Handout zum Vortrag am 27. Juni 2017: ISLAM, ISLAMKRITIK, ISLAMOPHOBIE Referent: Dr. Jürgen Wasella Fragestellung: Was ist eigentlich "Islamkritik"? Welche Bedeutung hat sie in der islamischen Welt? Warum tun sich offizielle Vertreter der Muslime so schwer mit Religionskritik? Werden islamkritische Äußerungen in Deutschland tabuisiert? Wo verläuft die Grenze zur Ausländerfeindlichkeit? Was bedeutet "Islamophobie"? Die lange Tradition islamischer Selbstkritik Religionskritik in der islamischen Geistesgeschichte Mu´atazila im 9. Jahrhundert: Erschaffenheit des Koran, dadurch kritische Betrachtung der Quellentexte Betonung des Idschtihad, der selbstständigen Erforschung und Interpretation der Quellen Kritik der Widersprüche und Ungereimtheiten im Koran im Lichte eines dem antiken Denken entlehnten Vernunftbegriffes Frühmittelalterliche Philosophen wie al-Kindi (800-873), al-Farabi (872-950), Ibn Sina´(9801037) und Ibn Rushd (1126-1198) entwerfen eine rationalistische, an Neuplatonismus und an Aristoteles angelehnte Philosophie, die sehr frei mit der religiösen Überlieferung umgeht und diese teilweise offen kritisiert. Ausgleich zwischen islamischer Offenbarung und antiker Wissenschaft Abu l-'Ala al-Ma'arri (973 – 1058): Skeptiker und pessimistischer Freidenker Die Klassiker moderner islamischer Selbstkritik o Die Modernisten: Kritik an der blinden Nachahmung überlieferter Autoritäten o Abdallah al-Qasimi (1907 – 1996): Angriffe gegen die fatalen Folgen einer rückwärtsgewandten Verherrlichung der Altvorderen, Religion als Hindernis des Fortschritts, Kritik am islamischen Menschen- und Gottesbild o Taha Hussain (1889 – 1973): „Die Zukunft der Kultur in Ägypten“, Aufklärerischmoderne Zuordnung ägyptischer Identität zum Mittelmeerraum, Anwendung der Methoden moderner Literaturwissenschaft und Philologie auf die frühislamische Überlieferung 1 o Abbas al-Akkad (1889-1964): Säkularist, scharfer Gegner der Nazis und des Kommunismus, Freiheit des modernen Individuums ist durch Religion und Totalitarismus gleichermaßen bedroht. Die Sinnkrise der Araber nach 1967 (Niederlage im Sechstagekrieg): Zwei mögliche Reaktionen: 1. Restriktive Rückbesinnung auf die Religion 2. Die Religion wird für die Niederlage verantwortlich gemacht Beispiel: Sadeq al-Azm, geb. 1934: „Kritik des religiösen Denkens“,1969 - Forderung nach eine grundsätzlichen Modernisierung, die einen Bruch mit überkommenen Traditionen bedingt. Die aktuelle Diskussion im Zeichen des Islamismus: Dominanz islamistischer Strömungen seit 1970 Besonders totalitäre Ausformungen setzten sich als dominante Strömungen durch – Extrem restriktives, an der Wahhabiya und am Salafismus orientiertes Islamverständnis, massive Förderung durch die Golfstaaten („Petrodollar-Islam“) Klima extremer Intoleranz und Tabuisierung jeglicher Religionskritik: Selektiv reduzierte islamische Überlieferung wird für unangreifbar erklärt Kritik und das Problem der Apostasie Zum Umgang mit Abweichlern und Dissidenten Rida / Abtrünnigkeit und Häresie im Koran: keine Strafen im Diesseits Das Tötungsgebot von Apostaten im islamischen Recht Relativierung der Apostasie-Strafen im modernen Islam Die strafrechtliche Situation in den modernen Staaten der islamischen Welt Umsetzung des Tötungsgebots Zwangsscheidung, Verlust der Staatsbürgerschaft, Zwangseinweisung in die Psychatrie Strafrechtliche Konsequenzen auch im modernen Recht Fatwas der Azhar-Universität bestätigen das Tötungsgebot Das Problem des „Takfir“ (für ungläubig erklären): Grundübel des Islamismus Lähmung des intellektuellen Lebens Klima der Angst und der Einschüchterung Verhinderung jeglicher Religionskritik Hexenjagd auf Intellektuelle Klima der Selbstjustiz In der Praxis bedeutet ein Takfir nichts andres als einen Aufruf zum Mord Westliche Islamkritik Liberale islamische Theologie: Mouhanad Khorshide, Uni Münster: Vision von einem modernen, aufgeklärten Islam, Koran ist als ein Buch aus dem siebenten Jahrhundert zu lesen, dessen einzelne Gebote nicht mehr wörtlich ins heutige Leben übertragen werden können Abdelhakim Ourghi, PH Freiburg: Nur die mekkanischen Suren dürfen überzeitliche Gültigkeit beanspruchen, scharfe Kritik am Gewaltpotential der medinensischen Suren Offene Abrechnung mit religiösen Missständen: Hamid Abdelsamad: „Islamischer Faschismus“, der schon in der Entstehungsgeschichte des Islam begründet sei. Abrechnung mit der Vita des Propheten Muhammad. Ibn Waraq (Pseudonym): Islamismus als neue totalitäre Bedrohung, mit der man sich in einem „kalten Krieg“ befinde 2 Beispiele für radikale Islamkritik: Zweifel am ethischen Vorbild des Propheten Aisha: Heirat mit einem 6jährigen Kind. Vollzug der Ehe mit 9 Jahren Brutalität und Gewalttätigkeit des Propheten, z.B. Hinrichtung von Gefangenen Gewaltverherrlichung in den medinensischen Suren des Koran Massaker an den jüdischen Stämmen der Arabischen Halbinsel Umgang mit Kritikern zu Lebzeiten des Propheten Kritik der Kritik: Was ist eigentlich „Islamophobie“? Ethymologie eines Kampfbegriffs Ursprung in der französischen Ethnologie Prägung des modernen Begriffs durch Ayatollah Khomeini Kampfbegriff im Gefolge der Rushdie Affäre, um damit Kritiker wie Rushdie und seine Unterstützer für Meinungsfreiheit zum Schweigen zu bringen, indem man behauptete, dass nur auf Grund weit verbreiteter "Islamophobie" innerhalb der britischen Gesellschaft und dem Staat so etwas ungestraft bleiben kann Ausschließliche Anwendung auf Kritik am Islam – niemand würde von „Christophobie“ sprechen Pathologisierung von Kritik Phobie bedeute eine irrationale, unkontrollierbare Angst, oft als eine Form von Geisteskrankheit Dazu passt, das muslimischen Islamkritikern häufig vorgeworfen wird, sie bewältigten mit ihrer Kritik nur persönliche Traumata Stigmatisierung von Kritikern Islamkritik als Ressentiment Kritik an religiösen Inhalten oder Erscheinungsformen steht nicht mehr im Vordergrund Stattdessen werden Muslime als Gruppe von Menschen abgelehnt Diskriminierung der islamischen Religionsgemeinschaft als monolithisches Kollektiv, das böse Absichten verfolgt Kategorische Abwertung und Benachteiligung Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Beispiele: Geert Wilders, Thilo Sarrazin, PI, Pegida, AfD Gefahr eine Vereinnahmung und Monopolisierung der Islamkritik durch Rechtskonservative, Rechtsextremisten und Populisten FAZIT: Zum kritischen Umgang mit Religionen in der Einwanderungsgesellschaft Die Bruchlinie verläuft nicht zwischen Westen/Christentum und Islam, sondern zwischen autoritären und liberalen Gesellschaftsmodellen Es ist falsch, dass Islam und ein moderner religionskritischer Diskus unvereinbar sind Eine moderne Einwanderungsgesellschaft muss vehement für das Recht, auch der Muslime, auf Religionskritik eintreten Alles andere bedeutet einen Verrat an all den Intellektuellen und Autoren, die für ihr Recht auf Religionskritik ihre Freiheit oder sogar ihr Leben riskiert haben Es muss in einer modernen Gesellschaft ohne Einschränkung erlaubt sein, Ideen, Ideologien oder eben auch Religionen schlecht zu finden und zu kritisieren Es muss nicht nur die Freiheit der Religion in einer Demokratie gewährleistet sein, sondern auch die Freiheit an Kritik dieser Religion. „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ kann auch darin bestehen, einer Gruppe aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion das Recht auf Kritik zu verweigern 3 Anlage: Übersetzung der Videosequenz: Shayk Salem Abdel Dschalil, Azhar-Gelehrter und Sayyed al-Qimni, Publizist und Religionswissenschaftler, Moderator: Toni Khalifa Moderator: Herr al-Qimni, Sie behaupten: Wir müssen mit dem Koran als einen historischeren Text umgehen. Stimmt das? Al-Qimni: Ja, das sagte ich. Abdel Dschalil: Das geht nicht. Das ist Kufr (Unglaube). Al-Qimni: Jetzt erklärt er mich tatsächlich für ungläubig! Abdel Dschalil: Wenn er sagt, dass der Koran ein historischer Text ist, dann ist das Kufr (Unglaube). Moderator: Das würde bedeuten, dass er nicht offenbart worden ist und somit kritisiert werden darf. Al-Qimni: Ja, er darf kritisiert werden. Abdel Dschalil: Was kritisiert werden darf, ist die Interpretation vom Koran, aber nicht der Koran. Korankritik ist Kufr. Der Koran ist ein heiliger Text, eine Offenbarung. Al-Qimni: Sie bezichtigen mich des Unglaubens. Danke! Im Übrigen dürfen weder Sie noch ein anderer das tun. Da sind Sie auf dem gleichen Niveau des IS. Der Al-Azhar Gelehrte lacht verlegen.... Al-Qimni: Ja, die IS-Anhänger erklären die Menschen für ungläubig und belegen ihr Urteil mit KoranVersen, um ihre Hinrichtung zu rechtfertigen. Ich würde empfehlen, sich Gedanken über diese Verse zu machen, statt den Takfir gegen andere Menschen auszusprechen! Ich bleibe bei der meiner Meinung: Der Koran ist ein historischer Text. Abdel Dschalil: Und ich bleibe bei der Meinung, dass du ein ein Kafir (Ungläubiger) bist! Sendung „Geheimnisse unter der Brücke“, ausgestrahlt im ägyptischen Sender al-Qahira wa-n-Nas, 6. Dezember 2014 4