16.3 Thermische Schäden durch Kälte

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16.3 Thermische Schäden durch Kälte
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Weiterführende Literatur
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16.3 Thermische Schäden durch Kälte
ze des Eisbergs“ darstellen. In den letzten Jahren werden jedoch
steigende Patientenzahlen gemeldet. Als Ursache sind vermehrte
Freizeitaktivitäten und veränderte städtische Bedingungen zu
nennen. Gesellschaftliche Probleme mit Alkoholismus, psychische Erkrankungen und auch Obdachlosigkeit sind weitere
Faktoren. Die meisten Fälle finden sich in Regionen mit strengem
Winter. Eine wesentliche Gruppe umfasst Personen mit OutdoorAktivitäten, wie z. B. Skifahrer, Kletterer und Schwimmer. In den
USA versterben aktuell pro Jahr ca. 600 Patienten an einer primären Hypothermie [1].
16.3.3 Physiologie und Pathophysiologie
Die Körperkerntemperatur wird physiologisch eng in der „thermoneutralen Zone“ zwischen 36,5 und 37,5 °C reguliert. Außerhalb dieses Bereiches werden thermoregulatorische Antwortmechanismen aktiviert. Der Hypothalamus steuert die Thermoregulation durch verstärkte Wärmeerhaltung (periphere Gefäßverengung, Verhaltensänderung) und Wärmeerzeugung (Schüttelfrost, Anstieg von Thyroxin und Adrenalin). Einschränkungen
der Funktionen des ZNS können diese Mechanismen beeinträchtigen.
Unter Ruhebedingungen produziert der Mensch durch den zellulären Metabolismus 40 – 60 kcal Wärme pro m² Körperoberfläche, v. a. in Leber und Herz. Die Wärmeerzeugung steigt durch
Muskelzittern auf das 2- bis 5-Fache. Die Schwelle für Shivering
ist etwa 1 °C niedriger als die für Vasokonstriktion und wird als
letzte Möglichkeit des Körpers angesehen, die Temperatur aufrechtzuerhalten [3]. Die Mechanismen der Wärmeerhaltung können bei anhaltender Kälte verloren gehen, die Körperkerntemperatur kann sekundär durch Ermüdung und Glykogendepletion
absinken.
Prinzipiell erfolgt die Ableitung der Körperwärme entweder
durch direkten Umgebungskontakt (feuchte Kleidung, Kontakt
mit Metallen), durch Konvektion (Wind) oder durch Abstrahlung
(Wärmefluss vom warmen zum kalten Objekt).
Definition
S. G. Sakka, F. Wappler
●
16.3.1 Einleitung
●
Die Einwirkung von Kälte kann zu Schädigungen von Blutgefäßen, Nerven und der Haut bis zu einer Senkung der Körpertemperatur mit funktionellen Störungen letztlich aller Organe führen. Eine längerfristige Einwirkung feuchter Kälte um den Gefrierpunkt vermittelt lokale Erfrierungen („Schützengrabenfuß“),
während trockene Kälte deutlich unterhalb des Gefrierpunkts
eine akzidentelle Hypothermie zur Folge hat. Die Anfälligkeit
des Organismus gegenüber Kälte wird u. a. verstärkt durch Dehydratation, Drogen-, Alkoholgenuss, Anämie und Herz-KreislaufErkrankungen. Vor allem sehr junge und alte Menschen sind gegenüber Kälte gefährdet.
Definition
.
Eine Hypothermie (Körperkerntemperatur < 35 °C) entsteht,
wenn der Körper die physiologische Temperatur nicht mehr
aufrechterhalten kann.
16.3.2 Inzidenz
Genaue Zahlen zur Inzidenz der Hypothermie liegen nicht vor, da
die Patienten, die stationär aufgenommen werden, nur die „Spit-
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Literatur
.
Konduktion ist definiert als kinetische Wärmestrahlung von
einem zu einem anderen Objekt.
Konvektion bezeichnet eine dynamische Wärmeleitung mittels
Medium (z. B. Blut oder Luft) von einem zu einem anderen
Objekt.
▶ Mechanismen des Wärmeverlustes. Ein Wärmeverlust erfolgt
über mehrere Mechanismen, der bedeutendste davon, unter trockenen Bedingungen, ist die Abstrahlung (55 – 65 % der Wärmeverluste). Konduktion und Konvektion tragen je zu 15 % des
Temperaturverlustes bei, Respiration und Evaporation bestimmen den Restanteil. Konduktive und konvektive Wärmeverluste
sind die wichtigsten Mechanismen für eine akzidentelle Hypothermie. Konduktion ist v. a. bei Ertrinken oder Eintauchen von
Bedeutung, zumal die thermische Leitfähigkeit von Wasser bis zu
30-mal größer ist als die von Luft.
Sobald das kompensatorische Muskelzittern aufhört, ist der
Körper nicht mehr in der Lage, sich selbst zu erwärmen und die
Körperkerntemperatur sinkt. Die endogene Thermoregulation
besteht nicht mehr bei etwa < 30 °C, darum bedarf es dann externer Wärmequellen für die Wiedererwärmung.
Eine Hypothermie verlangsamt alle physiologischen Funktionen, einschließlich des kardiovaskulären und respiratorischen
Systems, neuromuskuläre und metabolische Prozesse (van’t
Hoff-Regel). Auf zellulärer Ebene führt die Einwirkung von Kälte
zur Störung der Natriumpumpe und letztlich zum Aufbrechen
der Zellmembranen infolge einer hydropischen Schwellung
16
1017
Thermische und physikalische Schädigungen
durch eine gestörte osmotische Regulation. Im Gefäßsystem
kommt es zur Aggregation von Erythrozyten und Mikroembolien.
Mit dem Ziel der Lebenserhaltung entstehen arteriovenöse
Shunts, erfrorene Regionen werden „geopfert“.
Hypothermie wirkt sich auch auf das Immunsystem aus. Die
zelluläre Immunabwehr sinkt, die Wundheilung verzögert sich
und so erhöht sich das Risiko von Infektionen. Es muss mit
einer verlängerten Wirkzeit der meisten Medikamente gerechnet
werden, da deren Verstoffwechselung und Abbau verlangsamt
werden.
16.3.4 Klinisches Bild
Besonders gefährdet sind die Akren, wie Hände, Füße, Ohrläppchen und die Nasenspitze. Die betroffenen Bereiche werden
immer kälter, bis Gewebeschäden entstehen oder sie im Extremfall einfrieren. Die Gradeinteilung von Erfrierungen kann erst
nach dem Wiedererwärmen vorgenommen werden und hängt
von der Blasenbildung und der Dauer bis zur vollständigen Wiedererwärmung ab.
Merke
*
▶ 1. Grad: Der betroffene Körperteil ist initial blass und gefühllos (infolge Ischämie). Bei Wiedererwärmung kommt es zu
Schwellung, Schmerzen und Pruritus (Hyperämie).
Abb. 16.8 Grad 2 einer Erfrierung der Hand, charakterisiert durch
Rötung und Blasenbildung (Quelle: Dr. Walter Perbix, Klinik für
Plastische Chirurgie, Klinikum Köln-Merheim, Universität Witten/
Herdecke, mit freundlicher Genehmigung).
▶ 2. Grad: Blasenbildung, Akrozyanose (▶ Abb. 16.8). Nur die
Haut ist betroffen! Zu Ödem und Blasenbildung kommt es
frühestens nach 1 Tag. Nach 2 – 3 Wochen Ausbildung von
oberflächlichen, schwarzen Krusten, die sich allmählich abheben.
▶ 3. Grad: Gewebsuntergang (Schwarzfärbung; ▶ Abb. 16.9).
Tiefe Gewebeveränderungen! Nach Wiedererwärmung löst
sich der Gefäßspasmus nicht. In der terminalen Strombahn
kommt es zur Vasodilatation mit Blutflussverlangsamung.
Sauerstoffdefizit mit Permeabilitätsstörung, Ödembildung und
Plasmaaustritt folgen. Es kommt zu Nekrosebildung, Demarkierung, Gangrän und Phlegmone!
Maßnahmen
●
●
●
1. Grad: Kälteeinwirkung beenden, feuchte Kleidung entfernen,
abtrocknen, bewegen, passiv aufwärmen. – Restitutio ad integrum!
2. Grad: Keine aktive oder passive Wärme, Wunden versorgen,
Basismaßnahmen zur Sicherung der Vitalfunktionen.
3. Grad: Extremitäten nicht bewegen, da sie aufgrund Totalvereisung abbrechen können! Ansonsten Therapie wie bei 2. Grad.
Merke
*
Das endgültige Ausmaß der Erfrierung ist erst nach 4 – 6 Tagen
feststellbar!
Hypothermie
16
1018
Eine Hypothermie betrifft alle Organsysteme, die eindrücklichsten Effekte sind im Herz-Kreislauf-System und im ZNS zu beobachten. Die Hypothermie führt zu einer Verminderung der Depolarisation der Herzschrittmacherzellen, was eine Bradykardie
zur Folge hat.
Abb. 16.9 Grad 3 einer Erfrierung des Fußes, charakterisiert durch
Nekrose (Schwarzfärbung; Quelle: Dr. Walter Perbix, Klinik für Plastische Chirurgie, Klinikum Köln-Merheim, Universität Witten/Herdecke, mit freundlicher Genehmigung).
Merke
*
Diese Bradykardie ist nicht vagal vermittelt, daher ist sie refraktär gegenüber Standardtherapien wie der Gabe von Atropin.
Arterieller Blutdruck und Herzzeitvolumen nehmen ab, im EKG
können charakteristische J- oder Osborn-Wellen (▶ Abb. 16.10)
auftreten. Die J-Welle stellt eine Veränderung unmittelbar nach
dem QRS-Komplex dar und ist möglicherweise ein Hinweis auf
drohende Arrhythmien. Die J-Welle kann jedoch eine Norm-
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Erfrierungen
16.3 Thermische Schäden durch Kälte
Abb. 16.10 Bei einer Hypothermie können im
EKG reversibel J-(Osborn)-Wellen (V3) und Intervall-Verlängerungen (PR, QRS, QT) bestehen. Bei unklaren Umständen sollten der Blutalkoholspiegel sowie die Schilddrüsenfunktion
bestimmt und eine Sepsis bzw. ein SchädelHirn-Trauma ausgeschlossen werden.
PR, QRS, QT = Intervalle im EKG.
▶ Metabolismus des ZNS reduziert. Die Hypothermie reduziert
schrittweise den Metabolismus des ZNS: Bei einer Kerntemperatur < 33 °C ist die elektrische Aktivität des Gehirns reduziert,
zwischen 19 °C und 20 °C kann ein EEG wie bei Hirntod vorliegen.
Eine eingeschränkte Nierenfunktion und der Abfall des ADH führen zu einer Produktion großer Mengen wenig konzentrierten
Urins („Kältediurese“). Die Diurese zusammen mit der Flüssigkeitsextravasation in das Interstitium bedingen eine Hypovolämie. Die Vasokonstriktion, die im Rahmen der Unterkühlung
auftritt, kann eine Hypovolämie maskieren, allerdings manifestiert sie sich als Schock während der Wiedererwärmung.
Merke
*
Alle Gewebe zeigen mit sinkender Temperatur einen abnehmenden Sauerstoffverbrauch. Es ist allerdings unklar, ob dies
durch eine reduzierte metabolische Rate bei niedrigen Temperaturen oder eine höhere Hämoglobinaffinität des Sauerstoffs in Kombination mit einer eingeschränkten O2-Extraktion
hypothermer Gewebe bedingt ist. Bei der Wiedererwärmung
muss mit einer Azidose und ausgeprägten Elektrolytschwankungen gerechnet werden.
16.3.5 Diagnostik und Gradeinteilung
Entscheidend zur Diagnosestellung ist eine rasche Bestimmung
der Körperkerntemperatur. Orale oder rektale Messungen sind
nicht adäquat, da beide die tatsächliche Kerntemperatur nicht
korrekt wiedergeben müssen. Messungen in der Harnblase oder
intravasal liefern die Kerntemperatur zuverlässiger. Es ist wichtig
zu beachten, dass für eine bestimmte Temperatur die spezifischen körperlichen Untersuchungsbefunde zwischen Individuen erheblich variieren können. Folgende Gradeinteilung der Hypothermie wird in der Regel zugrunde gelegt ([1], ▶ Tab. 16.8).
Viele Patienten mit einer Hypothermie haben ein Flüssigkeitsdefizit aufgrund einer Kältediurese. Es kommt zu einer Hämokonzentration mit Anstieg des Hämatokritwertes. Der Hämatokrit kann um 2 % pro 1 °C Abnahme der Kerntemperatur zunehmen. Eine Hypothermie kann mit ausgeprägten Schwankungen
der Elektrolyte einhergehen: Das Serumkalium steigt entsprechend dem Ausmaß der Zellschädigung.
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variante sein und ist gelegentlich bei Sepsis oder Myokardinfarkt
zu beobachten.
Weiterhin können bei Hypothermie Vorhof- und ventrikuläre
Arrhythmien auftreten. Ein spontanes Auftreten von Asystolie
und Kammerflimmern wurde für Kerntemperaturen zwischen
25 – 28 °C beschrieben.
Differenzialdiagnostik
Eine Vielzahl an Faktoren kann eine Hypothermie bedingen bzw.
fördern und sollten bei einer ungeklärten Hypothermie ausgeschlossen werden. Erhöhte Wärmeverluste können medikamentös bedingt oder von einer durch Intoxikation induzierten
Vasodilatation hervorgerufen sein. Hauterkrankungen, Verbrennungen sowie iatrogene Einflüsse wie die Infusion kalter Lösungen können zur Senkung der Körpertemperatur führen.
Merke
*
Neben einem „Entzug“ an Wärme kann prinzipiell auch eine
verringerte Wärmeerzeugung eine Hypothermie auslösen.
▶ Einsatz von bildgebenden Verfahren. Bei jedem Patienten mit
einer Vigilanzminderung und Hypothermie sollten in der Notaufnahme bildgebende Verfahren eingesetzt werden. Eine Röntgenaufnahme des Thorax ist bei Patienten mit Hypoxie angezeigt.
Aspirationspneumonie und Lungenödem sind oftmals typische
Befunde. Patienten mit einem Trauma oder neurologischem Defizit sollten eine Computertomografie des Schädels und eine weitere Bildgebung im Rahmen des Traumachecks erhalten [5]. Bei
der Interpretation arterieller Blutgasanalysen ist zu beachten,
dass Blutgasanalysatoren das Blut auf 37 °C erwärmen. Da Gase
im hypothermen Plasma weniger löslich sind, kann die arterielle
Blutgasanalyse höhere O2- und CO2-Partialdrücke und einen
niedrigeren pH-Wert anzeigen als tatsächlich vorliegen.
Cave
)
Die unkorrigierte Blutgasanalyse mit den Normwerten bei
37 °C vergleichen! Ein unkorrigierter pH von 7,4 und ein arterieller Kohlendioxidpartialdruck (paCO2) von 40 mmHg
geben einen ausgeglichenen Säure-Basen-Status wieder.
Das Gerinnungssystem wird oft bei mittelschwerer oder schwerer Hypothermie beeinträchtigt, eine disseminierte intravasale
Koagulation (DIC) kann resultieren [6]. Eine Koagulopathie kann
auf einer primären Störung enzymatischer Reaktionen der Gerinnungskaskade durch Proteindenaturierung bei verringerter Temperatur beruhen [11]. Da auch Gerinnungsanalysen bei 37 °C erfolgen, müssen normale Laborwerte eine klinisch manifeste Koagulopathie nicht adäquat wiedergeben.
16
1019
Thermische und physikalische Schädigungen
Klinische Symptome im Rahmen verschiedener Stadien der Hypothermie.
milde Hypothermie
32–35 °C
moderate Hypothermie
28–32 °C
schwere Hypothermie
< 28 °C
ZNS
Verwirrung, verwaschene Sprache,
eingeschränktes Urteilsvermögen,
Amnesie
Lethargie, Halluzinationen, Verlust des
Pupillenreflexes, EEG-Veränderungen
Verlust der zerebrovaskulären Regulation, sinkende EEG-Aktivität,
Koma, Areflexie
Herz-Kreislauf
Tachykardie, erhöhtes HZV, erhöhter Gefäßwiderstand
progrediente Bradykardie (atropinresistent), HZV und Blutdruck sinken,
Arrhythmien, Osborn-Welle im EKG
HZV und Blutdruck sinken, Kammerflimmern (< 28 °C) und Asystolie
(< 20 °C)
Atmung
Tachypnoe
Hypoventilation, Abnahme von O2Verbrauch und CO2-Produktion, Verlust des Hustenreflexes
Lungenödem, Apnoe
Nieren
Kältediurese
Hämatologie
Zunahme des Hämatokrits, Abnahme der Leukozyten- und Thrombozytenzahl, Koagulopathie, DIC
Gastrointestinum
Ileus, Pankreatitis, Stressulzera, Leberdysfunktion
Endokrinium
Hyperglykämie
Hyper- oder Hypoglykämie
Skelett-Muskelsystem
Muskelzittern
schwaches Zittern, Muskelrigidität
Durchblutung und GFR sinken
„Pseudo-Rigor-mortis“
DIC = disseminierte intravasale Gerinnung; HZV = Herzzeitvolumen, GFR = glomeruläre Filtrationsrate; ZNS = zentrales Nervensystem
Monitoring
Allgemeine Maßnahmen
Patienten mit einer Hypothermie werden intensiv überwacht.
Die engmaschige Messung der Körperkerntemperatur ist unabdingbar, genauso wie eine kontinuierliche EKG-Überwachung.
Zusätzlich gehört die Pulsoxymetrie und bei maschineller Beatmung die Kapnometrie zum Basismonitoring.
Da Vasodilatation den Intravasalraum vergrößert, bedürfen Patienten mit einer Hypothermie im Rahmen der Wiedererwärmung vielfach einer differenzierten Flüssigkeitstherapie. Es sollten primär gewärmte Infusionen verabreicht werden, Inotropika
sollten vermieden werden, solange die Volumengabe mit positivem Kreislaufeffekt verbunden ist.
Ein Patient, der nicht weiter auskühlt, bei Bewusstsein bleibt
und eine stabile Hämodynamik bietet, bedarf keiner invasiven
Interventionen. Eine aggressive Therapie sollte dann erfolgen,
wenn der Patient trotz geeigneter Maßnahmen weiter auskühlt,
komatös und kreislaufinstabil wird. Etwa die Hälfte der Patienten
mit einer Hypothermie und Herzstillstand überleben mithilfe invasiver Techniken und zeigen eine vollständige neurologische
Erholung.
Das Risiko mild hypothermer Patienten für Herzrhythmusstörungen bei Wiedererwärmung ist gering. Die Oberflächenwiedererwärmung ist hier ausreichend [14], bei sehr niedrigen Körpertemperaturen allerdings weniger wirksam und birgt das Risiko
eines sekundären Schocks aufgrund einer peripheren Vasodilatation. Ringer-Laktatlösung ist nicht empfehlenswert, da die Leber
in der Hypothermie Laktat nicht adäquat verstoffwechseln kann.
Alternativ sind azetat- oder malatbasierte Lösungen zu verwenden.
Merke
*
Pulsoxymetriesensoren sollten an den Ohren oder der Stirn
befestigt werden, da eine periphere Vasokonstriktion, v. a. an
den Fingern, die Genauigkeit des Verfahrens einschränkt.
Bei Kreislaufinstabilität sind eine invasive Blutdruckmessung und
die Anlage eines zentralvenösen Katheters angezeigt. Großlumige
venöse Zugänge sind nicht nur bei Trauma oder größeren Flüssigkeitsverschiebungen sinnvoll. Spezielle Zugänge, wie Dialysekatheter oder venöse Katheter für z. B. eine extrakorporale Zirkulation, bleiben besonderen Situationen vorbehalten. Neben der
Echokardiografie zur punktuellen Bewertung der Herz-Kreislauf-Funktionen kann der Einsatz eines erweiterten hämodynamischen Monitorings (z. B. transpulmonale Thermodilution oder
Pulmonaliskatheter) zur differenzierten Volumen- und Katecholamintherapie angezeigt sein.
16.3.6 Therapie
Das Entfernen nasser Kleidung und die Isolierung des Patienten
dienen der Verhinderung weiterer Wärmeverluste. Bei Patienten
mit einer milden Hypothermie und vorhandener Thermoregulation sollten Wärmedecken und das Trinken warmer Flüssigkeit
ausreichend sein. Bei hämodynamisch stabilen Patienten sollte
die Kerntemperatur um 1 °C/h angehoben werden. Eine aktive
Wiedererwärmung ist notwendig bei Patienten mit kardiovaskulärer Instabilität und einer Temperatur < 32 °C.
16
1020
▶ Wiederherstellung von Sauerstoffversorgung und Kerntemperatur. Die Maßnahmen bei schwerer Hypothermie zielen auf
Erhaltung oder Wiederherstellung der Sauerstoffversorgung und
einer Kerntemperatur von > 32 °C ab. Bei zutiefst hypothermen
Patienten besteht die Gefahr von Kammerflimmern, sodass geeignete Gerätschaften und Medikamente zur Akuttherapie vorzuhalten sind [10]. Die Behandlung hypothermieinduzierter Arrhythmien sollte mit Amiodaron erfolgen, Lidocain gilt als ineffektiv.
Bereits bei einer milden Hypothermie sollten die Lungenfunktion und Atemfrequenz kontinuierlich überwacht werden, bei
moderater Hypothermie ist eine endotracheale Intubation und
maschinelle Beatmung angezeigt. Die Entwicklung einer Rhabdomyolyse (Kreatinkinase, Myoglobin) bedarf der engmaschigen
Überwachung der Nierenfunktion. In Anbetracht der gestörten
plasmatischen und thrombozytären Gerinnung gehören ein eng-
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Tab. 16.8
16.3 Thermische Schäden durch Kälte
Reanimation bei Unterkühlung
Gemäß der ERC-Leitlinien 2010 [17] sollen die Frequenzen der
Beatmung und der HDM identisch zu nicht unterkühlten Patienten sein. Allerdings unterscheiden sich die Empfehlungen in
Bezug auf den Einsatz kardial wirksamer Medikamente (< 30 °C:
keine Medikamente, 30 – 35 °C: doppeltes Intervall) und der Defibrillation (nach 3 erfolglosen Schocks vor weiteren Schocks eine
Körperkerntemperatur [KKT] > 30 °C abwarten).
Die Hypoxietoleranz des Gehirns ist in Anbetracht des durch
Unterkühlung reduzierten Stoffwechsels erhöht. Eine Reanimation kann daher auch nach längerem Stillstand erfolgreich sein.
Es gilt der Grundsatz:
Merke
„Niemand ist tot, bevor er nicht warm und tot ist!“
*
Die Reanimation kann beendet werden, wenn der Patient wärmer als 35 °C ist und weiterhin eine Asystolie besteht.
Spezielle Maßnahmen
Zur Anhebung der Körperkerntemperatur bestehen folgende
Möglichkeiten:
● Inhalation,
● intravenöse Infusion,
● Lavage von Körperhöhlen,
● extrakorporale Verfahren.
Merke
*
Ein kardiopulmonaler Bypass sollte bei Kammerflimmern oder
schwerster Hypothermie eingesetzt werden. Dieses Verfahren
ist einer Pleuralavage überlegen, doch ist es sehr aufwendig,
entsprechendes Equipment und erfahrenes Personal sind nur
in speziellen Zentren vorhanden.
Atemluftbefeuchtung und -erwärmung
Durch die Verwendung von Wärme- und Feuchtigkeitstauschern
(Heat and Moisture Exchangers, HME-Filter) kann bei der Beatmung der Wärmeverlust um ca. 80 % auf 1,4 W gesenkt werden
[3]. Die Klimatisierungsleistung von HME-Filtern ist begrenzt, da
sie als passive Systeme der Inspirationsluft nur so viel Feuchtigkeit und Wärme zufügen können, wie in der vorausgegangenen
Exspiration gespeichert wurde. Aktive Befeuchter (heizbares
Wasserbad) setzen der Inspirationsluft Feuchtigkeit und Wärme
zu und gewährleisten eine relativ gute Atemgasklimatisierung.
Nachteilig ist jedoch das Risiko einer bakteriellen Kontamination
des Wasserreservoirs und des Kondensats im Schlauchsystem.
Das Einatmen von beheiztem und befeuchtetem O2 (40 °C) über
Maske oder Tubus verhindert Wärmeverluste über die Atemwege
und kann eine Erwärmung von 1 – 2 °C/h bewirken.
Intravenöse Infusion
Die Gabe von 6 – 8 Litern ungewärmter (16 – 20 °C) Infusionslösung senkt beim Erwachsenen die Körpertemperatur um ca.
2 °C [20]. Im Rahmen der Verabreichung großer Flüssigkeitsmengen sollte ein Infusionswärmer eingesetzt werden. Bei hohen
Flussraten (> 2 l/h) hat die Erwärmung der Flüssigkeiten im Wärmeschrank einen positiven Effekt, bei niedrigen Flussraten ist sie
aufgrund der Abkühlung ineffektiv. Im Gegensatz dazu sind Infusions- und Blutwärmesysteme auch in der Lage, bei niedrigeren
Flussraten eine effektive Erwärmung sicherzustellen. Die Leistungsfähigkeit der einzelnen Systeme ist konstruktionsbedingt
sehr unterschiedlich [20]. Auch Blutprodukte, v. a. bei Massivtransfusionen, müssen erwärmt werden.
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maschiges Monitoring der Gerinnung und ggf. der Einsatz differenzierter Tests zum allgemeinen Management. Die Gabe von
Blutkomponenten und Plasmaderivaten sind v. a. beim Patienten
mit Trauma unumgänglich, da eine Normalisierung der physiologischen Funktionen erst mit Anhebung der Temperatur erzielt
werden kann [15]. Ein etwaiger Transfusionsbedarf steigt mit
dem Ausmaß der Hypothermie [19]. Die Gabe gerinnungshemmender Substanzen (z. B. Heparin) bedarf der engmaschigen
Überwachung und Therapieanpassung.
Empfehlungen für eine Antibiotikaprophylaxe liegen nicht vor.
Infektionen anderer Körperregionen sollten nach adäquater Diagnostik gezielt behandelt werden. Wenn sich aus einer Nekrose
eine Gangrän entwickelt, sollten eine mikrobiologische Materialgewinnung und antiinfektive Therapie erfolgen. Sollte der Patient
eine Sepsis entwickeln, erfolgt die Therapie leitlinienkonform
[18].
Lavage von Körperhöhlen
Eine Lavage der Harnblase oder des Gastrointestinaltrakts ist weniger effizient als die Erwärmung über Abdominal- oder Thoraxdrainagen. Eine Peritoneallavage mit 40 °C Dialysat ist v. a. nützlich bei stark unterkühlten Patienten, die eine Rhabdomyolyse,
Intoxikation oder Elektrolytanomalien aufweisen [4].
Zur Pleuralavage werden 2 linksseitige 38F-Thoraxdrainagen
eingebracht (3. ICR mittklavikulär und 6. ICR mittlere Axillarlinie). Isotone Kochsalzlösung (3 Liter, 41 °C) wird über die vordere Drainage mit 2 l/min verabreicht, dann via Schwerkraft über
die posteriore Drainage eliminiert.
Extrakorporale Verfahren
▶ Konduktive Verfahren. Hierzu zählen Anhebung der Raumtemperatur, transkutane Systeme sowie die direkte Wärmung
über den Ösophagus.
▶ Direkte Wärmung des Ösophagus. Hierbei wird an einer zentralen, gut vaskularisierten Stelle ein mit warmem Wasser
(37 – 40 °C) erhitzter Körper platziert. Allerdings bestehen durch
die zentrale Anwendung nur ein kleiner Temperaturgradient und
insbesondere eine relativ kleine gewärmte Fläche. Dadurch ist
der mögliche Wärmetransfer auf ca. 8 W limitiert, eine alleinige
Anwendung ist somit keinesfalls ausreichend [3].
▶ Konvektive Verfahren. Hierzu zählen Körper(teil-)decken und
auch Spezialbetten. Innerhalb einer Matratze oder eines
Schlauchsystems zirkuliert wahlweise einstellbar temperierte
Luft an der Patientenoberfläche und gibt somit Wärme an den
Körper ab. Die konvektiven Luftwärmesysteme stellen die effektivste Form der Wärmeprotektion dar, sollten jedoch stets in
Kombination mit anderen Verfahren eingesetzt werden [2]. Es
gibt spezielle Tischauflagen, die in der Regel mit warmem Wasser
durchspült werden, oder gewärmte Gelauflagen. Es gilt zu beachten, dass bei einer eingestellten Wassertemperatur von 37 °C die
Wärmebilanz an der gewärmten Stelle sogar negativ ist, da die
Mattentemperatur unter dem Rücken niedriger als die eingestellte Temperatur ist [7]. Es ergeben sich dann Wärmeverluste mit
einem Temperaturgradienten von -0,4 °C mit 6,4 W, die ähnlich
hoch sind wie ohne diese Therapie. Es ist also bei der Anwendung
auf eine möglichst große Kontaktfläche zu achten, ebenfalls muss
die Temperatur des Mediums genau überwacht werden.
16
1021
Thermische und physikalische Schädigungen
Merke
*
Im Gegensatz zu anderen extrakorporalen Verfahren (Rollerpumpensystem) muss bei dieser Vorgehensweise eine suffiziente Herzfunktion vorliegen.
Die entsprechenden Gefäßzugänge werden in der Regel femoralvenös platziert. Der Kreislauf ist „Motor“ des Systems, die erwärmten Lösungen werden venös infundiert, das Blut im Gegenstromprinzip gegen warmes Wasser erwärmt.
16.3.7 Bewertung der Verfahren
Es liegen bislang keine systematischen Studien zur Frage nach
der Auswahl der Verfahren vor. Bei stark hypothermen Patienten
mit Herzstillstand sollte ein kardiopulmonaler Bypass erwogen,
bei Nichtverfügbarkeit kann auch eine venovenöse Hämofiltration notfallmäßig eingesetzt werden.
Es konnte gezeigt werden, dass eine Wiedererwärmung mit
mehr als 2 °C/h ein besseres Outcome zur Folge hatte als eine
langsamere Erwärmung [8, 9]. Manche Autoren empfehlen eine
rasche Wiedererwärmung auf 33 °C und Aufrechterhaltung dieser
Temperatur im Sinne einer therapeutischen Hypothermie.
16.3.8 Komplikationen bei
Wiedererwärmung
▶ Endovaskuläre Aufwärmung. Eine endovaskuläre Technik
(Coolgard, Fa. Zoll) beruht auf einem speziellen zentralvenösen
Katheter, über dessen Ballon Flüssigkeit zirkuliert. Der Katheter
fungiert als „Radiator“ und kann über die Messung der Körpertemperatur mittels Thermistor die Temperatur einstellen [21, 22].
Mit diesem invasiven Verfahren kann die Körperkerntemperatur
um bis zu 3 °C/h angehoben werden.
▶ CVVH (kontinuierliche venovenöse Hämofiltration). Die
CVVH bietet über eine Heizung die Möglichkeit, das Blut extrakorporal aufzuwärmen. Ummantelungen der Blutleitungen beugen einem Wärmeverlust vor. Bei langsamem Fluss kann das Blut
deutlich mehr an Wärme verlieren als bei hohem Fluss. Große
Filter erhöhen die Kontaktzeit mit einem körperfremden Medium und es kann mehr Wärme zugeführt werden.
*
In Anbetracht der vielfältigen Möglichkeiten zur Korrektur einer
Hypothermie sollte die Kombination verschiedener Maßnahmen in Betracht gezogen werden, da in der Regel damit bessere Erfolge erzielt werden können. Eine alleinige medikamentöse und apparative Therapie kann durch den Einsatz von
physikalischen Maßnahmen in ihrer Intensität verringert werden.
Cave
16
1022
Komplikationen bei der Behandlung von
Hypothermie
●
Mithilfe der extrakorporalen Membranoxygenierung (ECMO) ist
es möglich, den Patienten schnellstmöglich auf ein angesteuertes
Temperaturniveau zu bringen und ebenso begleitende Symptome, wie Elektrolytverschiebungen, Oxygenierungsstörungen
sowie hämodynamische Komplikationen, zu überbrücken bzw.
zu beheben. Der Säure-Basen-Haushalt kann über die ECMO
durch Pufferung ausgeglichen und das Serumkalium kann durch
den Einsatz eines Hämofilters beeinflusst werden [24, 25]. Der
Kontakt des „flüssigen“ Organs Blut mit Fremdoberflächen bedingt eine physiologische Gerinnungsaktivierung, die unterbunden werden muss. Komplikationen können somit in Form von
Blutungen, neurologischen Ausfällen, Stoffwechselstörungen,
Sepsis, Oxygenatorversagen, Schlauchrisse, Pumpenstörungen
und Embolien auftreten.
)
Bei den extrakorporalen Verfahren (CVVH, ECMO) wird in der
Regel eine Antikoagulation mit Heparin durchgeführt. Aufgrund der durch Hypothermie induzierten Gerinnungsstörung
ist eine engmaschige Kontrolle der Kathetereintrittsstellen
zwingend erforderlich.
.
Der Afterdrop-Effekt beschreibt einen weiteren Abfall der Körperkerntemperatur und eine zunehmende Einschränkung der
Organfunktionen nach Beginn der Wiedererwärmung. Dieses
Phänomen beruht am ehesten auf der Erwärmung peripherer
Gewebe und darauf, dass über eine Vasodilatation unterkühltes
Blut in den Körperkern gelangt. Gefürchtet ist außerdem der
„Bergungskollaps“, bei dem es durch Bewegung und Positionsveränderung zum Eintreten von kaltem Blut nach zentral kommt.
●
Extrakorporale Membranoxygenierung
Merke
Definition
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Schock, Hypotonie infolge Vasodilatation,
Laktazidose durch Rezirkulation,
Elektrolytimbalanzen (z. B. Hyperkaliämie, Hypokalzämie, Hypomagnesiämie),
Lungenödem,
Pankreatitis,
Verbrennungen in kalten und vasokonstringierten Arealen
nach Anwendung von Wärmflaschen oder Heizkissen,
Neutropenie, Thrombozytopenie und Infektion,
iatrogene Hyperthermie,
Kammerflimmern,
Peritonitis,
gastrointestinale Blutung,
akute tubuläre Nekrose,
Rhabdomyolyse,
Gangrän,
Kompartmentsyndrom.
16.3.9 Medikolegale Aspekte
Die wichtigsten medizinisch-juristischen Aspekte beinhalten eine
mögliche Fehldiagnose und die nicht adäquate Dokumentation
der Kerntemperatur. Ein potenzieller Fallstrick in der Behandlung
von Patienten mit Hypothermie liegt zudem in sekundären Ursachen oder anderen Krankheitszuständen, wie z. B. Sepsis, Hypothyreose oder Intoxikationen. Generell sollten bei allen hypothermen Patienten ohne offensichtliche, mit dem Leben nicht
vereinbare Verletzungen Wiederbelebungsversuche eingeleitet
werden. Der Patient sollte erwärmt und reanimiert werden, bis
die Kerntemperatur > 35 °C beträgt. Falls dieses Kriterium erfüllt
ist und keine Lebenszeichen vorliegen sollten, kann die Beendigung der Maßnahmen indiziert sein.
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▶ Druckinfusionssysteme. Eine Option stellt der Einsatz eines
Druckinfusionssystems dar, wie es z. B. im Rahmen einer Massivinfusion benutzt wird.
16.3 Thermische Schäden durch Kälte
Die Sterblichkeit von Patienten mit einer milden Hypothermie
beträgt 12 % und steigt bei einer moderaten Hypothermie auf
21 %. Bei einer schweren Hypothermie liegt die Sterblichkeit
trotz Krankenhausbehandlung bei nahezu 40 %. Eine Indoor-Hypothermie ist wahrscheinlicher bei Patienten mit medizinischen
Begleiterkrankungen (Sepsis, Hypothyreose und Hypophysendysfunktion) und tendenziell liegen hier schlechtere Ergebnisse vor
[23].
Die Gesamtsterblichkeit zwischen beiden Geschlechtern ist
ähnlich. Aufgrund einer höheren Expositionsrate bei Männern
tragen sie zu 65 % der Todesfälle durch Hypothermie bei. Etwa
die Hälfte der Todesfälle mit Hypothermie finden sich bei Personen mit einem Alter > 65 Jahre. In einzelnen Fällen konnten
Patienten, die sich für mehr als 1 h in eisigem Wasser befunden
hatten (Körpertemperatur 13,7 °C und fehlende Pupillenreaktion), erfolgreich ohne dauerhaften neurologischen Schaden wiedererwärmt werden. Bezogen auf ein bestimmtes Ausmaß und
die Dauer der Hypothermie können sich Kinder eher als Erwachsene erholen. Die Prognose ist im Einzelfall schwer vorherzusagen und kann nicht mittels „Glasgow Coma Scale“ zuverlässig
abgeschätzt werden. Eine infauste Prognose kann vermutet werden bei einer Asphyxie vor Eintritt der Hypothermie, einem Serumkalium > 10 mmol/l, langen Reanimationszeiten unter Anwendung von Katecholaminen und einem begleitenden schweren Trauma [13]. Hypothermie, Koagulopathie und Azidose beim
Patienten mit Trauma [16] gelten als „Triade des Todes“.
Kernaussagen
Einleitung
Die Einwirkung von Kälte kann zu Schädigungen mit funktionellen Störungen letztlich aller Organe führen. Die Anfälligkeit des
Organismus gegenüber Kälte wird verstärkt durch Dehydratation, Drogen, Alkoholgenuss, Anämie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Vor allem sehr junge und alte Menschen sind gegenüber
Kälte gefährdet. Eine Hypothermie liegt vor bei einer Körperkerntemperatur < 35 °C und entsteht, wenn der Körper die physiologische Temperatur nicht mehr aufrechterhalten kann.
Inzidenz
Genaue Zahlen zur Inzidenz der Hypothermie liegen nicht vor. In
den letzten Jahren werden aufgrund vermehrter Freizeitaktivitäten und veränderter städtischer Bedingungen steigende Patientenzahlen gemeldet. In den USA versterben aktuell pro Jahr ca.
600 Patienten an einer primären Hypothermie.
Physiologie und Pathophysiologie
Die Körperkerntemperatur wird physiologisch eng in der „thermoneutralen Zone“ zwischen 36,5 und 37,5 °C reguliert. Der
Hypothalamus steuert die Thermoregulation durch verstärkte
Wärmeerhaltung (periphere Gefäßverengung, Verhaltensänderung) und Wärmeerzeugung (Schüttelfrost, Anstieg von Thyroxin
und Adrenalin). Einschränkungen der Funktionen des ZNS können diese Mechanismen beeinträchtigen.
Klinisches Bild
Besonders gefährdet sind die Akren, wie Hände, Füße, Ohrläppchen und die Nasenspitze. Die Gradeinteilung von Erfrierungen
kann erst nach dem Wiedererwärmen vorgenommen werden
und hängt von der Blasenbildung und der Dauer bis zur vollständigen Wiedererwärmung ab. In Abhängigkeit des Ausmaßes
der Hypothermie kann es zum Herz-Kreislauf-Stillstand kommen.
Diagnostik und Gradeinteilung
Entscheidend zur Diagnosestellung ist eine rasche Bestimmung
der Körperkerntemperatur. Orale oder rektale Messungen sind
nicht adäquat, da beide die tatsächliche Kerntemperatur nicht
korrekt wiedergeben müssen. Messungen in der Harnblase oder
intravasal liefern die Kerntemperatur zuverlässiger.
Eine milde Hypothermie (32 – 35 °C) ist geprägt von Muskelzittern
(Shivering). Bei einer Temperatur < 34 °C ist die Vigilanz des
Patienten verringert, die Atemfrequenz kann erhöht sein. Ab
33 °C liegen eine Ataxie und Apathie vor. Die Hämodynamik ist
in der Regel stabil.
Bei einer moderaten Hypothermie (28 – 32 °C) treten Hypoventilation, Hyporeflexie, Stupor und rückläufige Diurese ein. Unterhalb von 31 °C verliert der Körper seine Fähigkeit, durch Shivering Wärme zu generieren. Ab 30 °C steigt die Gefahr von
Arrhythmien, Vorhofflimmern oder anderen atrialen sowie ventrikulären Rhythmusstörungen. Herzfrequenz und Herzzeitvolumen nehmen ab. Zwischen 28 und 30 °C kommt es zur Erweiterung der Pupillen, es kann ein hirntodähnlicher Zustand eintreten.
Bei einer schweren Hypothermie (< 28 °C) können sich Kammerflimmern und eine schwersteingeschränkte kardiale Funktion
entwickeln. Es liegen in der Regel Koma und Areflexie vor.
Es gilt der Merksatz: „Niemand ist tot, bevor er nicht warm und
tot ist!”
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16.3.10 Prognose
Therapie
Bei den Wiedererwärmungsmaßnahmen lassen sich Inhalation,
intravenöse Infusion, Lavage von Körperhöhlen und extrakorporale Verfahren unterscheiden. Es liegen bislang keine systematischen Studien zur Frage nach der Auswahl der Verfahren vor. Bei
stark hypothermen Patienten mit Herzstillstand sollte ein kardiopulmonaler Bypass erwogen werden, bei Nichtverfügbarkeit
kann auch eine venovenöse Hämofiltration notfallmäßig eingesetzt werden.
Bewertung der Verfahren
Es liegen bislang keine systematischen Studien zur Frage nach
der Auswahl der Verfahren vor. Bei stark hypothermen Patienten
mit Herzstillstand sollte ein kardiopulmonaler Bypass erwogen
werden, bei Nichtverfügbarkeit kann auch eine venovenöse
Hämofiltration notfallmäßig eingesetzt werden.
Komplikationen bei Wiedererwärmung
Der Afterdrop-Effekt beschreibt einen weiteren Abfall der Körperkerntemperatur und eine zunehmende Einschränkung der
Organfunktionen nach Beginn der Wiedererwärmung. Dieses
Phänomen beruht am ehesten auf der Erwärmung peripherer
Gewebe und darauf, dass über eine Vasodilatation unterkühltes
Blut in den Körperkern gelangt. Gefürchtet ist außerdem der
„Bergungskollaps“, bei dem es durch Bewegung und Positionsveränderung zum Eintreten von kaltem Blut nach zentral kommt.
Medikolegale Aspekte
Die wichtigsten medizinisch-juristischen Aspekte beinhalten eine
mögliche Fehldiagnose und die nicht adäquate Dokumentation
der Kerntemperatur. Ein potenzieller Fallstrick liegt zudem in
sekundären Ursachen oder anderen Krankheitszuständen, wie
z. B. Sepsis, Hypothyreose oder Intoxikationen. Generell sollten
bei allen hypothermen Patienten ohne offensichtliche, mit dem
Leben nicht vereinbare Verletzungen Wiederbelebungsversuche
eingeleitet werden. Der Patient sollte erwärmt und reanimiert
werden, bis die Kerntemperatur > 35 °C beträgt. Falls dieses Kriterium erfüllt ist und keine Lebenszeichen vorliegen sollten, kann
die Beendigung der Maßnahmen indiziert sein.
16
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Prognose
Die Sterblichkeit von Patienten mit einer milden Hypothermie
beträgt 12 % und steigt bei einer moderaten Hypothermie auf
21 %. Bei einer schweren Hypothermie liegt die Sterblichkeit
trotz Krankenhausbehandlung bei nahezu 40 %. Die Gesamtsterblichkeit zwischen beiden Geschlechtern ist ähnlich. Aufgrund einer höheren Expositionsrate bei Männern tragen sie zu
65 % der Todesfälle durch Hypothermie bei. Etwa die Hälfte der
Todesfälle mit Hypothermie finden sich bei Personen im Alter
von > 65 Jahren. Eine infauste Prognose kann vermutet werden
bei einer Asphyxie vor Eintritt der Hypothermie, einem Serumkalium von > 10 mmol/l, langen Reanimationszeiten unter Anwendung von Katecholaminen und einem begleitenden schweren Trauma. Hypothermie, Koagulopathie und Azidose gelten
beim Patienten mit Trauma als „Triade des Todes“.
Literatur
16
1024
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system and a convective air warmer. Intensive Care Med
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In: Moore EE, Feliciano DV, Mattox KL, Hrsg. Trauma. 5. Aufl.
New York: McGraw-Hill; 2004: 877 – 900
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acidosis worsen coagulopathy in the patient requiring massive transfusion. Am J Surg 1990; 160: 515 – 518
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the victim of major trauma protective or harmful? A randomized, prospective study. Ann Surg 1997; 226: 439 – 449
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timing of hypothermia in trauma patients undergoing operations. J Trauma 1991; 31: 795 – 800
[11] Gubler KD, Gentilello LM, Hassantash SA et al. The impact of
hypothermia on dilutional coagulopathy. J Trauma 1994; 36:
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[12] Hoedemaekers CW, Ezzahti M, Gerritsen A et al. Comparison
of cooling methods to induce and maintain normo- and hypothermia in intensive care unit patients: a prospective intervention study. Crit Care 2007; 11: R91
[13] Jurkovich GJ, Greiser WB, Luterman A et al. Hypothermia in
trauma victims: an ominous predictor of survival. J Trauma
1987; 27: 1419 – 1424
[14] Koller R, Schnider TW, Neidhart P. Deep accidental hypothermia and cardiac arrest – rewarming with forced air.
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hypothermia in seriously injured patients. J Trauma 1987;
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[17] Nolan JP, Soar J, Zideman DA et al.; ERC Guidelines Writing
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[18] Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge der Sepsis. 1.
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e. V. (DSG) und der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). In: Reinhart
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rewarming for hypothermia associated with traumatic injury: early experience with a new technique. Proc (Bayl
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[23] Vassal T, Benoit-Gonin B, Carrat F et al. Severe accidental
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bypass resuscitation for accidental hypothermia. Ann Thoracic Surg 1994; 58: 895 – 898
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survivors of accidental deep hypothermia and circulatory
arrest treated with extracorporeal blood warming. NEJM
1997; 337: 1500 – 1505
16.4 Verletzungen durch chemische
Substanzen
A. Hohn, F. Wappler
16.4.1 Einleitung
Mehr als 25 000 Chemikalien, von denen eine Großzahl Verätzungen hervorrufen können, werden regelmäßig in der Industrie, in der Landwirtschaft, aber auch im Haushalt eingesetzt.
Etwa 3 % der Verletzungen in Verbrennungszentren sind auf chemische Substanzen zurückzuführen. Dabei spielen in der Praxis
häufig Verletzungen durch Zement, Kalk, Salz-, Schwefel- oder
Flusssäure sowie Verätzungen durch starke Laugen, die auch oft
in Haushaltsreinigern zu finden sind, eine Rolle. Eine Abgrenzung
des betroffenen Hautareals ist bei Verätzungen oft schwierig.
Zudem können bei noch diskreten oberflächlichen Zeichen bereits tiefe Schädigungen vorliegen.
Merke
*
Aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Substanzen und
der möglichen schwerwiegenden Schädigungen muss frühzeitig eine Vergiftungszentrale kontaktiert werden, auch um
eventuell mit spezifischen Therapiemaßnahmen adäquat reagieren zu können.
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Thermische und physikalische Schädigungen
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