Magazin Wasser Prawda Die Alben des Jahres Etta James Johnny Otis Neues aus Canada: Wunderknaben, Doktoren und Axtmörder Warum noch immer Menschen an Hustenbonbons ersticken Bertram Reinecke, Volker Altwasser Darwin in Vorpommern: Judith Schalansky w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 K arl Valta: Plak ate und Fotogr afiken In Zeiten des Internets und des Wegwerf-Flyers ist die Plakatkunst ein wenig in Vergessenheit geraten. Der Maler und Grafiker Karl Valta zeigt in seiner Ausstellung in der wirkstatt (Greifswald, Gützkower Str. 83) Arbeiten, die vor allem Blueskonzerte in Vorpommern ankündigten. Ergänzt wird die Ausstellung durch Fotografien und Fotografiken, die in Pommern auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze entstanden sind. Öffnungszeiten: Montag - Freitag 12-18 Uhr Editorial schen natürlich das tägliche Schreiben, das Hören zahlloser neuer Platten und wiederentdeckter Kostbarkeiten. Und der Blick auf die auch nach vier Wochen noch reichlich eingehenden Stimmen für die Bluesplatten des Jahres 2011. Denn mehr als wir selbst zu glauben wagten, fieberten Künstler, Manager und nicht zuletzt Fans mit und brachten unser Magazin weltweit ins Gespräch. Denn gerade für Bluesmusiker ist es wichtig, in der Öffentlichkeit verstärkt wahrgenommen zu werden, um Tourneen zu ermöglichen und die Plattenverkäufe zu beleben. Endlich ist diese Umfrage vorbei, mit für uns teilweise sehr überraschenden Ergebnissen. Wir stellen hier Sieger und Platzierte nochmals ausführlich vor und liefern all die Details. Immer wieder fragen uns Musiker, Booking Agenturen oder Manager, wo man in Deutschland eigentlich auftreten könnte. Das ist ein Symptom für die Lage der Live-Szene hierzulande: Es fehlt den Veranstaltern schlicht das Geld, um auch unbekannteren Musikern eine Chance Fast vier Wochen sind seit der ersten pdf-Ausgabe geben zu können. Und in Gegenden wie dem vergangen. Vier Wochen voller Planungen, Ideen Raum Vorpommern gibt es inzwischen überund Debatten über Layout und Stil. Und dazwi- haupt kaum noch Menschen, die Geld und Lust haben, Blueskonzerte zu veranstalten. Wer von Inhalt Euch uns helfen kann mit Adressen, Hinweisen oder gar mit der Organisation eigener Konzerte, melde sich bitte per email oder über unsere Facebook-Seite. Aktuell suchen beispielsweise der australische Blues- und Countrymusiker 8 Ball Aitken und Sean Chambers nach Möglichkeiten für Tourneen durch Deutschland. Nur wenige Tage nacheinander starben zwei der ganz wichtigen Vertreter des Rhythm & Blues. Johnny Otis mag seit Jahren vor allem in Europa ein wenig in Vergessenheit geraten sein. Schon seit Weihnachten letzen Jahres war dagegen der Tod von Etta James nach jahrelanger Krankheit erwartet worden. Im Feuilleton widmen wir uns in dieser Ausgabe komplett der (jungen) Literatur aus dem Nordosten. Erik Münnich stellt den in Greifswald lebenden Jürgen Landt vor und sprach mit dem Lyriker und Verleger Bertram Reinecke. Uwe Roßner traf sich mit dem inzwischen in Rostock lebenden Volker Altwasser. In den Rezensionen geht es um zwei Bücher von Judith Schalansky. Unser erster Film des Monats ist Clint Eastwoods „J. Edgar“ mit Leonardo DiCaprio und Naomi Watts. Impressum Blues 2011 - Die Alben des Jahres 4 Nathan Nörgel: Neues aus Kanada 10 Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag Greifswald veröffentlicht und erscheint einmal monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt. Redaktion: Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.) Leiter Feuilleton: Erik Münnich 2. European Blues Challenge13 The Wiyos15 16 Angela Perley & The Howlin‘ Moons Mitarbeiter dieser Ausgabe: Robert Klopitzke, Uwe Roßner Etta James 17 Jürgen Landt: Warum Menschen immer noch an Hustenbonbons ersticken29 Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 www.wasser-prawda.de mail: [email protected] Bertram Reinecke: Verstehen ist, eine Melodie weiter pfeifen. 33 Dem Meer abgelauscht: Volker H. Altwasser im Gespräch 35 Anzeigenabteilung: [email protected] Rezensionen37 Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des Erscheinungs-Monats. Johnny Otis21 Album des Monats: Joe Louis Walker - Hellfire 23 Rezensionen24 Film des Monats: J.Edgar (Clint Eastwood) 39 Vier Autoren und ein Lektor oder: Provinz ist nicht immer Provinz40 Die nächste Ausgabe erscheint am 22. März 2012. w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 3 © wasser-prawda Musik Blues 2011 - Die Alben des Jahres 2662 Leser haben abgestimmt. Insgesamt wurden in den fünf Kategorien 17714 Stimmen auf insgesamt 67 Alben verteilt. Hier sind die Ergebnisse der ersten Umfrage zu den Blues-Alben des Jahres der „Wasser-Prawda“. 24.41 25.40 26.30 27.24 28.20 Kaum eine Kategorie war so umkämpft wie diese. Aber das lag einfach auch daran, dass hier bekannte Interpretinnen wie Ana Popovic, Louisiana Red, Gregg Allman und Johnny Winter gleichberechtigt neben noch jüngeren Künstlern wie Dana Fuchs, Johnny Childs oder Mariëlla Tirotto & the Blues Federation standen. Und außerdem gibt es die denkbar bunteste Mischung zwischen dem Pianoblues von Marcia Ball, Gitarrenblues der verschiedensten Richtungen, Soulblues und Bluesrock. Die Endplazierung ist letztlich das Ergebnis massiver Fanoffensiven der Musiker auf den ersten fünf Rängen. 1. 1511 2. 1324 3. 900 4. 760 5. 719 6. 478 7. 447 8. 280 9. 185 10.140 11.136 12.132 13.120 14.107 15.97 16.96 17.87 18.84 19.83 20.70 21.68 22.51 23.46 Roomful of Blues - Hook, Line & Sinker THE DUKE ROBILLARD BAND - Low Down and Tore Up Rod Piazza & The Mighty Flyers - Almighty Dollar Tracy Nelson - Victim of the Blues Wentus Blues Band - Woodstock Anfangs sah es fast so aus, als könne Timo Gross bei den deutschen Veröffentlichungen keiner gefährlich werden. Höchstens noch Jimmy Reiter. Doch dann drehte sich im Laufe der Wochen das Bild komplett. Für mich überraschend der Platz 2 mit dem Cologne Blues Club. Denn deren Album hab ich bislang noch nicht hören können. Überraschend für mich das Abschneiden von Henrik Freischlader. Und ebenso auch die Erfolge von Jessy Martens und Dynamite Philip Fankhauser - Try My Love Ana Popovich - Unconditional Beth Hart & Joe Bonamassa - Don‘t Explain Dana Fuchs - Love To Beg Mariëlla Tirotto & the Blues Federation - Dare To Stand Out Candye Kane - Sister Vagabond feat. Laura Chavez Gina Sicilia - Can‘t Control Myself Louisiana Red & Little Victor‘s Juke Joint - Memphis Mojo Johnny Childs - Groove Gregg Allman - Low Country Blues Johnny Winter - Roots Little G Weevil - The Teaser Cash Box Kings - Holler & Stomp Tedeschi Trucks Band - Revelator Mike Zito - Greyhound Marcia Ball - Roadside Attractions Earl Thomas with Paddy Milner & The Big Sounds - See It My Way Tab Benoit - Medicine Lightinin‘ Malcolm - Renegade Morland & Arbuckle - Just A Dream Hugh Laurie - Let Them Talk Ernest Lane - 72 Miles from Memphis Sugar Ray & The Bluetones - Evening Daze. 1. 640 2. 341 3. 332 4. 327 5. 271 6. 270 Jessy Martens & Band - Brand New Ride Cologne Blues Club - Our Streets Dynamite Daze - Scarecrows on Rampage Jimmy Reiter - High Priest of Nothing Henrik Freischlader - Still Frame Replay Timo Gross - Falllen from Grace Auch wenn Fan-Aktionen für einzelne Nominierte im Laufe der Zeit für gewisse Veränderungen sorgten, ist bei den Akustikalben der Sieg von Big Daddy Wilson von Anfang an unumstritten geblieben. Und als ich schon fast befürchtete, ich wäre der Einzige Fan von Rory Blocks aktuellem Album, wurde ich prompt eines besseren belehrt. Auch wenn ich mit Reverend Peyton allein zu stehen scheine.... 4 © wasser-prawda Musik 1. 703 2. 325 3. 291 4. 225 5. 161 6. 110 7. 69 8. 60 9. 50 10.26 11.23 12.20 13.18 14.14 4. 338 Big Daddy Wilson - Thumb A Ride Sunday Wilde - What Man!?? - Oh THAT man!! 5. 160 6. 135 Rory Block - Shake ‚em On Down 7. 96 8. 58 9. 48 10.45 Richie Arndt, Timo Gross, Alex Conti - Crossing Borders 8 Ball Aitken - The Tamworth Tapes Bernd Kleinow - The Harp Swamp - Mes Amis John Pippus - Wrapped Up In The Blues Biber Herrmann - Love & Good Reasons Reverend Peyton‘s Big Damn Band - Peyton on Patton Mary Flower - Misery Loves Company Matt Walsh Acoustic Quartet - A Part Of Me Pokey LaFarge - Middle of Everywhere Ray Bonneville - Bad Man‘s Blood 4. 335 5. 200 6. 71 7. 70 8. 49 9. 27 Herzlichen Glückwunsch an alle Gewinner und Platzierten - und vielen Dank an unsere Leser für die rege Mitarbeit! Als wir im Dezember die Umfrage gestartet haben, hätten wir nie im Traum daran gedacht, welche Reaktionen wir damit auslösen würden. Gleich von Beginn an waren vor allem einige der nominierten Musiker mit Eifer dabei, ihre Fans zu aktivieren. Das ging hin bis zu Pressemeldungen in den kanadischen Medien oder Aufrufen via Facebook, Bandnewsletter oder Homepage. Das zeigt, wie wichtig eine gute Medienlandschaft gerade auch für Bluesmusiker ist - und wie schwer es für sie ist, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Und daher fragten in den letzten Wochen auch immer mehr Manager oder BoogingAgenturen nach den Zwischenständen an. Für die ist ein Sieg immer auch eine Möglichkeit, Tourneen zu ermöglichen in einer Zeit, wo immer mehr Veranstalter kein Geld mehr haben, um auch unbekannteren Künstlern eine faire Chance zu geben. Und wenn denn auch nur eine Tour auf Grund unserer Umfrage stattfinden sollte, dann hätte ich noch mehr erreicht, als ich gehofft habe. Wer sich fragt, wie wir zu unseren Nominierungen gekommen sind: Zuerst haben wir nur Alben aufgenommen, die wir im Laufe des Jahres 2011 selbst gehört und rezensiert hatten. In Kategorien wie „elektrisch (international)“ haben wir da schon eine erste subjektive Vorauswahl der Alben getroffen, die wir selbst für besonders gelungen halten. Später fanden sich Leser, die zu Recht weitere Alben nachnominierten, die in unserem Vorschlag nicht vorgekommen waren. Bei einem „kleinen aber feinen“ Magazin wie unserem, bleiben da naturgemäß Lücken. Magda Piskorczyk - Afro Groove Nina van Horn - Ashima, India Tour Sean Chambers - Live from The Long Island Eric Bibb - Troubadour Live with Stefan Astner Eric Clapton & Wynton Marsalis - Play the Blues Live from Jazz at Lincoln Center JJ Grey & Mofro - Brighter Days Tommy Castro - The Legendary Rhythm & Blues Revue Live! Mad Dawgs - ...live! The Streetrats - à3 Doch je mehr wir als unabhängiges und faires Magazin bekannt werden, desto mehr Musiker und Labels wollen auch von uns rezensiert werden. So ist die Zahl der zugesandten Alben seither gewaltig gewachsen. Und ebeno auch die der Anfragen wegen der Veröffentlichung von Artikeln und Tourdaten. Darüber sind wir sehr froh und dankbar. Denn es zeigt uns, dass wir mit unserer Arbeit nicht ganz neben der Spur liegen können. Auch wenn uns vor Jahren mal ein Profi gesagt hat, wir würden einmal an unserer Arroganz zu Grunde gehen. Aber wenn es um Musik und Literatur geht, da sind wir stolz darauf, nur das zu behandeln, was es unserer Meinung nach wirklich verdient hat und wovon wir auch eine Ahnung haben. Noch bunter gemischt als in den anderen Kategorien ist die DebütAbteilung. Vom Texas-Boogie a la ZZ Top (The Mezcaleros) über klassischen Gitarrenblues (Richard Carr), Soulblues mit Hiphop (Tweed Funk) bis zum akustischen Ausflug in die Frühzeit des Blues bei Bena & Ptazek reichte da das Spektrum. Und anders als bei den Blues Music Awards habe ich hier nur wirkliche Debüts aufgenommen. Jemand der wie Johnny Childs schon andere Platten aufgenommen hat, musste sich dem Wettbewerb in den anderen Kategorien stellen. Bleibt zu hoffen, dass man von den Debütanten des Jahres 2011 bald neue Alben zu hören bekommt. Die Chancen stehen ja recht gut: Bena & Ptacek sind bald bei der European Blues Challenge in Berlin zu erleben während Tweed Funk gerade noch in Memphis bei der IBC kämpfen. Hip Shakin Mama dagegen ist schon seit Wochen im Studio für das nächste Album. Und Samantha Fish und Sena Ehrhardt werden beim ständigen Touren hoffentlich genügend Ideen für neue Songs finden. 1. 961 2. 619 3. 377 Anmerkungen aus der Redaktion Dass Nominierungen für die Blues Music Awards und Verkaufszahlen nicht alles sind, zeigt sich besonders deutlich bei den Live-Alben des Jahres. Hier gewinnt mit fast doppelt so vielen Stimmen wie die Zweitplatzierte die polnische Sängerin und Gitarristin Magda Piskorczyk, Die Branchenlieblinge und Altstars wie Eric Clapton, JJ Grey & Mofro oder Tommy Castro landen weit abgeschlagen im Mittelfeld. Allerdings ist dieses Ergebnis auch aus kritischer Sicht der Redaktion vollkommen gerechtfertigt. 1. 824 2. 478 3. 469 Sena Ehrhardt Band - Leave The Light On Richard Carr - Tell Everybody Bena & Ptaszek - Music of the Mississippi River Tweed Funk - Bringin‘ It Dave Moretti Blues Revue - Bluesjob Nicky Estor - Blues and Friends Joel DaSilva and the Midnight Howl In diesem Sinne sind wir auch voller Elan in das Bluesjahr 2012 gestartet und sind schon gespannt, wen wir am Jahresende für die Alben des Jahres nominieren dürfen. Wenn man schon im Januar solch hervorragende Werke zu hören bekommt wie „Hellfire“ von Joe Louis Walker oder die neue Scheibe von Dani Wilde, dann kann man optimistisch in die Zukunft blicken. Ich hoffe darauf, das Ihr mir schon im Laufe der nächsten Wochen jede Menge Vorschläge unterbreitet, welche Künstler man hier unbedingt rezensieren und vorstellen sollte, damit die Auswahl im Dezember noch bunter wird als 2011. Und ich erwarte Eure Vorschläge auch dahingehend, wie man die einzelnen Kategorien künftig gestalten sollte. Eine kleine Änderung werde sicherlich vornehmen: Der Bluesrock wird in diesem Jahr eine extra Kategorie erhalten. Nicht umsonst hat diese Musik ja so viele Fans in aller Welt. Auch wenn ich selbst damit immer mal meine Probleme habe. Wahrscheinlich werde ich für (klassischen) Soul und Gospel ebenfalls Kategorien aufnehmen. The Mezcaleros - Road To Texas Samantha Fish - Runaway Hip-Shakin Mama & The Leg Men - Reclaim Your Land Euer Raimund Nitzsche (Chefredakteur) 5 © wasser-prawda Platten Unredigiert: Die Rezensionen der Sieger Und Platzierten Vorbemerkung Es sind Unmengen Platten, die man im Laufe des Jahres gehört und rezensiert hat. Manche bleiben lange in Erinnerung und im CD-Player. Bei anderen verblasst die Erinnerung schneller. Und vielleicht würde man heute einiges anders schreiben. Doch genau das wollen wir nicht tun. Wir veröfentlichen von den Siegeralben die Rezensionen in der Form, wie wir sie ursprünglich geschrieben haben. Die hier fehlenden Rezensionen finden sich in der ersten Ausgabe unseres pdf-Magazins im Rezensionsteil bzw. im Special zum kanadischen Blues. Nur das Album von The Cologne Blues Club konnten wir bislang noch nicht rezensieren, weil wir es noch nie gehört haben. Dennis Walker (der schon für B.B. King und Robert Cray gearbeitet hat) ist ein Album, dass von der ersten Note an gefangen nimmt: So klingt eigentlich Memphis Blues - warme Songs mit fetten Bläsern und einer Gitarre, die sich sanft in die Ohren bohrt. Ein großteil der Lieder der Platte stammen aus Fankhausers Feder, einige von Walker (wie etwa das großartige „Don‘t Be Afraid of the Dark“) - und sie sind alle hörenswert. Wer Musik etwa wie die von James Hunter - oder die „London Days“ von BB & The Blues Shacks mag, muss dieses Album hören. Allen anderen sei es dringend ans Herz gelegt. „Try My Love“ kann man jetzt zu den besten Neuveröffentlichungen in Deutschland zählen. Schade, dass die Platte im letzten Jahr an mir vorüber gegangen ist. Raimund Nitzsche Alben des Jahres in der Redaktion Ganz bewußt haben wir ja die Leser nach ihrer Meinung gefragt. Wir in der Redaktion haben natürlich auch eine. Und die wollen wir hiermit kundtun: Bluesalbum - elektrisch (international) 1. Johnny Childs - Groove 2. Philipp Fankhauser - Try My Love 3. Earl Thomas with Paddy Milner & The Big Sounds - See It My Way 4. Sugar Ray & The Bluetones - Evening 5. Hugh Laurie - Let Them Talk Bluesalbum - elektrisch (national) 1. Jimmy Reiter - High Priest of Nothing 2. Timo Gross - Fallen from Grace 3. Dynamite Daze - Scarecrows on Rampage Philipp Fankhauser - Try My Love (Membran) Dienstag, den 03. Mai 2011: Die Presse bezeichnet ihn als letzten oder einzigen Mohikaner des Blues in der Schweiz. Die Musik von Philipp Fankhauser klingt allerdings mehr nach Memphis als nach den Alpen. „Try My Love“ wird jetzt versehen mit vier Bonus-Tracks auch in Deutschland veröffentlicht. Bin ich froh, dass ich kein Profi bin. Denn der dürfte nicht guten Gewissens zugeben, dass er von Philipp Fankhausen noch nie etwas gehört hat. Denn schließlich hat der 1974 geborene Sänger und Gitarrist seit 1989 einen ganzen Stapel Platten - mit der Checkerboard Blues Band ebenso wie als Solist - veröffentlicht. Und mit seinem 2008 erschienenen „Love Man Riding“ hat er die Bluesplatte mit den höchsten Verkaufszahlen aller Zeiten in der Schweiz veröffentlicht. Als die Nachfolgeplatte „Try My Love“ in meinem Player landete, da war das also für mich eine völlige Neuentdeckung. Und zwar eine von der angenehmsten Sorte. Denn das von Produzent Ana Popovic - Unconditional (Eclecto Groove/inakustik) Mittwoch, den 31. August 2011 Auf ihrem sechsten Studio-Album „Unconditional“ spielt sich die aus Serbien stammende Gitarristin Ana Popovic quer durch sämtliche Bereiche des zeitgenössischen Blues. Gast im Studio waren unter anderem Sonny Landreth und Jason Ricci. Wenn man sich „Unconditional“ anhört, dann kann man der Vorstellung schwer widersprechen, dass bestimmte Orte einfach den Geist ihrer Musik bewahren und ihn auch an Musiker weitergeben, die sich diesen Orten hingeben. Denn eigentlich hätte man von der aus Belgrad stammenden Ana Popovic nicht wirklich ein Album mit Blues erwartet, der eindeutig nach New Orleans klingt. Hier haben die Studios der Stadt, in denen die zwölf Songs aufgenommen wurden, offenbar abgefärbt. Blues sei einer der konservativsten Musikstile überhaupt, meint Popovic. Und sie meint das in einem durchaus direkten Sinn. Wenn man ihn zu sehr verändern wolle, sei er nicht länger Blues. Und gerade in der Reduktion aufs Wesentliche 6 Bluesalbum 2011 akustisch 1. Big Daddy Wilson - Thumb A Ride 2. Matt Walsh Acoustic Quartet - A Part Of Me 3. 8 Ball Aitken - The Tamworth Tapes 4. Bernd Kleinow - The Harp Livealbum 2011 1. Magda Piskorczyk - Afro Groove 2. Sean Chambers - Live from The Long Island Blues 3. Nina van Horn - Ashima, India Tour Debüt 2011 1. Hip-Shakin Mama & The Leg Men Reclaim Your Land 2. Bena & Ptaszek - Music of the Mississippi River 3. Tweed Funk - Bringin‘ It 4. Richard Carr - Tell Everybody © wasser-prawda Platten besteht diese Musik durch die Zeiten. Gerade die Schönheit dieses Grundgerüstes - und die Konzentration auf das Instrument machten für sie den Blues aus, schreibt sie in den Linernotes zu „Unconditional“. Und so erwartet den Hörer denn auch kein irgendwie gewollter „NuBlues“, kein hochgezüchteter Bluesrock, sondern ganz klassischer Blues mit einer der besten Gitarristinnen der Gegenwart auf dem Album. Dabei ist es völlig egal, ob es sich um Klassiker des Blues aus dem Repertoire etwa von Koko Taylor, Buddy Guy oder Nina Simone oder von Popovic selbst geschriebene Songs handelt. „Unconditional“ stellt für mich einen der Höhepunkte des Bluesjahres dar. Nathan Nörgel gegen den weichgespülten Soulpop. Ich konnte die Proteste verstehen. Das ist nichts, was Fans von Aretha Franklin oder meinetwegen Sharon Jones befriedigen könnte. Dass ich beim gleichen Set zwischendurch „Something‘s Got A Hold On Me“ von „Don‘t Explain“ spielte, merkten die Kenner auf. Denn diese Stimme irgendwo zwischen Rockröhre (nein, ich werde den Vergleich zu Janis nicht ziehen!) und Seelenstriptease a la Etta James ist ziemlich einzigartig. Und dazu die Gitarre von Bonamassa, die genau den nötigen Biss hat und sich niemals in den Vordergrund schiebt. Solche Glanzstücke gibt es auf „Don‘t Explain“ ein paar. Etwa die Tom Waits Nummer „Chocolate Jesus“. Oder das mit jeder Menge Leidenschaft präsentierte „Sinner‘S Prayer“. Oder das von diversen Radiostationen gleich in die Rotation genommene „I‘ll Take Care of You“. Soul und Blues kann man eben nicht ohne ein entsprechendes Leben singen. Alles andere ist nur quasi-Soul oder eben ein farbloser Abklatsch. Im Zweifelsfall sollte man „Don‘t Explain“ als Vergleich heranziehen. Aber eigentlich ist das Album dafür zu schade. Man sollte es einfach so hören und genießen. Nathan Nörgel Beth Hart & Joe Bonamassa Don‘t Explain (mascot) Donnerstag, den 15. September 2011 „Don‘t Explain“ präsentiert Beth Hart als eine Soul- und Bluessängerin, die keinerlei Vergleiche mit selbsternannten Souldivas zu scheuen braucht. Joe Bonamassa unterstützt sie mit seiner Bluesgitarre bei Songs von Tom Waits bis zu Gil Scott-Heron. Als ich letztens in meiner Lieblingskneipe auflegte, hab ich mal wieder paar Hörerwünsche erfüllt. Als ich da zu Adele kam, schaute eine Frau verzückt. Der Rest der Anwesenden protestierte inneren und äußeren Welten des Songschreibers. Als Big Daddy Wilson im letzten Jahr die German Blues Challenge gewann, da war das nur zum Teil eine Mogelpackung. Natürlich stammt der Sänger und Schlagzeuger aus den Vereinigten Staaten, genauer aus North Carolina. Doch seit Jahren schon ist er aus der deutschen Bluesszene nicht mehr wegzudenken. Und gemeinsam mit seiner deutschen Band hat er auch den größten Teil der Lieder seines aktuellen Albums geschrieben (lediglich „Brother Blood“ stammt von den Neville Brothers). Das, was Wilson als Fortsetzung seiner „Love Is The Key“-Tour versteht, hat er in den Songs textlich und akustisch umgesetzt: Lyrisch und voller Soul singt er sich durch Stücke, die vom Unterwegssein vor allem in den Weiten der zwischenmenschlichen Beziehungen handeln. Angesichts des Zusammenspiels von Wilson mit seinen Gitarristen Jochen Bens und Michael van Merwyk kann man verstehen, warum sich Musiker wie Eric Bibb schon jetzt begeistert zeigen: Das ist schlicht und einfach akustischer Blues der absoluten Sonderklasse. Und nicht nur Fans von Bibb oder Keb‘ Mo sollten dem Album eine Chance einräumen. Sondern schlicht alle, denen es beim Blues mehr auf Soul und Feeling, auf Geschichten und Ehrlichkeit als auf aufgesetzte technische Rafinesse ankommt. Obwohl auch die hier ihre Freude haben werden. Denn bei aller Zurückhaltung ist das Zusammenspiel des Trios eine Klasse für sich. Raimund Nitzsche Rory Block - Shake `em On Down (Stony Plain/Fenn) Mittwoch, den 20. 2011 Big Daddy Wilson - Thumb A Juli Als Jugendliche begegRide (Ruf) nete Rory Block dem Mittwoch, den 18. Mai 2011 Bluesman Mississippi Das Unterwegssein ist schon immer eines der Fred McDowell. Mit zentralen Themen des Blues gewesen. „Thumb A ihrer aktuellen CD Ride“, das neue Album von Big Daddy Wilson „Shake ‚Em On Down“ beschreibt mit seinen 13 Songs Reisen durch die würdigt sie den großar- 7 © wasser-prawda Platten tigen Gitarristen und Geschichtenerzähler. Jessy Martens & Band - Brand New Ride Tribute-Alben sind immer eine zweiseitige Angelegenheit. Denn einerseits lenken sie das Interesse auf die gewürdigten Personen und ihr Werk. Und gleichzeitig reizen sie unwillkürlich zu Vergleichen zwischen dem Gewürdigten und demjenigen, der hier einen musikalischen Tribut zollt. Wenn Rory Block sich dem Werk von Mississippi Fred McDowell widmet, dann ist das ein durchaus gerechtfertigter Tribut. Hat sie doch als Jugendliche mehr als ein Wenig von dem eigensinnigen Gitarristen („I Don‘t Play No Rock ‚n‘ Roll!“) gelernt. Andererseits setzt die Sängerin mit dem aktuellen Album eine Serie von Würdigungen für die Väter des Mississippi-Blues fort. Zuletzt hatte sie sich hier die Lieder von Son House und Robert Johnson neu interpretiert. Die Höhepunkte von „Shake ‚Em On Down“ sind allerdings nicht Blocks Interpretationen von McDowells Songs, sondern Stücke wie das autobiografische „Mississippi Man“, wo sie ihre Begegnung mit dem Mentor beschreibt oder der Opener „Steady Freddy“, wo sie zeigt, wie sie seinen Gitarrenstil inzwischen zu ihrem ganz eigenen gemacht hat. Bei den sieben McDowellStücken handelt es sich nicht unbedingt um die bekanntesten Nummern (so fehlt etwa das durch die Stones berühmt gemachte „You Gotta Move“). Doch wenn sie Lieder wie „Kokomo Blues“ oder den Titelsong interpretiert, kann man nachfühlen, warum Rory Block heute als eine der wichtigsten Interpretinnen des Country Blues gilt: Ganz sicher ist sie eine der besten akustischen Gitarristinnen, die es derzeit in dieser Welt gibt. Wenn man dem Album etwas vorwerfen will (was nicht nötig ist), dann ist das Rory Blocks Gesang. Während sie auf den sechs Saiten eine Meisterschaft erreicht hat, die keine Vergleiche zu scheuen braucht, ist ihr Gesangsstil irgendwo bei dem weißen Mädchen aus New Yorker Folkzirkeln stehen geblieben: Hier fehlt den Liedern einfach die schiere Kraft, die sie bei ihrem Mentor einfach durch seine stimmliche Präsenz hatten. Aber diesen Vorwurf könnte man ebenso auch in einen Vorteil umdeuten: Die sexuell aufgeladenen Texte der urtümlichen Mississippi-Deltas erhalten so eine Unschuld und Zerbrechnlichkeit, die sie in einem ganz neuen Licht betrachten lassen. Raimund Nitzsche Donnerstag, den 17. November 2011 Erstmals war die Besetzung Jessy Martens & Band Anfang 2011 auf den Bühnen des Landes aktiv. Erfolge feierte die Sängerin mit ihrer rockenden Band unter anderem beim Bluesfestival in Eutin und mit der Nominierung für den German Blues Award. Jetzt erscheint mit „Brand New Ride“ ein erstes Album mit eigenen Titeln. Dass Jessy Martens eine der besten Bluessängerinnen in Deutschland ist, hat sich mittlerweile herum gesprochen. Gerade als Entertainerin hat die 24jährige zur Zeit wenig Konkurrenz, wie sie im Frühjahr etwa beim Bluesfestival in Eutin bewies: Trotz Mistwetters hatte sie mit ihrer jungen Band die Massen von Anfang bis Ende im Griff und versprühte dabei selbst jede Menge Spaß. (Dass man das Konzert mittlerweile auf CD vertreibt, ist gut zu verstehen.) Wie allerdings die Mischung aus Rockband, Bluespianist und Jessy Martens im Studio funktionieren würde, war mir nicht klar. Allerdings wurden etwaige Bedenken schon bald ausgeräumt: „Brand New Ride“ bringt die Power der Konzerte ziemlich nahtlos rüber. Und auch die komplett von der Band und Freunden geschriebenen Songs passen zu der Bandmixtur. Vom Titelsong an rockt die Truppe gehörig, lässt den Funk krachen und macht auch sonst noch jede Menge Druck. Und über all dem diese Stimme zwischen Gurren, Röhren und Schreien. Das ist nicht gelackt, nicht intellektuell hinterfragt, das ist einfach nach außen getragene Emotion irgendwo zwischen Rock und Blues. Schwächen hat die Scheibe für mich bei den wenigen langsameren Nummern wie „Undone“ oder „Fool 4U“. Dass Martens auch Balladen aus Blues und Soul singen kann, konnte man ja auf ihrem Debüt mit Jan Fischer‘s Blues Support hören. Hier funktioniert das für mich nicht so gut. Das dürfte einfach daran liegen, dass gerade die Herren an Gitarre, Bass und Schlagzeug viel zu gerne rocken und sich bei Balladen nicht so wohl fühlen. Aber darüber kann man leicht hinweghören. Es sind ja gerade die explosiven Bluesrocksongs, für die man Jessy Martens und ihre Band mag. Nathan Nörgel 8 Cologne Blues Club - Our Streets (pepper cake/zyx) Da wir diese Platte leider noch nicht gehört haben, können wir sie hier auch nicht mit einer Rezension würdigen. Vielen Dank an unsere Leser, dass sie diesen Vorschlag auf die Liste gebracht haben. Dynamite Daze - Scarecrows on Rampage (Stormy Monday/inakustik) Freitag, den 05. August 2011 Ihr erstes Album nannten Dynamite Daze damals gleich ganz unbescheiden „Greatest Hits“. Jetzt folgt mit „Scarecrows On Rampage“ bei Storny Monday Records die Fortsetzung mit psychedelischem Bluesrock oder wie auch immer man die Musik von diesem deutsch-schottisch-italienischem Quartett auch umschreiben will. Dass es bei Dynamite Daze ohne eine gehörige Portion Wahnsinn abgehen würde, war nicht zu erwarten. Denn schon ihre ersten Songs, die wir hier damals zu hören bekamen, waren ganz schön durchgeknallt (in einem positiven Sinn). Jetzt also schicken sie ihre Strohmänner zur Randale (wenn ich denn den Albumtitel richtig verstehe). Und auch das verheißt keine Sonnenscheinlyrik für Schmetterlingsfreunde. Sie selbst nennen ihre Musik mittlerweile „Garageblues From Hell“. © wasser-prawda Platten Ich würde eher sagen: Voodoo-Bluesrock aus dem Irrenhaus - ist auch egal. Für Garageblues jedenfalls ist die Musik der Männer schon ein ganzes Stück zu perfekt produziert, wurde der ganze Dreck im Studio wegpoliert. Das macht aber Songs wie das gnadenlos groovende „Monkey Fever“ oder den Düster-Walzer „Bertram“ nicht weniger reizvoll. Und wenn sich die Combo um Sänger und Harpspieler Dirty Didi auf eine Zugfahrt durch Transsylvanien begeben, wird auch die instrumentale Meisterschaft der Mannen mehr als deutlich. Insgesamt ein gerade für Bluesrockfans und für Leute die düstere Musik zwischen Tom Waits, Isaac Allen und ähnlichen Kneipenpoeten schätzen empfehlenswertes Album. Mir selbst fehlt - neben ein wenig stilistischer Abwechslung insgesamt (aber ich bin ja nun auch eher ein nicht Blues-Rocker) ein Textheft zum Album. Denn was Shakira in dem Song „Shakira“ wirklich für eine Rolle spielt, hat sich mir bislang nicht ganz erschlossen. Und auch die anderen Geschichten würde ich gerne noch nachlesen. Nathan Nörgel spricht aber immer dem Anspruch von Phil, die klassischen Bluesnummern wie „The Kokomo Medley“ oder das sich grandios steigernde Bluesrock für alle ohne Altersbeschränkungen zu „I‘m a Woman“, bei denen Magda Piskorczyk machen. sich und das Publikum derartig in Trance spielt, dass einem zeitweise im heimischen Zimmer noch der Atem stockt. Neben Magda ist da besonders das Bluesharpspiel von Billy Gibson (2009 bei den Blues Music Awards als bester Bluesharpspieler ausgezeichnet) erwähnenswert. Aber auch Magdas „normale“ Band (Aleksandra Siemieniuk - g, dobro; Marcin Jahr - dr; Adam Rozenman - perc) wechselt da vom funkigen Groove nahtlos über zu afrikanisch anmutenden Rhythmusorgien. Von diesen folkigen Anfängen geht das Konzert dann zu Soulbluesnummern über (in dem Fall hauptsächlich von Gibson gesungen.) Fast logisch erscheint es dann, dass das Ende der ersten CD auch Nummern afrikanischer Komponisten beinhaltet, die Piskorczyk auch in ihrer Originalsprache interpretiert. Und Samantha Fish - Runaway es fällt kein Bruch auf, weil für sie diese Musik (Ruf) alle von dem „Afro Groove“ beseelt ist. Und es Montag, den 11. April 2011 sind gerade die Kreuzungen, an denen die Noch 2010 kannten Musik besonders spannend wird. Wie etwa die wenigsten Blues„Crossroads“, einer der Bonustitel auf der fans außerhalb von zweiten CD, der nun gar nichts mit Johnsons Kansas City die SängeCrossroad Blues zu tun hat, sondern eine rin und Gitarristin Annäherung an die Kreuzung von Mississippi Samantha Fish. Doch und Mali aus der Sicht einer europäischen die Einladung zur Musikerin. Bluescaravan 2011 Raimund Nitzsche könnte zum Start einer Magda Piskorczyk -Afro Groove (Artgraff) Sonntag, den 20. November 2011 Nicht nur im Blues und Gospel sieht Magda Piskorczyk ihre Wurzeln sondern auch in der Musik Westafrikas und beim Soul. Wie nahtlos das auch in einem Konzert ineinander übergehen kann, zeigt ihr aktuelles Live-Album „Afro Groove“, bei dem sie unter anderem von dem in Memphis beheimateten Mundharmonikaspieler Billy Gibson begleitet wird. Die Traditionslinien von Afrika zum Mississippi-Delta und schließlich bis nach Europa sind noch immer lebendig. Das beweisen etwa solche Filme wie „Feel Like Goin Home“ von Scorsese oder ähnlich gelagerte Plattenprojekte vergangener Jahre, die etwa John Lee Hooker oder Corey Harris mit Musikern aus Westafrika paarten. Auch wenn der Blues nirgendwo anders als am Mississippi geboren wurde, die Musik, aus der er schließlich entstandt, kommt zu einem großen Teil aus Afrika. Und wer heute Blues im traditionellen Sinne spielen will, sollte sich auch der Musik etwa der Griots bewußt sein. „Afro Groove“, zum größten Teil am 11. September 2010 beim Satyrblues Festival Tarnobrzeg aufgenommen, spannt diese Bandbreite ganz locker. Da sind einerseits The Mezcaleros - Road To Texas Vor einem Jahr schrieb ich in diesem Magazin über Phil, der in seinem Homestudio in Paris an der Neuerfindung des texanischen Bluesrock im Geiste von ZZ Top arbeitete. Damals kritisierte ich noch, dass die Songs regelrecht nach einer kompletten Band verlangten. Die hat er mit seinen Mezcaleros gefunden. Und mit der hat er genau dort weitergearbeitet, wo er aufgehört hatte. „Road To Texas“ mag beim ersten Hören fast wie ein Klon von ZZ Top anmuten. Doch was die Mezcaleros spielen, geht über den simplen Bluesrock an vielen Stellen hinaus. Da finden sich Ausflüge nach Louisiana („Cajun River“) und ab und zu auch Anklänge an die Musik etwa eines Mark Knopfler. Und wenn die Dobro klagt, dann ist der Weg ins Mississippi-Delta zumindest vorgezeichnet. Das ist nirgendwo revolutionär ent- 9 Weltkarriere werden. Ende April 2011 erscheint mit „Runaway“ das Debüt Fishs für Ruf Records. Ein Labelchef wie Herr Ruf müsste man sein - ich könnte mir keinen schöneren Job vorstellen, als in aller Welt junge und vielversprechende Bluesmusiker ausfindig zu machen und zu produzieren. Gerade bei den Powerfrauen hat das Label in den letzten Jahren ganz erstaunliche Entdeckungen gemacht. Joanne Shaw Taylor oder Dani Wilde tummeln sich voller hochangemessenem Selbstvertrauen inzwischen unter den ganz Großen des Blues und Bluesrock. Und auch von Meena wird man in den nächsten Jahren hoffentlich noch mehr hören. Eine ähnliche Karriere könnte auch die 22jährige Samantha Fish machen. Das ist jedenfalls mein Eindruck beim Hören ihres internationalen Debüts „Runaway“. Waren Fishs Beiträge auf dem „Girls with Guitars“-Album mit Wilde und Cassie Taylor teilweise noch von einer jugendlichen Unsicherheit oder auch Unfertigkeit geprägt, sind die zehn fast komplett selbstgeschriebenen Lieder von einer fast an Vollkommenheit grenzenden Schönheit. Musikalisch spielt sich die Scheibe zwischen klassischem Blues und treibendem Bluesrock ebenso ab wie im Jazz und in Verweisen an Hardrock der 70er und dem Rhythm & Blues der frühen Stones. Damit wird klar, dass sich Fish nicht anbiedern mag an irgendwelche Schubladendenker. Denn dazu hat sie einfach zu viele musikalische Ideen, die sie entsprechend druckvoll und mitreißend bei der Aufnahmesession mit Casssie Taylor (bg) und Produzent Mike Zito in einem Berliner Studio auf Band gebannt hat. Höhepunkte des Albums sind neben dem Titelsong vor allem „Down In The Swamp“ und die wundervolle Jazzballade „Feelin‘ Allright“. Raimund Nitzsche © wasser-prawda Musik The Harpoonist & The Axe Murderer: Whiskey & Bluesrock statt Bluet und Death Metal. Neues aus K anada Wie angekündigt gibt es auch in dieser Ausgabe ein paar Empfehlungen zum Blues aus Kanada. Mit dabei unter anderem ein Doktor und ein Duo, das trotz des martialischen Namens keinen Heavy Metal sondern knochentrockenen Bluesrock spielt. Ein Rundumschlag von Nathan Nörgel. auf einem Segelboot befinde. Und dafür ist jetzt eindeutig nicht die richtige Jahreszeit. Also dann: Blues aus Kanada. Ring frei zur zweiten Runde. The Jimmy Bowskill Band Nein, nein, nein und nochmals nein! Ich beteilige mich nicht daran, die nächsten Gitarrenwunderkinder des Blues hochzujubeln. Meine liebste Gitarristen-Neuentdeckung der letzten Wochen ist schon über 70 und spielt irgendwo in Singapur eine gepflegte E-Gitarre im Stil des jungen Peter Green. Auf Platz zwei ist eine bei youtube veröffentlichte alte Frau in Weißrussland, die ihre Slide-Gitarre mit einer Glühbirne spielt und sich dabei von niemandem aus der Ruhe bringen lässt. Und ich bin nun wirklich beim Bluesrock ein sehr voreingenommener Hörer. So wird es für den geschätzten Leser kaum verwunderlich sein, dass mir bislang der kanadische Gitarrist und Sänger Jimmy Bowskill ein völlig Unbekannter war. Bis mir „Back Number“ in den Player kam. Und das ist schon sein fünftes Werk. Und er hat - so die Anmerkungen der Plattenfirma - erstmals einen Großteil der Songs dafür geschrieben. Für Blues-Rock-Fans ist das Album eine Empfehlung Jimmy Bowskill wert. in meinem Kopf immer zurecht suche: Tiefver- Kurz und knapp: Die Jimmy Bowskill Band Da ist doch tatsächlich der Winter noch gekom- schneite Wälder, Kälte jenseits des Vorstellungs- ist in der Besetzung mit Daniel Reiff (dr), Ian men in den hohen Norden Deutschlands. Win- vermögens. Und dazu ein ordentliches Kamin- McKeown (bg, tb) und natürlich Jimmy Bowster richtig mit Schnee und Frost, mit schneiden- feuer, um den Winter draußen vor dem Haus zu kill (voc, g, tp, p) ein heftig nach vorne rockendes dem Wind und kalten Füßen. Irgendwie passt lassen. Und natürlich Musik. Denn ich kann das Trio. Jeder für sich ist mehr als kompetent auf das ja zu den Bildern, die ich mir von Kanada Heulen des Windes nur ertragen, wenn ich mich seinem Instrument. Und die Band ist großartig 10 © wasser-prawda Musik aufeinander eingespielt. Leider überzeugt mich das Album dennoch nicht. Und das liegt einfach daran, dass ich zu kaum einem der Songs irgendeine emotionale Beziehung aufbauen kann. Die Musik - ob nun mit voll aufgerissener Anlage oder bei normaler Bürolautstärke - geht einfach an mir vorbei. Nur wenn Bowskill zur Trompete und sein Basser zur Posaune greift, schleicht sich unwillkürlich ein Lächeln auf mein Gesicht: Endlich einmal wird in der Ballade „The Spirit of Town“ das Terrain des Bluesrock verlassen. Und man merkt in der Geschichte über die Veränderungen von Bowskills Heimatstadt Bailierboro, was man in der Zukunft von dem gerade 21 Jahre alt gewordenen Musiker noch erwarten kann. Wenn er es denn wagt, die in der Szene sicherlich erfolgversprechenden Bahnen eines bluesrockenden Gitarrenwunders zu verlassen. Ich würde es mir auf jeden Fall wünschen. Vielleicht bringt ihn da die Zusammenarbeit mit dem Songwriter Ron Sexsmith noch auf gute Ideen. Sexmiths „Least of My Worries“ (und das gemeinsam verfasste „Little Bird“ zeigen da eine gute Richtung auf. Für Bluesrock-Fans ist das Album auf jeden Fall eine Empfehlung. Für mich bleiben leider unter dem Strich nur drei Songs positiv in Erinnerung.... Vielleicht bin ich einfach schon ein zu alter und festgefahrener Typ? (Ruf/in-akustik) Doch auch mich kann mancher Bluesrock spontan begeistern. Etwa der von der Band, die auf den einladenden Namen te Shawn doch als elfjähriger von seiner Großmutter eine Harmonika erhalten. Und dazu ein Buch: Harmonica for the Musically Hopeless. Eigentlich also ein hoffnungsloser Fall. Aber vielleicht ist das Buch doch hilfreich gewesen. Wenn man denn Songs wie „Shake it“ hört, dann ist da keinerlei unmusikalische Hoffnungslosigkeit mehr im Spiel. „Checkered Past“ heißt das Debüt, was das Duo im Herbst 2011 veröffentlicht hat. Und wenn man das hört, versteht man wiederum die Verweise auf die Black Keys oder die White Stripes: Voller Respekt für die Blueswurzeln wird hier eine Rockmusik dargeboten, die jeden IndieRockschuppen zum Kochen bringen dürfte. Das klingt absoulut robust und ist sicherlich nichts für feinsinnige Puristen, für die schon mit der Einführung des elektrischen Stromes der Blues geendet hat. Es rockt! Es ist laut. Es groovt. Es reizt zum Tanzen. Und man vergisst sofort, dass da nur zwei Menschen Musik machen: Shawn Hall schafft es, Gesang und Bluesharp aufs Engste zu verbinden. Und Matthew Rogers legt zu seinem heftigen Gitarrenspiel mit Fußpercussion einen derartigen Groove aus, dass weder Bass noch Schlagzeug irgendwo vermisst werden. Und - darauf legen HAM Wert: hier sind keinerlei elektronische Helferlein am Werk: keine Programmierung, keine vorproduzierten Rhythmustracks und auch kein Loop-Pedal. Alles, was auf dem Album funktioniert, geht auch live auf der Bühne. Und das würd ich gerne mal erleben. schen Exkursen abgerundet wird. Das Vergnügen geht schon beim Opener los. Denn Manx und Breit gelingt es, dem eigentlich völlig totgecoverten „Sunny“ von Bobby Hebb eine ganz eigene melancholische Note zu verpassen. Ähnliches gilt auch für die zweite Coverversion der Scheibe, „Mr. Lucky“ von John Lee Hooker. Das klingt jetzt nicht ungeschliffen und rumpelnd, wie man sich eigentlich den HookerBoogie spoatan vorstellt sondern ausgesprochen elegant. Und passt damit zu den restlichen Stücken, die aus der Feder der beiden stammen: „Nothing I Can Do“ etwa ist ein entspannter Shuffle, bei „Hippy Trippy“ gibt es Ausflüge in die psychedelischen Klangwelten der 60er mit Sitar-Anklängen. Fast ganz traditionell geht es dann bei „Little Ukelele“ zu. Für europäische Hörer könnte man - Vergleiche etwa zu Hank Shizzoe ziehen, der die Roots- und Bluesmusik immer durch seine Brille neu deutet. Und das ist etwas, was vielen Bluesrockern heute abgeht: Der Blick auf die Tradtion in großem Respekt und die Suche nach ganz eigenen Geschichten und Klangidealen, um diese umzusetzen. In dem Sinne ist „Strictly Whatever“ nicht nur ein wirklich gutes Bluesalbum für ruhige Abende sondern auch ein Lehrstück dafür, wie man heute traditionelle und gleichzeitig aktuelle Bluessongs schreibt. The Harpoonist & The Axe Murderer hört. Bandnamen können ja ganz schön für Verwirrung sorgen. Aber es macht unheimlichen Spaß, all den verschiedenen Geschichten hinter einem Namen wie diesem nachzugehen. Eine der Legenden um den Namen „Der Harpunist und der Axtmörder“ für das aus Vancouver stammende Duo bezieht sich auf eine fiktive Liebesbeziehung zwischen Kapitän Ahab und der als Axtmörderin angeklagen (und später freigesprochenen) Lizzie Borden. Damit könnten sich Hall und Rogers mit dem in Greifswald ansässigen Captain A-Harp und seinen Blues Whales verbunden fühlen. Und außerdem: Der manische Waljäger voller Rachegefühlen auf den Wal, der ihn verstümmelte und die Frau, die verdächtigt wurde, ihren Vater und die Stiefmutter erschlagen zu haben.... großartige Story. Nur leider erfunden. Sie mögen es, wenn man sie mit Bands wie den Black Keys vergleicht. Denn der Bandname „The Harpoonist & The Axe Murderer“ könnte sonst ja zu Assoziationen aus dem Death Metal führen. Dabei meinen die beiden Kanadier Shawn Hall and Matthew Rogers doch, sie würden Blues für eine sich ändernde Welt spielen. Eigentlich ist die Deutung, wenn man die Darstellung auf der Homepage der Band zugrundelegt viel prosaischer: Harpoonist ist einfach eine etwas kreative Bezeichnung für den Harpspieler. Und wegen des heftigen Schrammelns auf seiner Klampfe, wird aus dem Gitarristen eben der Axe Murderer. Dabei war den beiden nicht unbedingt eine Karriere als Band in die Wiege gelegt. Hat- Melanie Dekker Harry Manx & Kevin Breit gehen in ihrer Musik wesentlich filigraner vor. In der kanadischen Akustik-Szene - und längst darüber hinaus - sind Harry Manx und Kevin Breit jeder für sich Superstars. Breit etwa hat schon auf diversen Hit-Alben von Norah Jones, Cassandra Wilson oder k.d. lang gespielt, stand aber auch mit Hugh Laurie, Lou Reed oder Roseanne Cash im Studio. Und Harry Manx wurde in Kanada schon sieben Mal mit dem Maple Blues Award ausgezeichnet. Während langer Aufenthalte etwa in Indien, Brasilien, Europa und Japan hat er deren Musikstile aufgenommen und daraus einen eigenen Stil geformt, der ab und zu selbst die Traditionen der klassischen indischen Ragas mit denen des Blues verbindet. Ihr aktuelles Album heißt verwirrenderweise „Strictly Whatever“. Und darauf kann man so ziemlich alle Instrumente, die man mit Saiten versieht, hören (ok, an eine Harfe kann ich mich im Moment nicht erinnern). Und sie fabrizieren eine äußerst schmackhafte Mixtur aus Blues, Folk, Roots-Rock, die mit ein paar weltmusikali- 11 Und wenn wir schon bei Wofühlmusik sind, kann man eigentlich Melanie Dekker erwähnen. Ok, was sie macht, hat nun gar nichts mit Blues zu tun, aber diese Freiheit nehme ich mir einfach mal heraus. Ihre Wurzeln hat die Songwriterin in den Niederlanden. Heute lebt sie in Vancouver. Und mit ihrem aktuellen Album „Here & Now“ tourt sie jetzt auch wieder durch Deutschland. Sheryl Crow, Melissa Etheridge oder Shania Twain lauten die metaphorischen Hilfskrücken, mit denen Kollegen Werk und Stimme von Melanie Dekker umschreiben. Stilistisch könnte man ihr aktuelles Album auch mit den Schlagworten: Pop, Folk, Country umschreiben. Aber (ich zahle freiwillig ins Phrasenschwein) hier ist mal wieder die Summe deutlich mehr als die Einzelteile. Denn „Here & Now“ wirkt als Album wie aus einem Guss und nimmt den Hörer für zwölf Lieder mit auf eine erholsame akustische WellnessTour. Es sind die kleinen Momente, die hier und jetzt aufblitzen, an die man sich erinnert am Abend. Das reiche Mädchen, das für sein Lebensglück auf die Suche nach einem mindestens ebensoreichen Boy geht. Die Einsicht, dass man mal wieder ein gewaltiger Trottel war. Die Sehnsucht, © wasser-prawda Musik Bringt bisher UnErhörtes zu Dir! den Geliebten immer wieder zu küssen aus Freude, dass man ihn endlich gefunden hat. Und sei es auch alle zwanzig Minuten. Oder der ewige Hippietraum mit all den glücklichen Menschen, die sich befreien von den Zwängen dieser Welt. Nein, hier werden kaum politische Statements abgegeben. Der gesellschaftliche Anspruch der Musik wird nicht als Parole vor sich hergetragen. Was es zu der Welt zu sagen gibt, ist in und zwischen den Zeilen der Musik verpackt. Und das tut bei Melanie Dekker nicht weh. Sondern führt höchstens zu Anfällen von beruhigenden Tagträumen. Und die können ja durchaus nicht nur heilsam sein, sondern auch zu Änderungen darin führen, wie man danach durch diesen Tag weitergeht. Marshall Lawrence Ich bin ja nun jemand, der nicht gerne zum Doktor geht. Das wird von mir konsequent aufgeschoben, bis es wirklich nicht mehr anders geht. Komischerweise ist das mit Marshall Lawrence auch so. Ich höre seit Beginn meiner Recherchen immer wieder seine Songs. Doch eine Rezension oder gar ein längerer Artikel wollte mir bislang nicht einfallen. Lawrence nennt sich nicht nur „Doctor of the Blues“ und verordnet seinen Bekannten im Internet immer wieder den Blues als Medizin. Marshall Lawrence ist wirklich ein Doktor der Psychologie. Und so geht das mit seinen Verschreibungen in Ordnung. Besonders da sie immer mit einem freundlichen Lächeln daher kommen. Wesentlich martialischer sind da schon die Plakate, die zur Zeit in Kanada für die „Schwergewichtsmeisterschaften“ in Sachen Bluesgitarre werben. Auch um diesen Titel bewirbt sich der ausgezeichnete Slide- und Picking-Virtuose. Aber selbst da geht es eigentlich nur um eines: um einen mitreißenden Akustikblues, der ganz nahe dran sein könnte an den historischen Quellen. Nur dass man eben von Lied zu Lied überlegt, wo diese Quellen eigentlich sind: tief im Delta für die Slide-Attacken auf der Resonatorgitarre. Doch im nächsten Stück wähnt man sich dann schon wieder irgendwo an der Ostküste, wo das Fingerpicking im Ragtime-Stil zu Hause war. Und spätestens dann wird klar, dass die- se Vergangenheit eben eine von vorn bis hinten imaginierte ist. Was Marshall Lawrence macht, ist eben nicht wirklich traditionell, sondern irgendwie „neo“. Oder um es gelehrter auszudrücken: So wie Corey Harris oder auch Taj Mahal im akustischen Blues oder auch C.W.Stoneking mit seiner Version des Hokum-Blues schafft er aktuelle Musik, die ben nur so klingt wie die alten Vorbilder. Damit wirbt er im übrigen selbst und nennt seine Musik „Neo-Delta Blues & Roots“ oder auch Acid-Blues. Denn - und das merkt man spätestens beim dritten oder vierten Titel: Diese Musik nimmt einen mit auf einen Trip, wenn man sich drauf einlässt. Die Rhythmen ziehen einen unwillkürlich in den Bann. Und Lawrence‘ Stimme hat was hypnotisches. Und schon ist man drin in dem Blues-Delta des Dokors und lauscht seinen Geschichten. Sein aktuelles (2010 erschienenes) Album trägt den Titel „Blues Intervention“. Das traditionelle Bluessongs mit all den bekannten Themen vom Abschied, vom Liebeskummer, vom Unterwegssein zwische Louisiana, Detroit oder der kanadischen Prairie, wo der Doktor einst ein Cowgirl liebte (auch wenn deren Vater dagegen war, denn schließlich war der Sänger kein Anwalt oder ähnlich abgesicherter Mann). Diese Bluesgeschichten sind tatsächlich das eine Form der Therapie ohne Verschreibung und vor allem ohne schädliche Nebenwirkungen: Dieser Blues macht einen ruhig und zufrieden und lässt einen die Schmerzen des Alltags wesentlich gelassener betrachten. CACTUS ROCK RECORDS ist ein unabhängiges MailorderLabel mit Sitz in Sachsen. Unsere Bands und Solo-Acts kommen aus dem Südwesten der USA, Deutschland und Europa. Wir agieren als echte Alternative zum Mainstream. U n d bei uns steht der Künstler im Mittelpunkt! _____________________________ Zu unserer CACTUS ROCK RECORDS-Family gehören: ASTRA KELLY (USA/Ca) BRAD BROOKS (USA/Ca) CHEEPNESS (USA/Az) CHRIS HOLIMAN (USA/Az) CHRISTIAN & 2120’s (SWE) KEN ANDREE (USA/Tx) LISA NOVAK (USA/Tx) LITTLE GREEN (SWE) LOREN DIRCKS (USA/Az) MATHIAS SCHÜLLER (D) MEZCALEROS (FRA) RAINER PTACEK † (USA/Az) REVEREND SCHULZZ (D) RIVER ROSES (USA/Az) STEFAN SAFFER (D) _____________________________ NEW Releases: www.cactusrock-records.com Kontakt: [email protected] 12 © wasser-prawda Musik 2. European Blues Challenge 21.30 Uhr: Lubos Beña (Slowakei) Gemeinsam mit dem tschechischen 19 Bands aus ebensovielen Ländern Europas Bluesharp-Spieler Ptacek hatte der Lubos werden am 16. und 17. März in der Berliner Bena mit „Music of the Mississippi River“ ein Kulturbrauerei gegeneinander antreten. Dem äußerst gelungenes Album vorgelegt, auf dem Gewinner der von der European Blues Union selbst Nummern von Ray Charles so klangen, organisierten 2. European Blues Challenge winken Auftritte bei den wichtigsten Bluesfes- als wären sie schon Anfang des 20. Jahrhunderts im Delta entstanden. Leider wurde dieses tivals des Kontinents. Hier das Feld der Wettbewerber in der Reihenfolge ihres Auftretens: Duo mit dem Beginn 2012 aufgelöst und Bena wird bei der EBC als One-Man-Band auftreten (g, voc, dr). Seit Anfang des Jahres war er 16.3. 20 Uhr: Ismo Haavisto Band (Finnunterwegs im Mississippi-Delta, um sich dafür land) Ismo Haavisto ist einer der bekanntesten Inspirationen zu holen. Bluesharpspieler Finnlands. Unter anderem hat er schon mit Kim Wilson, Lurrie Bell, Jessie 22.00 Uhr: Roland Tchakounte (FrankMae Hemphill und Steve Guyger zusammen reich) gespielt. Außerdem ist er ein Songschreiber, Der französische Vertreter bei der European der nicht nur für die eigenen Bands sondern Blues Challenge ist ein Beispiel dafür, dass auch für andere Künstler Lieder verfasst. Mit nationale Kategorien bei dieser Musik eigentseiner 2000 gegründeten Band spielt er eine lich völlig fehl am Platze sind. Roland TschaMischung aus Blues mit ein wenig Rock&Roll, kounte lebt zwar in Frankreich. Doch geboren Soul und Country. Zur Ismo Haavisto Band ge- wurde der Sänger und Gitarrist in Kamerun. hören außerdem noch der Gitarrist Jonni „Si- Und er singt seine Bluessongs komplett in seidekick Johnny“ Seppäla, der Jazz-Drummer ner Muttersprache. Als seine wahren musikalischen Helden sieht er dementsprechend nicht Mikko Järvinen und Bassist Jape Huotari. nur die Urväter des Blues wie Son House oder Robert Johnson sondern auch Ali Farka Touré. 20.30 Uhr: The Downstrokes (Kroatien) Mit seiner Band The Downstrokes hat der kroatische Gitarrist Nebosja Buhin Nebo schon 2010 seine Heimat bei der International Blues Challenge in Memphis vertreten. Bislang hat er fünf Instrumental-Alben veröffentlicht und fünf Mal als bester Pop/Rock-Gitarrist des Landes ausgezeichnet. Dabei hat er nie wirklichen Instrumentalunterricht erhalten. 21.00 Uhr: John F. Klaver Band (Niederlande) Den niederländischen Gitarristen John F. Klaver nennt Kollege Matt Schofield den interessantesten Gitarristen Hollands seit langer Zeit. Klaver, der unter anderem in den USA an der The University of the Pacific und am Amsterdamer Konservatorium studiert hat, gründete gleich nach dem Abschluss seine Band, zu der heute noch Iris Sigtermans (bass), Martijn Klaver (drums) und Bob Fridzema (hammond) gehören. Gemeinsam spielen sie eine Mixtur aus Blues, Funk und Soul. 22.30 Marco Marchi & The Mojo Workers (Schweiz) Als 2011 in der Schweiz erstmals ein nationaler Blueswettbewerb abgehalten wurde, waren von einer Jury vier Bands für das Finale nominiert worden. Drei traten tatsächlich an. Und Marco Marchi mit seinen Mojo Workers gewann - wenn man den Berichten im Internet Glauben schenken darf - sehr souverän mit seinem ganz traditionellen Blues im Stil der 20er bis 50er Jahre. Als erste Schweizer durften sie daher jetzt in Memphis bei der IBC dabei sein. Und sie sind natürlich Vertreter ihres Landes in Berlin. Wer Fans von Musikern wie C.W. Stoneking oder Pokeye LaFargue ist, wird hier seine helle Freude haben. 23.00 Chehols (Litauen) Die Chehols - manchmal werden sie nach dem Titel ihres Debütalbums „The Gypsy Cowboys“ genannt - entstanten aus der Idee von 13 paar Freunden, die gemeinsam Straßenmusik machten. Irgendwann kam da nicht bloß etwas Taschengeld zusammen sondern vor allem auch Anfragen von Bars, die die Mixtur aus Blues, Rockabilly und Rhythm & Blues gerne bei sich hören wollten. 23:30 Slavek Wierzcholski I Nocna Zmiana Bluesa (Polen) Nocna Zmiana Bluesa wurde schon in den 80er Jahren gegründet und gilt heute als eine der populärsten Bluesbands des Landes. Immerhin schon 20 Alben wurden veröffentlicht und selbst in amerikanischen Magazinen rezensiert. Gründer der Band noch immer der Chef ist Sławek Wierzcholski an der Bluesharp, der sein Handwerk teilweise in Chicago bei den absoluten Meistern erlernte. Auch wenn die Band einmal als ganz traditionelle Bluesband anfing: Heute ist „The Blues Nightshift“ eine Akustiktruppe, die neben dem Blues auch Einflüsse aus der Singer-/Songwriterszene aufnehmen. Immerhin sind die Zeiten, wo man für The Blues Brothers Konzerte eröffnete schon einige Jahre vorbei. 24:00 Lightnin‘ Guy & The Mighty Gators (Belgien) Den Abschluss der ersten Runde macht am Freitag Lightnin‘ Guy aus Belgien. Der Gitarrist und Bluesharpspieler hatte die belgische Challenge mit 41 Prozent aller abgegebenen Stimmen souverän gewonnen. Begleitet wird er von seiner Band The Mighty Gators (Thierry Stievenart/Drums, Willy Devleeschouwer/g, Dominiek Buyse/bass). Samstag, 17. März - 20:00 Vasko The Patch (Bulgarien) Vasko The Patch (eigentlich heißt er Vasil Georgiev) zählt in Bulgarien zu den Helden der Revolution, mit der der Kommunismus sein Ende fand. Mit seiner Poduene Blues Band und Songs wie „Communism is Going Away“ oder „Bureaucrat“ trat er auch bei Demonstrationen während der Wende in Bulgarien auf. Die Lieder wurden zu Hits in Bulgarien. Vasko meint, die Bulgaren würden auf Grund ihrer Erfahrungen den Blues besonders verstehen. In Berlin tritt der Schlagzeuger/Harpspie- © wasser-prawda Musik ler/Sänger/Gitarrist Vasko gemeinsam mit dem Sänger seiner Poduene Blues Band Kamen „The Barrel“ Doytchinow auf. 20:30 Dago Red (Italien) Ähnlich wie die Mojo Workers aus der Schweiz sieht die italienische Band Dago Red ihre Art von Musik eher in der Tradition des vor-elektrischen Blues und Folk. Ziemlich erfolgreich macht das die sechsköpfige Band im Übrigen schon seit 1998. Aber - und das ist ja für solch einen Wettbewerb unabdingbar: Sie schreiben ihre eigenen Songs und diese sind durchaus im Heute verwurzelt. 21:00 Slidin‘ Slim (Schweden) Anders Landelius, seit Jahren unterwegs in der europäischen Bluesszene als Slidin‘ Slim, gründete mit 12 Jahren seine erste Punkband. Und aus dem Geist spielt er auch heute noch seinen rauhen und heftigen Blues, ob nun als Solist unterwegs oder etwa mit Magda Piskorczyk (Polen) oder dem amerikanischen Harpspieler Jimmy Z. 21:30 Norbert Schneider (Österreich) (Foto) „Medicate My Blues Away“ - mit diesem Song will Norbert Schneider nicht nur bei der Blues Challenge in Berlin dabei sein. Nein, der Bluessongwriter steht auch in der Vorauswahl für den Eurovision Song Contest in Baku in diesem Jahr. Wenn man sich die paar kurzen Kostproben im Internet anhört, dann kann man sich auf eine witzige und lässige Mixtur aus Ragtime, Blues, Pop und ein wenig Soul freuen. 22:00 Rita Engedalen & Backbone (Norwegen) Eine ganz und gar einzigartige Sängerin schickt Norwegen mit Rita Engedalen in den Wettbewerb. Das was sie singt und schreibt ist ganz klar Blues, aber es ist Blues der auch die ganze Folkgeschichte zwischen Mississippi und Appalachen mit reflektert. Und das trägt sie mit einer Power und Leidenschaft vor, dass man sich auf ein großes Ereignis freuen kann. Begleitet wird sie in Berlin von der Band Backbone. 22:30 Mingo & the Blues Intruders (Spanien) 2003 gründete der Mundharmonikaspieler Mingo Balaguer die Blues Intruders, weil er endlich auch singen wollte. Zuvor war er international ziemlich erfolgreich mit der Caledonia Blues Band auf Tour selbst in Chicago und vor Johnny Winter. Mit den Blues Intruders will der die ganze Stilbreite zwischen dem reinen Chicagoblues (Natürlich nennt er Little und Big Walter als seine größten Vorbilder) über den Texasblues bis hin zum Jump Blues abdecken. Kann man drauf gespannt sein. 23:00 Ben Poole (Großbritannien) Jeff Beck und John Mayall haben ihn schon gelobt. Auch Gary Moore hatte den britischen Gitarren-Junior Ben Poole noch zu Lebzeiten wahrgenommen. Man spricht gar von einem der besten Bluesgitarristen, die in den letzten Jahren in Großbritannien entdeckt wurden. 23:30 The Blues Express (Dänemark) Mit The Blues Express schickt Dänemark wahrscheinlich eine der jüngsten Bands überhaupt in den Wettbewerb. Getroffen haben sich vier zwischen 1988 und 1995 geborene Musiker (Frederik Tygesen - g, Rindom Nielsen - dr, Sergio Ingemann Jensen - p Dyrlund - voc) und der bereits 1978 geborene Bassist Rasmus Bruun vor einem Jahr bei einer Jamsession. Entsprechend besteht ihre Bluesmischung auch aus allem was gut und bekannt ist zwischen Robert Johnson, B.B. King, Al Green und Ray Charles. 24.00 Michael van Merwyk (Deutschland) Als Begleiter von Big Daddy Wilson war Gitarrist Michael van Merwyk gerade in Memphis bei der IBC zu erleben. In Berlin wird er sich mit Bluesoul von seiner anderen Seite zeigen. Denn nicht nur auf der akustischen sondern auch mit der E-Gitarre und als Sänger und Songwriter ist er einer der bemerkenswertesten Musiker der deutschen Szene. Im März erscheint zudem mit „New Road“ ein neues Album von ihm. 14 00:30 T. Blues Mob (Georgien) Letzte Band im Wettbewerb ist die 1998 von Sänger und Bassist Koka Tskitishvili in Tiblissi gegründete Gruppe T.Blues Mob. Seit ihrer Gründung war die Band mit ihrer Mixtur aus Blues, Rock und ein wenig Soul in ganz Europa auch bei großen Festivals zu erleben. Mitch Ryder & Engerling auf Tour Auch 2012 geht Mitch Ryder wieder gemeinsam mit Engerling auf Tour durch Deutschland. Erstes Konzert ist am 16. Februar in Halle. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 16.02. Halle, Objekt 5 17.02. Erfurt, HsD 18.02. Isernhagen, Bluesgarage 19.02. Torgau, Kulturbastion 22.02. Magdeburg, Feuerwache 23.02. Rheinberg, Schwarzer Adler 24.02. Dortmund, Piano 25.02. Solingen, Cobra 26.02. Bonn, Harmonie 29.02. Braunschweig, Barnabys 01.03. Bremen, Meisenfrei 02.03. Hamburg, DownTown 03.03. Forst, Manitu 04.03. Thyrow, Kulturscheune 07.03. Berlin, Frannz 08.03. Nürnberg, Hirsch 09.03. Bern (CH), Mühle Hunziken 10.03. Freiburg, Jazzhaus 11.03. Miltenberg, Beavers 13.03. München, Garage Deluxe 14.03. Wetzlar, Franzis 15.03. Lorsch, Rex 16.03. Dresden, Tante Ju 17.03. Affalter, Linde 18.03. Schöneiche, Kulturgiesserei © wasser-prawda Musik Gefangen zwischen K ansas und dem Lande Oz Es ist eine äußerst abgedrehte imaginierte Version des Landes Oz, in die uns The Wiyos mit ihrem aktuellen Album „Twist“ entführen. Von Nathan Nörgel Zwischen Blues, Rock, Oldtime Jazz und Surf drehen sich die 14 Stücke von Twist vollkommen um die verschiedenen Figuren des Buches „The Wizard of Oz“ bzw. um die legendären Verfilmungen des Klassikers. Irgendwann um 1890 gab es im Stadtteil Five Points in Manhattan eine irische Straßenbande mit dem Namen The Wiyos. In dieser rauhen Zeit waren sie die Härtesten im Viertel. Es war 2002 als Michael Farkas in eine Bar in Five Points kam. Dort saß Parrish Ellis mit seiner Gitarre in einer Ecke. Farkas packte seine Harp aus und schon einen Tag später waren sie eine Band und spielten im legendären CBGB. Später wuchs die Truppe, die sich nach der Gang benannte noch um den Bassisten Joseph „Joebass“ Dejarnett und den Multiinstrumentalisten Teddy Weber an. Und sofort ging man auf Tour durch die Lande. Der erste Tourbus war - den Angaben der Band zufolge - ein ausgedienter Schulbus, der gleich zweimal in Brand geriet, bevor man auch nur in New Orleans ankam. Überall, wo es möglich war, trat man auf mit einer Show ganz im Stile der 20er und 30er Jahre (rein akustisch - alle Mann versammelten sich um ein einziges Mikro). Diese allerdings wurde dargeboten mit der Energie und der Unverschämtheit des Punk, mit dem die Musiker aufgewachsen waren. Wo man keinen Gig bekam, wurde eben auf der Straße gespielt. Oft auch tauchte man unangemeldet bei Musikmessen oder -tagungen auf und spielte in Piratenmanier frech in der Hotelloby. Auch vor Auftritten in Stripclubs schreckte man nicht zurück. Schon in den ersten Jahren kam man so auf die stolze Zahl von mehr als 200 Konzerten im Jahr. Und die Band wurde nicht nur in den elitären Folk-Kreisen zum angesagten Act. Auch erste Tourneen in Europa konnten bald angegangen werden. Und das brachte der Band letztlich den Durchbruch. Denn 2009 wurden sie in einer Dokumentation der BBC über amerikanische Folkmusiker vorgestellt. Und das führte dazu, dass Bob Dylan sie höchstpersönlich als Vorband für eine Stadiontour durch die Staaten engagierte, bei der er gemeinsam mit Willie Nelson und John Mellencamp auftrat. Dazu trug natürlich auch ihr im gleichen Jahr erschienenes Album „Broken Land Bell“ bei, bei dem sie ihre Mix- 15 tur aus swingendem Oldtime-Blues und den Rhythmen von New Orleans noch Trip-HopBeats angereichert wurde, die von Adam Matta als „human beat box“ beigesteuert wurden. 2010 verließen Parrish und Joebass die Band. Seither sind The Wiyos als Trio unterwegs mit dem Bassisten „Sauerkraut“ Seth Travins. (Der erhielt seinen Spitznamen daher, dass er eine spezielle ökologische Sauerkrautmarke kreiierte....) © wasser-prawda Musik Irgendwann bekam die Band mit, dass ihre Musik die Grundlage für ein multimediales Tanzprojekt über „The Wizard of Oz“ diente. Und das brachte sie auf die Idee, selbst ein Album aufzunehmen, das auf diesem Buch und ebenso auf der klassischen Verfilmung desselben basiert. Und damit wird die Geschichte erst wirklich verworren. „Twist“ nämlich ist eine derartig witzige und aberwitzige Wundertüte an musikalischen und textlichen Einfällen, dass die Scheibe selbst bei Anwendung brutaler Gewalt in kein Genre passen wird. Klar finden sich klassische Blues- und Jazzklänge, wie man sie von The Wiyons erwarten durfte. Doch dann sind da plötzlich heftige Bluesrocker, Ausflüge in die Lyrik- und Soundwelten von Tom Waits, psychedelische Abschweifungen und diverse Anklänge an Beatles und Pink Floyd. Zum akustischen Instrumentarium kommen jetzt auch E-Gitarren und extra synthetisch klingende Keyboards. Eine lineare Nacherzählung der Reise von Dorothy auf dem Gelben Backsteinweg ist das Album nicht, auch wenn es mit dem wundervollen Bluesrocker „Yellow Limes“ beginnt. Nein, in einer traumhaften Sequenz springt das Album in die Innenwelten der einzelnen Figuren wie der Vogelscheuche, dem Löwen oder dem Eisernen Holzfäller. Oder es lädt dazu ein, mit diesen in den quietschbunten TechnicolorKulissen unterwegs zu sein. Letztlich hat ja jeder seine eigenen Erinnerungen an dieses Zauberland. Und kann diese jetzt mit einem unwahrscheinlich phantasievollen Soundtrack neu besuchen. Undwillkürlich und unwiderstehlich wird man in diesen Wirbel hineingezogen. Und fragt sich hinterher, wann man zuletzt ein derartig buntes und großartiges Popalbum gehört hat. Angela Perley & The Howlin‘ Moons Die Ausgangsmaterialien für zeitgemäße Americana-Musik sind ziemlich vielfältig. Doch es braucht mehr als cleveres Zitieren von Vorbildern für mitreißende Musik. Ok, „I Like You Fine“, der Opener der EP „Fireplace“ schielt ganz deutlich in Richtung Mainstream-Radio. Aber das muss ja nicht schlecht sein. Denn dieser Song hat nicht nur die Gefälligkeit und die glänzende Produktion, um ins Programm-Umfeld zu passen. Aber das Lied hat auch die gewisse Sehnsucht und den Herzschmerz, um sich gleich in den Gehörgängen festzusetzen. Doch wofür Angela Perley & The Howlin‘ Moons eigentlich stehen, wird erst da- nach deutlich: Country, Rockabilly und Rootsrock als Verneigung vor Legenden wie Wanda Jackson oder Patsy Cline und anderen hört man aus den restlichen vier Songs der Ende Januar in Großbritannien erscheinenden Scheibe heraus. Und das rockt nicht nur gehörig nach vorne und macht einen riesigen Spaß. Und in den ruhigeren Momenten spürt man auch die Liebe zu Loretta Lynn und dem Country der Carter Family. Es geht um die traditionellen Themen des Country: um Liebe und Tod, um Eisenbahnen und natürlich immer wieder auch um den Mond. Aber bei allen Referenzen: Angela Perley ist als Sängerin beileibe keine Kopie. 16 Wie sie jenseits des Kitschverdachtes sehnsüchtig singt oder rotzig rockt, macht sonst niemand wie sie. Und als Songschreiberin beherrscht sie die Kunst, ihre aus verschiedenen Perspektiven geschriebenen Geschichten so persönlich darzubieten, dass man bereit ist, ihr jedes Wort zu glauben. Außer Perley gehören zu der 2009 gegründeten Band The Howlin Moons noch Chris Connor (g, voc), Billy Zehnal (bg) und Steve Rupp (dr) zu den heulenden Monden. „Fireside“ ist die bislang dritte EP der Band. Und mit der soll jetzt offensichtlich auch jenseits des Atlantic ein Markt erschlossen werden. © wasser-prawda Musik Etta James (1938-2012) Schon zu Weihnachten 2011 war klar, dass das Leben von Etta James nicht mehr lange dauern würde. Die Leukämie, an der sie ein Jahr gelitten hatte, war nicht mehr heilbar. Zusätzlich litt sie an einer fortgeschrittenen Alzheimer-Krankheit. Am 20. Januar 2012 erlag die Sängerin ihren schweren Krankheiten. Von Raimund Nitzsche Geboren wurde die Sängerin von Hits wie „At Last“ oder „Tell Mama“ am 25. Januar 1938 als Jamesetta Hawkins in Los Angeles. Ihre Mutter war selbst noch ein Teenager bei ihrer Geburt, ihren Vater lernte sie damals jedenfalls nicht kennen. Und statt ihrer Mutter waren es Freunde und Verwandte, die sich um sie kümmerten. Als sie für eine Weile bei ihren Großeltern lebte, begann sie in der Baptistengemeinde im Chor mit zu singen und erhielt so ihren ersten Gesangsunterricht. Bald schon wurde sie eine der Solistinnen des Chors und trat mit ihm auch im Radio auf. Doch als sie zwölf Jahre alt war, starb ihre Pflegemutter und sie zog zu ihrer leiblichen Mutter nach San Francisco. Da diese sich allerdings weiterhin nicht um sie kümmerte, trat Etta bald als jugendliche Straftäterin in Erscheinung. Doch da war zum Glück noch die Liebe zur Musik. 1952 wurde sie mit ihrem Trio „The Creolettes“ von Johnny Otis entdeckt. Und mit ihm machte sie dann auch bald ihre ersten Aufnahmen. Die Creolettes wurden zu „The Peaches“ nach Ettas Spitznamen. Und die Mädchen unterzeichneten einen Plattenvertrag bei Modern Records. Doch auch wenn Lieder wie „The Wallflower“ regional und überregional in den R&B-Charts recht erfolgreich waren, kam ihr großer kommerzieller Durchbruch erst mit ihrem Wechsel zu Chess Records Anfang der 60er Jahre. Das enge Verhältnis zu den Labelgründern Leonard und Phil Chess bot ihr bei allen Turbulenzen ihres persönlichen Lebens einen sicheren Rückhalt, etwas was sie bis dahin eigentlich nie hatte. Ein Jahrzehnt war sie dort eine der erfolgreichsten Sängerinnen in den USA. Denn vom DooWop-Stil ihrer frühen Jahre hinweg entwickelte sich die Sängerin hin zu einer Frau, die gleichermaßen in den verschiedensten Stilen überzeugen konnte. So ist ihr Debütalbum „At Last“ im Grunde noch typische Popmusik mit viel Pathos und jeder Menge Streichern. Und doch merkt man etwa im Titelsong, dass hier eben eine Sängerin ist, die genau diesen Pomp nutzt, um damit 17 ihre Gefühle auf den Punkt zu bringen. Und mit anderen Stücken etwa wie den beiden Willy Dixon-Nummern „Spoonful“ und „I Just Wanna Make Love To You“ präsentierte sie sich gleichzeitig schon als neue Powerfrau des Blues, die ähnlich wie Big Mama Thornton den Männern um Muddy Waters oder Howlin‘ Wolf zeigen kann, wie der Hammer hängt. Auch wenn Chess natürlich eine der stärksten Haus-Bands der Musikgeschichte hatte, gelangen der empfindsamen Sängerin ihre besten Aufnahmen 1967 in den Fame Studios von Muscle Shoals. Dort nam sie Klassiker wie „Tell Mama“ auf und zeigte, dass in ihr eben nicht nur die großartige Soul- und Balladensängerin steckte. Nein - mit diesen Nummern sang sie auf Augenhöhe mit solchen Vertreterinnen des rhythmischen Soul wie Aretha Franklin. Doch als dann Anfang der 70er Jahre die Disco-Musik aufkam, war es mit ihren Erfolgen zunächst vorbei. Allerdings war es nicht nur der Wandel im Musikgeschmack der Hörer, der das öffentliche Interesse an der Musik von Etta James © wasser-prawda Musik Etta James bei einem Konzert in Deauville (Frankreich) im Juli 1990. (Foto: Roland Godefroy) verminderte. Immer wieder wurde sie durch ihre jahrzehntelange Abhängigkeit von Drogen und Medikamenten ausgebremst. Immer wieder kam sie deshalb mit dem Gesetz in Konflikt. Und sie überschrieb die Urheberrechte ihres besten selbstverfassten Songs „I‘d Rather Go Blind“ dem Vernehmen nach an ihren Dealer, als sie Stoff brauchte. Es waren Musiker wie die Rolling Stones, die dafür sorgten, dass Etta James trozdem nicht in Vergessenheit geriet. Mit ihnen war sie sie etwa 1978 und 1980 auf Tournee. Und 1982 sang sie sogar bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Los Angeles. Aber eigentlich war sie zu dieser Zeit eine Sängerin, die man mehr mit ihrer großen Vergangenheit in Verbindung brachte und nicht mit ihren aktuellen Alben. Das änderte sich erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Endlich hatte sie es geschafft, ihre Sucht in den Griff zu bekommen. Nach einer Magenoperation bekam sie auch ihr massives Übergewicht in den Griff. Und sie nahm endlich wieder Alben auf, die bei Kritik und Fans for allem in der Bluesszene gefeiert wurden. Platten wie „Let‘s Roll“ (2003) tauchten zwar nicht mehr in den Pophitparaden auf, erlangten aber hohe Platzierungen in den Bluescharts. Für „Let‘s Roll“ wurde Etta James mit einem Grammy ausgezeichnet. Ihr Leben inklusive den Drogenabstürzen hat sie in ihrer Autobiografie Rage to Survive geschildert. Immer häufiger war sie in den letzten Jahren mit ruppigen Äußerungen in der Öffentlich- keit aufgefallen. Etwa als Beyoncé (die im Film „Cadillac Records“ Etta James verkörpert hatte) zu Barack Obamas Amtseinführung „At Last“ singen durfte. Das passte Etta ganz und gar nicht - schließlich sah sie dieses Lied quasi als ihr eigenes Markenzeichen. Dreamer“ nochmals ein Studioalbum heraus. Ganz bewusst kündigte sie das als ihren Abschied von der Musikszene an. Denn bei aller noch vorhandenen Kraft, die sie in die Interpretationen von Songs aus Soul, Blues und Rock noch legen konnte: Ihre Kraft ließ rapide nach. Und irgendwann war sie auf ständige Pflege und Auch wenn das 1941 von Mack Gordon und Betreuung angewiesen. Hieran entzündete sich geschriebene Lied zuvor schon ein Hit etwa für ein Familienstreit, der in der Öffentlichkeit mit Glenn Miller, Ray Anthony, Miles Davis oder mehr als Befremdung aufgenommen wurde. Als Chet Baker war. Aber es ist ähnlich wie mit ihr Mann eine Million Dollar aus ihrem Verdem von Otis Redding geschriebenen „Respect“: mögen auf seinen Namen überschreiben wollte, Als Aretha Franklin das Lied gesungen hatte, kam es zu einem Gerichtsverfahren. James‘ Sohn war es für alle anderen Interpretationen vorbei. Donto, der seit 2008 die Geschäfte der Sängerin Auch wenn nach Etta James noch Musiker „At führte, warf dem Stiefvater vor, sich am VermöLast“ sangen, klang doch immer ihre Stimme gen privat bereichern zu wollen. Über Monate durch. Ob das nun Cindy Lauper, Jonie Mithinweg konnte die Behandlung der Sängerin chell, Ella Fitzgerald oder Mariah Carey waren. kaum finanziert werden. Erst per Gerichtsbeschluss wurden letztlich 350.000 Dollar für ihre Das Verhalten von Etta James wurde für die Pflege freigegeben. Plattenfirma immer weniger einzuschätzen: War hier nur eine Frau, die gerne auf den Putz haute, Kurz vor Weihnachten 2011 teilten die Ärzte die sich keine Meinung vorschreiben ließ? Das schließlich mit, dass gegen die fortschreitende würde zu ihrem schon immer auch lauten und Leukämie keine Behandlung mehr möglich sei. selbstbewußten Auftreten passen. Irgendwann Nachdem sie die Intensivstation nach wenigen wollten sie James vor der Öffentlichkeit fast Tagen verlassen konnte, starb sie zu Hause im abschirmen aus Angst vor weiteren Ausbrüchen. Kreise der Familie. Doch spätestens seit 2009 machten sich auch Fans immer mehr Sorgen um ihr Wohlergehen. „At Last“ erklang auch auf ihrer Beerdigung. Irgendwann konnte sie wegen einer mittlerweile Gesungen allerdings wurde das Lied nicht von als Alzheimer diagnostizierten Demenz nicht Beyoncé sondern von Christina Aguilera in mehr für sich selbst sorgen. Und dann kam auch einer Weise, die die Trauergäste zu standing noch eine Leukämiebehandlung hinzu. ovations hinriss. Und das ist wahrlich ein für die Beisetzung einer solch großartigen Sängerin ein Nach einigen Jahren Pause kam 2011 mit „The würdiges Ereignis. 18 © wasser-prawda Musik Hörempfehlungen den Stones („Miss You“) oder CCR („Born On The Bayou“). Es soll hier weder eine komplette Discographie noch eine definitive Liste der zwingend in einer Sammlung notwendigen Aufnahmen geliefert werden. Die Auswahl hier ist zutiefst persönlich und führt die Sampler und Alben auf, die mich in den letzten Jahren begleitet haben. Dabei liegt der Fokus vor allem auf dem Spätwerk der Sängerin. Die Ergebnisse sind aufs Ganze gesehen durchwachsen: Dylans Gospelsong lässt leider die gemeinte Dringlichkeit vermissen, dass man unbedingt einem Herren dienen müsse im Leben. Und Al Greens „Rhymes“ ist mehr ein Remake des Originals als eine eigene Interpretation. Tell Mama: The Complete Muscle Shoals Sessions Die Fame-Studios von Muscle Shoals zählen in der Geschichte des Soul zu den wichtigsten Aufnahmeorten. Nicht nur Aretha Franklin oder Dusty Springfield nahmen dort auf. Dorthin schickten Label wie Atlantic (oder im Falle von Etta James Chess/Cadet) ihre Künstler, wenn sie ihnen einen absolut passenden Sound geben The Chess Box wollten. Und ermöglichten so die Entstehung Warum gehörte Etta James eigentlich zu den von ein paar der besten Alben der Geschichte. wichtigsten Künstlern bei Chess in Chicago? Ich erinnere hier nur an „Dusty In Memphis“ Und was ist der beste Weg, sich dem Werk dieser oder Franklins „I Never Loved A Man“. Sängerin zu nähern? Die Antwort auf beide Fragen ist für mich diese liebevoll aufgemachte Box 1967 schickte Leonard Chess Etta James in die mit drei CDs. Fame-Studios von Muscle Shoals. Mit „Tell Mama“ kam eines der besten Alben der Sängerin. Neben dem fast kompletten Debütalbum „At 2002 wurde das Album mit fünf bislang nicht Last“ (für manche sowieso ihre beste Platte überverwendeten Liedern neu auf CD vorgelegt. haupt) finden sich hier ihre größten Hits von 1960 bis zum Ende von Chess Records. Bei verschiedenen Sessions zwischen August 1967 und August 1968 nahm Etta James mit den dorDas Faszinierende daran ist, wie vielseitig Etta tigen Studiomusikern unter dem Produzenten James damals schon war: Es gibt Jazzstandards, Rick Hall insgesamt 22 Titel auf. Da finden sich Popsongs und funkigen Southern Soul ebenso wie Cover wie das von Otis Redding übernommerotzigen Chicago-Blues. Und das in einer ständine „Security“ oder Jimmy Hughes‘ „Don‘t Lose gen Abwechslung. Selbst totgecoverte Songs wie Your Good Thing“. Entstanden ist ein packender „St. Louis Blues“ oder „One For My Baby“ des Soulalbum zwischen rhythmischen Krachern sind sofort als Etta-James-Interpretationen ohne wie dem Titelsong oder My Mother In Law und Makel zu erkennen. Und man hört den Stücken Stücken, die manche Kritiker als „R&B noir“ nicht an, dass sie mittlerweile mehr als 50 Jahre zu bezeichnen sich genötigt sahen: Tieftraurige alt sind - sowohl bei Chess direkt als auch in anSoulballaden wie „I‘d Rather Go Blind“. deren Studios wie bei Fame Records wurde für das weibliche Aushängeschild des Blueslabels nur In der Mischung ist diese Platte eines der ganz das Beste aufgeboten. wichtigen Alben des Soul überhaupt, auch wenn sie die Spitzenpositionen der Charts ebensoweUnd für die 2000 veröffentlichte Box wurden nig erklimmen konnte wie die ausgekoppelten noch bis danin noch unveröffentlichte Stücke Singles. Wer sich nur eine Platte von Etta James (etwa ihre Interpretation von „Light My Fire“ zulegen will, sollte diese kaufen. der Doors) aus den Archiven geholt. Bis auf Teile von CD 3 (aus den Jahren, wo die Drogen Etta immer wieder in ihrem Schaffen hinderten) gibt es hier eigentlich keinerleich Schwachstellen, we- Martriarch of the Blues der in der Interpretation noch in der Songaus- Jerry Wexler nannte Etta James einmal die „earth wahl. Und das umfangreiche Booklet ersetzt das mother of the blues“, also die Frau, ohne die eiendlose Stöbern in den verstreuten biografischen gentlich in der Geschichte des Blues kaum was Quellen und zeichnet den Lebensweg bis zum denkbar ist. Das 2001 erschienene „Matriarch of the Blues“ ist so etwas wie eine musikalische TriEnde von Chess liebevoll nach. butforderung der Chefin: Mit stimmlicher GeLeider ist diese Box mittlerweile fast nicht mehr walt fordert sie von den Herren der Schöpfung zu finden. Ansonsten würde ich sie ohne Zweifel Lieder ein. Die elf Songs wurden bekannt durch Elvis („Hound Dog“), Ray Charles („Come Back zu einem Pflichtkauf erklären. Baby“), Bob Dylan („Gotta Serve Somebody“), 19 Doch wenn Etta sich die weißen Rocker vornimmt, dann geht die Post ab: „Miss You“ der Stones hat bei ihr eine derartige Portion Sex zwischen den Noten, dass der Jugendschutz einschreiten müsste. Und „Born On The Bayou“ von John Fogerty wird zu dem mitreißenden Stück New-Orleans-Funk, das es eigentlich immer schon sein sollte. Und ehrlich: „Hound Dog“ mag zwar durch Elvis zum Hit geworden sein. Aber schon immer war das ein Song für starke Frauen. Big Mama Thorntons Fassung ist da eigentlich noch immer unübertroffen. Doch auch die hier zu findende Fassung von Etta James sollte deutlich machen, dass kein Mann das rechtmäßig singen darf. Let‘s Roll Die Gitarren schreien, der Rhythmus rockt, und Etta James macht von der ersten Note an klar: Mit ihr ist auch im 21. Jahrhundert noch zu rechnen. Auch wenn sie mittlerweile im Mainstram vollkommen ignoriert wird. Den Fans von Blues und klassischem Soul ist das egal. Und wenn dabei Alben wie „Let‘s Roll“ herauskommen, dann kann kommt man zwar nicht in die Popcharts, aber dafür auf die wichtigen Bluesfestivals. Und natürlich bekam man damals dafür © wasser-prawda Musik einen Grammy. Es sind heftige Bluesrocker wie „Blues Is My Business“ und rockiger Southern Soul („Strongest Weakness“, „Leap of Faith“), die „Let‘s Roll“ zu einem ihrer besten Alben überhaupt machen. Manche fühlten sich dabei an die besten Zeiten von Ike & Tina Turner erinnert. Was allerdings auch daran liegt, dass Etta Tina auch schon beeinflusst hat, als die mit ihrer Karriere begann. by „Blue“ Blands „The Dreamer“ und „Welcome To The Jungle“ von Guns ‚n‘ Roses. „Welcome To The Jungle“ wird in ihrer Interpretation zu einer ordentlichen Funknummer ganz ohne Referenzen mehr an den Metal der 80er/90er Jahre. Und „Boondocks“ von der Country-Band Little Big Town bekommt ebenso eine tiefe Dosis Swamp-Grooves aus Louisiana verpasst. Die anderen Stücke des Albums sind da schon wesentlich weniger überraschend: Der Opener „Groove Me“ ist auch hier ein typischer Soulsong im Sound von Memphis. Otis Reddings Ballade „Cigarettes & Coffee“ macht zwar deutlich, dass Etta James Stimme langsam alt geworden ist. Doch noch immer kann sie einen mit der Intensität ihres Gesangs schlichtweg umwerfen. Auch Ray Charles („In The Evening“) oder Bobby „Blue“ Bland („The Dreamer“) kommen ihrer Art des Singens entgegen. All The Way Mit Alben wie „Let‘s Roll“ hatte Etta James mit großem Erfolg deutlich gemacht, dass sie auch am Anfang des 21. Jahrhunderts noch heftig rockenden Blues und Soul singen konnte. Überraschend kam daher für viele das 2006 veröffentlichte „All the Way“. Denn das ist ein fast überproduziertes Popalbum mit Songs zwischen 1930 und den 90er Jahren. Und die Mixtur überrascht ebenso sehr: Von Songs aus dem American Songbook („All The Way“) über Bernsteins „West Side Story“ („Somewhere“) bis zu John Lennon („Imagine“) und Simply Red („Holding Back The Years“) oder R. Kelly („I Believe I Can Fly“). Wenn sie dann „Too Tired“ (von Johnny „Guitar“ Watson) singt, dann ist das ein wirklicher Abschied: Der muntere Begleitsatz kann nicht davon ablenken, wie ernst sie diesen Text für sich genommen haben muss. Es ist ein Abschied von den Fans und dem Leben auf der Bühne. Noch ergreifender ist dann nur noch die Schlussnummer, Little Miltons „Let Me Down Easy“. Da wird in jeder Note, jeder Nuance klar, dass der Abschied eben nicht mit einem Knall kommt, sondern im Bewußtsein, dass danach nichts mehr kommt in diesem Leben. Die Sehnsucht richtet sich darauf, dass der Tod nicht das Ende ist, sondern danach noch etwas kommt. Lass mich jetzt einfach gehen... „The Dreamer“ mag nicht das beste Album der Leider leidet das Album nicht nur an der fast ste- langen Karriere von Etta James sein. Doch es rilen Produktion sondern vor allem auch daran, zählt in seiner Endgültigkeit zu den schönsten dass einige Interpretationen schlicht langweilig musikalischen Abschiedsgeschenken, die man geraten sind. „Imagine“ ist hierfür ein abschre- sich vorstellen kann. Raimund Nitzsche ckendes Beispiel. Besser kommen hier Songs wie James Browns „It‘s A Mans Mans World“ mit seiner spanischen Gitarrenbegleitung oder „Purple Rain“, das von James mit jeder Menge GospelFeeling dargeboten wird. Und natürlich Bobby Womacks „Stop on By“, das hier mit dem nötigen dreckigen Funk daherkommt. Bringt bisher UnErhörtes zu Dir! CACTUS ROCK RECORDS ist ein unabhängiges MailorderLabel mit Sitz in Sachsen. Unsere Bands und Solo-Acts kommen aus dem Südwesten der USA, Deutschland und Europa. Wir agieren als echte Alternative zum Mainstream. U n d bei uns steht der Künstler im Mittelpunkt! _____________________________ Zu unserer CACTUS ROCK RECORDS-Family gehören: ASTRA KELLY (USA/Ca) BRAD BROOKS (USA/Ca) CHEEPNESS (USA/Az) CHRIS HOLIMAN (USA/Az) CHRISTIAN & 2120’s (SWE) KEN ANDREE (USA/Tx) LISA NOVAK (USA/Tx) LITTLE GREEN (SWE) LOREN DIRCKS (USA/Az) MATHIAS SCHÜLLER (D) MEZCALEROS (FRA) RAINER PTACEK † (USA/Az) REVEREND SCHULZZ (D) RIVER ROSES (USA/Az) STEFAN SAFFER (D) _____________________________ NEW Releases: The Dreamer Ganz offiziell hatte Etta James „The Dreamer“ als ihr Abschiedsalbum angekündigt. Mit noch immer kraftvoller Stimme singt sie darauf elf Songs aus den letzten Jahrzenten zwischen Bob- www.cactusrock-records.com Kontakt: [email protected] 20 © wasser-prawda Musik Johnny Otis (1921-2012) Johnny Otis war ein echtes Phänomen. Als Kind griechischer Einwanderer wurde er zum Pionier des schwarzen Rhythm & Blues. Er war Bandleader, Talentsucher, Showmaster, Rock & Roll Star, Prediger und Journalist, außerdem Maler und Bildhauer und Lebensmittelhändler. Am 17. Januar 2012 starb Otis in Los Angeles. Kann man sich eine eigentlich fremde Kultur völlig zu eigen machen? Der als John Veliotes geborene Johnny Otis war schon als Kind so sehr von Jazz und Blues begeistert, wuchs zudem in einer Gegend auf, wo fast nur Farbige wohnten. Und so wuchs von Anfang an seine Liebe zu deren Kultur immer weiter an. Schließlich legte er sich auch einen neuen Namen zu, weil der einfach mehr nach dieser Musik klang. Und nicht nach dem Sohn eines griechischen Lebensmittelhändlers. Angefangen hat er als Schlagzeuger und spielte eine Weile mit dem Swing-Orchester von Count Otis Matthews und wechselte dann zu Harlan Leonard‘s Rockets, die im Club Alabam in Los Angeles die Hausband waren. Doch schon bald wurde Otis gefragt, ob er nicht ein eigenes Orchester gründen könnte für größere Veranstaltungen. 1945 erschienen die ersten Platten mit dieser Big Band, unter anderem ein elegantes Arrangement von „Harlem Nocturne“, das zu einem kleineren Hit wurde. Bei anderen Singles stand Jimmy Rushing am Mikrofon. Auch für andere Musiker saß Otis zu der Zeit auf dem Schlagzeugstuhl. Und dabei zeigte sich, wie vielseitig er war: Sowohl für den wilden Shouter Wynonie Harris als auch für den sanften BarBlueser Charles Brown war er im Studio. Und auch für das Orchester von Count Basie war er kurzzeitig als Schlagzeuger unterwegs. Zwar ging er mit dem eigenen Orchester bis 1947 regelmäßig ins Studio. Doch richtig bekannt wurde er erst, als er mit einem Partner den „Barrelhouse Club“ eröffnete. Sein Orchester löste er auf und stürzte sich ganz auf den populären Rhythm & Blues und suchte nach jungen Talenten, die er dann oft für Jahre an sich band. „Little“ Esther Phillips war bald der erste große Star seiner California Rhythm And Blues Caravan. Hinzu kamen weitere Sänger wie Mel Walker oder die Gesangsgruppe The Robins und der Gitarrist Pete Lewis. Allein 1950 hatte er mit diesem Talentpool zehn Top-Ten Hits wie „Double Crossing Blues“. Otis selbst spielte inzwischen meist Vibraphon, später auch Klavier. Das Barrelhouse war der erste Nachtclub von L.A., der sich vollkommen dem Rhythm & Blues widmete. Und das machte seinen Erfolg aus. Und auch wenn zu Beginn der 50er Jahre die Erfolge zunächst kleiner wurden, blieb Otis weiter aktiv als Talensucher. So entstand etwa „Hound Dog“ mit der großartigen Big Mama Thornton mit seinem Orchester. Und er nahm auch mit dem noch jungen Little Richard Platten auf, als der noch bei Peacock Records unter Vertrag war. Auch Jackie Wilson und vor allem Etta James begannen ihre Karriere bei ihm. Etta begegnete er, als sie auf der Straße mit ihrem Gesangstrio 21 auftrat. Mit ihr produzierte er Singles wie „The Wallflower“, die in den R&B-Charts ziemlich erfolgreich waren. Als Solistin startete James allerdings erst richtig nach ihrem Wechsel zu Chess Records durch. Aus der Rhythm & Blues Caravan wurde in den späten 50er Jahren die Johnny Otis Show. Und mit „Willie and the Hand Jive“ hatte er einen regelrechten Rock & Roll Hit. Dabei sang er dann auch selbst und spielte das Piano. Die gesamte Otis Show war auch in der Fernsehshow vertreten, die er ab dieser Zeit für acht Jahre regelmäßig jede Woche im Fernsehen von Los Angeles präsentierte. Auch gründete er seine eigene Plattenfirma Dig Records, auf der er seine letzten Entdeckungen veröffentlichte. In den 60er Jahren war die Zeit für die großen Rhythm & Blues Shows allerdings langsam zu Ende. Und damit auch die Hitsingles für Otis. Alben aus den spätsechzigern näherten sich klanglich dem Soul und Funk an und zitierten die Ideale der Hippiebewegung. Allerdings wurden einzelne Scheiben unter Pseudonymen wie „Snatch and the Pootangs“ (1969) veröffentlicht und mit großen Aufschriften wie „For Adults Only“ versehen. Stücke wie „Two Girls In Love (With Each Other)“ waren akustisch hart an der Grenze zur Pornophonie. Und © wasser-prawda Musik Sebastopol in Nordkalifornien, wo Johnny Otis lange wohnte und wirkte. das öffentliche Preisen der freien Liebe und das Singen über Geschlechtsteile in derartig freizügiger Sprache war den ursprünglichen Fans des kultivierten Rhythm&Blues-Pioniers schwerlich zu vermitteln. Und selbst heute bringen es hartgesottene Gangsterrapper nur selten fertig, in einem einzigen Song derartig oft „Motherfucker“ unterzubringen, wie Otis in „Two Time Slim“.... Letztlich blieb Otis aber dem Rhythm & Blues über die ganzen Jahre treu und erzog seinen Sohn Shuggie zu einem erfolgreichen Gitarristen. In den 60ern hatte er ihn erstmal in seiner Band präsentiert. Und als 1982 „The New Johnny Otis Show“ bei Alligator erschien, war Shuggie einer der schon etablierten Stars. Andere waren etwa die Sängerin Margie Evans, die damals mit dem American Folk Blues Festival auch in Europa zu erleben war. Bis in die Mitte der 90er Jahre folgten regelmäßig weitere Alben. Schon in den 60ern begann Otis zudem eine politische Karriere. Nachdem er sich vergeblich um einen Sitz im kalifornischen Senat beworben hatte, wurde er Stabschef für Mervin Dymally, der nach diversen Stationen in der kalifornischen Regierung bis in den U.S.-Kongress gelangte. Außerdem schrieb er Bücher wie „Listen To The Lambs“ (über die Rassenunruhen von 1965, veröffentlicht 1968) oder „Upside Your Head! Rhythm & Blues on Central Avenue“ (1993). Auch als Maler und Holzbildhauer war er aktiv und veröffentlichte dazu umfangreiche Bildbände. In den 90ern zog er in die Nähe von Sebastopol nördlich von San Francisco, wo er sich eine Farm gekauft hatte. Dort führte er außerdem zeitweise einen Lebensmittelladen, der genauso ein Café 22 und ein Bluesclub war. Und er gründete eine eigene Gemeinde, für die er in Personalunion als Pfarrer, Chorleiter und Bandchef tätig war. Allerdings bestand die Landmark Community Gospel Church nur wenige Jahre, bis er sie vor allem aus gesundheitlichen Gründen wieder auflöste. Live aus der Powerhouse Brauerei in der Region präsentierte er auch noch eine wöchentliche RadioShow, bei der die Hörer eingeladen waren, zum Frühstück vorbei zu kommen. Als allerdings Otis Gesundheit immer mehr nachließ und er außerdem zurück nach Los Angeles gezogen war, lief die Show immer mehr ohne seine Beteiligung weiter. Die letzte Ausgabe der Johnny Otis Show ging am 19. August 2006 über den Äther. Raimund Nitzsche © wasser-prawda Platte Des Monats Joe Louis Walker: Hellfire Wer bei dem neuen Album von Joe Louis Walker auf entspannten kalifornischen Blues gewartet haben sollte, dürfte mehr als überrascht sein: Auf „Hellfire“ präsentiert sich der Gitarrist so intensiv wie noch nie zwischen Chicago-Blues, Jimi Hendrix und Gospel. Man kann seine Brillianz durch Subtilität unter Beweis stellen. Aber man muss nicht. Denn zu oft wird man auf diesem Wege einfach übertönt und überhört. Das ist Joe Louis Walker lange Jahre so gegangen. Alben wie „Blues of the Month Club“ sind großartige Werke. Unter Kollegen ist er eh angesehen. Schon mehrfach wurde er mit dem begehrten Blues Music Award ausgezeichnet. Doch ist der Mann so bekannt etwa wie Robert Cray (mit dem er vor Jahren oft verglichen wurde? Nein, das ist er nicht. Und das ist mehr als ungerecht. Aber „Hellfire“, sein erstes Album bei Alligator, sollte daran etwas ändern. Denn hier lässt Walker (produziert und am Schlagzeug begleitet von Tom Hambridge, der unter anderem schon „Livin Proof“ für Buddy Guy aufnahm) sämtliche Zurückhaltung fahren. Von der ersten Note an springt aus den Boxen dieser Gitarrensound, predigt diese Gospel-gestählte Stimme und lässt sich nicht ignorieren. Aber das Thema „Hellfire“ kann man auch nicht so nebenbei als banale Spielerei abhandeln. Nein: Der Kampf zwischen Gut und Böse, den man Foto: Joseph A. Rosen mal vereinfachend als Thema des Albums ausma- Joe Louis Walker - Hellfire (Alligator/in-akustik) chen kann, verlangt nach vollem Einsatz. VÖ.: 31. Januar 2012 Homepage: http://joelouiswalker.com/ Und so mutiert die so elegante Gitarre Walkers Alligator: http://www.alligator.com/ immer mal wieder zu einem an Hendrix gemahnenden Ungetüm. Und Walker selbst predigt mit vollem Einsatz vom Kampf in der Nachfolge Jesu in einer mitreißenden Mixtur aus Blues, Soul, Gospel, Rock und Funk: persönlich, engagiert, und mit einer Meisterschaft auf der Gitarre interpretiert, die einen sprachlos und glücklich zurück lässt. Wer nach „Hellfire“ nochmal den Vergleich zu Robert Cray bringt, braucht einen Termin beim Ohrenarzt. Und mich würde es nicht wundern, wenn Walker mit diesem Album zu seinen bislang vier Blues Music Awards noch einige mehr hinzu bekommen würde. Verdient wäre das auf jeden Fall. Einfach nur großartig! Raimund Nitzsche 23 © wasser-prawda Platten Blick auf die Hitliste der Virtuosen. Nicht umsonst ist ihr 2011 erschienenes Album „Spreadin‘ Around“ von Lesern und Hörern verschiedener Medien in unserem Nachbarland zum besten Bluesalbum des Jahres gewählt worden. Die Vorbilder sind zahlreich und doch äußerst unterschiedlich: Muddy Waters, die Vaughan-Brüder oder Elmore James stehen gleichbereichtigt neben dem Jazz-Orga8 Ball Aitken - Alive In nisten Jimmy Smith. Und natürlich darf man Howlin Wolf oder die Tamworth 2011 war der aus Queensland in Fabulos Thunderbirds nicht verNordaustralien stammende Blues- gessen: Rock, Blues, etwas swinman 8 Ball Aitken zunächst gewal- gender Rhythm & Blues und eine tig vom Pech verfolgt. Beim bedeu- Prise Funk und Soul. Das sind die tenden Tamworth Country Festival Zutaten für die Musik der Veldman wollte er sein neues Album „The Brothers. Tamworth Tapes“ vorstellen. Doch durch die Flutkatastrophe wurden die CDs vernichtet. Dennoch lieferte er in Tamworth ein mitreißendes Konzert ab, das jetzt pünktlich zum Festival als Livealbum vorliegt. Hatte man bei den letzten Studioalben von 8 Ball Aitken die Frage äußern können, ob dieser urwüchsige Sänger und Gitarrist jetzt endgültig den Weg hin zum Countryrocker gehen würde, der wird gleich beim Opener von „Alive In Tamworth“ Und wem das zu abstrakt klingt: eines besseren belehrt: Gleich 13 Man nehme einen großartigen Minuten lang rockt 8 Ball in bester Hammond-Spieler, der gleichzeitig Boogiemanier eines John Lee Hoonoch eine amtliche Bluesharp spielt ker durch seinen „Crocodile Song“. (Bennie Veldman), einen GitarrisUnd das Publikum geht von Anfang ten und Sänger (Gerrit Veldman). an mit, dass es eine Art hat. Und Das sind die Brüder, die der Band spätestens bei „Cyclone Country“ den Namen geben. Hinzu kommen oder „Chocolate, Jack Daniels & noch Marco Overkamp (dr) und LSD“ sind sämtliche Fragen gegenDonald vand der Goes (bg). Seit standslos, weil Songs wie diese einsieben Jahren ist diese Band schon fach und vor allem einfach großaräußerst erfolgreich in der niedertige Lieder sind, denen man gerne ländischen Bluesszene unterwegs. zuhört. Gerade erst wieder wurden sie in Insgesamt 15 Songs umfasst das vier Kategorien für die nationalen Album, die meisten von den beiBlues Awards nominiert. den letzten Alben „The Tamworth Und wie es dazu kommt, kann Tapes“ und „Rebel with a Cause“. man gut auf „Spreadin Around“ Alle werden von seiner rauhen nachfühlen und nachhören: Wenn Slide-Gitarre und ein wenig Persie loslegen, dann zielen sie nicht cussion vorangetrieben, die selbst auf den anerkennenden Blick der den Oldie „John Henry“ noch eine Kollegen sondern einzig darauf, Frischzellenkur verpasst. Und wenn die Hörer im Herzen und in den er zwischendurch seine grotesken Tanzfüßen zu erreichen: Soviel Geschichten aus dem sumpfigen Gefühl wie möglich - ohne jemals Norden Australiens erzählt, fühlt auch nur in die Nähe des Kitsch zu man sich, als wäre man live dabei. geraten, soviel Rauhheit wie nötig. Wenn man denn dem extremen AkUnd Spielfreude mehr, als man in zent folgen kann, was mir erst beim ruhigem Zustand ertragen kann. zweiten oder dritten Hören gelang. Klar natürlich, dass die Songs des Raimund Nitzsche Albums nicht komplett aus den Federn der Band stammen. (Man The Veldman Brothers nehme nur mal „Everyday I Play The Blues“: Wer da nicht die Vorla- Spreadin‘ Around ge sofort heraushört, muss die KlasThe Veldman Brothers aus den se wiederholen. Ähnliches gilt auch Niederlanden sind ein Beispiel für „Evil“.) Aber das macht nichts, dafür, wie man Bluesrock heute spielen sollte: Geradewegs aus dem weil die ganze Scheibe von vorn bis Herzen nämlich und nicht mit dem hinten nach der Band klingt und so auch die „Inspirationen“ verinnerlicht wurden. Und damit macht „Spreadin Around“ eben unwahrscheinlich viel Spaß. Ich hoffe, dass die Veldman Brothers mit diesem Werk auch in Deutschland die Aufmerksamkeit finden, die sie verdienen. Eine Menge nämlich. Nathan Nörgel Kulturförderung beantragen könnte - kurz gesagt: das ist Modern Jazz/ improvisierte Musik, wie man sie hier eigentlich kaum erwartet hätte. Doch für das Album ist diese Suite eindeutig einer der überraschendsten Höhepunkte für den Rezensenten. (Stormy Monday/in-akustik) Raimund Nitzsche Henning Pertiet - MasChris Kramer - Kramer terpieces Vol. 1 Ich liebe es, wenn jemand Blues kommt! am Klavier spielt. Oder auch Boogie Woogie. Doch wenn dazu keine Band spielt oder kein Gesang kommt, dann ergreift mich dann schnell eine Übersättigung oder noch schlimmer: die Langeweile. Denn wie groß ist die Zahl der möglichen Themen, wie flexibel die Begleitung in der linken Hand: schnell glaubt man da, bereits alles gehört zu haben. Bei „Masterpieces Vol. 1“ ist mir das nicht passiert. Klar kommen hier klassische oder eigene Kompositionen von Henning Pertiet zu Gehör, laufen die Bässe in feinster Boogiemanier durch die Gegend. Doch jedes Mal, wenn man glaubt, sich ausklinken zu können aus dem Hörprozess, überrascht einen der Solist: Plötzlich kommt dann nach dem frisch gerockten Honky Tonk Train Blues von Meade Lux Lewis ein Ausflug in die abstrakten Klangwelten von Theolonius Monk („Blue Monk“). Und endlich kapiert der Rezensent auch, wieso dieser Jazzer sich zeitlebens auch auf seine Blueswurzeln berufen hat. Später kommt dann nach noch Ellingtons „G-Jam Boogie“ zu einer solistischen Pianodarbietung. Und in anderen Stücken glaubt man dann auch noch Anspielungen auf Bach in der Lesart von Jaques Louissier zu vernehmen. Richtig heftig wird es dann bei „Lingony Ext“, einer zwölfminütigen Suite, in der Pertiet eigene Themen mit solchen von Monk kontrastiert. Hier ist die Boogiemäßige Leichtigkeit vorbei, hier fordert der Künstler über die ganze Zeit die völlige Aufmerksamkeit. Denn das ist eindeutig keine Tanzmusik mehr für einen fröhlichen Samstagabend. Das gehört eindeutig in den Bereich dessen, wofür man mit vollem Recht 24 Chris Kramer ist unbestritten einer der Meister der Bluesharp in Deutschland. Mit seinem neuen Album „Kramer kommt!“ präsentiert er sich außerdem als deutschsprachiger Rockmusiker zwischen Lindenberg und dem frühen Westernhagen. Mit Peter Maffay hat er in den letzten Jahren zusammengespielt. Aber auch mit dem Gitarristen Mick Taylor (klar, dem Mick Taylor von den Stones). Nach Angaben seiner Homepage hat er mittlerweile 12000 Schülern den Umgang mit der Mundharmonika beigebracht. Und wenn zu seinem Geburtstag am 3. Februar 2012 sein neues Album „Kramer kommt!“ in die Läden kommt, dann hat er als Vertrieb gar Sony im Rücken. Wahrhaftig selten für einen Bluesman hierzulande. Doch eigentlich gehört die Scheibe (trotz unüberhörbarer Bluesanklänge) auch eher in die Rockschublade, Unterabteilung Deutschrock. Und damit beginnen zumindest für den Rezensenten die Probleme mit der Scheibe, die musikalisch gut daherkommt und ganz amtlich groovt zwischen Blues, Rock & Roll und dem patentierten Diddley-Beat. Denn ehrlich: diese Texte (verfasst entweder von Kramer selbst oder von W. Dulisch) versuchen cool zu klingen wie zu den besten Zeiten von Udo Lindenberg. Doch so cool sind sie leider zu selten. Viel zu oft klingen sie statt dessen bemüht pädagogisch und steif. Und die zwanghaften Reime machen das Hörern nicht viel schöner. Hier hätte man sich ein paar Unterrichtseinheiten von den wirklich großen deutschen Textern der Gegenwart (nehmen wir etwa Stoppok und © wasser-prawda Platten sein Umfeld, Norbert Leisegang oder auch Element of Crime als Beispiele) gewünscht. Dann wäre „Kramer kommt!“ wirklich ein großes Hörvergnügen geworden. Denn die Selbstironie und Ehrlichkeit, die man bei Kramers Konzerten immer wieder als große Pluspunkte anführt, kommt im Studio nicht rüber. Schade.... (Neo Bob-Media / Sony) Nathan Nörgel Zed Mitchell - Game Is On Die jugoslawische Bluesszene kennen viele einfach nur, weil dorther jemand wie Ana Popovic stammt. Schon seit den 70er Jahren war Zlatko Manojlovic in seiner Heimat mit einer Menge Alben ein Star. Seit Ende der 80er ist er in Deutschland ein gefragter Studio-Musiker und hat unter anderem auf Alben von Udo Lindenberg und Eros Ramazotti gespielt. Daneben tourte er als Zlatko & His Band durch ganz Europa und stand so vor Leuten wie B.B. King, Santana oder Joe Cocker auf den Bühnen. Allerdings legte er seinen Namen 2008 ab und sich den Künstlernamen Zed Mitchell zu. Schuld war daran vor allem „Big Brother“ bzw. der dort herumprollende und später sogar singende Zlatko. Als Zed Mitchell veröffentlichte er 2008 und 2010 zwei Alben im Selbstverlag. Die besten Songs davon finden sich jetzt auf dem bei Acoustic Music veröffentlichten „Game Is On“. Und da trifft heftiger Rockblues („Blues For My Money“ - ein echter Anspieltipp) auf Balladen im Stile von Gary Moore oder funkigen Soulblues. Das ist eine Mixtur, die gerade für Freunde des modernen Bluesrock empfehlenswert ist. Für mich selbst ist das Album gerade bei den langsameren Nummern einfach zu glatt und mit zuviel Liebe zu scheinbar zeitgenössischen Sounds produziert. Aber es ist ein guter Ansatzpunkt, um endlich auch hierzulande einen wirklich bemerkenswerten Bluesrockgitarristen zu entdecken. (Acoustic Music) Raimund Nitzsche Inniss am Bass und Schlagzeuger Jamie Little (der auch das Album produzierte). Hinzu kommen neben einer gerade für die an Stax erinnernden Soulnummern nötige Bläsersection noch Gastauftritte von Bassistin Victoria Smith (die Cassie Taylor bei „More Girls With Guitars“ ersetzt), Keyboarder Pete Wingfield und Danis Bruder Will Wilde (mharm). Mit „Juice Me Up“ mach Dani Wilmehr als deutlich, dass sie zum Dani Wilde - Juice Me de Besten gehört, was der britische Up Blues zur Zeit zu bieten hat. (Ruf/ Mit ihrem dritten Album „Juice in-akustik) Me Up“ entwickelt sich die SänRaimund Nitzsche gerin und Gitarristin Dani Wilde von einem Blues-Girl mit Gitarre in Richtung einer zeitgenössischen Soulsängerin. Und vor allem wird sie immer mehr zu einer sehr guten Songschreiberin. Ok, wegen des Erfolges wird Dani Wilde auch 2012 wieder als „Girl with Guitar“ unterwegs sein. Doch eigentlich ist Wilde inzwischen über dieses Label hinausgewachsen. Sie ist eindeutig erwachsen geworden. Und das hört man ihrem im Februar erscheinden Album auch an. Und Miss Lissa & Company das ist in jedem Fall als Kompliment - Back To Your Mama gemeint. So hat „Crazy World“ einen Funk- Melissa Young ist eine großartige groove, der an Stücke erinnert, die Sängerin. Wie sie sich voller Läsirgendwann in den 70ern entstan- sigkeit in einen Song wie „Back To den sind. Der Text allerdings - von Your Mama“ hineinlehnt um den Dani selbst geschrieben - ist mehr Typen zurück zu seiner Mutter zu als aktuell. Wilde engagiert sich seit schicken, wo er noch immer hingeJahren für Kinder in Afrika. Und hört: das macht einfach Spaß. Wer ist ein Song über Kindersoldaten in jetzt glaubt, Miss Lissa & ComAfrika von ihr nicht wirklich über- pany in die Ecke des swingenden raschend. Denn auch wenn sie in Rhythm&Blues stecken zu können, vielen Songs über das ewige Thema hat natürlich nicht komplett UnMann und Frau singt - Dani Wilde recht. Aber diese Band aus Dayton ist eine Frau, die mit offenen Augen (Ohio) ist noch eine Menge mehr. durch die Welt geht und das auch Und das zeigt sich bei den sieben in ihrer Kunst reflektiert. Auch die Stücken ihres Albums „Back To Unruhen in Großbritannien im Your Mama“, ja eigentlich schon letzten Jahr hat sie in „The Burning bei den ersten Takten des Openers Truth“ ein musikalisches Denkmal „Mountain Mama Blues“: gesetzt. Und sie stellt die Frage: Ist Zuerst ist da nur die Slide-Gitarre das die proletarische Revolution, von Eric Henry. Irgendwo zwischen wie sie Marx angekündigt hat? Oder Ry Cooder und Sonny Landreth. stammen diese Brände einfach nur Manche wollen auch Derek Trucks von ein paar Kids, die dazu einfach als Vorbild ausgemacht haben. Auf in der Lage waren?. Und vor allem: jeden Fall umwerfend. Dann zählt Wo ist hier eigentlich eine Regie- die Band ein und haut unter das rung, die sich um die Probleme Riff einen rockenden Groove, der Schnellzuggeschwindigkeit kümmert? Das sind Gedanken, wie mit man sie im Blues inzwischen leider über einen hinwegrollt. Und Miss Lissy macht klar, dass sie die Cheviel zu selten hört. Insgesamt liegt der Fokus des Al- fin im Ring ist. Bis dann Eric Henry bums mehr auf souligen Klängen sein Solo rauslässt: Eindeutig unentals auf dem klassischen Blues und schieden. Aber der Song ist umwerBluesrock. Man merkt, dass Dani fend. mit der Musik aus Memphis und Und auch bei den anderen Stücken Detroit aufgewachsen ist. Und na- des Albums wird deutlich: Miss Listürlich auch mit Michael Jackson. sy & Company ist in der KombiUnterstützt wird Dani bei den nation einer Power-Blues-Lady wie Aufnahmen wieder von Stuart Di- Melissa Young und eines Gitarrisxon als zweitem Gitarristen, Roger ten wie Eric Henry eigentlich unschlagbar. Und diese Kombination 25 funktioniert in den verschiedensten Spielarten des Blues zwischen dem klassischen Delta, dem Chicago-Blues a la Muddy Waters oder Buddy Guy bis hin zum funkigen Bluesrock. Selbst vor dem direkten Vergleich mit Janis Joplin schreckt Young nicht zurück, wenn sie als einzige Cover-Version des Albums „Ball & Chain“ nimmt und in ihrer Interpretation eben weniger auf die klassische Vorlage als auf Joplin als Teil von Big Brother anspielt. (Da für mich Janis Joplin einfach unvergleichlich ist, enthalte ich mich hier der Bewertung. Allerdings hatte Big Brother & The Holding Co. niemals einen wirklich umwerfenden Gitarristen....) Die 2007 gegründete Band Miss Lissa & Company ist definitiv eine, auf die man auch in Zukunft achten sollte. Nathan Nörgel Ray Bailey - Cruisin‘ For A Bluesin‘ Cruisin For A Bluesin von dem kalifornischen Gitarristen Ray Bailey ist nur bedingt ein Bluesalbum für entspanntes Cruisen durch die kalifornische Sonne. Die elf Songs drehen sich viel häufiger um harte Schicksalsschläge und die Unfairness des Lebens überhaupt. Als 1993 Ray Baileys Debüt „Satan‘s Horn“ erschien, da sprachen viele schon vom Start einer großartigen Karriere. Doch statt dessen verschwand der aus Los Angeles stammende Gitarrist und Songschreiber bis 2009 völlig von der Bildfläche, kümmerte sich etwa um seine kranken Eltern. Mit dem Live-Album „Resurrection“ meldete er sich dann schließlich doch noch zurück. Und im Januar 2012 erscheint mit „Cruisin‘ For A Bluesin‘“ auch wieder einmal ein Studiowerk. Und auf ihm kann man einen Gitarristen entdecken, wie es ihn nur selten gibt: Scharf schneiden einen sein Linien in die Ohren. Die oft kolportierte jazzige Leichtigkeit des Kaliforniers wird kombiniert mit der Härte und Rauhheit des Deltablues. Und neben an B.B. King gemahnenden Melodielinien wechselt er immer wieder auch in einen Akkord-Stil, der an die Farbigkeit von Wes Montgomery erinnert. Und ab © wasser-prawda Platten und zu schreien die sechs Saiten wie bei Jimi Hendrix. Nun sind die elf Songs von „Cruisin‘ For A Bluesin‘“ aber längst nicht nur Showcases für einen brillianten Gitarristen. Sondern sie sind oft auch tief persönliche Erzählungen eines vom Schicksal getriebenen Menschen, der bei allen Genickschlägen nicht verbittert sondern sogar weise geworden ist. „I Just Can‘t Cry No More“ oder „Hoe‘s Heart“ etwa bringen diese Weisheit mit einer Sprache zum Ausdruck, die ihre Wurzeln in den dreckigen Nebenstraßen der Glitzermetropole hat. Erst bei Bailey‘s Interpretation des Klassikers „Going Down Slow“ ist man wirklich beim „typischen“ Blues aus Kalifornien gelandet: eine entspannte jazzige Nachtclub-Atmosphäre, soulige Wärme und eine Stimme, die an den großen Bobby „Blue“ Bland erinnert. Wenn dann nicht wieder ironische Untertöne das Bild brechen würden. Und die Angst vor dem nächsten Schicksalsschlag die scheinbar ergebene Haltung des Sängers aufbrechen würde. (Tondef ) Raimund Nitzsche Bare Bones Boogie Band - BBBCD2 Als die Bare Bones Boogie Band 2010 ihr Debüt veröffentlichte, galten sie bei einigen Kritikern schnell als das „next big thing“ in Sachen Bluesrock aus Großbritannien. Punktlich zum 1. Januar 2012 erschien jetzt ihr selbstbetiteltes zweites Album. Musik reduziert bis auf die Knochen, von allem überflüssigen Fett befreit - so könnte man das Konzept der Bare Bones Boogie Band umschreiben. Als no nonsense blues band beschreiben sich die Mitglieder selbst. Und beides meint: Wenn die Truppe loslegt, dann gibt es keine Schnörkel, keinen überflüssigen Zierrat, nur heftig und gradezu gespielten Bluesrock. Wenn Sängerin Helen Turner loslegt, dann wären auch sonstige Zutaten völlig überflüssig. Denn die aus Schottland stammende Sängerin könnte mühelos bei jedem Wettbewerb für die nächste Janis Joplin oder Etta James mitwirken: Jedes Gefühl kommt mit der gleichen Wucht beim Hörer an, mit dem sie es zunächst gefühlt hat. Und was Ian Black (g), Trev Turley (bg) und Andy Jones (dr) machen, ist diese Urgewalt von einer Sängerin ganz fest am Boden zu halten und ihr gleichzeitig den nötige Rückhalt zu bieten. Wobei auch klar wird, wie großartig sie selbst als Musiker sind. Denn nur dann kann man sich eben zum richtigen Zeitpunkt auch zurücknehmen. Um dann gleich wieder loszufliegen, wenn es gebraucht wird. Das zweite Album der vier bringt zehn (bis auf Johnsons „Love in Vain“) von Bandmitgliedern (Hauptsongwriter ist Gitarrist Ian Black) verfasste Songs, die die Liebe zum britischen Bluesrock der 60er und frühen 70er Jahre spüren lassen. Selbst für Blueshasser ist das „Blaue Album“ der Bare Bones Boogie Band einfach nur eine wundervolle Rockscheibe. Vergesst endlich mal den ewigen Britpop! Erhältlich ist das Album direkt über die Homepage der Band. Nathan Nörgel Laurie Morvan Band Breathe Deep 2010 gewann Laurie Morvan für Fire It Up! den Blues Music Award für das beste selbstproduzierte Album. Mit „Breathe Deep“ setzt die Kalifornierin ihren Kurs eines zeitgemäßen Gitarrenblues fort. Auf einem ihrer letzten Alben hat sie mal gesungen „Where Are The Girls With Guitars“. Doch wenn man Laurie Morvan in die Reihe der „Girls with Guitars“ um Dani Wilde, Joanne Shaw Taylor oder Samantha Fish stellen würde, wäre das zwar als Kompliment gemeint. Doch es käme wohl eher als Beleidigung rüber. Denn wenn man sich „Breathe Deep“ anhört, dann ist das eine Frau - und kein Mädchen - die hier den Blues singt und mit lyrischen Gitarrenlinien begleitet. Eine Frau - selbstbewußt und prägnant sowohl in der Stimme als auch auf der Gitarre. Und selbstbewußt auch in den Statements ihrer Lieder, ob es nun um die ewigen Beziehungskrisen des Lebens geht oder aber um die politische und finanzielle Lage. Hier regiert nicht die jugendliche Ungeduld oder der Leichtsinn. Son- auch als Hommage an den großen dern es spricht jemand mit Lebens- Gitarristen verstehen. (Tonecool / erfahrung. Und auch mit den Erin- in-akustik) nerungen an die Wunden, die dieses Raimund Nitzsche Leben einem geschlagen hat. Hightlight des Album ist für mich „No Working During Drinking Hours“. Dieses witzige Lied, doch endlich Schluss mit dem Nachdenken über die Arbeit zu machen, wenn man eigentlich nur noch einen Drink haben möchte, spricht mir mehr als aus dem Herzen. Prost Gemeinde! (Screaming Lizard) Raimund Nitzsche Ori Naftaly - A True Friend Is Hard to Find Double Trouble - Been a Long Time Wirklich: „Been A Long Time“ seit der texanische Gitarrenheld SRV in jenen Helikopter stieg. Doch sein Erbe ist so lebendig wie eh und je, immer neue Zusammenstellungen von Vaughans Aufnahmen vor allem mit Double Trouble kommen auf den Markt und machen immer wieder deutlich, wie großartig dieses Trio mit Tommy Shannon (Bass) und Chris Layton (Drums) eigentlich funktionierte. Dass jetzt erst ein Album unter dem Bandnamen Double Trouble erhältlich ist, hängt einfach daran, dass für den Star des Trios einfach kein Ersatz zu finden ist. Und so ist „Been a Long Time“ auch mehr ein Treffen von Freunden und langjährigen Mitstreitern als ein wirkliches Band-Album. Zu hören sind unter anderem Doyle Bramhall II, Eric Johnson, Johnny Lang und Kenny Wayne Shephard aber auch Willie Nelson und Dr. John. Und diese jeweiligen Bandleader verwandeln das Album ohne falsche Sentimentalität in eine Hommage an den Verstorbenen Stevie Ray Vaughan. Höhepunkt der Scheibe ist für mich, wenn Susan Tedeschi Led Zeppelins „Rock ‚n‘ Roll“ mit einer Energie herausbellt, die der des jungen Robert Plant würdig ist. Aber auch Johnny Langs versoffene Fassung von „Groundhog Day“ ist einfach wundervoll dreckig. Und wenn Dr. John „Baby, There‘s No One Like You“ anstimmt, dann kann man das nicht nur als Liebeslied an irgendeine Frau sondern 26 Als Kind habe er immer zu den alten Bluesscheiben aus der elterlichen Plattensammlung gespielt, erzählt Ori Naftaly. Und genau diesen Klang seiner Kindheit habe er mit seinem neuen Album wiederbeleben wollen. Und so lud er Freunde nicht nur aus seiner Heimat Israel sondern auch aus London, Chicago und Israel in die heimischen LUNA-Studios ein. Bei vier live-Sessions entstand dort „A True Friend (Is Hard To Find)“. Und das ist ein klassisches Blues- und Soulalbum, das dem Rezensenten erstmals verdeutlichte, wie großartig die Bluesszene Israels ist. Wenn es um den Klang der Kindheit geht, dann ist klar, dass man dazu die alten Songs spielen muss: Muddy Waters natürlich. Aber auch Son House, Elmore James oder James Brown. Die Songauswahl ist bei diesem Album nicht das wirklich Überraschende. Sondern die Vitalität und Spielfreude von Gitarrist Naftaly und seiner Band. Und vor allem auch die Power der Gäste am Gesangsmikrophon. Da ist etwa Sagol 59, der in den letzten Jahren sechs Alben als HiphopSänger und MC veröffentlicht hat und zu den Initiatoren der Hiphopszene Israels überhaupt zählt. Inzwischen ist er zu seiner ursprünglichen Liebe zu Blues und Rock zürückgekehrt. Und das merkt man, wenn man ihn „Can‘t Get No Grindin‘“ oder „Don‘t Go No Further“ singen hört: Hier trifft Elmore James auf die heftigeren Nachahmer vom Schlage eines George Thorogood. Als einer der Gründer einer israelischen Bluesszene zählt der in den USA geborene Dov Hammer. Der wurde damals durch den Film „Blues Brothers“ - und besonders durch den Auftritt von John Lee Hooker vor dem Soul Food Cafe infiziert. Begann er ursprünglich als Bassist wechselte er während des Wehrdienstes schnell zur Bluesharp. Das Instrument passt einfach besser © wasser-prawda Platten in die Hosentasche.... Gelernt hat er das Instrument ebensosehr durch das Hören auf die Platten der Klassiker wie Sonny Boy Williamson II oder Little Walter wie durch das Nachahmen etwa von Saxophonisten oder Pianisten in den Bands, die er live hören konnte. Und so ist sein „Help Me“ keine sture Neuauflage des Chicago-Blues sondern eher eine Neuinterpretation aus dem Blickwinkel des britischen Rhythm & Blues der späten 60er. Led Zeppelin und gar Deep Purple zählt der Gitarrist und Bluesharpspieler Dor Nagar zu seinen weiteren Einflüssen neben dem klassischen Chicago-Blues. Und dann ist da noch diese unwahrscheinliche Blues-& Soulstimme von Eleanor Tsaig, die es schafft, den Titelsong mit einer Power und gleichzeitig Leichtigkeit zu interpretieren, dass Vergleiche zu Ruthie Foster oder Rory Block nicht wirklich weit her geholt sind. Als „ausländische“ Gäste hatte Naftaly den in London lebenden Soulsänger Roy Young ebenso eingeladen wie Nave, die Sängerin der amerikanischen Band Tempa and the Tantrums. „A True Friend (Is Hard To Find)“ - ein mehr als willkommenes Fundstück auf einer für mich bislang noch weißen Gegend der BluesLandkarte. Und natürlich auch hier hatte Ori Naftaly eine richtige Idee - eine Reise in die Zeit, als man den Blues in seinem Leben völlig neu entdeckte. So frisch wie hier, haben für mich die Klassiker in letzter Zeit selten geklungen. Nathan Nörgel Bessie Smith - Blues Queen. The Definitive Collection Einen Überblick über das Schaffen von Bessie Smith von 1923 bis 1933 bietet der Sampler „Blues Queen“. Einen Schwerpunkt bilden dabei Aufnahmen, die Bessie mit Louis Armstrong, Bennie Goodman und Fletcher Henderson eingesungen hat. Das Album sortiert die Stücke Chronologisch vom „Downhearted Blues“ (16. Februar 1923) bis hin zu Gimme A Pigfoot (24. Novem- ber 1933). Die bekanntesten Stücke wie der „St Louis Blues“ oder „Nobody Knows You When You‘re Down And Out“ fehlen ebensowenig wie der damals als Pornografie verpönte „Empty Bed Blues“. Allein neun der Stücke sind gemeinsam mit Armstrong entstanden, bei zwei weiteren ist Coleman Hawkins mit seinem Saxophon zu hören und bei den letzten beiden Nummern von der November-Session 1933 begleiten Benny Goodman, Frankie Newton und Jack Teagarden die Sängerin. Als preiswerten Einstieg in das Werk der „Empress of the Blues“ kann man das Album also ebenso empfehlen wie als Ergänzung für Fans, die eine leichter hörbare Version dieser Lieder ins Regal stellen wollen. (Phoenix /inakustik) Raimund Nitzsche Little Milton - Grits Ain‘t Groceries Bluessampler von inakustik Regentage, Einsamkeit, Herzschmerz - es sind Momente wie diese, wo einen der Blues besonders packen kann. inakustik hat jetzt drei preiswerte Sampler mit aktuellen Bluesnummern zu diesen Themenkreisen veröffentlicht. „Blues for rainy days“ spannt den meteorologischen Bogen von „Cold Rain“ (Blues Company), über „Louisiana Rain“ (Samantha Fish) bis hin zum „Warm Rain Falling“ (Jackie Payne Steve Edmonson Band) und dem „Fog On The Highway“ (Miller Anderson). Ein tröstlich-melancholischer Wetterbericht - und (wie auch die anderen beiden Alben) ein Wiederhören mit zu lang nicht gehörten Songs. „Blues for when you are alone“ ist von der Stimmung ähnlich melancholisch. Hier hören wir unter anderem die zur jüngeren Generation der Bluessängerinnen gehörenden Dani Wilde (Abandoned Child), Meena mit ihrer Fassung von „I‘d Rather Go Blind“ und Dana Fuchs („I‘ve Been Loving You Too Long“) sowie altgediente Musiker und Bands wie Chris Farlowe oder die Cadillac Blues Band. Fast rein männlich gehts hingegen auf „Blues for broken hearts“ zu. Hier sind neben einigen schon Genannten auch Ansley Lister, Guitar Crusher, Omar Kent Dykes und Coco Montoya zu hören. Nathan Nörgel Lange lagen die Aufnahmen von Little Miltons Konzert im Rahmen des Wattstax-Festivals 1972 in den Archiven und wurden erst 1984 als LP veröffentlicht. „Grits Ain‘t Groceries“ wird jetzt von Concorde als CD wiederveröffentlicht. Auch wenn der Sänger und Gitarrist längst nicht die großen Hits etwa von Otis Redding oder Sam & Dave vorzuweisen hatte, gelangen ihm nach seinem Wechsel aus Chicago zum Stax-Label in Memphis beeindruckende Aufnahmen vor allem von langsameren Stücken wie „Walkin The Back Streets & Crying“. Dass er aber nicht nur ein Balladenspezialist war, kann man auf „Grits Ain‘t Groceries“ nachvollziehen. Die 1972 im Summig Club von Los Angeles mitgeschnittenen Aufnahmen zeigen ihn auf der Höhe seines Könnens: Rauher als die polierten Aufnahmen etwa von Bland oder King dreht er die Gitarre auf bis zum Feedback. Sein patentiertes Staccato-Picking treibt die fantastische Band voran. Das ist Soul-Blues, Chuck Berry - In The wie man ihn heutzutage kaum noch 1950s zu hören bekommt. (Concord Jazz/ Vier LPs veröffentlichte Chuck in-akustik) Berry zwischen 1957 und 1960. GeRaimund Nitzsche treu der damaligen Praxis enthielten sie die Hitsingles des Künstlers und 27 diverses Füllmaterial. In einer Box veröffentlicht das britische Label Chrome Dreams jetzt diese Alben und ergänzt sie mit den Singles, die es nicht auf die Alben schafften und anderen Aufnahmen, an denen Berry zwischen 1954 und 1960 mitwirkte. Und als Bonusmaterial gibt es Aufnahmen Live-Aufnahmen und Interviews aus späteren Jahren. Klar, diese Hits von ihm hat jeder irgendwo schon in seiner Sammlung stehen. Doch was „In The 1950s“ neben dem ausgezeichneten Booklet zu einem Pflichtkauf macht, ist die Tatsache, dass man hier eben einen kompletten Überblick auch über die Instrumentalnummern oder die unbekannteren B-Seiten seiner Hitsingles bekommt. Auch sind die vielen Coverversionen von Rhythm & Blues Titeln, die Berry auf dem 1960er Album „Rockin‘ At The Hops“ bringt, eher unbekannt heutzutage. In den Bereich der absoluten Raritäten gehören dann die als BonusTitel ausgewiesenen Nummern der dritten CD der Box: 1954 etwa war Berry mit Joe Alexander & Cubans im Studio und spielte Mambo („Oh Maria“, „I Hope These Words Will Find You“). Und 1959 war er Gitarrist für zwei Stücke, die The Ecuadors einspielten. Hinzu kommen noch live-Aufnahmen aus der Alan Freed Show (1956) und der Mike Douglas Show 1972. Bei letzterer trat Berry gemeinsam mit seinem ergebenen Fan John Lennon auf. Und das Gespräch mit Berry, Lennon und Joko Ono aus derselben Show bildet das erste von vier Interviews, die den Abschluss dieser dritten CD bilden. Damit wird diese Box wirklich zu einer großartigen Veröffentlichung, die die Bedeutung Berrys auch für Spätgeborene erlebbar macht. (Chrome Dreams/ in-akustik) Nathan Nörgel Woody Guthrie - Bob Dylan‘s Woody Guthrie Selection Kaum ein Songwriter hat über die Jahrzehnte so seine Bedeutung erhalten wie der vor 100 Jahren geborene Woodie Guthrie. Noch immer nehmen Musiker heute seine Lieder auf oder vertonen Texte auf © wasser-prawda Platten dem Nachlass. Chrome Dreams hat 2011 einen Sampler veröffentlicht, der sämtliche Guthrie-Stücke vereint, die Bob Dylan in seiner langen Karriere jemals gespielt hat. Die Dylanologen durchforsten das Wirken von Bob Dylan bis in jede Einzelheit. Etwa wann er bei welchem Konzert welches seiner Lieder in welchem Tempo gespielt hat. Da lag ein Sampler wie „Bob Dylan‘s Woody Guthrie Selection“ eigentlich auf der Hand. Akribisch listet das Booklet auf, wann Dylan die Songs gespielt oder gar aufgenommen hat. Doch ist die Doppel-CD wesentlich mehr, nämlich eine Zusammenstellung von vielen der besten Songs, die Guthrie je aufgenommen hat. Natürlich fehlen da weder „This Land Is Your Land“ noch „I Ain‘t Got No Home“. Aber auch Traditionals wie „The House of The Rising Sun“ oder „Froggie Went A-Courtin“ oder Songs wie Jimmy Rodgers „Blue Yodel Nr. 8 (Muleskinner Blues“ finden sich unter den 41 Aufnahmen. So ergibt sich ein Überblick über einen großen Teil der Lieder, die beim Folkrevival in den 50er Jahren zu Standards für die jungen Barden wurden. (Chrome Dreams/in-akustik) Raimund Nitzsche Ladysmith Black Mambazo - And Friends Seit fast 50 Jahren gibt es schon die a capella Gruppe Ladysmith Black Mambazo aus Südafrika. Weltweit bekannt wurden sie 1986 durch ihre Mitwirkung an Paul Simons Album „Graceland“. „And Friends“ versammelt auf zwei CDs Kollaborationen mit Musikern zwischen Dolly Parton, Natalie Merchant und dem English Chamber Orchestra. Insgesamt 30 Stücke, die im Laufe der Jahrzehnte entstanden sind, finden sich auf „And Friends“. Das reicht von Stücken mit Paul Simon aus „Graceland“ über klassische Soul- und Gospelnummern (etwa mit den Golden Gospel Singers oder mit Emmylou Harris) bis hin zu einer verblüffend einleuchtenden Fassung von „Knocking On Heavens Door“ mit Dolly Parton. Es ist erstaunlich, wie bei aller Un- terschiedlichkeit der „Freunde“ doch immer der Chorsound die gesamten Nummern bestimmt. Klar gibt es für meine Ohren hier auch Aufnahmen, die die Grenze zum Kitsch eindeutig überschritten haben. „And Friends“ ist ein sehr guter Weg, Ladysmith Black Mambazo kennen zu lernen oder Erinnerungen aufzufrischen. Danach kann man sich auch ihren aktuellen Projekten widmen, auf denen sie verstärkt Stücke aus der Tradition der Zulu interpretieren. (in-akustik) Nathan Nörgel der Macht der Medien, die heutzutage oft schon zu Feinden der Demokratie werden. Das ist politische Musik, wie überhaupt der von Fela Kuti und anderen Heroen popularisierte Musikstil immer auch gesellschaftliche Fragen mit den Mitteln tanzbarer Musik thematisierte. Auch Lieder wie „Tricky Liars“ passen genau da hin. Was JariBu von afrikanischen Musikern der 70er unterscheidet? Wahrscheinlich zunächst mal die jazzigen Exkursionen, die sich die Kompositionen immer wieder leisten. Und auch, das man (wie etwa in „Afro Soul Knows“) deutliche ReggaeEinflüsse hören kann. Dass man allerdings überhaupt nicht hört, woher die Band eigentlich stammt, das macht deutlich, wie international der Afro Beat heute wirklich geworden ist. (Tramp) Raimund Nitzsche Tony Cox - My African Heart JariBu Afrobeat Arkestra - Mediacrazy Afro Beat ist längst ein weltweites Phänomen und wird gern auch zur Würzung ansonsten vielleicht fader Popsounds eingesetzt. Wesentlich ernsthafter geht allerdings das japanische JariBu Afrobeat Arkestra vor. Auf ihrem zweiten Album „Mediacrazy“ fügen sie zu traditionellen Klängen auch Jazz und Funk hinzu. Und vor allem sind ihre Stücke ähnlich wie die ihrer Vorbilder politische Statements, zu denen man tanzen kann. Es ist schon erstaunlich, wie weit sich der Afro Beat in der Welt ausgebreitet hat. Als ich jetzt allerdings „Mediacrazy“ vom JariBu Afrobeat Arkestra erstmals in den Händen hielt - und vor allem als ich die Scheibe erstmals hörte! - , wollte ich den mitgelieferten Informationen eigentlich nicht trauen: Eine so traditionell mit westafrikanischen Rhythmen spielende Band kommt gerade aus der Region von Tokio? Das ist dann schon ganz schön strange, um mal einen grad passenden englischen Ausdruck zu verwenden. Aber eigentlich vielleicht auch nicht: Zu oft haben in den letzten Jahren Rockbands ihre Grooves mit afrikanischen Zutaten veredelt und so auch weltmusikalisch weniger gebildeten Hörern die Ohren für deren Schönheiten geöffnet. Doch die Japaner, die 2009 mit „Afro Sound System“ ihr Debüt veröffentlichten, kan man beileibe nicht in diese Ecke stellen. Das merkt man schon beim Titelsong, einer Abrechnung mit 28 die Geliebte, doch endlich in das passende Gewand zum Ausgehen zu schlüpfen. In der norddeutschen Region werden wohl nur die wenigsten sofort diese Texte verstehen. Doch das ficht die Band um Don Mascon und El Capitain nicht an. Schließlich würden auch nur wenige Leute hierzulande genug Spanisch verstehen. „Salsa Guerrilleros“ hat auch unverstanden das Zeug, jeden Saal zum Tanzen zu bringen. Und eine solche Revolution ist nur zu begrüßen. (Connector Records / in-akustik) Raimund Nitzsche Los Dos Y Companeros - Salsa Guerrilleros Salsa und kubanischer Son serviert mit Texten auf Bayrisch? Seit Jahren schon sind Los Dos Y Companeros mit dieser Mischung nicht nur in Süddeutschland sondern selbst auf Kuba erfolgreich. Ihr neues Album heißt „Salsa Guerrilleros“. Der Erfolg des Buena Vista Social Club vor etlichen Jahren nur bedingt überraschend. Kaum jemand verstand die Texte dieser kubanischen Schlager. Doch wegen der großartigen Musik war das nicht nötig. Selbst auf Bayrisch können Titel wie „Dos Gardenias“ noch überzeugen. Den Beweis dafür findet man bei der Salsa-spielenden Dschungelkämpfertruppe aus der Oberpfalz. Los Dos Y Companeros, die sich „Salsa o Muerte“ als Motto ihrer Revolution gewählt haben, machen auf ihrem neuen Album „Salsa Guerrilleros“ den Versuch, die Salsa ebenso wie den Son heim nach Bayern zu holen. Aus den zwei Gardenien des erwähnten Liedes wird so ein halbbesoffenes Kneipengespräch des Sängers mit seinem vom Liebeskummer gepeinigten Freund. Und aus dem längst schon totgespielten „Quando Quando Quando“ wird die Aufforderung an Als Gitarrist zählt Tony Cox zu den besten musikalischen Exporten seiner Heimat Südafrika. Mit seinem aktuellen Album „My African Heart“ lädt er ein zu einer Entdeckungsreise zwischen Jazz, Pop und afrikanischen Klängen. „China“ ist nicht nur ein Land ist sondern auch ein Begriff für „Freund“ in Südafrika. Diese Anmerkung ist hilfreich, wenn man sich das Album „My African Heart“ in den Player legt. Denn was der Gitarrist und Komponist Tony Cox in dem Opener des Albums abbrennt, ist ein musikalisches Feuerwerk, nichts mit der Kultur Chinas sondern viel mehr mit den Klängen des eines multikulturellen Südafrikas zu tun hat. In seinen Stücken treffen die Traditionen etwa der Zulu auf indische Einflüsse und Anklänge aus Jazz und Ragtime. Und das in durchgängig so mitreißender Art und Weise, dass man beim Mitwippen und Träumen den Winter vor den Fenstern glatt vergessen kann. Eingespielt hat der weiße Gitarrist und Komponist das Werk mit zahlreichen Kollegen seines Landes. Und so ist es eben nicht nur das Herz des Gitarristen, was man hier zu hören bekommt sondern eigentlich ein Blick in das Herz eines Landes, dass es so in der politischen Landschaft kaum gibt: So viel Liebe, Offenherzigkeit und Lebensfreude - und so viel Aufmerksamkeit für die Vielfalt des Anderen ist wirklich selten. (Acoustic Music) Nathan Nörgel © wasser-prawda Feuilleton Warum Menschen immer noch an Hustenbonbons ersticken. Eine Annäherung an Jürgen Landt. Von Erik Münnich Meine erste Begegnung mit Jürgen Landt war die eines Lesers mit einem Autor und dessen Texten. Diese haben mich mitgenommen und immer wieder auf neuem Terrain abgesetzt, ohne mich allein zu lassen. Einfach ausgedrückt: ich war begeistert. Und das hat mit der Vielseitigkeit seiner Texte zu tun: Sie sind zuweilen derb und laut, leise und eindringlich; zuweilen sind sie traurig und verzweifelt, amüsant und zum Brüllen komisch. Und vor allem: Sie verzichten auf unnötigen Schmuck, auf formale Spielereien, auf Nebenkriegsschauplätze und kommen, wie man so schön sagt, auf den Punkt. Was unschön, schlecht oder gar scheiße ist, ist nun einmal so. Warum also beschönigende Worte dafür finden? Das ist ganz sicher kein Alleinstellungsmerkmal, keine Besonderheit, die nur Jürgen Landt ausmacht – er wird auf Grund dessen oftmals mit Charles Bukowski verglichen; ein Vergleich übrigens, den er mit der Feststellung kontert, dass er nur das aufschreibe, was jener vergessen habe. Seine Texte sind aber dennoch eine angenehme Abwechslung innerhalb einer Literaturszene, die immer häufiger zu Nebensächlichkeiten – seichten Inhalten, eigentlich irrelevanten Verkaufszahlen, inszenierten Literaturschaffenden usw. – neigt. alles war noch zu begreifen. auch: warum die präservative so teuer waren, warum die flüchtlinge töpfe und kopfkissen bekamen, warum der bio-rhythmus der frauen so strapaziös ausfiel, warum es nicht die ALLergroße liebe geben konnte, warum kein vanilleeis nach heidelbeeren schmeckte, warum noch immer gedichte geschrieben wurden, warum manche menschen gedichte manchmal lasen, warum der mond an keiner himmelshundeleine hing, warum es krach an der börse gab, warum so viele leben sich das rauchen abgewöhnten, warum immer noch die selbstbefriedigung so hoch in der norm stand, warum das geld gefälscht wurde, warum lippen trotz gepriesener kosmetik einsprangen, 29 © wasser-prawda Feuilleton warum frauen vor und während der periode besonders scharf waren, warum im lotto gewonnen wurde, warum den männern die haare zusätzlich am kinn wuchsen, warum die meisten männer sich mit dem wuchs der haare am kinn abfanden, warum ein mensch einen anderen menschen töten konnte, warum menschen bei der geburt der menschen dabei waren, warum beim platzregen auf der straße ein paar schirme aufsprangen, warum das daseinsgefüge als entwicklung sich auch ganz anders hätte entwickeln können, warum ein steifes glied irgendwann den männern nicht mehr den verstand verdrehte, warum bei den heißen bädern häufig wasser in der wanne war, warum die kaffeebohnen vorm kaffeetrinken in der regel eigentlich hätten gemahlen sein sollen, warum die schiffe noch untergingen solange es noch flüssigkeiten gab, warum philosophien einfach nur herzkettchen ohne anhänger zum tragen blieben, warum slips irgendwo den geist aufgaben, warum tränen nach salz und nicht nach zucker schmeckten. alles war noch zu begreifen! auch: warum das all uns im all in all unseren bewegungen auffing. alles blieb noch zu begreifen! nur nicht: warum menschen immer noch an hustenbonbons erstickten. (mit titel) „keine ahnung.“ sage ich und rolle mich mit meinen angehängten lebenskonserven die 30 meter bis zum klo, mit schweiß auf der stirn, denn mittlerweile weiß ich, was so ein entzündeter dickdarm beim toilettengang auf mich zukommen läßt. aber woher weiß dieser mann, daß der patient mit dem speckkinn, der lacher, in dem großen dunkelroten beutel liegt? der sack war doch zu! ich frag ihn nicht. am abend lacht nichts auf dem flur. nur stöhnen, schreie, roteknöpfedrücken und wieder schnarchen in meinem zimmer mit den sechs menschenvollen betten. „unten steht ein leichenwagen.“ sagt jemand nach dem frühstück, „und was hast du die nacht gehabt?“ frag ich den mann mit seinem sehen. „angst. mein herz wollt auseinanderjagen. und an dir versteh ich nicht, wie du das alles wegsteckst hier. diesen unsagbaren scheiß mit all den leuten, und was alles passiert im zimmer, dieses elend hier, und nie ruhe, was hast du bloß für nerven?“ „gar keine mehr.“ eine schwester kommt rein und strahlt: „männer, ich habe eine ganz tolle nachricht für euch. ihr müßt euch bloß schnell und ohne größere klopperei einigen. ein zweibettzimmer ist gerade frei geworden. wer richtig schön ruhe braucht, in ruhe liegen will, den roller ich jetzt in seinem bettchen rüber. und? wer von den herren möchte?“ niemand meldet sich. „das verstehe ich nicht, ständig beschwert sich Jürgen Landt siedelte 1983 von der DDR nach Hamburg über. Die für jemand, daß die zustände in einem 6 bett zimmer ihn unerträglichen Umstände – die staatlichen Kontrollmaßnahmen unerträglich sind, sie später einen psychiater und die damit einhergehenden Einschränkungen privater wie künstlebrauchen, und nun will niemand raus? na, wen rischer Freiheit – und die Hoffnung, „psychisch durchatmen und übersoll ich schnell mal rüber rollern?“ ich melde mich. leben zu können, wenn [er] die bis in den Geist hinein drangsalierende „schwester, können sie mein bett mal etwas weiund bevormundende DDR hinter [sich] lassen könnte“ waren für ihn ter hier zur seite schieben? ich lieg genau ausschlaggebend. Seine Erika durfte er mitnehmen, seine literarischen unterm fernseher, und das kann ich nicht ab, Arbeiten musste er allerdings zurücklassen. Ein neuer Anfang, ein „Zuich hab angst, daß das ding eines tages runterrück auf Null“ quasi. Er schrieb sich an der Hochschule für Bildende fällt, und mir genau auf den kopf.“ Künste ein – ein Studium, das er erfolgreich absolvierte – und begann auf „so was fällt nicht runter.“ „doch, mir ist schon einmal etwas auf den kopf seiner Schreibmaschine Type-Arts zu erstellen. Heute schwer vorstellbar: gefallen, früher mal, eine lautsprecherbox, von ohne Skizze und in millimetergenauer Feinarbeit hackte er diese in seine der decke, so wie der riesige fernseher hier Schreibmaschine. Schon damals wurde er gefragt, ob er „für die einen oben, ich will nicht länger unterm fernseher Computer benutze“. Dann kam das Schreiben, welches das, was in den liegen, das ding kommt eines tages runter!“ „hier ist noch nie was runtergefallen, denken Typearts bereits angelegt war, konsequent und ohne Rücksicht auf einen etwaigen Markt oder möglichen Leser fortsetzte: „Er knallt dem Leser sei- sie lieber an ihren schlimmen bauch!“ „trotzdem, wenn das teil runterfällt…ich bleib nen Text vor den Latz“, schrieb Jürgen Olejok für die Asphaltspuren, und: hier nicht so liegen!“ Seine Texte „[orientierten] sich nicht an schöngeistigen Formulierungen, sie stöhnt, kickt mit ihrem fuß meine latschen sondern an der rauhen Wirklichkeit des Alltags“. unters bett, tritt im anschluß die bremse los, eine entzündung im darm zieht meinen ständer zu sich ran, mit ihm die und thrombosen im bauch, angeschlossenen schläuche stramm und rollt mich und ich stehe auch nach wochen noch im flur des stumm zur seite. alten krankenhauses rum. an einer abgestellten, mit körperflüssigkei(alles rollt) ten durchsuppten matratze hängt ein angeklebter zettel in krakligen druckbuchstaben: BITTE ABWas in diesem Text angelegt ist, ist charakteristisch für seine Texte. Neben HOLEN! dem Verzicht auf die Großschreibung – was, anders als von verschiedenen Rezensenten oftmals behauptet, überhaupt kein Problem darstellt, nach tagen trägt sie noch denselben zettel, und mein rollender medikamentenständer trägt sondern eben dem nahe kommt, was Literatur auszeichnen sollte: Ernoch immer die flaschen mit den antibiosen, die wartungen zu unterwandern – sind dies auch seine derben, obszönen schneeweiße künstliche nahrung, beutelwasser Formulierungen, die auch schon mal dazu führen, dass einige Texte auf und den perfusor mit mir im schlepptau über den eine Jugendfreigabe hin überprüft wurden. Ebenso zu benennen sind ein flur. hoher Anteil von Dialogen – die zusammen mit den beschrieben Zu- und und schon wieder wird ein prallgefüllter sack Umständen den Eindruck einer gewissen Authentizität erwecken – und auf einem bett vorbeigerollt. die Integration lyrischer Elemente in Prosa und prosaischer Elemente in doch diesmal sagt jemand: Lyrik, welche es schwer macht, diese Texte einer bestimmten Textsorte „das ist der kerl, der vor zwei tagen hier abends auf dem flur noch so dreckig gelacht hat. zuzuordnen, der Lektüre aber einen nur schwer zu beschreibenden Reiz verleiht. Und trotzdem lässt sich eine eingangs bereits erwähnte Ablehweißt, wen ich meine? der dicke mit dem speckkinn.“ nung eines Formbewusstseins für seine Arbeiten konstatieren, weil dieses 30 © wasser-prawda Feuilleton für ihn nur eine Spielerei darstellt, die vom Wesentlichen ablenke – von der Kraft, die Literatur hat, und von den Möglichkeiten, die Literatur bietet. und der notarzt schickt dich zurück aufs kettenkarussel. und der wicht im kartenhäuschen schnottert dem wegschlendernden dok hinterher: „den will ich nicht schon wieder, den hat ich schon zig mal, der löhnt nichts mehr!“ du hakst nicht einmal mehr die dünne kette vor den fliegenden sitz, doch es nützt nichts, die fliehkraft der sinnlosen tage hält dich fest beieinander. „aussteigen!“ und du schaust in eine gräßlich entstellte fratze und denkst: ‚dem hab ich mal ‚ne karte abgenommen?’ „aussteigen, hab ich gesagt!“ und du steigst aus und fragst nach keinem nichts zurück, nach keinem entgegengesetzten dreh. „faß mich bloß nicht an, du!“ drohst du der fratze an, und möchtest doch eigentlich gehoben werden. „ruf mal einer den notarzt!“ hörst du zwischen dem vergnügungsgeplärre, und bevor dich ein nächster aufgeklappter koffer erwischt, findest du dich in der erstaunlicherweise eintrittsfreien abstrusitätenbude, zwischen gespensterbahn, spiegelsaal und boxerpavillion, neben der bärtigen frau mit den sechs freigelegten brüsten und dem blauhäutigen mann mit seinen drei zugewachsenen augen wieder. „kommst mit ins bett?“ fragte die frau. „jetzt schon?“ gähnte der mann. „na, was willst denn sonst machen?“ hörte er wie hinterm schall. „wir können uns ja auch schon vorher an die geschlechtsteile fassen.“ antwortete der mann. „und dann?“ fragte sie nach. „dann können wir immer noch ins bett gehen.“ besaften, das einzige was blieb. „weißt du, manchmal komm ich mir vor wie im kettenkarussel. das ganze leben, ein einziger rummelplatz.“ „schön wärs.“ „ich mein, alles dreht sich wie im kreise, die jahre flitzen wie im rausch vorbei. mir ist, als drehe sich alles immer schneller. wiederholungen über wiederholungen, manchmal wird mir richtig schlecht.“ “das bildest du dir nicht nur ein, das ist auch so.“ gab der mann ihr recht und gähnte erneut. „nimm wenigstens die hand vor’n mund, wenn du gähnst. du müßtest dich mal sehen, das sieht fürchterlich aus, wie bei einem gelangweilten raubtier im käfig. irgendwann stellen sie dich noch auf’em jahrmarkt aus oder in hagenbecks tierpark.“ “ich hab mal ein buch gesehen, da war eine frau mit sechs brüsten drin und ein kerl, der hatte mehrere schwänze, sah aus wie ein kuheuter, und ein anderer hatte wasserhoden, und der typ saß auf einem hocker und das zeug hing an ihm runter und hatte sich auf dem boden breitgemacht wie ein mittelgroßer krake, ich mein, wie ein leib von einem kraken, ohne arme und so, und in demmin lief ein mann rum mit blauer haut.“ „und was hat das jetzt damit zu tun?“ fragte die frau. „nichts. ich mein ja bloß. aber vielleicht hats doch was damit zu tun, wie mit allem, ich weiß nicht, hör bloß auf mit diesem kettenkarussel.“ „aber es geht immer schneller, woran liegt das bloß?“ „das liegt an dem übersehen der dinge, wenn ein mensch älter wird, ich meine nicht ein wirkliches übersehen, eher, das einem das alles nicht mehr so anficht, weißt du? die spannung ist raus, nicht mehr jeder neuer tag ist ein erlebnis, ist kein abenteuer mehr, bringt einen nur näher zu einem haufen maden oder auf’n rost im krematorium.“ „aber gerade deshalb müßte ja alles langsamer laufen, wenn man sich langweilt. die tage und nächte sind dann doch einfach länger.“ „weiß auch nicht, warum einem der ganze scheiß sone schnelligkeit suggeriert, ich mag auch 31 © wasser-prawda Feuilleton te ihn nach einer weile eigenartig losgelassen wieder aus. der mann wartete bis die frau die kleine lampe löschte, dann ging auch er ins dunkle nebenan. (dann ging auch er ins dunkle nebenan) Auf inhaltlicher Ebene sind seine Texte ebenfalls durch eine breite Vielfalt gekennzeichnet. Die Auseinandersetzung mit den Lebensumständen in der DDR, welche nicht die für diese oftmals grundlegenden Perspektiven bedient, sondern „die Sicht eines Außenseiters, der keinen politisch motivierten Oppositionellen darstellt, sondern auf das Recht der Individualität pocht“ und die in seinen Texten mit dem Protagonisten Peter Sorgenich verbunden ist, ist eines der häufig wiederkehrenden Themen. Die Darstellung der mit verschiedenen Protagonisten verbundenen Alkohol- und Spielsucht steht hinter diesem aber keineswegs zurück. Diese ist zuweilen amüsant und urkomisch, zuweilen tragisch bis hoffnungslos, verzichtet aber immer auf den Einsatz gesellschaftlicher Klischees und Sterotypen. Daran schließt der Versuch an, die eigene Depression zu verarbeiten, sie in Worte zu fassen und der es schafft, dieser Krankheit schöne wie traurige, abstoßende wie zutreffende Worte zu verleihen und auf die vor allem durch die Medien transportierten Vorurteile zu verzichten. Und schlussendlich spielt natürlich auch das weite Feld der Liebe eine nicht unwesentliche Rolle. Dieses wird in allen Facetten und Abgründen dargestellt. nicht schon wieder an weihnachten denken.“ „müssen wir aber, die kinder freuen sich drauf, für die war das ein langes jahr.“ „als kind ist mir schon in einer ‚berg-und-talbahn’ schlecht geworden.“ „warum lenkst du denn jetzt ab?“ wollte die frau von ihm wissen, „die kinder haben ein recht auf weihnachten.“ „boxer hätte man werden sollen, dann wüßte man wenigstens am ende, warum man solche zerhackte fresse hat.“ „und ein hängearsch? kriegt man den auch vom boxen?“ ‚ne, vom täglichen abhängen auf der schüssel.’ dachte der mann und behielt es für sich, fragte stattdessen: „und hängetitten?“ „dicke hängetitten fandst du doch immer geil bei anderen.“ „das ist was anderes, als wenn man sie jetzt täglich hat.“ „guck mal, der mond scheint buttergelb am schwarzen himmel.“ der mann schaute in die nacht. es stimmte, das ding sah aus, wie ein rundes, fettes stück markenbutter von ‚NORMA’, nur viel gelber und uneingewickelt. „wenn wir jetzt hier was machen würden, würd uns der butterkopfvoyer am nachthimmel nicht mal die pickel am arsch einfetten können. das ding ist machtlos wie alles andere.“ „und was machst du, wenn dein schwanz mal in falten hängt?“ hakte die frau urplötzlich nach. „kettenkarussell.“ antwortete der mann. irgendwie war der frau danach, dem mann ihren schminkspiegel zwischen die beine zu halten, doch sie ging sich nur wortlos die zähne putzen. der mann schaute noch einmal zum mond, wollte grienen, doch die buttergelbe scheibe ließ sein grienen nicht zu, erfror sein wollen mit einer für ihn nicht nachvollziehbaren ins zimmer drängenden himmelshemmung, und er wunderte sich über sein nicht können wollen, hörte seine frau ins schlafzimmer entschwinden, wußte von ihrem frischen zahnpastageschmack, verharrte abwesend und wie von irgendwas verpackt, angewurzelt auf dem teppich, nur sein gähnen lös- der kleine kerl war fünf, stand plötzlich in voller plastikritterüstung im zimmer, zog sein kunststoffschwert aus der plastikscheide seiner ausrüstung und schlug es mit aller kraft auf den nackten, haarigen hintern des mannes. der mann lag auf der oma des kleinen ritters und hatte gerade schwitzend mit seinem penis in ihr herumgestochert. als der mann erschrocken rausfuhr und sich umdrehte, flitzte der kleine ritter mit erhobenem schwert zur tür hinaus. „dieser freche satan, der!“ blickte seine oma kreischend unter dem mann hervor: „der bengel wollte doch im garten sein und die hohen brennesseln köpfen!“ „von wegen, jetzt hat er doch gezeigt, wer für ihn hier das unkraut ist, und ich dachte immer, der junge mag mich!“ der mann langte an seinen hintern: „das brennt richtig!“ „jetzt weiß er wenigstens, wie er entstanden ist, mach kein theater, mach weiter, ich war gerade so schön in fahrt.“ die oma des kleinen ritters ließ sich zurück in die horizontale fallen und machte einfach wieder die beine breit. der mann zog die hand vom hintern zurück, stand auf, schloß die tür, langte sich zwischen die beine, stimulierte sich ein wenig und flutschte mißmutig und reserviert erneut in die frau. ihm ging der schlag nicht aus dem kopf, und als er nach einer weile über seine schulter blickte, stand der kleine junge mit heruntergeklapptem visier und dem aufgerichteten schwert in der geballten faust still und steif verharrend im türrahmen. (rittschläger) Wer sich selbst einen Eindruck verschaffen möchte, dem sei die im März beim freiraum-verlag erscheinende Veröffentlichung bisher unveröffentlichter und neuer Texte sowie verschiedener Typearts von Jürgen Landt ans Herz gelegt. Zitate Ronald Klein: Der Sonnenküsser. Ronald Klein im Gespräch mit Jürgen Landt, für: http://www.satt.org/. Interview verfügbar unter: http://www. satt.org/literatur/08_09_landt.html. Jürgen Olejok : Zwischen Poesie und alltäglichem Wahnsinn, in: Asphaltspuren 2011. Beitrag verfügbar unter: http://asp.leseattacke.de/index. php?option=com_content&view=article&id=167:juergenlandt&catid=49: autorenprofil&Itemid=94. (Die Asphaltspuren sind ein Literaturmagazin, welches in gedruckter Fassung erscheinen. Eine Vielzahl der Texte sind auch unter http://asp.leseattacke.de/ online abrufbar.) 32 © wasser-prawda Interview Verstehen ist, eine Melodie weiter pfeifen. Der Lyriker und Verleger Bertram Reinecke im Gespräch mit Erik Münnich Bertram Reinecke, 1974 in Güstrow geboren, studierte in Greifswald und absolvierte das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig. Nach der Veröffentlichung von zwei Gedichtbänden – An langen Brotleinen (2000) und Chlebnikow am Meer (2003) – gründete er 2009 den Verlag Reinecke & Voß. In diesem Jahr ist sein Band Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst als roughbook 19 bei Urs Engeler erschienen. Erik Münnich sprach mit ihm über Lyrik, das Verstehen sowie seine Projekte als Lyriker und Verleger. Erik Münnich: Lyrik spielt, möchte man meinen, nur eine untergeordnete Rolle in Bezug auf den gegenwärtigen Literaturmarkt. Dem großen Teil des Publikums scheint sie gar abträglich zu sein. Bertram Reinecke: Es kommt drauf an, wie man guckt. Natürlich ist, wenn man sich den Buchmarkt ansieht, Lyrik sehr schmal vertreten, grade die Gegenwartslyrik. Es gibt natürlich trotzdem noch Formen des Umgangs mit dem, was man Lyrik nennt. Es gibt die Songtexte im Radio, in Gottesdiensten. Es gibt Poesiealben, die immer mal wieder Mode werden und dann haben es plötzlich alle. Man merkt natürlich, dass in der Schule, in der Gesellschaft Lyrik nicht mehr die große Rolle spielt und dass das schädlich für die Lyrik ist. Man merkt eine gewisse Unbeholfenheit, zum Beispiel wenn mal diese Mode des Poesiealbums mal wieder auftaucht, merkt man wie die Leute gar nicht mehr wissen, wie man mit dieser Form produktiv umgehen kann. Und trotzdem wird diese Form noch Mode. Es gibt ein Bedürfnis nach kurzen Texten, das dann auf andere Weise – vielleicht jetzt durch Facebook – befriedigt wird, aber, sagen wir mal, es gibt noch den basalen Bedürfnisraum für Lyrik. Und ich glaube, das ist eine Stelle, wo man immer wieder aufbauen kann. ist die Vorbereitung der Auseinandersetzung mit den Formen, die Du wählst, und wie umfangreich ist die tatsächliche Arbeit? Bertram Reinecke: Dichtung als Forschung, das klingt sehr anspruchsvoll. Und welche Vorbereitungen nötig sind, das beinhaltet auch die Frage: wie ist mein Schreiben in das Konventionssystem eingebettet, das ich vorfinde. Die Frage nach der Vorbereitung könnte man auch an das Publikum stellen. ( Erst die zweite Frage wäre, was ich wisDas hat mit meiner Lyrik natürlich nur mittelbar sen und was ich getan haben muss.) Und so gezu tun; aber doch insofern, als dass Formen eine stellt ergeben sich ganz andere Antworten, als Möglichkeit des Zugangs sind zu Lyrik. Wenn man vielleicht erwartet. man eine Form hat, dann hat man immer auch eine Leseanweisung, wenn man sie kennt. Das Zunächst ist es mal legitim, wenn man nicht alles muss man dann natürlich kennen, aber das ist versteht. Es ist ja, wenn man in ein Konzert geht, leichter zu lernen als neu vor einem Gedicht zu für einen völlig normal, dass die Gedanken auch stehen, es geheimnisvoll zu finden und sich ir- mal wegkreiseln, mal über anderes nachdenken gendwie Ergriffenheit abzunötigen. Wenn man und dass ein Konzertbesucher nicht aus einem eine Form hat, hat man immer einen Einstieg, Konzert kommt und sagt: „Der Komponist hat wie man an diese Sache rangehen könnte und jetzt hier die Tonika, dann kam die fünfte Stufe wenn man das ausprobiert, kommt man oft ei- usw.“, ein Verständnis der Musik, das dem Vernen Schritt weiter. Und das ist ein Aspekt, der ständnis, was einem Verständnis gleichkäme wie mir an Form auch relativ wichtig ist. Es gibt na- wir es uns in der Schule bei Texten versuchen türlich noch viele andere Aspekte. zu erschließen. Das ist eine Illusion die aus dem Deutschunterricht kommt. Erik Münnich: Von Dir stammt der Satz: „Dichtung ist Forschung.“ Deine Arbeiten weisen viele Die Idee des Verstehens ist erwachsen aus der Bezüge zu anderen Texten auf und Du versuchst, Idee der Kontrolle, dass der Lehrer nämlich wisFormen kreativ umzusetzen. Wie umfangreich sen muss, ob der Schüler das begriffen hat, was er 33 © wasser-prawda Interview gesagt bekommen hat, dass das abgefragt werden muss. So kommt das Verstehen, dass man sagen kann, das Gedicht handelt davon, das Gedicht sagt das und das, durch die Schule in die Welt. Es wäre im Gegensatz dazu völlig legitim zu sagen „natürlich verstehe ich Celan, ich kann aber nicht sagen, was das heißt.“ Dieser Satz gilt aber als falsch und irgendwie seltsam. Verstehen ist eigentlich etwas anderes als das, was wir in der Schule als Verstehen lernen. Und wenn man mit dieser Gelassenheit Texten gegenübertritt, alles, was man in Deutsch gelernt hat und vielleicht auch im Literaturwissenschaftsstudium, mal vergisst und die Freiheit gewinnt, sich einfach mal auf Texte einzulassen, dann bekommt man eigentlich von meinen Texten, glaube ich, viel mehr mit, als man nachvollziehbar sagen könnte. Und darum geht es mir. Das ist die eine Seite: wie muss das Konventionssystem vorgebahnt sein beim potentiellen Leser. Und dann gibt es natürlich noch die Seite: was muss ich wissen, wenn ich den Text schreibe. Und auch ich muss nicht alles in der Hand haben. Das unterscheidet mich vielleicht gar nicht so sehr von anderen Gegenwartsdichtern. Es geht gar nicht darum, das und das zum Ausdruck zu bringen. Kaum ein Dichter schreibt so. Nur Deutschlehrer tun immer so, als wäre das in den Texten drin. Bei Dichtung geht es viel stärker um Möglichkeitsformen. Welche Möglichkeiten des Sprechens gibt es und wie kann man daran anschließen. Die moderne Dichtung, zum Beispiel, ist voll von gezielten Doppeldeutigkeiten. Das wäre ja völlig sinnlos, wenn es darum ginge, anschließend Interpretationen davon herzustellen. Und so arbeite ich auch. Ich muss nicht in der Hand haben, was der Leser nachher im Kopf hat. Ich muss nur bereitstellen und da muss ich dann schauen, dass grammatisch bestimmte Dinge möglich sind und andere Dinge ausgeschlossen. An diesen Stellen grammatische oder semantische Hebel zu stellen – welches Wort welcher Kategorie das ist usw. – eine mikroskopische Arbeit eher, da habe ich zu arbeiten, die „Gesamtbedeutung“ ist wenig interessant, ergibt sich darüber hinaus ganz ohne Zutun. (Und damit es mir nicht zu leicht fällt, arbeite ich mit Fremdmaterial, Dateien mit bis zu 1500 Seiten.) Und das tue ich dann eben so. Erik Münnich: Viele Rezipienten gehen aber nicht mit diesen Grundvoraussetzungen an deine Arbeiten. Ist es dadurch nicht sehr schwierig für Dich, als Lyriker Gehör zu finden oder hast Du mittlerweile gar viel mehr Möglichkeiten als beispielsweise noch vor drei Jahren? Bertram Reinecke: Meine Möglichkeiten wachsen. Man macht auch oft Kompromisse. Natürlich kann ich auch – das steht mir frei, interessiert mich bloß nicht so sehr – etwas so bauen, dass die Leute das Gefühl haben, „aha, das versteht man.“ Du hast vielleicht auch bei meiner Lesung gemerkt, dass es einige Texte gab, die sich leichter erschließen, und andere Texte, die sich schwerer erschließen. Bei einigen Texten ist ja ganz klar, wo die Überraschung, der inhaltliche Witz liegt. Außerdem wächst mein Möglichkeitsraum, und vor allem wächst mein Möglichkeitsraum mit spröden Texten, mit Sachen, die mich wirklich selbst interessieren, auch Gehör zu finden. Wenn man junger Lyriker ist, wird man dafür gebucht, dass man als irgendwie interessant gilt, was man macht, vielleicht auch gut über Dichtung reden kann. Und dann erwarten die Leute was Verständliches. Auch in Leipzig gibt es Gruppen, die von mir immer nur sowas abfordern. Und jetzt zusehends finde ich ein Publikum – ob in Berlin oder Leipzig – das auch das andere von mir hören will. Und da ist es natürlich so, dass man dann eine Marke verkörpert und sich diese erarbeiten muss und diese Marke ist natürlich auch immer wieder problematisch, weil man, wenn man eine Marke zu sehr verkörpert – experimentelle Texte zu schreiben – dann schalten die Leute auf eine andere Weise wieder ab; nach dem Motto: „Das ist was Intellektuelles, das ist was Experimentelles. Das muss ich nicht verstehen. Das lass ich zum einen Ohr rein rauschen, zum anderen Ohr raus.“ Wer zu sehr diese Marke des Experimentellen verkörpert, fängt an daran zu leiden. ich noch habe, ffalls mich mal jemand nach neuem Material fragt. Erik Münnich: Welche Programmschwerpunkte hat Dein Verlag in diesem Jahr? Knüpfst Du hier an die Projekte, die Du in den letzten Jahren publiziert hast, an? Bertram Reinecke: Im Grunde ist innerlich natürlich immer eine Linie. Und auch als Verleger geht es um Marken. Es ist immer schwierig, die nach außen zu repräsentieren. Aber es entwickelt sich jetzt in der nächsten Zeit zwei Schwerpunkte: Sprache und Osteuropa. Wir haben einen Band mit Gedichten des polnischen Lyrikers Miron Bialoszewski. Linguistische Poesie oder Reismus heißt die Richtung in Polen. Vergleichbar sind die Texte ein bisschen vielleicht mit bestimmten Strömungen von dem, was konkrete Poesie ist in Deutschland; also vielleicht vergleichbar mit den Gastarbeiterdeutsch-Texten von Jandl. Das passt sehr gut zu dem Krutschonych, dem Erfinder des Lautgedichts auf Russisch. Das passt auch einigermaßen gut zu Hoprich, der aus Rumänien kommt, das zwar zu Südosteuropa gehört, aber das ist natürlich auch der Blick nach Osten. Ein Buch über die Sorben ist gerade erschienen, was sich mit der sorbischen Sprache und Kultur in ironischer, aber auch melancholischer Weise auseinandersetzt. Jürgen Buchmann hat dieses geschrieben, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, bedrohte Sprachen und bedrohte Völker ins Bewusstsein zu rücken. Außerdem wird im Laufe des Jahres etwas über das Irische von ihm erscheinen, ein fiktives Feature. Eine Form, die von meinem Interesse an Form her gedacht, sehr selten ist. Und ein zweiter Text in dieser Form, von Ulf Stolterfoht, wird auch bei uns erscheinen. Ulf Stolterfoht ist ein sehr profilierter, experimenteller Lyriker – ich mag das Wort nicht, aber man versteht sich darüber – der ein fiktives Feature über den Literaturbetrieb macht und das sehr sehr lustig ist. Ann Cotten geht es zum Beispiel so. Die wünscht sich dann das Andere. Da muss jeder Lyriker seinen Weg durch finden. Und das ist immer ein Kompromiss irgendwo. Man macht es mal so und mal so. Erik Münnich: Welche Veröffentlichungen sind von Dir in Planung bzw. schon fest? Erik Münnich: Du hast an Deine eigenen Arbeiten sehr hohe Ansprüche. Leidet darunter Deine Bertram Reinecke: Einmal ist das die Shock Arbeit als Verleger? Edition 3 vom distillery-Verlag. Für die, die es nicht kennen: Der kommt aus der Ecke der LiBertram Reinecke: Umgekehrt ist es im Mo- teratur der Nachwende-Zeit. Ein experimenteller ment stärker so. Im Moment versuche ich, und Affront gegen die betonierte Sprache der DDR. es gelingt mir auch, den Verlag auf ein ruhiges Bert Papenfuß, Sascha Anderson gehören dazu. Arbeiten – dass der Verlag läuft – zu bringen, Diese Szene hat sich gemischt mit einer, ich sage dass ich wieder mal mehr Texte schaffe. mal, „Social-Beat“-Kultur aus dem Punk-Mileu, Aber es war wirklich so, dass, als ich den Verlag die sich in Neukölln angesiedelt hat. Und diese gegründet habe, sehr wenige Werke noch ent- eigentlich immer für inkompatibel gehaltenen standen sind. Erst jetzt komme ich dahin, dass Strömungen gehen in der Zeitschrift floppy myich das so austariert habe, dass das Schreiben und riapoda eine spannungsvolle Mischung ein. Und das Verlegen gleichzeitig geht; weil meine Texte diese Redaktion macht eine Lyrikreihe, wo ich wirklich sehr aufwendig sind im Entstehungs- mit einem Heft vertreten bin und was für mich prozess und sich eine Woche nur mit einem Text sehr spannend ist. zu beschäftigen, das geht eben nur manchmal Und außerdem hat roughbooks, das ist die neue und das ging, als ich den Verlag gegründet hat- Buchreihe von Urs Engeler, einen Band von mir, te, erst einmal überhaupt nicht. Ich habe da sehr worüber ich sehr stolz bin. Hier sind vor allem dran gelitten. Andererseits war es auch so, dass Montagen vertreten. Im freiraum-verlag wird ein ich schon sehr viel geschrieben hatte, was nicht illustriertes Kunstbuch zu meinen Dylan-Thopubliziert war. Da konnte ich es mir auch mal mas-Übersetzungen kommen. Und das ist für eine Weile leisten, bisschen ruhiger zu treten. Als mich ganz erstaunlich: als Lyriker ist es immer im Januar mein neuer Band erschien, hatte ich schwierig, einen Verlag zu finden. Dass ich drei danach fast nichts Unveröfentlichtes mehr in der auf einem Haufen habe, ist eigentlich so was wie Schublade. Jetzt gibt es wieder einige Texte, die ein Paukenschlag. Ich bin sehr gespannt, was da- 34 © wasser-prawda Interview gleicht, dann gewöhnt man sich einen ganz großen Teil von Lyrik einfach ab. hig zu machen. Zum Beispiel den Lexikoneintrag als quasi lyrische Form zu benutzen. Erik Münnich: Gibt es darüber hinaus länger- Dann würde ich gerne, das scheitert aber an zeitfristige Projekte? Hast Du Lust auf neue, unbe- lichen Gründen, viel mehr mit Lautpoesie makannte Formen, die Du bisher noch nicht aus- chen. Da gibt es natürlich ein sehr hohes Niveau, da muss man auch, wenn man weiß, was es da probiert hast? gibt, sehr vorsichtig sein. Das ist sowieso etwas, Bertram Reinecke: Das ist immer verschieden. was viele Lyriker nicht so zu spüren scheinen, wo Auf der einen Seite ist das Projekt mit den Cen- ich immer sauer bin: die wissen oft nicht, wo ei- Und dann muss man gucken, ob das Reich noch tos – also Texte komplett aus fremden Zeilen gentlich der Hammer hängt. Ich lese sehr viel. groß genug ist, was zu machen, was einen selbst interessiert. zusammenzusetzen – ein riesiger Kontinent, auf Und dann macht man viele Dinge nicht. dem ich ganz alleine schiffe, so dass da noch ganz viel passieren kann. Auf der anderen Seite habe Also, wenn man bei Arno Schmidt in Prosa hört, Wo ich auch sehr dran bin, ist die Poesie von ich aber auch, vermittelt durch, das muss man welche Mondmetaphern der hat, sterben ganze Sprachlehrbüchern. Die Poesie hat viel mit, Jaschon so deutlich sagen, biografische Einflüsse, Gedichtformen für mich weg, die aber auf dem kobson hat das gesagt, Auswahloperationen zu immer mal das Bedürfnis, anderswo hin zu sprin- Lyrikmarkt der Gegenwart noch ganz präsent tun und es gibt in Sprachlehrbüchern immer Auswahloperationen, weil die einfach noch nicht gen – beispielsweise, wenn man eine Beziehung sind. alle Wörter kennen, noch nicht alle grammatihat und das Gefühl, man möchte dieser Dame schen Formen. Und da gibt es Sachen, die haben auch mal ein Liebesgedicht schreiben können – eine natürliche Poesie, die über Poesie manchmal dass man dann plötzlich wieder auf der Suche kaum zu übertreffen ist. Und da trotzdem Poesie nach etwas ganz anderem ist, was dann natürlich draufzusatteln, das ist etwas, was mich im Momanchmal auch einfach Nebenwerke sind. ment auch sehr interessiert, wo ich auch einige Sachen schon gemacht habe und sicherlich noch Was ich jetzt für mich entdeckt habe und wo einmal andere Sachen machen werde. ich das Gefühl habe, in die Richtung kann auch nach mit mir passiert. noch viel passieren, ist Sachgattungen literaturfä- Wenn man sieht, wie Proust in einem Satz Gesichter mit Koffern, mit Landschaften ver- Dem Meer abgelauscht Mit „Letzte Fischer“ gelangte Volker Harry Altwasser 2011 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Uwe Roßner sprach mit dem gebürtigen Greifswalder über seinen abstürzenden Laptop, den Glanz von Buchpreisen und die Freiheit des anderen Erzählens. Herr Altwasser, seit ihrem Debüt „Wie ich vom meinen Verlag Matthes & Seitz in Berlin heran. Ausschneien loskam“ im Jahre 2003 ist viel passiert. Wie würden Sie das beschreiben? Wie erlebten Sie das Jahr 2011? Altwasser: Der bisherige Höhepunkt. Nach dem Altwasser: Viel offizieller Stillstand und viele Jah- Sommer überschlugen sich für einen in Mecklenre des Schreibens und des Suchens, des Kürzens, burg-Vorpommern geborenen Menschen zwei des Wegwerfens und Neuüberlegens, des Schei- große Ereignisse kurz hintereinander. terns, des Verzweifelns, des Abwenden und doch Weitermachen. Die vier letzten Rostocker Jahre Was bedeutet Ihnen die Longlist-Platzierung des waren gut. Zudem kam ich mit „Letzte Haut“ an Deutschen Buchpreises? 35 Altwasser: Das war eine sehr gute Überraschung. Mein Verlag hatte das Buch ohne mein Wissen eingereicht. Auf solche großen Dinge hatte ich nie den Fokus gelegt. Danach erhielten Sie in Hamburg den Italo-SvevoPreis. Altwasser: Das Schöne war, es kam so zufällig, so ungeplant. Für mich war immer klar, Schriftsteller werden zu wollen. Irgendwann muss man sich © wasser-prawda Interview dann hinsetzen und ein paar Bücher abliefern, Viele Autoren aus Mecklenburg-Vorpommern haum auch glaubwürdig zu bleiben. ben sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht. Zu nennen wären dabei Judith Zander, Wie ist es heute für Sie, als freischaffender Schrift- Judith Schalansky oder Peter Wawerzinek. Sind steller zu arbeiten? Schreibende aus MV derzeit im Kommen? Altwasser: Der Buchmarkt hat sich verändert, ich nicht. Mein Leben ist das gleiche wie nach dem Studium am Literaturinstitut in Leipzig 2003. Ich kann mich schwer verbiegen. Ich erlaube mir das paradiesisch zurückgezogene Leben eines Schriftstellers. Meine Bücher sollen sich in den Markt drängen. Mal sehen, wie lange das gut geht. Wie hat sich Ihr Schreiben verändert? Altwasser: Die letzten dreizehn Jahre waren nötig, um meine Spezialität herauszuarbeiten zu können. Man sagt auch, mit vierzig sei man als Schriftsteller noch ein junger Dachs. Wie sieht ihr Arbeitsalltag aus? Altwasser: Es ist nicht neu oder im Kommen, sondern es kehrt wellenförmig wieder. Die Tradition ist sehr, sehr weit. Alfred Döblin kommt aus Pommern. Koeppen, Fallada, die Barocklyrikerin Sibylla Schwarz und Uwe Johnson auch. Es sind immer Prosaautoren. Ich glaube, das Erzählen kam man im Norden, speziell im Nordosten sehr gut lernen, weil so wenig Ablenkung da ist. Wir sind hier geboren, holen unser Rüstzeug uns woanders und bleiben meistens auch dort. Ich bin allerdings einer der Wenigen, der zurückgekommen ist. Worin unterscheidet sich die literarische Qualität dieser Erzähltradition? Altwasser: Sie liegt beim Bestehen auf der FreiAltwasser: Ich schreibe drei bis vier Stunden am heit, anders zu erzählen. Döblin hat eine ganz Tag. Die andere Zeit denke ich nach, recherchie- neue Erzähltechnik herausgearbeitet. Koeppen re oder lese viel. Bei einem Manuskript schaffe hat seine langen, intensiven Sätze. Ich glaube, ich fünf Seiten am Tag. Ich habe einen kleinen wir erfinden im Nordosten nicht unbedingt etLaptop, den ich schon längst hätte wegschmei- was Neues, sondern etwas Anderes, weil wir hier ßen sollen. Freunde haben mir das gesagt. Bei oben einen geschützten Raum haben. dem ist die Lüftung kaputt und nach einer Stunde läuft der so heiß, dass er dann immer abstürzt. Wie stehen „Letztes Schweigen“, „Letzte Haut“ und Da muss ich sehr konzentriert arbeiten und „Letzte Fischer zueinander im Verhältnis? rechtzeitig speichern, um eine Pause machen zu können. Dieser technische Rahmen gefällt mir Altwasser: Als Deutschlandtriologie waren sie beim Schreiben. ursprünglich nicht geplant. Es hat sich so ergeben. Immer sind es die letzten Dinge: bei „Letzte Was ist Schreiben für Sie und was hat es mit der Haut“ das Ende des Nationalsozialismus, beim Erzählhaltung des Pragmatikers auf sich? „Letzten Schweigen“ das Ende der DDR und bei „Letzte Fischer“ ist es das Ende der Welt, wie Altwasser: Die Erzählhaltung ist sehr wichtig wir sie kennen. Der Anspruch ist, das Ende einer für mich. Die sieben Jahre waren nötig, um die gesellschaftlichen Entwicklung herauszuspüren. Spezialität des Schreibens herauszuarbeiten zu Das interessiert mich immer und dies mit einer können. Aus sich heraus eine Erzählhaltung zu Biografie zu verknüpfen. finden. Ein Schriftsteller muss immer verschiedene Autorenhaltungen haben, um die jeweilige Ihr Hochseeepos „Letzte Fischer“ ist auch eine HomGeschichte am besten erzählen zu können. Das mage an das Erzählen. Was reizte Sie daran? ist ein komplizierter und schwer erklärbarer Prozess. Das ist ungemein wichtig für mich. Dann Altwasser: Ich habe überlegt, wo kommt das Erkann ich erst anfangen. zählen her und war relativ schnell beim Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“. Ich dachte, was ist der Fisch wirklich. Die Angler und Hochseefischer müssen etwas zu erzählen haben, weil sie so lange schweigen. Sie hören der See zu. In der Kneipe werden sie nach dem dritten Bier redselig. Das habe ich versucht auf eine literarische Ebene zu heben. Was fasziniert sie eigentlich an Seefledermäusen? Altwasser: Das Aussehen, ihre skurrile Art der Fortbewegung und es sind Tiere, die es seit Ewigkeiten gibt, aber noch nicht so in der Literatur oder in der öffentlichen Wahrnehmung aufgetreten sind. Wie sind Sie auf dieses Tier gestoßen? Altwasser: An „Letzte Fischer“ habe ich an die fünfzehn Jahre gearbeitet. Beim Durchblättern eines Fischlexikons fand ich diese Fischart auf der vorletzten Seite. Was ist ihr nächstes Projekt? Altwasser: Im September kommt ein ziemlich verrücktes Buch heraus. Zwei Hauptfiguren sind aus „Letzte Fischer“ sind ja noch übrig. Es wird außerdem um den letzten Pommernherzog Bogislaw XIV. gehen. Hätte er etwas mehr Rückgrat gehabt, wäre der Dreißigjährige Krieg viel früher zu Ende gewesen. Foto: Uwe Roßner TELEPROMPTER. Gedichte von Tom Pohlmann mit Zeichnungen von Markus Geng Im TELEPROMPTER hat Tom Pohlmann Gedichte zusammengestellt, die er für die Gruppenprojekte „Von Kaff zu Kaff. Auf der Suche nach den Wurzeln der Moderne“ und „Sysiphus wechselt die Gesteinsart“ schrieb. In ihrer ursprünglichen Form waren die Arbeiten als Brückentexte gedacht, die ein experimentelles Zusammenfügen einzelner Programmteile erst erlaubten. Da sich beide Projekte mit den Schattenseiten der Moderne und Postmoderne auseinandersetzten, tangieren die Texte ebenso die Erfahrungen vieler anderer Autoren, die sich auf die Postmoderne und Moderne eingelassen haben. „Gesehen außerhalb dieser Kontexte“, so Pohlmann, „sind es Texte, die mir eher geschadet haben.“ Grund genug, sie in ihrem Zusammenspiel auf den Punkt zu bringen und die natürliche Ambivalenz wieder herzustellen, die mit der Arbeit daran verbunden war. Die Publikation, hergestellt im Siebdruck-Verfahren, erscheint als Kunstdruck zum 50. Geburtstag des Autors in einer auf wenige Stückzahlen begrenzten, nummerierten Auflage. Beigestellt sind den Gedichten Zeichnungen des Grafikers Markus Geng. Künstlerbuch, hergestellt im Siebdruckverfahren 40 nummerierte Exemplare Maße 21 x 24 cm, 20 Seiten Voraussichtlicher Einzelpreis: 90,-Euro 36 w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 © wasser-prawda Buch Des Monats Darwin in Vorpommern oder: Vom Scheitern der Gefühlslosigkeit Eine grell überzeichnete Beschreibung der Realität in Vorpommern? Eine Auseinandersetzung mit dem Biotop „Schule“? Oder die Schilderung eines stückweisen Scheiterns einer scheinbar gefüllosen Wissenschaftlerin an der Realität? Judith Schalanskys Bildungsroman „Der Hals der Giraffe“ ist all das. Und wenn der Leser will noch mehr. Von Raimund Nitzsche. Anfang der 90er Jahre, als die Auswirkungen der deutschen Wiedervereinigung noch unabsehbar waren und die Hoffnungen noch riesengroß in der Region zwischen Peene und Oder auf den überlebensgroß erscheinenden Kanzler mit dem birnenförmigen Kopf, da machten sich ein paar Studenten in Greifswald den von einigen als geschmacklos empfundenen Scherz und veröffentlichten in der Studentenzeitung den Vorschlag, Vorpommern insgesamt als Reservat für den Ostdeutschen an sich zu erklären: Freilaufende Ossis, bitte nicht füttern! Und um das für Touristen noch interessanter zu machen sollten auch andere exotische Tiere in der Region angesiedelt werden. Bei oberflächlicher Lektüre diverser Kritiken und Diskussionsbeiträge zu Judith Schalanskys „Der Hals der Giraffe“ könnte man schnell zu der irrigen Auffassung kommen, die in Greifswald geborene Autorin hätte genau diesen Ansatz der studentischen Satire auf die Länge eines kleinen Romans ausgewalzt. Da hagelt es Vorwürfe, die Frau lasse die Heldin ihres Romans, eine scheinbar völlig gefühllose Wissenschaftlerin und Lehrerin, die Thesen rechtspopulistischer Meinungsmacher nachbeten. Doch wer sich auf die vorgeprägten Anschauungen derer verlässt, die immer die gerade politisch korrekten Meinungen auf Abruf bereit liegen haben, dem entgeht eines der größten Lesevergnügen, dass die deutsche Literatur in den letzten Jahren zu bieten hatte. Klar doch, wie Schalansky aus dem Blick der Biologie- und Sportlehrerin Inge Lohmark die Rückkehr der wilden Natur in die Städte Vorpommerns schildert, das ist so gar nicht fortschrittshörig. Hier werden die allgemein sichtbaren Zeichen von Verfall, Bevölkerungsrückgang und wirtschaftlicher Aussichtslosigkeit ein wenig 37 zugespitzt. Und heraus kommt eine Welt ohne Hoffnung auf menschliche Zukunft. Dafür mit jeder Menge Aussichten auf die Rückkehr der Wildnis in die Mitte Europas. Diese Wildnis, der Kampf ums Überleben, um die bestmöglichke Anpassung an die Umwelt, die durchdringt für Lohmark jede nur denkbare Äußerung des Lebens von Planzen, Tieren und gar Menschen. Was soll man sich hier einmischen? Wieso sollte man der Natur im Wege stehen? Ob es nun die Unkräuter in der Innenstadt oder die vor ihr sitzenden Gymnasiasten sind - die Unterschiede sind für Inge Lohmark nicht wirklich relevant. Ja, möchte man zustimmend schreien, wenn man sich mal wieder an den allgegenwärtigen Ansammlungen pommerscher Alkoholiker vorbei gemogelt hat. Aussterben muss das alles, wird das alles. Auch diese mit Abscheulichkeiten zwischen DDR und Nachwende-Architektur © wasser-prawda Bücher Paradigma. Den fünfzig ausgewählten Inseln in fünf Ozeanen wird eine kurze Geschichte gewidmet, dessen Inhalte stark variieren. Es reicht von einer beinahe lyrisch anmuten Beschreibung der Insel mit dem Namen „Einsamkeit“ bis hin zu der brachialen Darstellung der Ereignisse auf dem Clipperton-Atoll. Der Mehrwert des Atlanten besteht aber insbesondere in seiner haptischen Dimension. In einer Zeit, wo Berichte von Buchmessen immer wieder das Interesse der Besucher an E-Book-Readern betonen, mutet ein schön gestalteter Atlas beinahe anachronistisch an. Diese zu unrecht vernachlässigte Komponente des In-die-Hand-nehmens, des Blätterns, Vor-und-zurück-schlagens kann ein so wunderbar gestalteter Atlas weitgehend erfüllen. notdürftig geflickten Stadtbilder: Das kann doch niemals die Zukunft sein. Abreißen wäre nur konsequent. Von der Sprachlosigkeit, die den ohne wirkliche Perspektiven alternden Rezensenten angesichts des Bevölkerungsanteils überfällt, die man als „unsere Zukunft“ zu bezeichnen beliebt, ganz zu schweigen. Doch dieses so schwarze, mit diebischem Vergnügen lesbare Buch kann einen verdammt in die Irre führen. Denn immer klarer wird es in den drei Kapiteln des Romans, wie sehr die Haltung des Wissenschaftlers nur eine Schutzmauer ist, mit der die Protagonistin sich von einem inhalts- und vor allem gefühlsleeren Leben abschirmen will. Die Tochter ist weg, der Mann kümmert sich nur noch um seine Straußenzucht. Und die Kollegen in der Schule? Sie suchen bestenfalls noch nach Verdienstmöglichkeiten für die Zeit nach der absehbaren Schließung ihres Gymnasiums. Irgendwann entdeckt Lohmark Gefühle für eine ihrer Schülerinnen - welcher Art diese sind, will sie selbst gar nicht analysieren. Doch schon allein diese Erkenntnis bringt die zurechtgelegte Wissenschaftlichkeit zum Zerbröseln. Gefühle? Im konsequenten darwinistischen Denken sind die höchstens zur Sicherung des Nachwuchses nötig. Ebenso wie Konstrukte wie Familie. Aber persönliche Gefühle? Das ist Schwäche, das ist so sinnlos wie der Versuch, den Löwenzahn an der Ausbreitung hindern zu wollen. Die Erbärmlichkeit des Lebens der „Heldin“ Schalanskys enthüllt sich nur in kleinen Andeutungen, in Ahnungen und Randbemerkungen. Bis dann endlich klar wird, wie komplett Lohmark gescheitert ist, als Mutter, als Lehrerin vielleicht nicht als Wissenschaftlerin, aber darauf kommt es hier auch wirklich nicht an. Es ist nicht Darwin, den man bei der Beurteilung der Heldin als Maßstab anlegen sollte. Aber für einen nüchternen Blick auf Chancen und Perspektiven einer ganzen Region ist dieser scheinbar zynische Blick der Antiheldin unverzichtbar. Und auch, um die Gefühllosigkeit, die einen in der Debatte auch selbst immer wieder überfällt, ad absurdum zu führen. Was bitte schön ist Wissenschaft? Doch nur ein menschliches Konstrukt, um in der Vielfalt der Erscheinungen so etwas wie ein System zu konstruieren. Ein System, das man allzuleicht als Wahrheit postuliert. Ein System, das aber immer nur so lange Anspruch auf Wahrheit hat, so lange es nicht widerlegt werden konnte. „Der Hals der Giraffe“ ist wie alle Bücher von der Autorin komplett selbst gestaltet worden. Das geht von den liebevollen Illustrationen aus der Welt der Biologie hin bis zum scheinbar altmodischen braunen Leineneinband. Somit macht Judith Schalansky aus ihrer Veröffentlichung einmal mehr ein großes Vergnügen nicht nur für Leser sondern auch für Liebhaber schöner Bücher. Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe - Bildungsroman Suhrkamp Verlag 2011 224 Seiten 21.90 Euro ISBN: 978-3-518-42177-2 Judith Schalansky - Atlas der abgelegenen Inseln Es ist eine überflüssig müßige Forscherdiskussion, aber sie hat bis heute Bestand: Ist das Werk „Utopia“ von Thomas Morus ernst gemeint, oder nicht? Fest steht, dass dieses Buch Begründer eines neuen Genres und dessen Titel Namensgeber derselben wurde. Das Wort „Utopia“ ist ein Neologismus des Autors und bedeutet soviel wie „Nicht-Ort“. Damit ist die Arena für die unsinnige Diskussion über Ernsthaftigkeit oder nicht schon mal bereitet. So weisen alle danach erschienenen literarischen Utopien ähnliche Strukturmerkmale auf: den Mangel an Fluktuanz, eine eigenwillige Festlegung von Gemeinschaft und vor allem Isolation. Wie kann man gerade das letzte Merkmal besser schriftstellerisch gewährleisten als auf einer Insel. In Francis Bacons „Neu-Atlantis“ haben die Bewohner extra dafür gesorgt, dass die einstige Halbinsel zu einer tatsächlichen Insel durch das Abtragen von Erde wurde. Doch eine Insel, die fernab von jeglicher greifbarer Zivilisation liegt, regt das menschliche Bedürfnis nach Flucht in eine ideelle Räumlichkeit an. Sie ist als Topos imaginärer Fluchtpunkt innerer Reflexion. Ein ähnlicher literarischer Versuch ist die Hinwendung zu vergangenen Epochen oder die Fingierung einer Zukunft (siehe Jules Verne)– hier ist der Fluchtpunkt nur zeitlich konzipiert. In dem „Atlas der abgelegenen Inseln“ der Greifswalder Autorin Jutdith Schalansky wird schon im Untertitel „Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“ deutlich, dass die Insel, weil topographisch übersichtlich und begrenzt, den idealen Raum für spekulative Zivilisationsexperimente bietet. Dass diese Experimente auch scheiteranfällig sind bis hin zu einem extremen Grad, trägt Schalansky Rechnung, indem ihr Vorwort den Titel trägt: „Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.“ Hier heißt es auch: „Jedoch sind es gerade die schrecklichen Begebenheiten, die das größte erzählerische Potential haben und für die Inseln perfekte Handlungsort sind. Während die Absurdität der Wirklichkeit sich in der relativierenden Weite der großen Landmasse verliert, liegt sie hier offen zutage. Die Insel ist ein theatralischer Raum: Alles, was hier geschieht, verdichtet sich beinahe zwangsläufig zu Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo, zum literarischen Stoff.“ Die Konzeption des Buches folgt eben diesem 38 Selbst die im vergangenen Sommer erschienene Taschenbuchausgabe besitzt eine liebevolle Aufmachung, die man nicht in Megabytes bemessen kann. Jeder Geschichte geht eine topographisch Illustration entsprechenden Insel voran. Während sich auf der linken Buchseite neben dem Namen die genaue geographische Lage, der Abstand zu anderen Inseln oder einem Festland und einer ganz knappen Chronik abgedruckt ist, sieht man auf der rechten Seite in einem tiefen Blau des umliegenden Meeres eingebettet die maßstabsgetreue Abbildung der Insel mit entsprechender Bezeichnung der auf ihr Befindlichen Siedlungen, Flüssen, Erhebungen usw. Es ist eine ungemeine Freude, dieses Buch in die Hand zu nehmen und imaginäre Ausflüge zu machen. Dabei handelt es sich um die so geartete Faszination wie sie der dänische Philosoph Sören Kierkegaard beschreibt, wenn er aus den eingebildeten Spaziergänge durch die Innenstadt Kopenhagens berichtet, die er in seiner Kindheit mit seinem Vater im Haus unternahm. In der Gesamtschau hält man mit „Atlas der abgelegenen Inseln“ also ein abwechslungsreiches Vergnügen in den Händen, welches man auch mal beiseite legen kann, um später vollkommen willkürlich sich eine Insel herauszunehmen. Dass man den Atlanten auf jeden Fall wieder in die Hand nimmt, wird schon allein durch die herrliche Aufmachung garantiert. Robert Klopitzke Judith Schalansky - Atlas der abgelegenen Inseln: Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde Mare Verlag 2009 144 Seiten 34 Euro ISBN: 978-3866481176 Judith Schalansky - Taschenatlas der abgelegenen Inseln Fischer Taschenbuch 2012 240 Seiten 14,99 Euro ISBN: 978-3-596-19012-6 © wasser-prawda Film Zwischen Par anoia und Verklemmung Leonardo DiCaprio als J.Edgar Hoover (Foto: Warner Bros.) Er wollte so viel wie möglich über mögliche Gegner und Verbündete wissen. Doch sein Privatleben hielt J. Edgar Hoover so geheim wie möglich. Clint Eastwood schildert den legendären Gründes des FBI als bemitleidenswerten und monströsen Menschen voller Komplexe und Ängste. Wie kann man ein Leben zum Film machen, von dem zahlreiche Fakten noch immer mit großen Ungewissheiten behaftet sind? Bei J.Edgar Hoover, der mit seinem FBI die Verbrechensbekämpfung auf eine moderne Basis stellte, ging Eastwood den scheinbar konventionellen Weg einer Biografie: „J Edgar“ (Drehbuch: Dustin Lance Black) verfolgt Hoovers Leben in zahlreichen Zeitsprüngen von 1919 bis zum Tode mit dem Schwerpunkt nicht auf den Haupt- und Staatsaffären sondern dem persönlichen Erleben. Er versucht damit, die von Hoover selbst bis zuletzt festgehaltene Maske, ein wenig durchsichtiger zu machen. Und er hat dabei mit einem entscheidenden Manko zu kämpfen: Dieses, gerade das im Film geschilderte persönliche Leben ist eigentlich so unbekannt wie nur denkbar. Hoover selbst hat immer nur die Legenden weitergestrickt, die andere in Umlauf gebracht haben. Er hat Dinge als sein Verdienst ausgegeben, die eigentlich seine Behörde erreicht hat. Und er hat alles, was ihn in der Öffentlichkeit diskreditiert hät- te, komplett mit dem Mantel des Schweigens bedeckt. War Hoover homosexuell? Der Film deutet das nur an. Hoover, so Eastwood, war ein bemitleidenswertes Monster. Ein Muttersöhnchen, das niemals wirklich in der Lage war, Gefühle zu äußern und zuzulassen. Einer, der überall Feinde witterte und diese mit einem monströsen Netz Ermittlern überwachen ließ. Am Ende seines Lebens - und das ist der filmische (und fiktive) Ansatzpunkt lässt er seine persönlich geschönte Version seines Lebens von wechselnden FBI-Agenten zu Papier bringen. Zu dem Zeitpunkt ist er von Bitterkeit und Enttäuschung schon völlig zerfressen. Die Ursache für die Phobien und Manien Hoovers liegt in Kindheit und Jugend vergraben. Da ist die Mutter, die ihm selbst die Krawatten für ein Rendevouz vorschlägt, die ihn bei aller Zuwendung nicht zu eigenen Entscheidungen kommen lässt. Da ist das Erleben von Bombenaschlägen auf seine Vorgesetzten, die in ihm die Gewissheit einer umfassenden kommunistischen Verschwörung festigt. Da ist die 39 Angst, als unverheirateter Außenseiter dazustehen, die ihn zu einem aussichtlosen und übereilten Heiratsantrag treibt. Da ist der Wahn, alles Wissen in sein Katalogsystem packen und damit handhabar machen zu können. Letztlich bleiben Geheimnisse um Hoover offen. Doch Eastwoods Deutung der Figur sorgt dennoch für soviel Erklärung wie möglich. Erzählt wird all das in der von Eastwoods letzten Filmen bekannten ruhigen und fast bedächtigen Erzählweise. Dialoge - und vor allem die Schauspielkunst von Leonardo DiCaprio, Naomi Watts als seine ergebene Sekretärin Helen Gandy und Armie Hammer als sein Stellvertreter (und Geliebter?) Clyde Tolson stehen im Mittelpunkt des in eisig kalten Farben gehaltenen Streifens. Der Lauf der Jahrzehnte wird durch teils großartige (DiCaprio) teils peinliche (Hammer) Masken sichtbar gemacht. J. Edgar (USA, UK 2011) 137 min Regie: Clint Eastwood mit: L. DiCaprio, A. Hammer, N. Watts. Raimund Nitzsche © wasser-prawda Feuilleton Vier Autoren und ein Lektor oder: Provinz ist nicht immer Provinz Am 03.02.2012 hatte sich anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald an Raimund Fellinger, dem Cheflektor des Suhrkamp Verlages, einige Prominenz im Koeppenhaus versammelt, um den Namensgeber desselben, den Ehrendoktor und Wolfgang Koeppen zu feiern. Es war ein denkwürdiger Abend. Ernüchternd war der nächste Tag… Beobachtungen von Erik Münnich. Im Koeppen hatte sich ein für Greifswalder Verhältnisse prominent besetztes Publikum versammelt: zahlreiche und weitgereiste Autoren, Lektoren, Angehörige der Universität, Kulturschaffende oder -ermöglichende aus Stadt und Land und der ein oder andere Verleger – nur zwei der bereitgestellten Stühle blieben unbesetzt. Diejenigen, die auf dem Podium Platz nahmen, standen diesem in keiner Weise nach. Neben den Schriftstellern Thomas Meinecke, Albert Ostermaier und Ralf Rothmann war das der Cheflektor des Suhrkamp Verlages, Raimund Fellinger. Erst Genannter wird gern mit dem Begriff der Popliteratur in Verbindung gebracht, war von 1978 bis 1986 Mitherausgeber und Redakteur der legendären und avantgardistischen Zeitschrift Mode und Verzweiflung; in den 80er Jahren schrieb er außerdem in unregelmäßigen Abständen Kolumnen für Die Zeit. Seinen ersten Band mit Kurzgeschichten veröffentlichte er unter dem Titel Mit der Kirche ums Dorf bei Suhrkamp, weitere Veröffentlichungen folgten erst ab Mitte der 90er Jahre in regelmäßigeren Abständen – er habe, so Meinecke, bis dahin einfach noch nicht gewusst, dass er Schriftsteller sei – mit seinem Roman Tomboy fand er auch in akademischen Kreisen Gehör. Albert Ostermaier veröffentlichte zuerst Gedichtbände – sein lyrisches Schaffen brachte ihm nicht nur einiges Ansehen, sondern auch das Münchner Literaturstipendium sowie die Auszeichnung des P.E.N. Liechtenstein für eben jenes ein – bevor er in den 90er Jahren den Weg zum Theater fand. Als Hausautor an namhaften Theatern (Bayrisches Staatsschauspiel, Wiener Burgtheater) arbeitete er mit namhaften Regisseuren zusammen. Außerdem konnte er auch als künstlerischer Leiter verschiedener Festivals (u.a. Lyrik am Lech, abc* AugsburgBrechtConnected) überzeugen. Ralf Rothmann wuchs im Ruhrgebiet auf, machte nach der Volksschule eine Maurerlehre und arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen, bevor er mit seiner Erzählung Messers Schneide auf dem Literaturmarkt Fuß fassen konnte. Die folgenden Arbeiten – Romane wie Erzählungen, außerdem Gedichte – brachten ihm renommierte Auszeichnungen (u.a. Heinrich-Böll-Preis, Max-Frisch-Preis, Hans-Fallada-Preis) und das Urteil der Neuen Zürcher Zeitung, zu „einem Großmeister seiner Zunft herangewachsen“ zu sein, ein. Diese drei hatten sich anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der hiesigen Universität an Raimund Fellinger – und durch seine tatkräftige Unterstützung – auf dem Podium zusammengefunden. Der Ehrendoktor stellte eingangs fest, dass der 40 Titel der Veranstaltung – Vier Autoren und ein Lektor – irreführend sei, schließlich haben nur drei der angekündigten Autoren neben ihm Platz genommen. Der fehlende Vierte aber sei, dem Veranstaltungsort und einem Teil seiner Arbeit entsprechend, Wolfgang Koeppen, von dem ein Auszuge aus einem Roman sowie einigen Briefen gelesen werde sollen. Die Überleitung Fellingers zu dem in Greifswald geborenen Autor und dessen zweiten Roman war pointiert, verzichtete auf die oftmals üblichen zähen Einordnungen und beschränkte sich somit auf das Wesentliche. Die Mauer schwankt erschien 1935 bei dem jüdischen Verleger Bruno Cassirer, der sich trotz der zunehmenden Schwierigkeiten noch nicht vom Büchermachen abbringen ließ. „Der Roman zeigt die fortschreitende Auflösung und den Zusammenbruch einer überkommenen, den Pflicht-Begriff absolut setzenden Ordnungswelt – gemeint ist das Deutsche Kaiserreich zwischen 1913 und 1918 – am Beispiel des von Zweifeln geplagten, konservativen Baumeisters Johannes von Süde“ (Killy Autoren- und Werklexikon, Bd. 6, S. 439). Jener ist Teil einer Beamtenfamilie, die sich über Jahrhunderte in den Dienst für den Staat, verschiedene Ministerien und Administrationen gestellt hat und so – bildlich gesprochen – zu einem Aktenbestand beigetragen © wasser-prawda Feuilleton Prof. Alexander Wöll, Dr. Raimund Fellinger, Prof. Eckhard Werner Schumacher (© Foto: Hans-Werner Hausmann/Suhrkamp) Fotos l.S.: Thomas Meinecke (Foto. Manfred Werner), Albert Ostermaier (© Oliver Wia / Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V.), Ralf Rothmann (Foto: © Heike Steinweg/Suhrkamp) hat, der nicht mal ansatzweise in der größten, uns bekannten Bibliothek Platz finden würde. Und eben jener Johannes von Süde – übrigens Koeppens Onkel – konfrontiert seinen Vater damit, Künstler werden zu wollen. Dieser ist überhaupt nicht einverstanden und überzeugt den Sohn davon, die in der Tradition der Familie begründete Pflicht und sein damit nur schwer zu vereinendes Interesse an der Kunst zu verbinden und Baumeister zu werden. „Zwanghaft versucht er, seine Erfüllung in der gewissenhaften Ausführung seiner Arbeit zu finden, in Selbstbeschränkung und Disziplin, in Unnachgiebigkeit sich selbst, seinen Untergebenen, den Bittstellern und seiner Familie gegenüber“ (http://www.belletristik-couch. de/wolfgang-koeppen-die-mauer-schwankt. html). Mit der Zerstörung von Kolberg durch die Rote Armee erhält er die Chance, eine Stadt neu aufzubauen. Er scheitert allerdings an sich und den Umständen. Anschließend las Thomas Meinecke die ersten zehn Seiten aus diesem Werk. Sein unaufgeregter Vortrag gab diesen angemessenen Raum, um ihre Wirkung zu entfalten. Ich hatte mich bis zu diesem Abend nur oberflächlich mit Wolfgang Koeppen beschäftigt. Einige Male hatte ich in seine Romane „Jugend“ und „Tauben im Gras“ hineingelesen und konnte diesen nur bedingt etwas abgewinnen. Die wunderschöne, feinsinnige Sprache Koeppens ist mir bisher schlicht entgangen. Das wirklich Beeindruckende aber war die Konzeption des Romans – treffender: der ersten zehn Seiten –, die dem entspricht, was ich an Erzählliteratur u.a. schätze: verschiedene Erzählebenen, keine gradlinige Handlung, also ein Erzählen, das scheinbar keiner Kausalität folgt, sondern zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her springt, beides immer wieder verknüpft, in Beziehung setzt und damit immer wieder neue (erwartete wie unerwartete) Anknüpfungsmöglichkeiten für mich als Leser bietet; ein sich mit dem weiblichen Geschlecht: ob das eine Rangliste von Bekannten ist, deren Vorund Nachteile aufgezählt und begründet werden; oder ob es das niederschmetternde Urteil über eine Schönheitskönigin ist, die mit einem sehr reichen Mann zusammen ist, welches die damit verbundene Oberfläche präzise auf den Punkt zu bringen im Stande ist – das Erstaunliche daran: völlig zeitlos – und, auch wenn das für Literatur völlig irrelevant ist, ganz alltägliche Probleme hat. Anders als nach dem ersten Teil schloss sich nun kein Gespräch zwischen Fellinger und dem Autor an, sondern Ostermaier las eine Ode, die er dem Cheflektor gewidmet hat. In anderen Kontexten mag das ziemlich kitschig anmuten. In diesem Moment aber hat sie – und der Vortrag derselben – gepasst und gerührt. Sie übertrug – aus Sicht des Verfassers, auch wenn das eine unnötige Gleichsetzung zwischen Autor und Text darstellt – die wichtige und notwendige Arbeit eines Lektoren (darauf wies schon Thomas Meinecke hin: „ohne Lektor kein Text“) in doppeldeutige Bilder, welche zu beschreiben völlig unsinnig ist. Sollte die Ode an dieser Stelle nun nicht abgedruckt erscheinen, war meiner Anfrage an den Verlag des Autors kein Erfolg beschieden. Erzählen, das nicht alles ausspricht, aufdeckt, darstellt usw., Spielräume lässt und doch konkret ist oder wird, aber irgendwie auch nicht. Unterm Strich: ein lesenswertes Buch, dessen Lektüre ich unbedingt nachholen muss. Den weiteren Fortgang der Veranstaltung konnte ich leider nicht verfolgen – und auch ich ärgere mich über die Leerstelle, die nun entsteht, zumal sie von der lokalen Presse nicht hinreichend gefüllt werden konnte – weil eine SMS Diesem Vortrag schloss sich ein Gespräch zwi- mich darüber informierte, dass mein Sohn den schen Meinecke und Fellinger an – übrigens: Babysitter überforderte. Als ich das Koeppen Letzterer ist nicht Lektor des Ersteren, da hat verließ und Richtung Innenstadt lief, musste die Ostseezeitung nicht richtig hingehört – das ich erstaunt feststellen, dass die Uhr bereits 22 auf angenehme und sehr amüsante Weise von Uhr anzeigte. Normalerweise bin ich von fast Koeppen wegführte, sich den literarischen An- zwei Stunden dauernden Lesungen überfordert fängen Meineckes, seinem Beginn beim Suhr- oder missmutig. Diesmal hatte ich vor Begeiskamp Verlag – „und dann führte mich Unseld terung die Zeit völlig vergessen. in den Keller und von da an war ich SuhrkampAutor.“ – und einigen Seitenhieben gegen eta- Diesem grandiosen Abend folgte eine schmerzblierte Angehörige des Literaturmarktes – „der liche Ernüchterung: Hatte sich die vermeintliRaddatz“ – widmete. Selten habe ich während che Provinz am Abend noch von ihrer besten einer Lesung so gelacht (ich war nicht der Ein- Seite gezeigt, so zeigte sie einen Tag darauf ihr zige), obwohl das in der Sache gar nicht ange- „hässliches“ Gesicht. In der Aula des Hauptlegt war. Vielmehr lag das daran, dass sich bei- gebäudes der Universität Greifswald wurde de die Bälle immer wieder elegant zugespielt Raimund Fellinger die Ehrendoktorwürde verhaben, ohne einen (peinlichen) Fehlpass zu liehen. Die Laudatio hielt der Lehrstuhlinhaber produzieren: Fellingers zugespitzte Fragen, die für Neuere Deutsche Literatur und Literatureine Antwort Meineckes aufnahm, präzisierte theorie, Prof. Dr. Eckhard Schumacher, eine und viele interessante Hintergründe ans Licht Festrede hielt der Philosoph Peter Sloterdijk förderte, weil Meinecke locker und ohne sich und Christoph Hein las aus seinem noch unselbst über die Maßen zu inszenieren, antwor- veröffentlichtem Manuskript Prometheus. Im tete, eine um die andere Anekdote zum Besten Publikum saß u.a. Volker Braun. Das war nicht gab und somit auch selbst immer weitere Zu- schlimm, sondern der Sache völlig angemesspitzungen lieferte. sen. Schlimm war, dass sich weder der RekAls Albert Ostermaier dann verschiedene Brie- tor der hiesigen Universität noch der Bürgerfe Koeppens an seine Tante Olga vorlas – eine meister der Stadt Greifswald darauf einließen, Weltpremiere übrigens – bestätigte sich mein einem solchen Anlass beizuwohnen. Es gab Eindruck, den ich im ersten Teil der Lesung keine Blumen für den Ehrendoktor – nur einen hatte. Die zum Einen pointierten Beschreibun- äußerst deplatziert wirkenden Blumenkübel, gen persönlicher Um- oder Zustände, die zum der wohl immer dort wie bestellt und nicht abAnderen oftmals unerwarteten Erläuterungen geholt steht – und den Sekt musste jener auch bestimmter Beobachtungen zeichnen ein zu noch selbst bezahlen. Zu hoffen bleibt, dass meiner Wahrnehmung Koeppens gegensätzli- Veranstaltungen dieser Art keine Ausnahme ches Bild: ein vermeintlicher Lebemann, der bleiben – ich weiß, Lesungen gibt es wie Sand die eine oder andere Nacht in Bars verbringt, am Meer in Greifswald, selten aber eine, die so die Frauen liebt und sucht – ein nicht unbe- in den Bann ziehen kann – und der Sonnabend trächtlicher Teil der rezitierten Briefe befasst schon wieder vergessen ist. 41 © wasser-prawda