Rock & Roll und
dem patentierten Diddley-Beat.
Denn ehrlich: diese Texte (verfasst
entweder von Kramer selbst oder
von W. Dulisch) versuchen cool
zu klingen wie zu den besten Zeiten von Udo Lindenberg. Doch so
cool sind sie leider zu selten. Viel
zu oft klingen sie statt dessen bemüht pädagogisch und steif. Und
die zwanghaften Reime machen
das Hörern nicht viel schöner. Hier
hätte man sich ein paar Unterrichtseinheiten von den wirklich großen
deutschen Textern der Gegenwart
(nehmen wir etwa Stoppok und
© wasser-prawda
Platten
sein Umfeld, Norbert Leisegang
oder auch Element of Crime als
Beispiele) gewünscht. Dann wäre
„Kramer kommt!“ wirklich ein großes Hörvergnügen geworden. Denn
die Selbstironie und Ehrlichkeit,
die man bei Kramers Konzerten
immer wieder als große Pluspunkte anführt, kommt im Studio nicht
rüber. Schade.... (Neo Bob-Media /
Sony)
Nathan Nörgel
Zed Mitchell - Game Is
On
Die jugoslawische Bluesszene kennen viele einfach nur, weil dorther
jemand wie Ana Popovic stammt.
Schon seit den 70er Jahren war
Zlatko Manojlovic in seiner Heimat
mit einer Menge Alben ein Star. Seit
Ende der 80er ist er in Deutschland
ein gefragter Studio-Musiker und
hat unter anderem auf Alben von
Udo Lindenberg und Eros Ramazotti gespielt. Daneben tourte er
als Zlatko & His Band durch ganz
Europa und stand so vor Leuten wie
B.B. King, Santana oder Joe Cocker
auf den Bühnen. Allerdings legte
er seinen Namen 2008 ab und sich
den Künstlernamen Zed Mitchell
zu. Schuld war daran vor allem „Big
Brother“ bzw. der dort herumprollende und später sogar singende
Zlatko. Als Zed Mitchell veröffentlichte er 2008 und 2010 zwei Alben
im Selbstverlag.
Die besten Songs davon finden sich
jetzt auf dem bei Acoustic Music
veröffentlichten „Game Is On“.
Und da trifft heftiger Rockblues
(„Blues For My Money“ - ein echter
Anspieltipp) auf Balladen im Stile von Gary Moore oder funkigen
Soulblues. Das ist eine Mixtur, die
gerade für Freunde des modernen
Bluesrock empfehlenswert ist. Für
mich selbst ist das Album gerade
bei den langsameren Nummern einfach zu glatt und mit zuviel Liebe zu
scheinbar zeitgenössischen Sounds
produziert. Aber es ist ein guter
Ansatzpunkt, um endlich auch
hierzulande einen wirklich bemerkenswerten Bluesrockgitarristen zu
entdecken. (Acoustic Music)
Raimund Nitzsche
Inniss am Bass und Schlagzeuger
Jamie Little (der auch das Album
produzierte). Hinzu kommen neben einer gerade für die an Stax
erinnernden Soulnummern nötige
Bläsersection noch Gastauftritte
von Bassistin Victoria Smith (die
Cassie Taylor bei „More Girls With
Guitars“ ersetzt), Keyboarder Pete
Wingfield und Danis Bruder Will
Wilde (mharm).
Mit „Juice Me Up“ mach Dani Wilmehr als deutlich, dass sie zum
Dani Wilde - Juice Me de
Besten gehört, was der britische
Up
Blues zur Zeit zu bieten hat. (Ruf/
Mit ihrem dritten Album „Juice in-akustik)
Me Up“ entwickelt sich die SänRaimund Nitzsche
gerin und Gitarristin Dani Wilde
von einem Blues-Girl mit Gitarre
in Richtung einer zeitgenössischen
Soulsängerin. Und vor allem wird
sie immer mehr zu einer sehr guten
Songschreiberin.
Ok, wegen des Erfolges wird Dani
Wilde auch 2012 wieder als „Girl
with Guitar“ unterwegs sein. Doch
eigentlich ist Wilde inzwischen über
dieses Label hinausgewachsen. Sie
ist eindeutig erwachsen geworden.
Und das hört man ihrem im Februar erscheinden Album auch an. Und Miss Lissa & Company
das ist in jedem Fall als Kompliment
- Back To Your Mama
gemeint.
So hat „Crazy World“ einen Funk- Melissa Young ist eine großartige
groove, der an Stücke erinnert, die Sängerin. Wie sie sich voller Läsirgendwann in den 70ern entstan- sigkeit in einen Song wie „Back To
den sind. Der Text allerdings - von Your Mama“ hineinlehnt um den
Dani selbst geschrieben - ist mehr Typen zurück zu seiner Mutter zu
als aktuell. Wilde engagiert sich seit schicken, wo er noch immer hingeJahren für Kinder in Afrika. Und hört: das macht einfach Spaß. Wer
ist ein Song über Kindersoldaten in jetzt glaubt, Miss Lissa & ComAfrika von ihr nicht wirklich über- pany in die Ecke des swingenden
raschend. Denn auch wenn sie in Rhythm&Blues stecken zu können,
vielen Songs über das ewige Thema hat natürlich nicht komplett UnMann und Frau singt - Dani Wilde recht. Aber diese Band aus Dayton
ist eine Frau, die mit offenen Augen (Ohio) ist noch eine Menge mehr.
durch die Welt geht und das auch Und das zeigt sich bei den sieben
in ihrer Kunst reflektiert. Auch die Stücken ihres Albums „Back To
Unruhen in Großbritannien im Your Mama“, ja eigentlich schon
letzten Jahr hat sie in „The Burning bei den ersten Takten des Openers
Truth“ ein musikalisches Denkmal „Mountain Mama Blues“:
gesetzt. Und sie stellt die Frage: Ist Zuerst ist da nur die Slide-Gitarre
das die proletarische Revolution, von Eric Henry. Irgendwo zwischen
wie sie Marx angekündigt hat? Oder Ry Cooder und Sonny Landreth.
stammen diese Brände einfach nur Manche wollen auch Derek Trucks
von ein paar Kids, die dazu einfach als Vorbild ausgemacht haben. Auf
in der Lage waren?. Und vor allem: jeden Fall umwerfend. Dann zählt
Wo ist hier eigentlich eine Regie- die Band ein und haut unter das
rung, die sich um die Probleme Riff einen rockenden Groove, der
Schnellzuggeschwindigkeit
kümmert? Das sind Gedanken, wie mit
man sie im Blues inzwischen leider über einen hinwegrollt. Und Miss
Lissy macht klar, dass sie die Cheviel zu selten hört.
Insgesamt liegt der Fokus des Al- fin im Ring ist. Bis dann Eric Henry
bums mehr auf souligen Klängen sein Solo rauslässt: Eindeutig unentals auf dem klassischen Blues und schieden. Aber der Song ist umwerBluesrock. Man merkt, dass Dani fend.
mit der Musik aus Memphis und Und auch bei den anderen Stücken
Detroit aufgewachsen ist. Und na- des Albums wird deutlich: Miss Listürlich auch mit Michael Jackson. sy & Company ist in der KombiUnterstützt wird Dani bei den nation einer Power-Blues-Lady wie
Aufnahmen wieder von Stuart Di- Melissa Young und eines Gitarrisxon als zweitem Gitarristen, Roger ten wie Eric Henry eigentlich unschlagbar. Und diese Kombination
25
funktioniert in den verschiedensten Spielarten des Blues zwischen
dem klassischen Delta, dem Chicago-Blues a la Muddy Waters oder
Buddy Guy bis hin zum funkigen
Bluesrock. Selbst vor dem direkten
Vergleich mit Janis Joplin schreckt
Young nicht zurück, wenn sie als
einzige Cover-Version des Albums
„Ball & Chain“ nimmt und in ihrer
Interpretation eben weniger auf die
klassische Vorlage als auf Joplin als
Teil von Big Brother anspielt. (Da
für mich Janis Joplin einfach unvergleichlich ist, enthalte ich mich hier
der Bewertung. Allerdings hatte Big
Brother & The Holding Co. niemals einen wirklich umwerfenden
Gitarristen....)
Die 2007 gegründete Band Miss
Lissa & Company ist definitiv eine,
auf die man auch in Zukunft achten
sollte.
Nathan Nörgel
Ray Bailey - Cruisin‘
For A Bluesin‘
Cruisin For A Bluesin von dem kalifornischen Gitarristen Ray Bailey ist
nur bedingt ein Bluesalbum für entspanntes Cruisen durch die kalifornische Sonne. Die elf Songs drehen
sich viel häufiger um harte Schicksalsschläge und die Unfairness des
Lebens überhaupt.
Als 1993 Ray Baileys Debüt „Satan‘s
Horn“ erschien, da sprachen viele
schon vom Start einer großartigen
Karriere. Doch statt dessen verschwand der aus Los Angeles stammende Gitarrist und Songschreiber
bis 2009 völlig von der Bildfläche,
kümmerte sich etwa um seine kranken Eltern. Mit dem Live-Album
„Resurrection“ meldete er sich dann
schließlich doch noch zurück. Und
im Januar 2012 erscheint mit „Cruisin‘ For A Bluesin‘“ auch wieder
einmal ein Studiowerk. Und auf
ihm kann man einen Gitarristen
entdecken, wie es ihn nur selten
gibt: Scharf schneiden einen sein
Linien in die Ohren. Die oft kolportierte jazzige Leichtigkeit des
Kaliforniers wird kombiniert mit
der Härte und Rauhheit des Deltablues. Und neben an B.B. King gemahnenden Melodielinien wechselt
er immer wieder auch in einen Akkord-Stil, der an die Farbigkeit von
Wes Montgomery erinnert. Und ab
© wasser-prawda
Platten
und zu schreien die sechs Saiten wie
bei Jimi Hendrix.
Nun sind die elf Songs von „Cruisin‘ For A Bluesin‘“ aber längst
nicht nur Showcases für einen brillianten Gitarristen. Sondern sie sind
oft auch tief persönliche Erzählungen eines vom Schicksal getriebenen
Menschen, der bei allen Genickschlägen nicht verbittert sondern
sogar weise geworden ist. „I Just
Can‘t Cry No More“ oder „Hoe‘s
Heart“ etwa bringen diese Weisheit
mit einer Sprache zum Ausdruck,
die ihre Wurzeln in den dreckigen
Nebenstraßen der Glitzermetropole
hat. Erst bei Bailey‘s Interpretation
des Klassikers „Going Down Slow“
ist man wirklich beim „typischen“
Blues aus Kalifornien gelandet: eine
entspannte jazzige Nachtclub-Atmosphäre, soulige Wärme und eine
Stimme, die an den großen Bobby
„Blue“ Bland erinnert. Wenn dann
nicht wieder ironische Untertöne
das Bild brechen würden. Und die
Angst vor dem nächsten Schicksalsschlag die scheinbar ergebene Haltung des Sängers aufbrechen würde.
(Tondef )
Raimund Nitzsche
Bare Bones Boogie
Band - BBBCD2
Als die Bare Bones Boogie Band
2010 ihr Debüt veröffentlichte, galten sie bei einigen Kritikern schnell
als das „next big thing“ in Sachen
Bluesrock aus Großbritannien.
Punktlich zum 1. Januar 2012 erschien jetzt ihr selbstbetiteltes zweites Album.
Musik reduziert bis auf die Knochen, von allem überflüssigen Fett
befreit - so könnte man das Konzept der Bare Bones Boogie Band
umschreiben. Als no nonsense blues
band beschreiben sich die Mitglieder selbst. Und beides meint: Wenn
die Truppe loslegt, dann gibt es keine Schnörkel, keinen überflüssigen
Zierrat, nur heftig und gradezu gespielten Bluesrock. Wenn Sängerin
Helen Turner loslegt, dann wären
auch sonstige Zutaten völlig überflüssig. Denn die aus Schottland
stammende Sängerin könnte mühelos bei jedem Wettbewerb für die
nächste Janis Joplin oder Etta James
mitwirken: Jedes Gefühl kommt
mit der gleichen Wucht beim Hörer
an, mit dem sie es zunächst gefühlt
hat. Und was Ian Black (g), Trev
Turley (bg) und Andy Jones (dr)
machen, ist diese Urgewalt von einer Sängerin ganz fest am Boden zu
halten und ihr gleichzeitig den nötige Rückhalt zu bieten. Wobei auch
klar wird, wie großartig sie selbst als
Musiker sind. Denn nur dann kann
man sich eben zum richtigen Zeitpunkt auch zurücknehmen. Um
dann gleich wieder loszufliegen,
wenn es gebraucht wird.
Das zweite Album der vier bringt
zehn (bis auf Johnsons „Love
in Vain“) von Bandmitgliedern
(Hauptsongwriter ist Gitarrist Ian
Black) verfasste Songs, die die Liebe zum britischen Bluesrock der
60er und frühen 70er Jahre spüren
lassen. Selbst für Blueshasser ist das
„Blaue Album“ der Bare Bones Boogie Band einfach nur eine wundervolle Rockscheibe. Vergesst endlich
mal den ewigen Britpop! Erhältlich ist das Album direkt über die
Homepage der Band.
Nathan Nörgel
Laurie Morvan Band Breathe Deep
2010 gewann Laurie Morvan für
Fire It Up! den Blues Music Award
für das beste selbstproduzierte Album. Mit „Breathe Deep“ setzt die
Kalifornierin ihren Kurs eines zeitgemäßen Gitarrenblues fort.
Auf einem ihrer letzten Alben hat
sie mal gesungen „Where Are The
Girls With Guitars“. Doch wenn
man Laurie Morvan in die Reihe
der „Girls with Guitars“ um Dani
Wilde, Joanne Shaw Taylor oder
Samantha Fish stellen würde, wäre
das zwar als Kompliment gemeint.
Doch es käme wohl eher als Beleidigung rüber.
Denn wenn man sich „Breathe
Deep“ anhört, dann ist das eine
Frau - und kein Mädchen - die hier
den Blues singt und mit lyrischen
Gitarrenlinien begleitet. Eine Frau
- selbstbewußt und prägnant sowohl in der Stimme als auch auf der
Gitarre. Und selbstbewußt auch in
den Statements ihrer Lieder, ob es
nun um die ewigen Beziehungskrisen des Lebens geht oder aber um
die politische und finanzielle Lage.
Hier regiert nicht die jugendliche
Ungeduld oder der Leichtsinn. Son- auch als Hommage an den großen
dern es spricht jemand mit Lebens- Gitarristen verstehen. (Tonecool /
erfahrung. Und auch mit den Erin- in-akustik)
nerungen an die Wunden, die dieses
Raimund Nitzsche
Leben einem geschlagen hat.
Hightlight des Album ist für mich
„No Working During Drinking
Hours“. Dieses witzige Lied, doch
endlich Schluss mit dem Nachdenken über die Arbeit zu machen,
wenn man eigentlich nur noch einen Drink haben möchte, spricht
mir mehr als aus dem Herzen. Prost
Gemeinde! (Screaming Lizard)
Raimund Nitzsche
Ori Naftaly - A True
Friend Is Hard to Find
Double Trouble - Been
a Long Time
Wirklich: „Been A Long Time“ seit
der texanische Gitarrenheld SRV in
jenen Helikopter stieg. Doch sein
Erbe ist so lebendig wie eh und je,
immer neue Zusammenstellungen
von Vaughans Aufnahmen vor
allem mit Double Trouble kommen
auf den Markt und machen immer wieder deutlich, wie großartig
dieses Trio mit Tommy Shannon
(Bass) und Chris Layton (Drums)
eigentlich funktionierte.
Dass jetzt erst ein Album unter
dem Bandnamen Double Trouble
erhältlich ist, hängt einfach daran,
dass für den Star des Trios einfach
kein Ersatz zu finden ist. Und so ist
„Been a Long Time“ auch mehr ein
Treffen von Freunden und langjährigen Mitstreitern als ein wirkliches Band-Album. Zu hören sind
unter anderem Doyle Bramhall II,
Eric Johnson, Johnny Lang und
Kenny Wayne Shephard aber auch
Willie Nelson und Dr. John. Und
diese jeweiligen Bandleader verwandeln das Album ohne falsche
Sentimentalität in eine Hommage
an den Verstorbenen Stevie Ray
Vaughan. Höhepunkt der Scheibe
ist für mich, wenn Susan Tedeschi
Led Zeppelins „Rock ‚n‘ Roll“ mit
einer Energie herausbellt, die der
des jungen Robert Plant würdig ist.
Aber auch Johnny Langs versoffene
Fassung von „Groundhog Day“ ist
einfach wundervoll dreckig. Und
wenn Dr. John „Baby, There‘s No
One Like You“ anstimmt, dann
kann man das nicht nur als Liebeslied an irgendeine Frau sondern
26
Als Kind habe er immer zu den
alten Bluesscheiben aus der elterlichen Plattensammlung gespielt, erzählt Ori Naftaly. Und genau diesen
Klang seiner Kindheit habe er mit
seinem neuen Album wiederbeleben wollen. Und so lud er Freunde
nicht nur aus seiner Heimat Israel
sondern auch aus London, Chicago
und Israel in die heimischen LUNA-Studios ein. Bei vier live-Sessions entstand dort „A True Friend
(Is Hard To Find)“. Und das ist ein
klassisches Blues- und Soulalbum,
das dem Rezensenten erstmals verdeutlichte, wie großartig die Bluesszene Israels ist.
Wenn es um den Klang der Kindheit geht, dann ist klar, dass man
dazu die alten Songs spielen muss:
Muddy Waters natürlich. Aber auch
Son House, Elmore James oder
James Brown. Die Songauswahl ist
bei diesem Album nicht das wirklich Überraschende. Sondern die
Vitalität und Spielfreude von Gitarrist Naftaly und seiner Band. Und
vor allem auch die Power der Gäste
am Gesangsmikrophon.
Da ist etwa Sagol 59, der in den letzten Jahren sechs Alben als HiphopSänger und MC veröffentlicht hat
und zu den Initiatoren der Hiphopszene Israels überhaupt zählt. Inzwischen ist er zu seiner ursprünglichen
Liebe zu Blues und Rock zürückgekehrt. Und das merkt man, wenn
man ihn „Can‘t Get No Grindin‘“
oder „Don‘t Go No Further“ singen hört: Hier trifft Elmore James
auf die heftigeren Nachahmer vom
Schlage eines George Thorogood.
Als einer der Gründer einer israelischen Bluesszene zählt der in
den USA geborene Dov Hammer.
Der wurde damals durch den Film
„Blues Brothers“ - und besonders
durch den Auftritt von John Lee
Hooker vor dem Soul Food Cafe
infiziert. Begann er ursprünglich
als Bassist wechselte er während des
Wehrdienstes schnell zur Bluesharp.
Das Instrument passt einfach besser
© wasser-prawda
Platten
in die Hosentasche.... Gelernt hat
er das Instrument ebensosehr durch
das Hören auf die Platten der Klassiker wie Sonny Boy Williamson
II oder Little Walter wie durch das
Nachahmen etwa von Saxophonisten oder Pianisten in den Bands, die
er live hören konnte. Und so ist sein
„Help Me“ keine sture Neuauflage des Chicago-Blues sondern eher
eine Neuinterpretation aus dem
Blickwinkel des britischen Rhythm
& Blues der späten 60er.
Led Zeppelin und gar Deep Purple
zählt der Gitarrist und Bluesharpspieler Dor Nagar zu seinen weiteren Einflüssen neben dem klassischen Chicago-Blues. Und dann ist
da noch diese unwahrscheinliche
Blues-& Soulstimme von Eleanor
Tsaig, die es schafft, den Titelsong
mit einer Power und gleichzeitig
Leichtigkeit zu interpretieren, dass
Vergleiche zu Ruthie Foster oder
Rory Block nicht wirklich weit her
geholt sind.
Als „ausländische“ Gäste hatte
Naftaly den in London lebenden
Soulsänger Roy Young ebenso eingeladen wie Nave, die Sängerin der
amerikanischen Band Tempa and
the Tantrums.
„A True Friend (Is Hard To Find)“
- ein mehr als willkommenes Fundstück auf einer für mich bislang
noch weißen Gegend der BluesLandkarte. Und natürlich auch hier hatte Ori Naftaly eine richtige
Idee - eine Reise in die Zeit, als man
den Blues in seinem Leben völlig
neu entdeckte. So frisch wie hier,
haben für mich die Klassiker in letzter Zeit selten geklungen.
Nathan Nörgel
Bessie Smith - Blues
Queen. The Definitive
Collection
Einen Überblick über das Schaffen
von Bessie Smith von 1923 bis 1933
bietet der Sampler „Blues Queen“.
Einen Schwerpunkt bilden dabei
Aufnahmen, die Bessie mit Louis
Armstrong, Bennie Goodman und
Fletcher Henderson eingesungen
hat.
Das Album sortiert die Stücke
Chronologisch vom „Downhearted
Blues“ (16. Februar 1923) bis hin
zu Gimme A Pigfoot (24. Novem-
ber 1933). Die bekanntesten Stücke wie der „St Louis Blues“ oder
„Nobody Knows You When You‘re
Down And Out“ fehlen ebensowenig wie der damals als Pornografie
verpönte „Empty Bed Blues“.
Allein neun der Stücke sind gemeinsam mit Armstrong entstanden, bei
zwei weiteren ist Coleman Hawkins
mit seinem Saxophon zu hören
und bei den letzten beiden Nummern von der November-Session
1933 begleiten Benny Goodman,
Frankie Newton und Jack Teagarden die Sängerin. Als preiswerten
Einstieg in das Werk der „Empress
of the Blues“ kann man das Album
also ebenso empfehlen wie als Ergänzung für Fans, die eine leichter
hörbare Version dieser Lieder ins
Regal stellen wollen. (Phoenix /inakustik)
Raimund Nitzsche
Little Milton - Grits
Ain‘t Groceries
Bluessampler von inakustik
Regentage, Einsamkeit, Herzschmerz - es sind Momente wie
diese, wo einen der Blues besonders
packen kann. inakustik hat jetzt drei
preiswerte Sampler mit aktuellen
Bluesnummern zu diesen Themenkreisen veröffentlicht.
„Blues for rainy days“ spannt den
meteorologischen Bogen von „Cold
Rain“ (Blues Company), über „Louisiana Rain“ (Samantha Fish) bis hin
zum „Warm Rain Falling“ (Jackie
Payne Steve Edmonson Band) und
dem „Fog On The Highway“ (Miller Anderson). Ein tröstlich-melancholischer Wetterbericht - und (wie
auch die anderen beiden Alben) ein
Wiederhören mit zu lang nicht gehörten Songs.
„Blues for when you are alone“ ist
von der Stimmung ähnlich melancholisch. Hier hören wir unter anderem die zur jüngeren Generation
der Bluessängerinnen gehörenden
Dani Wilde (Abandoned Child),
Meena mit ihrer Fassung von „I‘d
Rather Go Blind“ und Dana Fuchs
(„I‘ve Been Loving You Too Long“)
sowie altgediente Musiker und
Bands wie Chris Farlowe oder die
Cadillac Blues Band.
Fast rein männlich gehts hingegen
auf „Blues for broken hearts“ zu.
Hier sind neben einigen schon Genannten auch Ansley Lister, Guitar
Crusher, Omar Kent Dykes und
Coco Montoya zu hören.
Nathan Nörgel
Lange lagen die Aufnahmen von
Little Miltons Konzert im Rahmen
des Wattstax-Festivals 1972 in den
Archiven und wurden erst 1984 als
LP veröffentlicht. „Grits Ain‘t Groceries“ wird jetzt von Concorde als
CD wiederveröffentlicht.
Auch wenn der Sänger und Gitarrist
längst nicht die großen Hits etwa
von Otis Redding oder Sam & Dave
vorzuweisen hatte, gelangen ihm
nach seinem Wechsel aus Chicago
zum Stax-Label in Memphis beeindruckende Aufnahmen vor allem
von langsameren Stücken wie „Walkin The Back Streets & Crying“.
Dass er aber nicht nur ein Balladenspezialist war, kann man auf „Grits
Ain‘t Groceries“ nachvollziehen.
Die 1972 im Summig Club von
Los Angeles mitgeschnittenen Aufnahmen zeigen ihn auf der Höhe
seines Könnens: Rauher als die polierten Aufnahmen etwa von Bland
oder King dreht er die Gitarre auf
bis zum Feedback. Sein patentiertes
Staccato-Picking treibt die fantastische Band voran. Das ist Soul-Blues, Chuck Berry - In The
wie man ihn heutzutage kaum noch
1950s
zu hören bekommt. (Concord Jazz/
Vier LPs veröffentlichte Chuck
in-akustik)
Berry zwischen 1957 und 1960. GeRaimund Nitzsche
treu der damaligen Praxis enthielten
sie die Hitsingles des Künstlers und
27
diverses Füllmaterial. In einer Box
veröffentlicht das britische Label
Chrome Dreams jetzt diese Alben
und ergänzt sie mit den Singles,
die es nicht auf die Alben schafften
und anderen Aufnahmen, an denen
Berry zwischen 1954 und 1960 mitwirkte. Und als Bonusmaterial gibt
es Aufnahmen Live-Aufnahmen
und Interviews aus späteren Jahren.
Klar, diese Hits von ihm hat jeder irgendwo schon in seiner Sammlung
stehen. Doch was „In The 1950s“
neben dem ausgezeichneten Booklet zu einem Pflichtkauf macht, ist
die Tatsache, dass man hier eben
einen kompletten Überblick auch
über die Instrumentalnummern
oder die unbekannteren B-Seiten
seiner Hitsingles bekommt. Auch
sind die vielen Coverversionen von
Rhythm & Blues Titeln, die Berry
auf dem 1960er Album „Rockin‘ At
The Hops“ bringt, eher unbekannt
heutzutage.
In den Bereich der absoluten Raritäten gehören dann die als BonusTitel ausgewiesenen Nummern der
dritten CD der Box: 1954 etwa war
Berry mit Joe Alexander & Cubans
im Studio und spielte Mambo („Oh
Maria“, „I Hope These Words Will
Find You“). Und 1959 war er Gitarrist für zwei Stücke, die The Ecuadors einspielten. Hinzu kommen
noch live-Aufnahmen aus der Alan
Freed Show (1956) und der Mike
Douglas Show 1972. Bei letzterer
trat Berry gemeinsam mit seinem
ergebenen Fan John Lennon auf.
Und das Gespräch mit Berry, Lennon und Joko Ono aus derselben
Show bildet das erste von vier Interviews, die den Abschluss dieser
dritten CD bilden. Damit wird diese Box wirklich zu einer großartigen
Veröffentlichung, die die Bedeutung Berrys auch für Spätgeborene
erlebbar macht. (Chrome Dreams/
in-akustik)
Nathan Nörgel
Woody Guthrie - Bob
Dylan‘s Woody Guthrie
Selection
Kaum ein Songwriter hat über die
Jahrzehnte so seine Bedeutung erhalten wie der vor 100 Jahren geborene Woodie Guthrie. Noch immer nehmen Musiker heute seine
Lieder auf oder vertonen Texte auf
© wasser-prawda
Platten
dem Nachlass. Chrome Dreams hat
2011 einen Sampler veröffentlicht,
der sämtliche Guthrie-Stücke vereint, die Bob Dylan in seiner langen
Karriere jemals gespielt hat.
Die Dylanologen durchforsten das
Wirken von Bob Dylan bis in jede
Einzelheit. Etwa wann er bei welchem Konzert welches seiner Lieder
in welchem Tempo gespielt hat. Da
lag ein Sampler wie „Bob Dylan‘s
Woody Guthrie Selection“ eigentlich auf der Hand. Akribisch listet
das Booklet auf, wann Dylan die
Songs gespielt oder gar aufgenommen hat.
Doch ist die Doppel-CD wesentlich
mehr, nämlich eine Zusammenstellung von vielen der besten Songs,
die Guthrie je aufgenommen hat.
Natürlich fehlen da weder „This
Land Is Your Land“ noch „I Ain‘t
Got No Home“. Aber auch Traditionals wie „The House of The
Rising Sun“ oder „Froggie Went
A-Courtin“ oder Songs wie Jimmy
Rodgers „Blue Yodel Nr. 8 (Muleskinner Blues“ finden sich unter
den 41 Aufnahmen. So ergibt sich
ein Überblick über einen großen
Teil der Lieder, die beim Folkrevival
in den 50er Jahren zu Standards für
die jungen Barden wurden. (Chrome Dreams/in-akustik)
Raimund Nitzsche
Ladysmith Black Mambazo - And Friends
Seit fast 50 Jahren gibt es schon die
a capella Gruppe Ladysmith Black
Mambazo aus Südafrika. Weltweit
bekannt wurden sie 1986 durch ihre
Mitwirkung an Paul Simons Album
„Graceland“. „And Friends“ versammelt auf zwei CDs Kollaborationen mit Musikern zwischen Dolly
Parton, Natalie Merchant und dem
English Chamber Orchestra.
Insgesamt 30 Stücke, die im Laufe der Jahrzehnte entstanden sind,
finden sich auf „And Friends“. Das
reicht von Stücken mit Paul Simon
aus „Graceland“ über klassische
Soul- und Gospelnummern (etwa
mit den Golden Gospel Singers
oder mit Emmylou Harris) bis hin
zu einer verblüffend einleuchtenden
Fassung von „Knocking On Heavens Door“ mit Dolly Parton.
Es ist erstaunlich, wie bei aller Un-
terschiedlichkeit der „Freunde“
doch immer der Chorsound die gesamten Nummern bestimmt. Klar
gibt es für meine Ohren hier auch
Aufnahmen, die die Grenze zum
Kitsch eindeutig überschritten haben.
„And Friends“ ist ein sehr guter
Weg, Ladysmith Black Mambazo
kennen zu lernen oder Erinnerungen aufzufrischen. Danach kann
man sich auch ihren aktuellen Projekten widmen, auf denen sie verstärkt Stücke aus der Tradition der
Zulu interpretieren. (in-akustik)
Nathan Nörgel
der Macht der Medien, die heutzutage oft schon zu Feinden der Demokratie werden. Das ist politische
Musik, wie überhaupt der von Fela
Kuti und anderen Heroen popularisierte Musikstil immer auch gesellschaftliche Fragen mit den Mitteln tanzbarer Musik thematisierte.
Auch Lieder wie „Tricky Liars“ passen genau da hin.
Was JariBu von afrikanischen Musikern der 70er unterscheidet? Wahrscheinlich zunächst mal die jazzigen
Exkursionen, die sich die Kompositionen immer wieder leisten. Und
auch, das man (wie etwa in „Afro
Soul Knows“) deutliche ReggaeEinflüsse hören kann. Dass man allerdings überhaupt nicht hört, woher die Band eigentlich stammt, das
macht deutlich, wie international
der Afro Beat heute wirklich geworden ist. (Tramp)
Raimund Nitzsche
Tony Cox - My African
Heart
JariBu Afrobeat Arkestra - Mediacrazy
Afro Beat ist längst ein weltweites
Phänomen und wird gern auch zur
Würzung ansonsten vielleicht fader
Popsounds eingesetzt. Wesentlich
ernsthafter geht allerdings das
japanische JariBu Afrobeat Arkestra vor. Auf ihrem zweiten Album
„Mediacrazy“ fügen sie zu traditionellen Klängen auch Jazz und Funk
hinzu. Und vor allem sind ihre
Stücke ähnlich wie die ihrer Vorbilder politische Statements, zu denen
man tanzen kann.
Es ist schon erstaunlich, wie weit
sich der Afro Beat in der Welt ausgebreitet hat. Als ich jetzt allerdings
„Mediacrazy“ vom JariBu Afrobeat
Arkestra erstmals in den Händen
hielt - und vor allem als ich die
Scheibe erstmals hörte! - , wollte
ich den mitgelieferten Informationen eigentlich nicht trauen: Eine
so traditionell mit westafrikanischen Rhythmen spielende Band
kommt gerade aus der Region von
Tokio? Das ist dann schon ganz
schön strange, um mal einen grad
passenden englischen Ausdruck zu
verwenden.
Aber eigentlich vielleicht auch
nicht: Zu oft haben in den letzten
Jahren Rockbands ihre Grooves mit
afrikanischen Zutaten veredelt und
so auch weltmusikalisch weniger gebildeten Hörern die Ohren für deren Schönheiten geöffnet. Doch die
Japaner, die 2009 mit „Afro Sound
System“ ihr Debüt veröffentlichten,
kan man beileibe nicht in diese Ecke
stellen. Das merkt man schon beim
Titelsong, einer Abrechnung mit
28
die Geliebte, doch endlich in das
passende Gewand zum Ausgehen
zu schlüpfen.
In der norddeutschen Region
werden wohl nur die wenigsten
sofort diese Texte verstehen. Doch
das ficht die Band um Don Mascon
und El Capitain nicht an. Schließlich würden auch nur wenige
Leute hierzulande genug Spanisch
verstehen. „Salsa Guerrilleros“ hat
auch unverstanden das Zeug, jeden
Saal zum Tanzen zu bringen. Und
eine solche Revolution ist nur zu
begrüßen. (Connector Records /
in-akustik)
Raimund Nitzsche
Los Dos Y Companeros
- Salsa Guerrilleros
Salsa und kubanischer Son serviert
mit Texten auf Bayrisch? Seit Jahren schon sind Los Dos Y Companeros mit dieser Mischung nicht
nur in Süddeutschland sondern
selbst auf Kuba erfolgreich. Ihr
neues Album heißt „Salsa Guerrilleros“.
Der Erfolg des Buena Vista Social
Club vor etlichen Jahren nur bedingt überraschend. Kaum jemand
verstand die Texte dieser kubanischen Schlager. Doch wegen der
großartigen Musik war das nicht
nötig. Selbst auf Bayrisch können
Titel wie „Dos Gardenias“ noch
überzeugen.
Den Beweis dafür findet man bei
der Salsa-spielenden Dschungelkämpfertruppe aus der Oberpfalz.
Los Dos Y Companeros, die sich
„Salsa o Muerte“ als Motto ihrer
Revolution gewählt haben, machen
auf ihrem neuen Album „Salsa
Guerrilleros“ den Versuch, die Salsa
ebenso wie den Son heim nach
Bayern zu holen. Aus den zwei Gardenien des erwähnten Liedes wird
so ein halbbesoffenes Kneipengespräch des Sängers mit seinem
vom Liebeskummer gepeinigten
Freund. Und aus dem längst schon
totgespielten „Quando Quando
Quando“ wird die Aufforderung an
Als Gitarrist zählt Tony Cox zu
den besten musikalischen Exporten
seiner Heimat Südafrika. Mit seinem aktuellen Album „My African
Heart“ lädt er ein zu einer Entdeckungsreise zwischen Jazz, Pop und
afrikanischen Klängen.
„China“ ist nicht nur ein Land
ist sondern auch ein Begriff für
„Freund“ in Südafrika. Diese Anmerkung ist hilfreich, wenn man
sich das Album „My African Heart“
in den Player legt. Denn was der Gitarrist und Komponist Tony Cox in
dem Opener des Albums abbrennt,
ist ein musikalisches Feuerwerk,
nichts mit der Kultur Chinas sondern viel mehr mit den Klängen des
eines multikulturellen Südafrikas zu
tun hat. In seinen Stücken treffen
die Traditionen etwa der Zulu auf
indische Einflüsse und Anklänge
aus Jazz und Ragtime. Und das in
durchgängig so mitreißender Art
und Weise, dass man beim Mitwippen und Träumen den Winter vor
den Fenstern glatt vergessen kann.
Eingespielt hat der weiße Gitarrist
und Komponist das Werk mit zahlreichen Kollegen seines Landes. Und
so ist es eben nicht nur das Herz des
Gitarristen, was man hier zu hören
bekommt sondern eigentlich ein
Blick in das Herz eines Landes, dass
es so in der politischen Landschaft
kaum gibt: So viel Liebe, Offenherzigkeit und Lebensfreude - und so
viel Aufmerksamkeit für die Vielfalt des Anderen ist wirklich selten.
(Acoustic Music)
Nathan Nörgel
© wasser-prawda
Feuilleton
Warum Menschen immer
noch an Hustenbonbons
ersticken.
Eine Annäherung an Jürgen Landt. Von Erik Münnich
Meine erste Begegnung mit Jürgen Landt war die eines Lesers mit einem
Autor und dessen Texten. Diese haben mich mitgenommen und immer
wieder auf neuem Terrain abgesetzt, ohne mich allein zu lassen. Einfach
ausgedrückt: ich war begeistert.
Und das hat mit der Vielseitigkeit seiner Texte zu tun: Sie sind zuweilen derb und laut, leise und eindringlich; zuweilen sind sie traurig und
verzweifelt, amüsant und zum Brüllen komisch. Und vor allem: Sie
verzichten auf unnötigen Schmuck, auf formale Spielereien, auf Nebenkriegsschauplätze und kommen, wie man so schön sagt, auf den Punkt.
Was unschön, schlecht oder gar scheiße ist, ist nun einmal so. Warum also
beschönigende Worte dafür finden? Das ist ganz sicher kein Alleinstellungsmerkmal, keine Besonderheit, die nur Jürgen Landt ausmacht – er
wird auf Grund dessen oftmals mit Charles Bukowski verglichen; ein
Vergleich übrigens, den er mit der Feststellung kontert, dass er nur das
aufschreibe, was jener vergessen habe. Seine Texte sind aber dennoch eine
angenehme Abwechslung innerhalb einer Literaturszene, die immer häufiger zu Nebensächlichkeiten – seichten Inhalten, eigentlich irrelevanten
Verkaufszahlen, inszenierten Literaturschaffenden usw. – neigt.
alles war noch zu begreifen.
auch:
warum die präservative so teuer waren,
warum die flüchtlinge töpfe und kopfkissen bekamen,
warum der bio-rhythmus der frauen so strapaziös
ausfiel,
warum es nicht die ALLergroße liebe geben konnte,
warum kein vanilleeis nach heidelbeeren
schmeckte,
warum noch immer gedichte geschrieben wurden,
warum manche menschen gedichte manchmal lasen,
warum der mond an keiner himmelshundeleine
hing,
warum es krach an der börse gab,
warum so viele leben sich das rauchen abgewöhnten,
warum immer noch die selbstbefriedigung so hoch
in der norm stand,
warum das geld gefälscht wurde,
warum lippen trotz gepriesener kosmetik einsprangen,
29
© wasser-prawda
Feuilleton
warum frauen vor und während der periode besonders scharf waren,
warum im lotto gewonnen wurde,
warum den männern die haare zusätzlich am kinn
wuchsen,
warum die meisten männer sich mit dem wuchs der
haare am kinn abfanden,
warum ein mensch einen anderen menschen töten
konnte,
warum menschen bei der geburt der menschen dabei waren,
warum beim platzregen auf der straße ein paar
schirme aufsprangen,
warum das daseinsgefüge als entwicklung sich
auch ganz anders hätte entwickeln können,
warum ein steifes glied irgendwann den männern
nicht mehr den verstand verdrehte,
warum bei den heißen bädern häufig wasser in der
wanne war,
warum die kaffeebohnen vorm kaffeetrinken in
der regel eigentlich hätten gemahlen sein sollen,
warum die schiffe noch untergingen solange es
noch flüssigkeiten gab,
warum philosophien einfach nur herzkettchen
ohne anhänger zum tragen blieben,
warum slips irgendwo den geist aufgaben,
warum tränen nach salz und nicht nach zucker
schmeckten.
alles war noch zu begreifen!
auch:
warum das all uns im all in all unseren bewegungen auffing.
alles blieb noch zu begreifen!
nur nicht:
warum menschen immer noch an hustenbonbons erstickten.
(mit titel)
„keine ahnung.“ sage ich und rolle mich mit
meinen angehängten lebenskonserven die 30 meter
bis zum klo,
mit schweiß auf der stirn,
denn mittlerweile weiß ich,
was so ein entzündeter dickdarm beim toilettengang auf mich zukommen läßt.
aber woher weiß dieser mann,
daß der patient mit dem speckkinn,
der lacher, in dem großen dunkelroten beutel
liegt?
der sack war doch zu!
ich frag ihn nicht.
am abend lacht nichts auf dem flur.
nur stöhnen, schreie, roteknöpfedrücken und
wieder schnarchen in meinem zimmer mit den
sechs menschenvollen betten.
„unten steht ein leichenwagen.“ sagt jemand
nach dem frühstück,
„und was hast du die nacht gehabt?“ frag ich
den mann mit seinem sehen.
„angst. mein herz wollt auseinanderjagen. und
an dir versteh ich nicht, wie du das alles wegsteckst hier. diesen unsagbaren scheiß mit all
den leuten, und was alles passiert im zimmer,
dieses elend hier, und nie ruhe, was hast du
bloß für nerven?“
„gar keine mehr.“
eine schwester kommt rein und strahlt:
„männer, ich habe eine ganz tolle nachricht für
euch. ihr müßt euch bloß schnell und ohne größere klopperei einigen. ein zweibettzimmer ist
gerade frei geworden. wer richtig schön ruhe
braucht, in ruhe liegen will, den roller ich
jetzt in seinem bettchen rüber. und? wer von
den herren möchte?“
niemand meldet sich.
„das verstehe ich nicht, ständig beschwert sich
Jürgen Landt siedelte 1983 von der DDR nach Hamburg über. Die für
jemand, daß die zustände in einem 6 bett zimmer
ihn unerträglichen Umstände – die staatlichen Kontrollmaßnahmen
unerträglich sind, sie später einen psychiater
und die damit einhergehenden Einschränkungen privater wie künstlebrauchen, und nun will niemand raus? na, wen
rischer Freiheit – und die Hoffnung, „psychisch durchatmen und übersoll ich schnell mal rüber rollern?“
ich melde mich.
leben zu können, wenn [er] die bis in den Geist hinein drangsalierende
„schwester, können sie mein bett mal etwas weiund bevormundende DDR hinter [sich] lassen könnte“ waren für ihn
ter hier zur seite schieben? ich lieg genau
ausschlaggebend. Seine Erika durfte er mitnehmen, seine literarischen
unterm fernseher, und das kann ich nicht ab,
Arbeiten musste er allerdings zurücklassen. Ein neuer Anfang, ein „Zuich hab angst, daß das ding eines tages runterrück auf Null“ quasi. Er schrieb sich an der Hochschule für Bildende
fällt, und mir genau auf den kopf.“
Künste ein – ein Studium, das er erfolgreich absolvierte – und begann auf „so was fällt nicht runter.“
„doch, mir ist schon einmal etwas auf den kopf
seiner Schreibmaschine Type-Arts zu erstellen. Heute schwer vorstellbar:
gefallen, früher mal, eine lautsprecherbox, von
ohne Skizze und in millimetergenauer Feinarbeit hackte er diese in seine
der decke, so wie der riesige fernseher hier
Schreibmaschine. Schon damals wurde er gefragt, ob er „für die einen
oben, ich will nicht länger unterm fernseher
Computer benutze“. Dann kam das Schreiben, welches das, was in den
liegen, das ding kommt eines tages runter!“
„hier ist noch nie was runtergefallen, denken
Typearts bereits angelegt war, konsequent und ohne Rücksicht auf einen
etwaigen Markt oder möglichen Leser fortsetzte: „Er knallt dem Leser sei- sie lieber an ihren schlimmen bauch!“
„trotzdem, wenn das teil runterfällt…ich bleib
nen Text vor den Latz“, schrieb Jürgen Olejok für die Asphaltspuren, und: hier nicht so liegen!“
Seine Texte „[orientierten] sich nicht an schöngeistigen Formulierungen,
sie stöhnt, kickt mit ihrem fuß meine latschen
sondern an der rauhen Wirklichkeit des Alltags“.
unters bett, tritt im anschluß die bremse los,
eine entzündung im darm
zieht meinen ständer zu sich ran, mit ihm die
und thrombosen im bauch,
angeschlossenen schläuche stramm und rollt mich
und ich stehe auch nach wochen noch im flur des
stumm zur seite.
alten krankenhauses rum.
an einer abgestellten, mit körperflüssigkei(alles rollt)
ten durchsuppten matratze hängt ein angeklebter
zettel in krakligen druckbuchstaben: BITTE ABWas in diesem Text angelegt ist, ist charakteristisch für seine Texte. Neben
HOLEN!
dem Verzicht auf die Großschreibung – was, anders als von verschiedenen Rezensenten oftmals behauptet, überhaupt kein Problem darstellt,
nach tagen trägt sie noch denselben zettel,
und mein rollender medikamentenständer trägt
sondern eben dem nahe kommt, was Literatur auszeichnen sollte: Ernoch immer die flaschen mit den antibiosen, die
wartungen zu unterwandern – sind dies auch seine derben, obszönen
schneeweiße künstliche nahrung, beutelwasser
Formulierungen, die auch schon mal dazu führen, dass einige Texte auf
und den perfusor mit mir im schlepptau über den
eine Jugendfreigabe hin überprüft wurden. Ebenso zu benennen sind ein
flur.
hoher Anteil von Dialogen – die zusammen mit den beschrieben Zu- und
und schon wieder wird ein prallgefüllter sack
Umständen den Eindruck einer gewissen Authentizität erwecken – und
auf einem bett vorbeigerollt.
die Integration lyrischer Elemente in Prosa und prosaischer Elemente in
doch diesmal sagt jemand:
Lyrik, welche es schwer macht, diese Texte einer bestimmten Textsorte
„das ist der kerl, der vor zwei tagen hier
abends auf dem flur noch so dreckig gelacht hat. zuzuordnen, der Lektüre aber einen nur schwer zu beschreibenden Reiz
verleiht. Und trotzdem lässt sich eine eingangs bereits erwähnte Ablehweißt, wen ich meine? der dicke mit dem speckkinn.“
nung eines Formbewusstseins für seine Arbeiten konstatieren, weil dieses
30
© wasser-prawda
Feuilleton
für ihn nur eine Spielerei darstellt, die vom Wesentlichen ablenke – von
der Kraft, die Literatur hat, und von den Möglichkeiten, die Literatur
bietet.
und der notarzt schickt dich zurück aufs kettenkarussel.
und der wicht im kartenhäuschen schnottert dem
wegschlendernden dok hinterher:
„den will ich nicht schon wieder, den hat ich
schon zig mal, der löhnt nichts mehr!“
du hakst nicht einmal mehr die dünne kette vor
den fliegenden sitz,
doch es nützt nichts,
die fliehkraft der sinnlosen tage hält dich fest
beieinander.
„aussteigen!“
und du schaust in eine gräßlich entstellte
fratze und denkst:
‚dem hab ich mal ‚ne karte abgenommen?’
„aussteigen, hab ich gesagt!“
und du steigst aus und fragst nach keinem
nichts zurück, nach keinem entgegengesetzten
dreh.
„faß mich bloß nicht an, du!“ drohst du der
fratze an,
und möchtest doch eigentlich gehoben werden.
„ruf mal einer den notarzt!“ hörst du zwischen
dem vergnügungsgeplärre,
und bevor dich ein nächster aufgeklappter koffer erwischt,
findest du dich in der erstaunlicherweise eintrittsfreien abstrusitätenbude, zwischen gespensterbahn, spiegelsaal und boxerpavillion,
neben der bärtigen frau mit den sechs freigelegten brüsten und dem blauhäutigen mann mit
seinen drei zugewachsenen augen wieder.
„kommst mit ins bett?“ fragte die frau.
„jetzt schon?“ gähnte der mann.
„na, was willst denn sonst machen?“ hörte er
wie hinterm schall.
„wir können uns ja auch schon vorher an die geschlechtsteile fassen.“ antwortete der mann.
„und dann?“ fragte sie nach.
„dann können wir immer noch ins bett gehen.“
besaften, das einzige was blieb.
„weißt du, manchmal komm ich mir vor wie im
kettenkarussel. das ganze leben, ein einziger
rummelplatz.“
„schön wärs.“
„ich mein, alles dreht sich wie im kreise, die
jahre flitzen wie im rausch vorbei. mir ist,
als drehe sich alles immer schneller. wiederholungen über wiederholungen, manchmal wird mir
richtig schlecht.“
“das bildest du dir nicht nur ein, das ist auch
so.“ gab der mann ihr recht und gähnte erneut.
„nimm wenigstens die hand vor’n mund, wenn du
gähnst. du müßtest dich mal sehen, das sieht
fürchterlich aus, wie bei einem gelangweilten
raubtier im käfig. irgendwann stellen sie dich
noch auf’em jahrmarkt aus oder in hagenbecks
tierpark.“
“ich hab mal ein buch gesehen, da war eine frau
mit sechs brüsten drin und ein kerl, der hatte
mehrere schwänze, sah aus wie ein kuheuter, und
ein anderer hatte wasserhoden, und der typ saß
auf einem hocker und das zeug hing an ihm runter und hatte sich auf dem boden breitgemacht
wie ein mittelgroßer krake, ich mein, wie ein
leib von einem kraken, ohne arme und so, und in
demmin lief ein mann rum mit blauer haut.“
„und was hat das jetzt damit zu tun?“ fragte
die frau.
„nichts. ich mein ja bloß. aber vielleicht hats
doch was damit zu tun, wie mit allem, ich weiß
nicht, hör bloß auf mit diesem kettenkarussel.“
„aber es geht immer schneller, woran liegt das
bloß?“
„das liegt an dem übersehen der dinge, wenn ein
mensch älter wird, ich meine nicht ein wirkliches übersehen, eher, das einem das alles nicht
mehr so anficht, weißt du?
die spannung ist raus, nicht mehr jeder neuer
tag ist ein erlebnis, ist kein abenteuer mehr,
bringt einen nur näher zu einem haufen maden
oder auf’n rost im krematorium.“
„aber gerade deshalb müßte ja alles langsamer
laufen, wenn man sich langweilt. die tage und
nächte sind dann doch einfach länger.“
„weiß auch nicht, warum einem der ganze scheiß
sone schnelligkeit suggeriert, ich mag auch
31
© wasser-prawda
Feuilleton
te ihn nach einer weile eigenartig losgelassen
wieder aus.
der mann wartete bis die frau die kleine lampe
löschte, dann ging auch er ins dunkle nebenan.
(dann ging auch er ins dunkle nebenan)
Auf inhaltlicher Ebene sind seine Texte ebenfalls durch eine breite Vielfalt
gekennzeichnet. Die Auseinandersetzung mit den Lebensumständen in
der DDR, welche nicht die für diese oftmals grundlegenden Perspektiven
bedient, sondern „die Sicht eines Außenseiters, der keinen politisch motivierten Oppositionellen darstellt, sondern auf das Recht der Individualität
pocht“ und die in seinen Texten mit dem Protagonisten Peter Sorgenich
verbunden ist, ist eines der häufig wiederkehrenden Themen. Die Darstellung der mit verschiedenen Protagonisten verbundenen Alkohol- und
Spielsucht steht hinter diesem aber keineswegs zurück. Diese ist zuweilen
amüsant und urkomisch, zuweilen tragisch bis hoffnungslos, verzichtet
aber immer auf den Einsatz gesellschaftlicher Klischees und Sterotypen.
Daran schließt der Versuch an, die eigene Depression zu verarbeiten, sie
in Worte zu fassen und der es schafft, dieser Krankheit schöne wie traurige, abstoßende wie zutreffende Worte zu verleihen und auf die vor allem
durch die Medien transportierten Vorurteile zu verzichten. Und schlussendlich spielt natürlich auch das weite Feld der Liebe eine nicht unwesentliche Rolle. Dieses wird in allen Facetten und Abgründen dargestellt.
nicht schon wieder an weihnachten denken.“
„müssen wir aber, die kinder freuen sich drauf,
für die war das ein langes jahr.“
„als kind ist mir schon in einer ‚berg-und-talbahn’ schlecht geworden.“
„warum lenkst du denn jetzt ab?“ wollte die
frau von ihm wissen, „die kinder haben ein
recht auf weihnachten.“
„boxer hätte man werden sollen, dann wüßte man
wenigstens am ende, warum man solche zerhackte
fresse hat.“
„und ein hängearsch? kriegt man den auch vom
boxen?“
‚ne, vom täglichen abhängen auf der schüssel.’
dachte der mann und behielt es für sich, fragte
stattdessen: „und hängetitten?“
„dicke hängetitten fandst du doch immer geil
bei anderen.“
„das ist was anderes, als wenn man sie jetzt
täglich hat.“
„guck mal, der mond scheint buttergelb am
schwarzen himmel.“
der mann schaute in die nacht. es stimmte, das
ding sah aus, wie ein rundes, fettes stück markenbutter von ‚NORMA’, nur viel gelber und uneingewickelt.
„wenn wir jetzt hier was machen würden, würd
uns der butterkopfvoyer am nachthimmel nicht
mal die pickel am arsch einfetten können. das
ding ist machtlos wie alles andere.“
„und was machst du, wenn dein schwanz mal in
falten hängt?“ hakte die frau urplötzlich nach.
„kettenkarussell.“ antwortete der mann.
irgendwie war der frau danach, dem mann ihren schminkspiegel zwischen die beine zu halten, doch sie ging sich nur wortlos die zähne
putzen. der mann schaute noch einmal zum mond,
wollte grienen, doch die buttergelbe scheibe
ließ sein grienen nicht zu, erfror sein wollen
mit einer für ihn nicht nachvollziehbaren ins
zimmer drängenden himmelshemmung, und er wunderte sich über sein nicht können wollen, hörte
seine frau ins schlafzimmer entschwinden, wußte
von ihrem frischen zahnpastageschmack, verharrte abwesend und wie von irgendwas verpackt, angewurzelt auf dem teppich, nur sein gähnen lös-
der kleine kerl war fünf, stand plötzlich in
voller plastikritterüstung im zimmer, zog sein
kunststoffschwert aus der plastikscheide seiner
ausrüstung und schlug es mit aller kraft auf
den nackten, haarigen hintern des mannes. der
mann lag auf der oma des kleinen ritters und
hatte gerade schwitzend mit seinem penis in ihr
herumgestochert.
als der mann erschrocken rausfuhr und sich umdrehte, flitzte der kleine ritter mit erhobenem
schwert zur tür hinaus.
„dieser freche satan, der!“ blickte seine oma
kreischend unter dem mann hervor: „der bengel
wollte doch im garten sein und die hohen brennesseln köpfen!“
„von wegen, jetzt hat er doch gezeigt, wer für
ihn hier das unkraut ist, und ich dachte immer,
der junge mag mich!“
der mann langte an seinen hintern: „das brennt
richtig!“
„jetzt weiß er wenigstens, wie er entstanden
ist, mach kein theater, mach weiter, ich war
gerade so schön in fahrt.“ die oma des kleinen ritters ließ sich zurück in die horizontale fallen und machte einfach wieder die beine
breit.
der mann zog die hand vom hintern zurück, stand
auf, schloß die tür, langte sich zwischen die
beine, stimulierte sich ein wenig und flutschte
mißmutig und reserviert erneut in die frau.
ihm ging der schlag nicht aus dem kopf, und als
er nach einer weile über seine schulter blickte, stand der kleine junge mit heruntergeklapptem visier und dem aufgerichteten schwert in
der geballten faust still und steif verharrend
im türrahmen.
(rittschläger)
Wer sich selbst einen Eindruck verschaffen möchte, dem sei die im März
beim freiraum-verlag erscheinende Veröffentlichung bisher unveröffentlichter und neuer Texte sowie verschiedener Typearts von Jürgen Landt
ans Herz gelegt.
Zitate
Ronald Klein: Der Sonnenküsser. Ronald Klein im Gespräch mit Jürgen
Landt, für: http://www.satt.org/. Interview verfügbar unter: http://www.
satt.org/literatur/08_09_landt.html.
Jürgen Olejok : Zwischen Poesie und alltäglichem Wahnsinn, in: Asphaltspuren 2011. Beitrag verfügbar unter: http://asp.leseattacke.de/index.
php?option=com_content&view=article&id=167:juergenlandt&catid=49:
autorenprofil&Itemid=94.
(Die Asphaltspuren sind ein Literaturmagazin, welches in gedruckter Fassung erscheinen. Eine Vielzahl der Texte sind auch unter http://asp.leseattacke.de/ online abrufbar.)
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Interview
Verstehen ist, eine
Melodie weiter pfeifen.
Der Lyriker und Verleger Bertram Reinecke im Gespräch
mit Erik Münnich
Bertram Reinecke, 1974 in Güstrow geboren,
studierte in Greifswald und absolvierte das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Nach der Veröffentlichung von zwei Gedichtbänden – An langen Brotleinen (2000) und Chlebnikow am Meer
(2003) – gründete er 2009 den Verlag Reinecke
& Voß. In diesem Jahr ist sein Band Sleutel voor
de hoogduitsche Spraakkunst als roughbook 19
bei Urs Engeler erschienen. Erik Münnich sprach
mit ihm über Lyrik, das Verstehen sowie seine
Projekte als Lyriker und Verleger.
Erik Münnich: Lyrik spielt, möchte man meinen, nur eine untergeordnete Rolle in Bezug auf
den gegenwärtigen Literaturmarkt. Dem großen
Teil des Publikums scheint sie gar abträglich zu
sein.
Bertram Reinecke: Es kommt drauf an, wie man
guckt. Natürlich ist, wenn man sich den Buchmarkt ansieht, Lyrik sehr schmal vertreten, grade
die Gegenwartslyrik. Es gibt natürlich trotzdem
noch Formen des Umgangs mit dem, was man
Lyrik nennt. Es gibt die Songtexte im Radio, in
Gottesdiensten. Es gibt Poesiealben, die immer
mal wieder Mode werden und dann haben es
plötzlich alle. Man merkt natürlich, dass in der
Schule, in der Gesellschaft Lyrik nicht mehr die
große Rolle spielt und dass das schädlich für die
Lyrik ist. Man merkt eine gewisse Unbeholfenheit, zum Beispiel wenn mal diese Mode des
Poesiealbums mal wieder auftaucht, merkt man
wie die Leute gar nicht mehr wissen, wie man
mit dieser Form produktiv umgehen kann. Und
trotzdem wird diese Form noch Mode. Es gibt
ein Bedürfnis nach kurzen Texten, das dann auf
andere Weise – vielleicht jetzt durch Facebook –
befriedigt wird, aber, sagen wir mal, es gibt noch
den basalen Bedürfnisraum für Lyrik. Und ich
glaube, das ist eine Stelle, wo man immer wieder
aufbauen kann.
ist die Vorbereitung der Auseinandersetzung mit
den Formen, die Du wählst, und wie umfangreich ist die tatsächliche Arbeit?
Bertram Reinecke: Dichtung als Forschung, das
klingt sehr anspruchsvoll. Und welche Vorbereitungen nötig sind, das beinhaltet auch die Frage:
wie ist mein Schreiben in das Konventionssystem
eingebettet, das ich vorfinde. Die Frage nach der
Vorbereitung könnte man auch an das Publikum
stellen. ( Erst die zweite Frage wäre, was ich wisDas hat mit meiner Lyrik natürlich nur mittelbar sen und was ich getan haben muss.) Und so gezu tun; aber doch insofern, als dass Formen eine stellt ergeben sich ganz andere Antworten, als
Möglichkeit des Zugangs sind zu Lyrik. Wenn man vielleicht erwartet.
man eine Form hat, dann hat man immer auch
eine Leseanweisung, wenn man sie kennt. Das Zunächst ist es mal legitim, wenn man nicht alles
muss man dann natürlich kennen, aber das ist versteht. Es ist ja, wenn man in ein Konzert geht,
leichter zu lernen als neu vor einem Gedicht zu für einen völlig normal, dass die Gedanken auch
stehen, es geheimnisvoll zu finden und sich ir- mal wegkreiseln, mal über anderes nachdenken
gendwie Ergriffenheit abzunötigen. Wenn man und dass ein Konzertbesucher nicht aus einem
eine Form hat, hat man immer einen Einstieg, Konzert kommt und sagt: „Der Komponist hat
wie man an diese Sache rangehen könnte und jetzt hier die Tonika, dann kam die fünfte Stufe
wenn man das ausprobiert, kommt man oft ei- usw.“, ein Verständnis der Musik, das dem Vernen Schritt weiter. Und das ist ein Aspekt, der ständnis, was einem Verständnis gleichkäme wie
mir an Form auch relativ wichtig ist. Es gibt na- wir es uns in der Schule bei Texten versuchen
türlich noch viele andere Aspekte.
zu erschließen. Das ist eine Illusion die aus dem
Deutschunterricht kommt.
Erik Münnich: Von Dir stammt der Satz: „Dichtung ist Forschung.“ Deine Arbeiten weisen viele Die Idee des Verstehens ist erwachsen aus der
Bezüge zu anderen Texten auf und Du versuchst, Idee der Kontrolle, dass der Lehrer nämlich wisFormen kreativ umzusetzen. Wie umfangreich sen muss, ob der Schüler das begriffen hat, was er
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Interview
gesagt bekommen hat, dass das abgefragt werden
muss. So kommt das Verstehen, dass man sagen
kann, das Gedicht handelt davon, das Gedicht
sagt das und das, durch die Schule in die Welt. Es
wäre im Gegensatz dazu völlig legitim zu sagen
„natürlich verstehe ich Celan, ich kann aber nicht
sagen, was das heißt.“ Dieser Satz gilt aber als
falsch und irgendwie seltsam.
Verstehen ist eigentlich
etwas anderes als das,
was wir in der Schule
als Verstehen lernen.
Und wenn man mit dieser Gelassenheit Texten
gegenübertritt, alles, was man in Deutsch gelernt
hat und vielleicht auch im Literaturwissenschaftsstudium, mal vergisst und die Freiheit gewinnt,
sich einfach mal auf Texte einzulassen, dann bekommt man eigentlich von meinen Texten, glaube ich, viel mehr mit, als man nachvollziehbar
sagen könnte. Und darum geht es mir.
Das ist die eine Seite: wie muss das Konventionssystem vorgebahnt sein beim potentiellen Leser.
Und dann gibt es natürlich noch die Seite: was
muss ich wissen, wenn ich den Text schreibe.
Und auch ich muss nicht alles in der Hand haben. Das unterscheidet mich vielleicht gar nicht
so sehr von anderen Gegenwartsdichtern. Es
geht gar nicht darum, das und das zum Ausdruck
zu bringen. Kaum ein Dichter schreibt so. Nur
Deutschlehrer tun immer so, als wäre das in den
Texten drin.
Bei Dichtung geht es viel stärker um Möglichkeitsformen. Welche Möglichkeiten des Sprechens gibt es und wie kann man daran anschließen. Die moderne Dichtung, zum Beispiel, ist
voll von gezielten Doppeldeutigkeiten. Das wäre
ja völlig sinnlos, wenn es darum ginge, anschließend Interpretationen davon herzustellen. Und
so arbeite ich auch.
Ich muss nicht in der Hand haben, was der Leser
nachher im Kopf hat. Ich muss nur bereitstellen
und da muss ich dann schauen, dass grammatisch
bestimmte Dinge möglich sind und andere Dinge ausgeschlossen. An diesen Stellen grammatische oder semantische Hebel zu stellen – welches
Wort welcher Kategorie das ist usw. – eine mikroskopische Arbeit eher, da habe ich zu arbeiten,
die „Gesamtbedeutung“ ist wenig interessant, ergibt sich darüber hinaus ganz ohne Zutun. (Und
damit es mir nicht zu leicht fällt, arbeite ich mit
Fremdmaterial, Dateien mit bis zu 1500 Seiten.)
Und das tue ich dann eben so.
Erik Münnich: Viele Rezipienten gehen aber
nicht mit diesen Grundvoraussetzungen an deine
Arbeiten. Ist es dadurch nicht sehr schwierig für
Dich, als Lyriker Gehör zu finden oder hast Du
mittlerweile gar viel mehr Möglichkeiten als beispielsweise noch vor drei Jahren?
Bertram Reinecke: Meine Möglichkeiten wachsen. Man macht auch oft Kompromisse. Natürlich kann ich auch – das steht mir frei, interessiert
mich bloß nicht so sehr – etwas so bauen, dass
die Leute das Gefühl haben, „aha, das versteht
man.“ Du hast vielleicht auch bei meiner Lesung
gemerkt, dass es einige Texte gab, die sich leichter
erschließen, und andere Texte, die sich schwerer
erschließen. Bei einigen Texten ist ja ganz klar,
wo die Überraschung, der inhaltliche Witz liegt.
Außerdem wächst mein Möglichkeitsraum, und
vor allem wächst mein Möglichkeitsraum mit
spröden Texten, mit Sachen, die mich wirklich
selbst interessieren, auch Gehör zu finden.
Wenn man junger Lyriker ist, wird man dafür
gebucht, dass man als irgendwie interessant gilt,
was man macht, vielleicht auch gut über Dichtung reden kann. Und dann erwarten die Leute was Verständliches. Auch in Leipzig gibt es
Gruppen, die von mir immer nur sowas
abfordern.
Und jetzt zusehends finde ich ein Publikum – ob
in Berlin oder Leipzig – das auch das andere von
mir hören will. Und da ist es natürlich so, dass
man dann eine Marke verkörpert und sich diese erarbeiten muss und diese Marke ist natürlich
auch immer wieder problematisch, weil man,
wenn man eine Marke zu sehr verkörpert – experimentelle Texte zu schreiben – dann schalten die
Leute auf eine andere Weise wieder ab; nach dem
Motto: „Das ist was Intellektuelles, das ist was
Experimentelles. Das muss ich nicht verstehen.
Das lass ich zum einen Ohr rein rauschen, zum
anderen Ohr raus.“
Wer zu sehr diese Marke des Experimentellen
verkörpert, fängt an daran zu leiden.
ich noch habe, ffalls mich mal jemand nach neuem Material fragt.
Erik Münnich: Welche Programmschwerpunkte
hat Dein Verlag in diesem Jahr? Knüpfst Du hier
an die Projekte, die Du in den letzten Jahren publiziert hast, an?
Bertram Reinecke: Im Grunde ist innerlich natürlich immer eine Linie. Und auch als Verleger
geht es um Marken. Es ist immer schwierig, die
nach außen zu repräsentieren. Aber es entwickelt
sich jetzt in der nächsten Zeit zwei Schwerpunkte:
Sprache und Osteuropa. Wir haben einen Band
mit Gedichten des polnischen Lyrikers Miron
Bialoszewski. Linguistische Poesie oder Reismus
heißt die Richtung in Polen. Vergleichbar sind
die Texte ein bisschen vielleicht mit bestimmten
Strömungen von dem, was konkrete Poesie ist in
Deutschland; also vielleicht vergleichbar mit den
Gastarbeiterdeutsch-Texten von Jandl. Das passt
sehr gut zu dem Krutschonych, dem Erfinder des
Lautgedichts auf Russisch. Das passt auch einigermaßen gut zu Hoprich, der aus Rumänien
kommt, das zwar zu Südosteuropa gehört, aber
das ist natürlich auch der Blick nach Osten.
Ein Buch über die Sorben ist gerade erschienen,
was sich mit der sorbischen Sprache und Kultur
in ironischer, aber auch melancholischer Weise
auseinandersetzt. Jürgen Buchmann hat dieses
geschrieben, der es sich zur Aufgabe gemacht
hat, bedrohte Sprachen und bedrohte Völker ins
Bewusstsein zu rücken. Außerdem wird im Laufe des Jahres etwas über das Irische von ihm erscheinen, ein fiktives Feature. Eine Form, die von
meinem Interesse an Form her gedacht, sehr selten ist. Und ein zweiter Text in dieser Form, von
Ulf Stolterfoht, wird auch bei uns erscheinen.
Ulf Stolterfoht ist ein sehr profilierter, experimenteller Lyriker – ich mag das Wort nicht, aber
man versteht sich darüber – der ein fiktives Feature über den Literaturbetrieb macht und das
sehr sehr lustig ist.
Ann Cotten geht es zum Beispiel so. Die wünscht
sich dann das Andere. Da muss jeder Lyriker seinen Weg durch finden. Und das ist immer ein
Kompromiss irgendwo. Man macht es mal so
und mal so.
Erik Münnich: Welche Veröffentlichungen sind
von Dir in Planung bzw. schon fest?
Erik Münnich: Du hast an Deine eigenen Arbeiten sehr hohe Ansprüche. Leidet darunter Deine Bertram Reinecke: Einmal ist das die Shock
Arbeit als Verleger?
Edition 3 vom distillery-Verlag. Für die, die es
nicht kennen: Der kommt aus der Ecke der LiBertram Reinecke: Umgekehrt ist es im Mo- teratur der Nachwende-Zeit. Ein experimenteller
ment stärker so. Im Moment versuche ich, und Affront gegen die betonierte Sprache der DDR.
es gelingt mir auch, den Verlag auf ein ruhiges Bert Papenfuß, Sascha Anderson gehören dazu.
Arbeiten – dass der Verlag läuft – zu bringen, Diese Szene hat sich gemischt mit einer, ich sage
dass ich wieder mal mehr Texte schaffe.
mal, „Social-Beat“-Kultur aus dem Punk-Mileu,
Aber es war wirklich so, dass, als ich den Verlag die sich in Neukölln angesiedelt hat. Und diese
gegründet habe, sehr wenige Werke noch ent- eigentlich immer für inkompatibel gehaltenen
standen sind. Erst jetzt komme ich dahin, dass Strömungen gehen in der Zeitschrift floppy myich das so austariert habe, dass das Schreiben und riapoda eine spannungsvolle Mischung ein. Und
das Verlegen gleichzeitig geht; weil meine Texte diese Redaktion macht eine Lyrikreihe, wo ich
wirklich sehr aufwendig sind im Entstehungs- mit einem Heft vertreten bin und was für mich
prozess und sich eine Woche nur mit einem Text sehr spannend ist.
zu beschäftigen, das geht eben nur manchmal Und außerdem hat roughbooks, das ist die neue
und das ging, als ich den Verlag gegründet hat- Buchreihe von Urs Engeler, einen Band von mir,
te, erst einmal überhaupt nicht. Ich habe da sehr worüber ich sehr stolz bin. Hier sind vor allem
dran gelitten. Andererseits war es auch so, dass Montagen vertreten. Im freiraum-verlag wird ein
ich schon sehr viel geschrieben hatte, was nicht illustriertes Kunstbuch zu meinen Dylan-Thopubliziert war. Da konnte ich es mir auch mal mas-Übersetzungen kommen. Und das ist für
eine Weile leisten, bisschen ruhiger zu treten. Als mich ganz erstaunlich: als Lyriker ist es immer
im Januar mein neuer Band erschien, hatte ich schwierig, einen Verlag zu finden. Dass ich drei
danach fast nichts Unveröfentlichtes mehr in der auf einem Haufen habe, ist eigentlich so was wie
Schublade. Jetzt gibt es wieder einige Texte, die ein Paukenschlag. Ich bin sehr gespannt, was da-
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Interview
gleicht, dann gewöhnt
man sich einen ganz
großen Teil von Lyrik
einfach ab.
hig zu machen. Zum Beispiel den Lexikoneintrag
als quasi lyrische Form zu benutzen.
Erik Münnich: Gibt es darüber hinaus länger- Dann würde ich gerne, das scheitert aber an zeitfristige Projekte? Hast Du Lust auf neue, unbe- lichen Gründen, viel mehr mit Lautpoesie makannte Formen, die Du bisher noch nicht aus- chen. Da gibt es natürlich ein sehr hohes Niveau,
da muss man auch, wenn man weiß, was es da
probiert hast?
gibt, sehr vorsichtig sein. Das ist sowieso etwas,
Bertram Reinecke: Das ist immer verschieden. was viele Lyriker nicht so zu spüren scheinen, wo
Auf der einen Seite ist das Projekt mit den Cen- ich immer sauer bin: die wissen oft nicht, wo ei- Und dann muss man gucken, ob das Reich noch
tos – also Texte komplett aus fremden Zeilen gentlich der Hammer hängt. Ich lese sehr viel. groß genug ist, was zu machen, was einen selbst
interessiert.
zusammenzusetzen – ein riesiger Kontinent, auf Und dann macht man viele Dinge nicht.
dem ich ganz alleine schiffe, so dass da noch ganz
viel passieren kann. Auf der anderen Seite habe Also, wenn man bei Arno Schmidt in Prosa hört, Wo ich auch sehr dran bin, ist die Poesie von
ich aber auch, vermittelt durch, das muss man welche Mondmetaphern der hat, sterben ganze Sprachlehrbüchern. Die Poesie hat viel mit, Jaschon so deutlich sagen, biografische Einflüsse, Gedichtformen für mich weg, die aber auf dem kobson hat das gesagt, Auswahloperationen zu
immer mal das Bedürfnis, anderswo hin zu sprin- Lyrikmarkt der Gegenwart noch ganz präsent tun und es gibt in Sprachlehrbüchern immer
Auswahloperationen, weil die einfach noch nicht
gen – beispielsweise, wenn man eine Beziehung sind.
alle Wörter kennen, noch nicht alle grammatihat und das Gefühl, man möchte dieser Dame
schen Formen. Und da gibt es Sachen, die haben
auch mal ein Liebesgedicht schreiben können –
eine natürliche Poesie, die über Poesie manchmal
dass man dann plötzlich wieder auf der Suche
kaum zu übertreffen ist. Und da trotzdem Poesie
nach etwas ganz anderem ist, was dann natürlich
draufzusatteln, das ist etwas, was mich im Momanchmal auch einfach Nebenwerke sind.
ment auch sehr interessiert, wo ich auch einige
Sachen schon gemacht habe und sicherlich noch
Was ich jetzt für mich entdeckt habe und wo
einmal andere Sachen machen werde.
ich das Gefühl habe, in die Richtung kann auch
nach mit mir passiert.
noch viel passieren, ist Sachgattungen literaturfä-
Wenn man sieht, wie
Proust in einem Satz
Gesichter mit Koffern,
mit Landschaften ver-
Dem Meer abgelauscht
Mit „Letzte Fischer“ gelangte Volker Harry Altwasser 2011 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Uwe Roßner sprach mit dem gebürtigen Greifswalder über seinen abstürzenden Laptop, den
Glanz von Buchpreisen und die Freiheit des anderen Erzählens.
Herr Altwasser, seit ihrem Debüt „Wie ich vom meinen Verlag Matthes & Seitz in Berlin heran.
Ausschneien loskam“ im Jahre 2003 ist viel passiert.
Wie würden Sie das beschreiben?
Wie erlebten Sie das Jahr 2011?
Altwasser: Der bisherige Höhepunkt. Nach dem
Altwasser: Viel offizieller Stillstand und viele Jah- Sommer überschlugen sich für einen in Mecklenre des Schreibens und des Suchens, des Kürzens, burg-Vorpommern geborenen Menschen zwei
des Wegwerfens und Neuüberlegens, des Schei- große Ereignisse kurz hintereinander.
terns, des Verzweifelns, des Abwenden und doch
Weitermachen. Die vier letzten Rostocker Jahre Was bedeutet Ihnen die Longlist-Platzierung des
waren gut. Zudem kam ich mit „Letzte Haut“ an Deutschen Buchpreises?
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Altwasser: Das war eine sehr gute Überraschung.
Mein Verlag hatte das Buch ohne mein Wissen
eingereicht. Auf solche großen Dinge hatte ich
nie den Fokus gelegt.
Danach erhielten Sie in Hamburg den Italo-SvevoPreis.
Altwasser: Das Schöne war, es kam so zufällig, so
ungeplant. Für mich war immer klar, Schriftsteller werden zu wollen. Irgendwann muss man sich
© wasser-prawda
Interview
dann hinsetzen und ein paar Bücher abliefern, Viele Autoren aus Mecklenburg-Vorpommern haum auch glaubwürdig zu bleiben.
ben sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht. Zu nennen wären dabei Judith Zander,
Wie ist es heute für Sie, als freischaffender Schrift- Judith Schalansky oder Peter Wawerzinek. Sind
steller zu arbeiten?
Schreibende aus MV derzeit im Kommen?
Altwasser: Der Buchmarkt hat sich verändert, ich
nicht. Mein Leben ist das gleiche wie nach dem
Studium am Literaturinstitut in Leipzig 2003.
Ich kann mich schwer verbiegen. Ich erlaube
mir das paradiesisch zurückgezogene Leben eines Schriftstellers. Meine Bücher sollen sich in
den Markt drängen. Mal sehen, wie lange das gut
geht.
Wie hat sich Ihr Schreiben verändert?
Altwasser: Die letzten dreizehn Jahre waren nötig, um meine Spezialität herauszuarbeiten zu
können. Man sagt auch, mit vierzig sei man als
Schriftsteller noch ein junger Dachs.
Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus?
Altwasser: Es ist nicht neu oder im Kommen,
sondern es kehrt wellenförmig wieder. Die Tradition ist sehr, sehr weit. Alfred Döblin kommt aus
Pommern. Koeppen, Fallada, die Barocklyrikerin
Sibylla Schwarz und Uwe Johnson auch. Es sind
immer Prosaautoren. Ich glaube, das Erzählen
kam man im Norden, speziell im Nordosten sehr
gut lernen, weil so wenig Ablenkung da ist. Wir
sind hier geboren, holen unser Rüstzeug uns woanders und bleiben meistens auch dort. Ich bin
allerdings einer der Wenigen, der zurückgekommen ist.
Worin unterscheidet sich die literarische Qualität
dieser Erzähltradition?
Altwasser: Sie liegt beim Bestehen auf der FreiAltwasser: Ich schreibe drei bis vier Stunden am heit, anders zu erzählen. Döblin hat eine ganz
Tag. Die andere Zeit denke ich nach, recherchie- neue Erzähltechnik herausgearbeitet. Koeppen
re oder lese viel. Bei einem Manuskript schaffe hat seine langen, intensiven Sätze. Ich glaube,
ich fünf Seiten am Tag. Ich habe einen kleinen wir erfinden im Nordosten nicht unbedingt etLaptop, den ich schon längst hätte wegschmei- was Neues, sondern etwas Anderes, weil wir hier
ßen sollen. Freunde haben mir das gesagt. Bei oben einen geschützten Raum haben.
dem ist die Lüftung kaputt und nach einer Stunde läuft der so heiß, dass er dann immer abstürzt. Wie stehen „Letztes Schweigen“, „Letzte Haut“ und
Da muss ich sehr konzentriert arbeiten und „Letzte Fischer zueinander im Verhältnis?
rechtzeitig speichern, um eine Pause machen zu
können. Dieser technische Rahmen gefällt mir Altwasser: Als Deutschlandtriologie waren sie
beim Schreiben.
ursprünglich nicht geplant. Es hat sich so ergeben. Immer sind es die letzten Dinge: bei „Letzte
Was ist Schreiben für Sie und was hat es mit der Haut“ das Ende des Nationalsozialismus, beim
Erzählhaltung des Pragmatikers auf sich?
„Letzten Schweigen“ das Ende der DDR und
bei „Letzte Fischer“ ist es das Ende der Welt, wie
Altwasser: Die Erzählhaltung ist sehr wichtig wir sie kennen. Der Anspruch ist, das Ende einer
für mich. Die sieben Jahre waren nötig, um die gesellschaftlichen Entwicklung herauszuspüren.
Spezialität des Schreibens herauszuarbeiten zu Das interessiert mich immer und dies mit einer
können. Aus sich heraus eine Erzählhaltung zu Biografie zu verknüpfen.
finden. Ein Schriftsteller muss immer verschiedene Autorenhaltungen haben, um die jeweilige Ihr Hochseeepos „Letzte Fischer“ ist auch eine HomGeschichte am besten erzählen zu können. Das mage an das Erzählen. Was reizte Sie daran?
ist ein komplizierter und schwer erklärbarer Prozess. Das ist ungemein wichtig für mich. Dann Altwasser: Ich habe überlegt, wo kommt das Erkann ich erst anfangen.
zählen her und war relativ schnell beim Märchen
„Vom Fischer und seiner Frau“. Ich dachte, was
ist der Fisch wirklich. Die Angler und Hochseefischer müssen etwas zu erzählen haben, weil sie
so lange schweigen. Sie hören der See zu. In der
Kneipe werden sie nach dem dritten Bier redselig. Das habe ich versucht auf eine literarische
Ebene zu heben.
Was fasziniert sie eigentlich an Seefledermäusen?
Altwasser: Das Aussehen, ihre skurrile Art der
Fortbewegung und es sind Tiere, die es seit Ewigkeiten gibt, aber noch nicht so in der Literatur
oder in der öffentlichen Wahrnehmung aufgetreten sind.
Wie sind Sie auf dieses Tier gestoßen?
Altwasser: An „Letzte Fischer“ habe ich an die
fünfzehn Jahre gearbeitet. Beim Durchblättern
eines Fischlexikons fand ich diese Fischart auf der
vorletzten Seite.
Was ist ihr nächstes Projekt?
Altwasser: Im September kommt ein ziemlich
verrücktes Buch heraus. Zwei Hauptfiguren sind
aus „Letzte Fischer“ sind ja noch übrig. Es wird
außerdem um den letzten Pommernherzog Bogislaw XIV. gehen. Hätte er etwas mehr Rückgrat
gehabt, wäre der Dreißigjährige Krieg viel früher
zu Ende gewesen.
Foto: Uwe Roßner
TELEPROMPTER. Gedichte von Tom Pohlmann mit Zeichnungen von Markus Geng
Im TELEPROMPTER hat Tom Pohlmann Gedichte zusammengestellt, die er für die Gruppenprojekte „Von
Kaff zu Kaff. Auf der Suche nach den Wurzeln der Moderne“ und „Sysiphus wechselt die Gesteinsart“ schrieb.
In ihrer ursprünglichen Form waren die Arbeiten als Brückentexte gedacht, die ein experimentelles Zusammenfügen einzelner Programmteile erst erlaubten. Da sich beide Projekte mit den Schattenseiten der Moderne und Postmoderne auseinandersetzten, tangieren die Texte ebenso die Erfahrungen vieler anderer Autoren,
die sich auf die Postmoderne und Moderne eingelassen haben. „Gesehen außerhalb dieser Kontexte“, so
Pohlmann, „sind es Texte, die mir eher geschadet haben.“ Grund genug, sie in ihrem Zusammenspiel auf den
Punkt zu bringen und die natürliche Ambivalenz wieder herzustellen, die mit der Arbeit daran verbunden
war. Die Publikation, hergestellt im Siebdruck-Verfahren, erscheint als Kunstdruck zum 50. Geburtstag des
Autors in einer auf wenige Stückzahlen begrenzten, nummerierten Auflage. Beigestellt sind den Gedichten
Zeichnungen des Grafikers Markus Geng.
Künstlerbuch, hergestellt im Siebdruckverfahren
40 nummerierte Exemplare
Maße 21 x 24 cm, 20 Seiten
Voraussichtlicher Einzelpreis: 90,-Euro
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w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e
i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e
G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d
Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4
© wasser-prawda
Buch Des Monats
Darwin in Vorpommern
oder: Vom Scheitern der
Gefühlslosigkeit
Eine grell überzeichnete Beschreibung der Realität in Vorpommern? Eine
Auseinandersetzung mit dem Biotop „Schule“? Oder die Schilderung eines
stückweisen Scheiterns einer scheinbar gefüllosen Wissenschaftlerin an der
Realität? Judith Schalanskys Bildungsroman „Der Hals der Giraffe“ ist all
das. Und wenn der Leser will noch mehr. Von Raimund Nitzsche.
Anfang der 90er Jahre, als die Auswirkungen der
deutschen Wiedervereinigung noch unabsehbar
waren und die Hoffnungen noch riesengroß in
der Region zwischen Peene und Oder auf den
überlebensgroß erscheinenden Kanzler mit dem
birnenförmigen Kopf, da machten sich ein paar
Studenten in Greifswald den von einigen als geschmacklos empfundenen Scherz und veröffentlichten in der Studentenzeitung den Vorschlag,
Vorpommern insgesamt als Reservat für den
Ostdeutschen an sich zu erklären: Freilaufende
Ossis, bitte nicht füttern! Und um das für Touristen noch interessanter zu machen sollten auch
andere exotische Tiere in der Region angesiedelt
werden.
Bei oberflächlicher Lektüre diverser Kritiken und
Diskussionsbeiträge zu Judith Schalanskys „Der
Hals der Giraffe“ könnte man schnell zu der irrigen Auffassung kommen, die in Greifswald
geborene Autorin hätte genau diesen Ansatz der
studentischen Satire auf die Länge eines kleinen Romans ausgewalzt. Da hagelt es Vorwürfe, die Frau lasse die Heldin ihres Romans, eine
scheinbar völlig gefühllose Wissenschaftlerin und
Lehrerin, die Thesen rechtspopulistischer Meinungsmacher nachbeten. Doch wer sich auf die
vorgeprägten Anschauungen derer verlässt, die
immer die gerade politisch korrekten Meinungen
auf Abruf bereit liegen haben, dem entgeht eines
der größten Lesevergnügen, dass die deutsche Literatur in den letzten Jahren zu bieten hatte.
Klar doch, wie Schalansky aus dem Blick der
Biologie- und Sportlehrerin Inge Lohmark die
Rückkehr der wilden Natur in die Städte Vorpommerns schildert, das ist so gar nicht fortschrittshörig. Hier werden die allgemein sichtbaren Zeichen von Verfall, Bevölkerungsrückgang
und wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit ein wenig
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zugespitzt. Und heraus kommt eine Welt ohne
Hoffnung auf menschliche Zukunft. Dafür mit
jeder Menge Aussichten auf die Rückkehr der
Wildnis in die Mitte Europas.
Diese Wildnis, der Kampf ums Überleben, um
die bestmöglichke Anpassung an die Umwelt, die
durchdringt für Lohmark jede nur denkbare Äußerung des Lebens von Planzen, Tieren und gar
Menschen. Was soll man sich hier einmischen?
Wieso sollte man der Natur im Wege stehen?
Ob es nun die Unkräuter in der Innenstadt oder
die vor ihr sitzenden Gymnasiasten sind - die Unterschiede sind für Inge Lohmark nicht wirklich
relevant. Ja, möchte man zustimmend schreien,
wenn man sich mal wieder an den allgegenwärtigen Ansammlungen pommerscher Alkoholiker
vorbei gemogelt hat. Aussterben muss das alles,
wird das alles. Auch diese mit Abscheulichkeiten zwischen DDR und Nachwende-Architektur
© wasser-prawda
Bücher
Paradigma. Den fünfzig ausgewählten Inseln in
fünf Ozeanen wird eine kurze Geschichte gewidmet, dessen Inhalte stark variieren. Es reicht
von einer beinahe lyrisch anmuten Beschreibung
der Insel mit dem Namen „Einsamkeit“ bis hin
zu der brachialen Darstellung der Ereignisse auf
dem Clipperton-Atoll.
Der Mehrwert des Atlanten besteht aber insbesondere in seiner haptischen Dimension. In einer
Zeit, wo Berichte von Buchmessen immer wieder
das Interesse der Besucher an E-Book-Readern
betonen, mutet ein schön gestalteter Atlas beinahe anachronistisch an. Diese zu unrecht vernachlässigte Komponente des In-die-Hand-nehmens,
des Blätterns, Vor-und-zurück-schlagens kann
ein so wunderbar gestalteter Atlas weitgehend
erfüllen.
notdürftig geflickten Stadtbilder: Das kann doch
niemals die Zukunft sein. Abreißen wäre nur
konsequent. Von der Sprachlosigkeit, die den
ohne wirkliche Perspektiven alternden Rezensenten angesichts des Bevölkerungsanteils überfällt,
die man als „unsere Zukunft“ zu bezeichnen beliebt, ganz zu schweigen.
Doch dieses so schwarze, mit diebischem Vergnügen lesbare Buch kann einen verdammt in die Irre
führen. Denn immer klarer wird es in den drei
Kapiteln des Romans, wie sehr die Haltung des
Wissenschaftlers nur eine Schutzmauer ist, mit
der die Protagonistin sich von einem inhalts- und
vor allem gefühlsleeren Leben abschirmen will.
Die Tochter ist weg, der Mann kümmert sich nur
noch um seine Straußenzucht. Und die Kollegen
in der Schule? Sie suchen bestenfalls noch nach
Verdienstmöglichkeiten für die Zeit nach der absehbaren Schließung ihres Gymnasiums.
Irgendwann entdeckt Lohmark Gefühle für eine
ihrer Schülerinnen - welcher Art diese sind, will
sie selbst gar nicht analysieren. Doch schon allein diese Erkenntnis bringt die zurechtgelegte
Wissenschaftlichkeit zum Zerbröseln. Gefühle?
Im konsequenten darwinistischen Denken sind
die höchstens zur Sicherung des Nachwuchses
nötig. Ebenso wie Konstrukte wie Familie. Aber
persönliche Gefühle? Das ist Schwäche, das ist so
sinnlos wie der Versuch, den Löwenzahn an der
Ausbreitung hindern zu wollen.
Die Erbärmlichkeit des Lebens der „Heldin“
Schalanskys enthüllt sich nur in kleinen Andeutungen, in Ahnungen und Randbemerkungen.
Bis dann endlich klar wird, wie komplett Lohmark gescheitert ist, als Mutter, als Lehrerin vielleicht nicht als Wissenschaftlerin, aber darauf
kommt es hier auch wirklich nicht an. Es ist nicht
Darwin, den man bei der Beurteilung der Heldin
als Maßstab anlegen sollte. Aber für einen nüchternen Blick auf Chancen und Perspektiven einer
ganzen Region ist dieser scheinbar zynische Blick
der Antiheldin unverzichtbar. Und auch, um die
Gefühllosigkeit, die einen in der Debatte auch
selbst immer wieder überfällt, ad absurdum zu
führen. Was bitte schön ist Wissenschaft? Doch
nur ein menschliches Konstrukt, um in der Vielfalt der Erscheinungen so etwas wie ein System
zu konstruieren. Ein System, das man allzuleicht
als Wahrheit postuliert. Ein System, das aber immer nur so lange Anspruch auf Wahrheit hat, so
lange es nicht widerlegt werden konnte.
„Der Hals der Giraffe“ ist wie alle Bücher von der
Autorin komplett selbst gestaltet worden. Das
geht von den liebevollen Illustrationen aus der
Welt der Biologie hin bis zum scheinbar altmodischen braunen Leineneinband. Somit macht
Judith Schalansky aus ihrer Veröffentlichung einmal mehr ein großes Vergnügen nicht nur für Leser sondern auch für Liebhaber schöner Bücher.
Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe - Bildungsroman
Suhrkamp Verlag 2011
224 Seiten
21.90 Euro
ISBN: 978-3-518-42177-2
Judith Schalansky - Atlas der
abgelegenen Inseln
Es ist eine überflüssig müßige Forscherdiskussion, aber sie hat bis heute Bestand: Ist das Werk
„Utopia“ von Thomas Morus ernst gemeint, oder
nicht? Fest steht, dass dieses Buch Begründer eines neuen Genres und dessen Titel Namensgeber derselben wurde. Das Wort „Utopia“ ist ein
Neologismus des Autors und bedeutet soviel wie
„Nicht-Ort“. Damit ist die Arena für die unsinnige Diskussion über Ernsthaftigkeit oder nicht
schon mal bereitet.
So weisen alle danach erschienenen literarischen
Utopien ähnliche Strukturmerkmale auf: den
Mangel an Fluktuanz, eine eigenwillige Festlegung von Gemeinschaft und vor allem Isolation.
Wie kann man gerade das letzte Merkmal besser
schriftstellerisch gewährleisten als auf einer Insel. In Francis Bacons „Neu-Atlantis“ haben die
Bewohner extra dafür gesorgt, dass die einstige
Halbinsel zu einer tatsächlichen Insel durch das
Abtragen von Erde wurde. Doch eine Insel, die
fernab von jeglicher greifbarer Zivilisation liegt,
regt das menschliche Bedürfnis nach Flucht in
eine ideelle Räumlichkeit an. Sie ist als Topos
imaginärer Fluchtpunkt innerer Reflexion. Ein
ähnlicher literarischer Versuch ist die Hinwendung zu vergangenen Epochen oder die Fingierung einer Zukunft (siehe Jules Verne)– hier ist
der Fluchtpunkt nur zeitlich konzipiert.
In dem „Atlas der abgelegenen Inseln“ der Greifswalder Autorin Jutdith Schalansky wird schon im
Untertitel „Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war
und niemals sein werde“ deutlich, dass die Insel,
weil topographisch übersichtlich und begrenzt,
den idealen Raum für spekulative Zivilisationsexperimente bietet. Dass diese Experimente auch
scheiteranfällig sind bis hin zu einem extremen
Grad, trägt Schalansky Rechnung, indem ihr
Vorwort den Titel trägt: „Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.“ Hier heißt es auch: „Jedoch
sind es gerade die schrecklichen Begebenheiten,
die das größte erzählerische Potential haben
und für die Inseln perfekte Handlungsort sind.
Während die Absurdität der Wirklichkeit sich in
der relativierenden Weite der großen Landmasse verliert, liegt sie hier offen zutage. Die Insel
ist ein theatralischer Raum: Alles, was hier geschieht, verdichtet sich beinahe zwangsläufig zu
Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo,
zum literarischen Stoff.“
Die Konzeption des Buches folgt eben diesem
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Selbst die im vergangenen Sommer erschienene
Taschenbuchausgabe besitzt eine liebevolle Aufmachung, die man nicht in Megabytes bemessen
kann. Jeder Geschichte geht eine topographisch
Illustration entsprechenden Insel voran. Während sich auf der linken Buchseite neben dem
Namen die genaue geographische Lage, der Abstand zu anderen Inseln oder einem Festland und
einer ganz knappen Chronik abgedruckt ist, sieht
man auf der rechten Seite in einem tiefen Blau
des umliegenden Meeres eingebettet die maßstabsgetreue Abbildung der Insel mit entsprechender Bezeichnung der auf ihr Befindlichen
Siedlungen, Flüssen, Erhebungen usw. Es ist eine
ungemeine Freude, dieses Buch in die Hand zu
nehmen und imaginäre Ausflüge zu machen. Dabei handelt es sich um die so geartete Faszination
wie sie der dänische Philosoph Sören Kierkegaard beschreibt, wenn er aus den eingebildeten
Spaziergänge durch die Innenstadt Kopenhagens
berichtet, die er in seiner Kindheit mit seinem
Vater im Haus unternahm.
In der Gesamtschau hält man mit „Atlas der abgelegenen Inseln“ also ein abwechslungsreiches
Vergnügen in den Händen, welches man auch
mal beiseite legen kann, um später vollkommen
willkürlich sich eine Insel herauszunehmen. Dass
man den Atlanten auf jeden Fall wieder in die
Hand nimmt, wird schon allein durch die herrliche Aufmachung garantiert.
Robert Klopitzke
Judith Schalansky - Atlas der abgelegenen Inseln: Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und
niemals sein werde
Mare Verlag 2009
144 Seiten
34 Euro
ISBN: 978-3866481176
Judith Schalansky - Taschenatlas der abgelegenen Inseln
Fischer Taschenbuch 2012
240 Seiten
14,99 Euro
ISBN: 978-3-596-19012-6
© wasser-prawda
Film
Zwischen Par anoia und
Verklemmung
Leonardo DiCaprio als J.Edgar Hoover (Foto: Warner Bros.)
Er wollte so viel wie möglich über mögliche Gegner und Verbündete wissen. Doch sein Privatleben hielt J. Edgar Hoover so geheim wie möglich.
Clint Eastwood schildert den legendären Gründes des FBI als bemitleidenswerten und monströsen Menschen voller Komplexe und Ängste.
Wie kann man ein Leben zum Film machen,
von dem zahlreiche Fakten noch immer mit
großen Ungewissheiten behaftet sind? Bei
J.Edgar Hoover, der mit seinem FBI die Verbrechensbekämpfung auf eine moderne Basis
stellte, ging Eastwood den scheinbar konventionellen Weg einer Biografie: „J Edgar“ (Drehbuch: Dustin Lance Black) verfolgt Hoovers
Leben in zahlreichen Zeitsprüngen von 1919
bis zum Tode mit dem Schwerpunkt nicht auf
den Haupt- und Staatsaffären sondern dem persönlichen Erleben. Er versucht damit, die von
Hoover selbst bis zuletzt festgehaltene Maske, ein wenig durchsichtiger zu machen. Und
er hat dabei mit einem entscheidenden Manko
zu kämpfen: Dieses, gerade das im Film geschilderte persönliche Leben ist eigentlich so
unbekannt wie nur denkbar. Hoover selbst hat
immer nur die Legenden weitergestrickt, die
andere in Umlauf gebracht haben. Er hat Dinge
als sein Verdienst ausgegeben, die eigentlich
seine Behörde erreicht hat. Und er hat alles,
was ihn in der Öffentlichkeit diskreditiert hät-
te, komplett mit dem Mantel des Schweigens
bedeckt. War Hoover homosexuell? Der Film
deutet das nur an. Hoover, so Eastwood, war
ein bemitleidenswertes Monster. Ein Muttersöhnchen, das niemals wirklich in der Lage
war, Gefühle zu äußern und zuzulassen. Einer,
der überall Feinde witterte und diese mit einem monströsen Netz Ermittlern überwachen
ließ. Am Ende seines Lebens - und das ist der
filmische (und fiktive) Ansatzpunkt lässt er
seine persönlich geschönte Version seines Lebens von wechselnden FBI-Agenten zu Papier
bringen. Zu dem Zeitpunkt ist er von Bitterkeit
und Enttäuschung schon völlig zerfressen. Die
Ursache für die Phobien und Manien Hoovers
liegt in Kindheit und Jugend vergraben. Da ist
die Mutter, die ihm selbst die Krawatten für
ein Rendevouz vorschlägt, die ihn bei aller
Zuwendung nicht zu eigenen Entscheidungen
kommen lässt. Da ist das Erleben von Bombenaschlägen auf seine Vorgesetzten, die in
ihm die Gewissheit einer umfassenden kommunistischen Verschwörung festigt. Da ist die
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Angst, als unverheirateter Außenseiter dazustehen, die ihn zu einem aussichtlosen und übereilten Heiratsantrag treibt. Da ist der Wahn, alles Wissen in sein Katalogsystem packen und
damit handhabar machen zu können. Letztlich
bleiben Geheimnisse um Hoover offen. Doch
Eastwoods Deutung der Figur sorgt dennoch
für soviel Erklärung wie möglich.
Erzählt wird all das in der von Eastwoods letzten Filmen bekannten ruhigen und fast bedächtigen Erzählweise. Dialoge - und vor allem die
Schauspielkunst von Leonardo DiCaprio, Naomi Watts als seine ergebene Sekretärin Helen
Gandy und Armie Hammer als sein Stellvertreter (und Geliebter?) Clyde Tolson stehen im
Mittelpunkt des in eisig kalten Farben gehaltenen Streifens. Der Lauf der Jahrzehnte wird
durch teils großartige (DiCaprio) teils peinliche (Hammer) Masken sichtbar gemacht.
J. Edgar (USA, UK 2011) 137 min
Regie: Clint Eastwood
mit: L. DiCaprio, A. Hammer, N. Watts.
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Feuilleton
Vier Autoren und ein
Lektor oder: Provinz ist
nicht immer Provinz
Am 03.02.2012 hatte sich anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald an Raimund Fellinger, dem Cheflektor des
Suhrkamp Verlages, einige Prominenz im Koeppenhaus versammelt, um
den Namensgeber desselben, den Ehrendoktor und Wolfgang Koeppen
zu feiern. Es war ein denkwürdiger Abend. Ernüchternd war der nächste
Tag… Beobachtungen von Erik Münnich.
Im Koeppen hatte sich ein für Greifswalder Verhältnisse prominent besetztes Publikum versammelt: zahlreiche und weitgereiste Autoren,
Lektoren, Angehörige der Universität, Kulturschaffende oder -ermöglichende aus Stadt und
Land und der ein oder andere Verleger – nur
zwei der bereitgestellten Stühle blieben unbesetzt. Diejenigen, die auf dem Podium Platz
nahmen, standen diesem in keiner Weise nach.
Neben den Schriftstellern Thomas Meinecke,
Albert Ostermaier und Ralf Rothmann war das
der Cheflektor des Suhrkamp Verlages, Raimund Fellinger. Erst Genannter wird gern mit
dem Begriff der Popliteratur in Verbindung gebracht, war von 1978 bis 1986 Mitherausgeber
und Redakteur der legendären und avantgardistischen Zeitschrift Mode und Verzweiflung; in
den 80er Jahren schrieb er außerdem in unregelmäßigen Abständen Kolumnen für Die Zeit.
Seinen ersten Band mit Kurzgeschichten veröffentlichte er unter dem Titel Mit der Kirche
ums Dorf bei Suhrkamp, weitere Veröffentlichungen folgten erst ab Mitte der 90er Jahre in
regelmäßigeren Abständen – er habe, so Meinecke, bis dahin einfach noch nicht gewusst,
dass er Schriftsteller sei – mit seinem Roman
Tomboy fand er auch in akademischen Kreisen Gehör. Albert Ostermaier veröffentlichte
zuerst Gedichtbände – sein lyrisches Schaffen
brachte ihm nicht nur einiges Ansehen, sondern
auch das Münchner Literaturstipendium sowie
die Auszeichnung des P.E.N. Liechtenstein für
eben jenes ein – bevor er in den 90er Jahren den
Weg zum Theater fand. Als Hausautor an namhaften Theatern (Bayrisches Staatsschauspiel,
Wiener Burgtheater) arbeitete er mit namhaften Regisseuren zusammen. Außerdem konnte
er auch als künstlerischer Leiter verschiedener
Festivals (u.a. Lyrik am Lech, abc* AugsburgBrechtConnected) überzeugen. Ralf Rothmann
wuchs im Ruhrgebiet auf, machte nach der
Volksschule eine Maurerlehre und arbeitete
mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen, bevor er mit seiner Erzählung Messers Schneide auf dem Literaturmarkt
Fuß fassen konnte. Die folgenden Arbeiten –
Romane wie Erzählungen, außerdem Gedichte
– brachten ihm renommierte Auszeichnungen
(u.a. Heinrich-Böll-Preis, Max-Frisch-Preis,
Hans-Fallada-Preis) und das Urteil der Neuen
Zürcher Zeitung, zu „einem Großmeister seiner Zunft herangewachsen“ zu sein, ein. Diese
drei hatten sich anlässlich der Verleihung der
Ehrendoktorwürde der hiesigen Universität an
Raimund Fellinger – und durch seine tatkräftige Unterstützung – auf dem Podium zusammengefunden.
Der Ehrendoktor stellte eingangs fest, dass der
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Titel der Veranstaltung – Vier Autoren und ein
Lektor – irreführend sei, schließlich haben nur
drei der angekündigten Autoren neben ihm
Platz genommen. Der fehlende Vierte aber sei,
dem Veranstaltungsort und einem Teil seiner
Arbeit entsprechend, Wolfgang Koeppen, von
dem ein Auszuge aus einem Roman sowie einigen Briefen gelesen werde sollen. Die Überleitung Fellingers zu dem in Greifswald geborenen Autor und dessen zweiten Roman war
pointiert, verzichtete auf die oftmals üblichen
zähen Einordnungen und beschränkte sich somit auf das Wesentliche. Die Mauer schwankt
erschien 1935 bei dem jüdischen Verleger
Bruno Cassirer, der sich trotz der zunehmenden Schwierigkeiten noch nicht vom Büchermachen abbringen ließ. „Der Roman zeigt die
fortschreitende Auflösung und den Zusammenbruch einer überkommenen, den Pflicht-Begriff
absolut setzenden Ordnungswelt – gemeint ist
das Deutsche Kaiserreich zwischen 1913 und
1918 – am Beispiel des von Zweifeln geplagten, konservativen Baumeisters Johannes von
Süde“ (Killy Autoren- und Werklexikon, Bd.
6, S. 439). Jener ist Teil einer Beamtenfamilie,
die sich über Jahrhunderte in den Dienst für
den Staat, verschiedene Ministerien und Administrationen gestellt hat und so – bildlich gesprochen – zu einem Aktenbestand beigetragen
© wasser-prawda
Feuilleton
Prof. Alexander Wöll, Dr. Raimund Fellinger, Prof. Eckhard Werner Schumacher
(© Foto: Hans-Werner Hausmann/Suhrkamp)
Fotos l.S.: Thomas Meinecke (Foto. Manfred Werner), Albert Ostermaier (© Oliver Wia / Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.), Ralf Rothmann (Foto:
© Heike Steinweg/Suhrkamp)
hat, der nicht mal ansatzweise in der größten,
uns bekannten Bibliothek Platz finden würde.
Und eben jener Johannes von Süde – übrigens
Koeppens Onkel – konfrontiert seinen Vater
damit, Künstler werden zu wollen. Dieser ist
überhaupt nicht einverstanden und überzeugt
den Sohn davon, die in der Tradition der Familie begründete Pflicht und sein damit nur
schwer zu vereinendes Interesse an der Kunst
zu verbinden und Baumeister zu werden.
„Zwanghaft versucht er, seine Erfüllung in der
gewissenhaften Ausführung seiner Arbeit zu
finden, in Selbstbeschränkung und Disziplin,
in Unnachgiebigkeit sich selbst, seinen Untergebenen, den Bittstellern und seiner Familie gegenüber“ (http://www.belletristik-couch.
de/wolfgang-koeppen-die-mauer-schwankt.
html). Mit der Zerstörung von Kolberg durch
die Rote Armee erhält er die Chance, eine Stadt
neu aufzubauen. Er scheitert allerdings an sich
und den Umständen.
Anschließend las Thomas Meinecke die ersten zehn Seiten aus diesem Werk. Sein unaufgeregter Vortrag gab diesen angemessenen
Raum, um ihre Wirkung zu entfalten. Ich hatte
mich bis zu diesem Abend nur oberflächlich
mit Wolfgang Koeppen beschäftigt. Einige
Male hatte ich in seine Romane „Jugend“ und
„Tauben im Gras“ hineingelesen und konnte diesen nur bedingt etwas abgewinnen. Die
wunderschöne, feinsinnige Sprache Koeppens
ist mir bisher schlicht entgangen. Das wirklich
Beeindruckende aber war die Konzeption des
Romans – treffender: der ersten zehn Seiten –,
die dem entspricht, was ich an Erzählliteratur
u.a. schätze: verschiedene Erzählebenen, keine gradlinige Handlung, also ein Erzählen, das
scheinbar keiner Kausalität folgt, sondern zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und
her springt, beides immer wieder verknüpft, in
Beziehung setzt und damit immer wieder neue
(erwartete wie unerwartete) Anknüpfungsmöglichkeiten für mich als Leser bietet; ein
sich mit dem weiblichen Geschlecht: ob das
eine Rangliste von Bekannten ist, deren Vorund Nachteile aufgezählt und begründet werden; oder ob es das niederschmetternde Urteil
über eine Schönheitskönigin ist, die mit einem
sehr reichen Mann zusammen ist, welches die
damit verbundene Oberfläche präzise auf den
Punkt zu bringen im Stande ist – das Erstaunliche daran: völlig zeitlos – und, auch wenn das
für Literatur völlig irrelevant ist, ganz alltägliche Probleme hat.
Anders als nach dem ersten Teil schloss sich
nun kein Gespräch zwischen Fellinger und
dem Autor an, sondern Ostermaier las eine
Ode, die er dem Cheflektor gewidmet hat. In
anderen Kontexten mag das ziemlich kitschig
anmuten. In diesem Moment aber hat sie – und
der Vortrag derselben – gepasst und gerührt.
Sie übertrug – aus Sicht des Verfassers, auch
wenn das eine unnötige Gleichsetzung zwischen Autor und Text darstellt – die wichtige
und notwendige Arbeit eines Lektoren (darauf
wies schon Thomas Meinecke hin: „ohne Lektor kein Text“) in doppeldeutige Bilder, welche zu beschreiben völlig unsinnig ist. Sollte
die Ode an dieser Stelle nun nicht abgedruckt
erscheinen, war meiner Anfrage an den Verlag
des Autors kein Erfolg beschieden.
Erzählen, das nicht alles ausspricht, aufdeckt,
darstellt usw., Spielräume lässt und doch konkret ist oder wird, aber irgendwie auch nicht.
Unterm Strich: ein lesenswertes Buch, dessen
Lektüre ich unbedingt nachholen muss.
Den weiteren Fortgang der Veranstaltung konnte ich leider nicht verfolgen – und auch ich ärgere mich über die Leerstelle, die nun entsteht,
zumal sie von der lokalen Presse nicht hinreichend gefüllt werden konnte – weil eine SMS
Diesem Vortrag schloss sich ein Gespräch zwi- mich darüber informierte, dass mein Sohn den
schen Meinecke und Fellinger an – übrigens: Babysitter überforderte. Als ich das Koeppen
Letzterer ist nicht Lektor des Ersteren, da hat verließ und Richtung Innenstadt lief, musste
die Ostseezeitung nicht richtig hingehört – das ich erstaunt feststellen, dass die Uhr bereits 22
auf angenehme und sehr amüsante Weise von Uhr anzeigte. Normalerweise bin ich von fast
Koeppen wegführte, sich den literarischen An- zwei Stunden dauernden Lesungen überfordert
fängen Meineckes, seinem Beginn beim Suhr- oder missmutig. Diesmal hatte ich vor Begeiskamp Verlag – „und dann führte mich Unseld terung die Zeit völlig vergessen.
in den Keller und von da an war ich SuhrkampAutor.“ – und einigen Seitenhieben gegen eta- Diesem grandiosen Abend folgte eine schmerzblierte Angehörige des Literaturmarktes – „der liche Ernüchterung: Hatte sich die vermeintliRaddatz“ – widmete. Selten habe ich während che Provinz am Abend noch von ihrer besten
einer Lesung so gelacht (ich war nicht der Ein- Seite gezeigt, so zeigte sie einen Tag darauf ihr
zige), obwohl das in der Sache gar nicht ange- „hässliches“ Gesicht. In der Aula des Hauptlegt war. Vielmehr lag das daran, dass sich bei- gebäudes der Universität Greifswald wurde
de die Bälle immer wieder elegant zugespielt Raimund Fellinger die Ehrendoktorwürde verhaben, ohne einen (peinlichen) Fehlpass zu liehen. Die Laudatio hielt der Lehrstuhlinhaber
produzieren: Fellingers zugespitzte Fragen, die für Neuere Deutsche Literatur und Literatureine Antwort Meineckes aufnahm, präzisierte theorie, Prof. Dr. Eckhard Schumacher, eine
und viele interessante Hintergründe ans Licht Festrede hielt der Philosoph Peter Sloterdijk
förderte, weil Meinecke locker und ohne sich und Christoph Hein las aus seinem noch unselbst über die Maßen zu inszenieren, antwor- veröffentlichtem Manuskript Prometheus. Im
tete, eine um die andere Anekdote zum Besten Publikum saß u.a. Volker Braun. Das war nicht
gab und somit auch selbst immer weitere Zu- schlimm, sondern der Sache völlig angemesspitzungen lieferte.
sen. Schlimm war, dass sich weder der RekAls Albert Ostermaier dann verschiedene Brie- tor der hiesigen Universität noch der Bürgerfe Koeppens an seine Tante Olga vorlas – eine meister der Stadt Greifswald darauf einließen,
Weltpremiere übrigens – bestätigte sich mein einem solchen Anlass beizuwohnen. Es gab
Eindruck, den ich im ersten Teil der Lesung keine Blumen für den Ehrendoktor – nur einen
hatte. Die zum Einen pointierten Beschreibun- äußerst deplatziert wirkenden Blumenkübel,
gen persönlicher Um- oder Zustände, die zum der wohl immer dort wie bestellt und nicht abAnderen oftmals unerwarteten Erläuterungen geholt steht – und den Sekt musste jener auch
bestimmter Beobachtungen zeichnen ein zu noch selbst bezahlen. Zu hoffen bleibt, dass
meiner Wahrnehmung Koeppens gegensätzli- Veranstaltungen dieser Art keine Ausnahme
ches Bild: ein vermeintlicher Lebemann, der bleiben – ich weiß, Lesungen gibt es wie Sand
die eine oder andere Nacht in Bars verbringt, am Meer in Greifswald, selten aber eine, die so
die Frauen liebt und sucht – ein nicht unbe- in den Bann ziehen kann – und der Sonnabend
trächtlicher Teil der rezitierten Briefe befasst schon wieder vergessen ist.
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© wasser-prawda
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