Grundlagen 21 Ludger Schwarte Gründen und Abreißen. Der Platz der Architektur im System der Philosophie Architekturphilosophie – Theorie der Grundlegung Arché be­ deutet im Griechischen Anfang, Ursprung oder Quelle; dann auch Ursache, Grund, Prinzip und schließlich Anführung, Herrschaft, Regierung. Es rührt vom Verb archein her, das das Anfangen, Veranlassen, Vorangehen und Versuchen bezeichnet. Versteht man das Gründen – dem Verb tektainomai entsprechend, aus dem jedwede „Archi-Tektur“ hervorgeht – als ein Bauen von Grundlagen, so ist einerseits zu fragen, worin dieses Bauen – vor jeder Planbarkeit und Zwecksetzung – überhaupt besteht, was seine Voraussetzungen, seine Bedingungen, seine Begriffe, seine Medien und Instrumente sind. Andererseits muss die Philosophie der Architektur auch zu klären versuchen, was ein Grund ist, wie wir dazu kommen, etwas zu ergründen oder zu begründen, welche Eigenschaften eine Grundlage auszeichnet und wie es gelingen kann, etwas zu gründen. Gibt es neben physischen (Kausalität) und moralischen (Begründung) Gründen noch spezielle, architektonische? Das Bauen eines Grundes operiert in einer Zone der Ungewissheit, in einer Leere vor allem Anfang. Die Notwendigkeit des Gründens rührt aus dieser Grundlosigkeit, die zu begreifen die dritte Aufgabe ausmacht. Architekturphilosophie ist aus meiner Sicht eine transversale Disziplin, die die traditionellen Felder der Philosophie nicht nur um eine völlig neue Fragestellung bereichert, sondern auch auf neue Weise durchquert und miteinander verknüpft. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, lässt sich Architektur genau als Bindeglied zwischen physischen, ästhetischen und moralischen Gründen auffassen. Das Architektonische ist das Ensemble aus Ludger Schwarte – Gründen und Abreißen physischen, ästhetischen, moralischen, politischen und ähnlichen Anlässen, etwas zu tun. Eine Philosophie der Architektur wird daher auf verschiedene etablierte Teilbereiche der Philosophie zurückzugreifen haben. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass architekturphiloso­ phische Untersuchungen, die sich mit systematischem Interesse auf eine einzelne philosophische Teildisziplin beziehen, von großem Gewinn sowohl für diese wie für die Architekturphilosophie sind. Dies ist innerhalb der praktischen Philosophie durch Arbeiten jeweils zur Ästhetik und zur Ethik der Architektur gezeigt worden, ergänzt durch Positionen, die ihren Fokus eher auf den Bereich der Politik oder der Handlungstheorie legen. Ähnliches ist zu erwarten, wenn Forschungen nun daran gehen, systematisch die Felder der theoretischen Philosophie unter die architekturphilosophische Lupe zu nehmen – vor allem die Ontologie, die Epistemologie oder die Wahrnehmungslehre. Architekturphilosophie wird aber vor allem dann relevant – und dies erklärt vielleicht ihr Auftauchen in jüngerer Zeit – , wenn nicht mehr wie selbstverständlich davon auszugehen ist, dass alles, was vorhanden ist, einen zureichenden Grund haben muss, warum es ist. Wenn Gründe gegeben sein müssen, damit Notwendigkeiten auftreten, so wird der Zustand, in dem diese Gründe nicht gegeben sind, fraglich. Architektur kann unterschiedliche Arten von Gründen, physische Zwänge ebenso wie Motivationen, erschaffen oder eben auch unwirksam machen beziehungsweise zerstören. Dies scheint schon bei Arthur Schopenhauers Reflexion über die Wurzel der Gründe auf: „Der Satz vom zureichenden Grunde, in allen seinen Gestalten, ist das alleinige Princip und der alleinige Träger aller und jeder Nothwendigkeit. Denn Nothwendigkeit hat keinen andern wahren und deutlichen Sinn, als den der Unausbleiblichkeit der Folge, wenn der Grund gesetzt ist. Demnach ist jede Notwendigkeit bedingt; absolute, d. h. unbedingte, Nothwendigkeit also eine contradictio in adjecto. Denn Nothwendig-Seyn kann nie etwas Anderes besagen, als aus einem gegebenen Grunde erfolgen.“1 Die Art der Gründe, die gesetzt werden, etablieren folglich jeweils andere, womöglich konfligierende Notwendigkeiten: „Demnach giebt es […] eine vierfache Nothwendigkeit. 1) Die logische, nach dem Satz vom Erkenntnißgründe […]. 2) Die physische, nach dem Gesetz der Kausalität […]. 3) Die mathematische, 23 nach dem Satz vom Grunde des Seyns […]. 4) Die moralische, vermöge welcher jeder Mensch, auch jedes Thier, nach eingetretenem Motiv, die Handlung vollziehen MUSS […], wenn sie gleich nicht so leicht, wie jede andere, vorherzusagen ist […].“2 Dem Setzen eines Grundes geht etwas voraus, das man nicht unbedingt als Nichts oder Chaos bezeichnen muss, sondern vielleicht besser als die Kontingenz materieller Prozesse denkt, deren Ereignishaftigkeit potentiell gebändigt und in die zeitlichen Entwicklungslinien und gewöhnlichen Folgebeziehungen überführt werden kann. Was muss vorausgesetzt werden, damit es Gründe geben kann? Von den Gründen, die jemanden veranlassen, etwas zu tun, ist in der praktischen Philosophie mit großer Selbstverständlichkeit die Rede. Oft wird Grund dabei auch als Übersetzung des Latei­­nischen ratio, des Englischen reason beziehungsweise des Französischen raison gebraucht – „for what reason?“ beziehungsweise „par quelle raison?“ wird übertragen als „aus welchem Grund?“ Dass Vernunft und Grund sprachliche Äquivalente sind, mag erstaunen, denn auf Gründe stößt man nur bei der Analyse des Funktionierens praktischer Vernunft; sie sind darin ein Teilbereich. Im Unterschied zu Ursachen, die nicht nur die notwendige Voraussetzung von etwas sind, sondern bewirken, dass etwas Bestimmtes aus ihnen folgt, können bekanntlich objektive Gründe vorliegen, die ein Ereignis notwendig machen, und doch geschieht nichts. Gründe bestehen nicht einfach so – und zwar nicht, weil sie erst reflexiv und analytisch aufgefunden werden müssten, sondern weil nur dort Gründe das Handeln bestimmen können, wo es Freiheit gibt. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn es impliziert nicht nur, dass das Haben von Gründen zugelassen beziehungsweise zugestanden werden muss, sondern dass Gründe in der Freiheit und durch die Freiheit gegründet werden müssen. Denn das Geben von Gründen ist dem diskursiven Spiel des wechselseitigen Erklärens von Gründen für Aussagen, Überzeugungen oder Handlungen als einem Rekurrieren auf eben diese Gründe vorgelagert. Auf die Abhängigkeit der Gründe vom Akt des Gründens hat unter anderen Martin Heidegger hingewiesen. Zunächst betont Heidegger, dass der Boden, auf dem wir stehen, der Ort, an dem wir zur Welt kommen, nicht einfach Naturprodukte sind. Die Welt, in der das Dasein sich entfaltet, wird entworfen und zugleich erschließt sie sich in diesem Entwurf. „Das