Das Zieh und Stanzwerk in Schleusingen Munitionsfabrik mit GeheimCodes (19361945) Helmut Billeb, Schleusingen Eigenständiges Unternehmen im Rüstungskonzern Originalstempel mit Unterschrift des Betriebsdirektors Du Bois Als bisher größter Industriebetrieb in der Geschichte der Stadt Schleusingen beschäftigte das Zieh und Stanzwerk in den letz ten Kriegsjahren bis 1945 ständig mehr als 1800 Arbeits kräfte, davon mehr als 1400 ausländische Zwangsarbeiter, zur Herstellung von Infanteriemunition für den 2. Weltkrieg. Schleusinger Blätter 8/2011 Dieser Beitrag soll und kann nach den vorliegenden Quellen nur auszugsweise die Geschichte dieses Werkes sachlich do kumentieren. Die tragischen Schicksale und die Leiden, die dabei die vielen ausländischen Zwangsarbeiter und ihre Kin der durch die deutschen Nationalsozialisten jahrelang, mehr fach bis in den Tod, erfahren mussten, dürfen wir niemals ver gessen. Sie sind auch nicht wiedergutzumachen, trotz mancher verbotenen freundschaftlichen Kontakte der Schleusinger Be völkerung zur Linderung von Not und Elend (siehe auch „NS Zwangsarbeiter in Schleusingen (19391945)“ in: „Schleu singer Blätter“, 7. Ausgabe/2010 und im Internet unter www.schleusingen.de). 40 Das Werk gehörte als eigenständiges Unternehmen „Zieh und Stanzwerk G.m.b.H.“ zum großen Rüstungskonzern „Kopp & Co. m.b.H. Berlin“ mit Sitz der Zentrale in Berlin (19241944) und danach in Treuenbrietzen (19441945). Der hiesige Rüstungsbetrieb produzierte von 19371945 unter dem geheimen HerstellerCode P442 (19371941) und hlc (19411945) Infanteriemunition. Geleitet wurde das Unternehmen von Dipl.Ing. Du Bois (Betriebsdirektor), der vom Stammbetrieb „Metallwarenfabrik Treuenbrietzen G.m.b.H.“ nach Schleusingen delegiert wurde, und vom Schleusinger Adolf Walz, kaufmännischer Direktor und 1. Stellvertreter des Betriebsdirektors. Ihnen zur Seite standen die Meister Hermann Haase, Otto Zauber und Paul Eule, die vorher auch in diesem Stammbetrieb tätig waren. Zur Entstehung des Werkes Nachdem das Landratsamt des Kreises Schleusingen 1929 von Schleusingen nach Suhl verlegt worden war und sich die Welt wirtschaftskrise von 19291932 verheerend auch auf die wirt schaftliche Entwicklung unserer rund 4600 Einwohner zäh lenden Stadt ausgewirkt hatte (Notstandsgebiet, etwa 500 Un terstützungshilfeempfänger), wurde 1935 auf Antrag des da maligen Bürgermeisters Syré von den zuständigen Behörden der Bau einer Munitions fabrik mit der unverfänglichen Tarnbezeichnung „Zieh und Stanzwerk“ genehmigt. Das Gelände des Zieh und Stanzwerkes als Ausschnitt einer amerikanischen Luftaufnahme von 1945, im Vordergrund die Baracken an der Hildburghäuser Straße als Unterkünfte der Arbeitskräfte (Fotografik von Lothar Günther, Suhl) Nachdem bereits 1935 der Rüstungskonzern „Kopp & Co. G.m.b.H. Berlin“ die not wendigen Grundstücke auf dem Gelände des ehemali gen Sägewerkes Heinrich Müller, der Lederwarenfabrik Walz, der früheren Brauerei Schönbeck im Eichenhof und einige Wiesen am Kalkrangen erworben und dem neuen Zieh und Stanzwerk übereignet hatte, wurde 1936/37 auf dem Gelände zwischen der Hildburghäuser Straße und der Talstraße das Werk errich Später wurden das Verwaltungsgebäude sowie ein Luft schutzkeller gebaut (1940), eine Neutralisationsanlage am Wassergraben zur Verhinderung des Fischsterbens in der Nahe/Schleuse durch giftige Abwässer errichtet und die größ te Halle „H“ („Hülse“) mit der Glüherei und Lackiererei von rund 93m x 40m auf 93m x 50m erweitert (1941). Umbau maßnahmen bzw. Reparaturen gab es an beiden Pulverlagern nach einem Explosionsunfall mit mehreren Schwerverletzten und in der Beschussanlage im Eichenhof nach Brand und Unfall mit tödlichem Ausgang (1943). Außerhalb des Werkgeländes gehörten von Anfang an noch zum Zieh und Stanzwerk die 19401942 errichteten Ba rackenlager in der Hildburghäuser Straße (heute Grundstücke Wohnblocks 13/15 und 17/19 sowie AVIATankstelle und Haus Nr. 25, damals Nr. 15) und an der Schleuse nahe der alten Pulvermühle (1943), heute Grundstück Schleusinger Elektro Service GmbH (SES), SMB Maler, Druckerei Förster u. a., sowie die Beschussanlage im Eichenhof (früher Gelände der Bierbrauerei Schönbeck). Munition für Karabiner Das Zieh und Stanzwerk in Schleusingen verfügte für dama lige Verhältnisse über modern ausgestattete Produktionsan lagen zur Munitionsherstellung. Gefertigt wurde hier von 19371945 fast ausschließlich die Patrone 7,72 mm (zivile Bezeichnung auch 8x57 bzw. 8 mm Mauser) für Karabiner K98, das Standardgewehr der deutschen Wehrmacht im 2. Weltkrieg, hergestellt durch die Firma Mauser in Oberndorf und Berlin (kurzzeitig auch Pistolenmunition). Als Geschosse für die Patronen wurden nur Spitzgeschosse verwendet, ab 1942 das Spitzgeschoss mit Eisenkern (SmE) für eine leichtere Patrone, um mit zunehmender Kriegsdauer Material sparen zu können. Im Laufe der Zeit änderte sich auch das dazu verwendete Material der Geschosse und der Hülsen. Die Stempel auf dem Hülsenboden und die Etiketten auf der Verpackung der Patronen gaben meist Auskunft über den Her Code zur Kennzeichnung der Munition Hersteller: P442 hlc Zieh und Stanzwerk Schleusingen (19371941) Zieh und Stanzwerk Schleusingen (19411945) Geschoss der Patrone: sS SmE schweres Spitzgeschoss (19371941) Spitzgeschoss mit Eisenkern (19421945) Material der Hüse: S Mat Mat* St St+ St+ Messing (19371939) Stahl verkupfert (19391940) Stahl lackiert (19401941) Stahl lackiert (19411942) Stahl lackiert, mit verstärktem Hülsenboden (19431944) Stahl lackiert, mit verstärktem Hülsenboden und Einlochzündung (19441945) Patrone 7,72 mm (oben links), Bodenstempel einer Patronenhülse (oben rechts) und ein Verpackungsetikett des Zieh und Stanzwerkes steller, das verwendete Material, das Hererstellungsdatum und die Art des Geschosses. Mehr als 1400 ausländische Zwangsarbeiter Im Ziehund Stanzwerk waren anfangs nur Deutsche aus der Region Schleusingen, sogenannte Gefolgschaftsmietglieder (meist Frauen), in einer 48StundenWoche mit täglich 8 Stun den Arbeitszeit beschäftigt. Diese Arbeitszeit wurde für mehr als 600 Deutsche bereits 1938 infolge der beschleunigten Kriegsvorbereitung auf Druck des Oberkommandos des Hee res wöchentlich auf 60 Stunden mit nur geringem Lohn erhöht. Während des 2. Weltkrieges wurden ausländische Zivilar beiter (vor allem polnische Frauen und Franzosen), Kriegs gefangene (ab 1940 Polen, ab 1943 vor allem italienische Militärinternierte) und ab 1942/43 insbesondere die soge nannten Ostarbeiter aus den von der deutschen Wehr macht besetzten Ostgebieten hierher zur Zwangsarbeit ver Schleusinger Blätter 8/2011 tet und bis 1944 erweitert (heutiges Gelände REWEMarkt, Klöpferholz GmbH, Rehabilitationszentrum Thüringer Wald). So entstanden in kürzester Zeit auf diesem Gelände u. a. 3 große Produktionshallen (H, K, F) zur Herstellung der Patronen hülsen, der Geschosse und die Fertigung der Patronen, zwei Pulverlager für ca. 30000 kg Schwarzpulver und 15 Millionen Zündhütchen, die Halle „Wema“ (Werkzeug und Maschi nenbau) längs der Hildburghäuser Straße, 3 größere Aufent haltsgebäude für Werkangehörige, eine unterirdische Be schussanlage (heutiges Gelände der Gärtnerei des Reha Zentrums an der Nahe), 2 TrafoStationen sowie mehrere Lagerhallen. 41 pflichtet. Zu den Ostarbeitern gehörten meist junge Frauen aus der Ukraine und Russland, einige auch mit ihren Kindern. Vor allem polnische Arbeitskräfte und Ostarbeiter arbeiteten und lebten hier nach den sogenannten Polenerlassen und dem Ostarbeitererlass von 1942 unter besonders diskriminieren den Bedingungen. Sie mussten bis Kriegsende in einer 6 TageWoche wöchentlich sogar 66 Stunden in der Tages schicht und 55 Stunden in der Nachtschicht arbeiten für einen Hungerlohn, von dem noch die Kosten für Unterkunft und Ver pflegung abgezogen wurden. Die Unterkünfte für die ausländischen Arbeitskräfte des Zieh und Stanzwerkes befanden sich in den bereits erwähn ten Baracken in der Hildburghäuser Straße nahe dem Werk und an der Schleuse nahe der ehemaligen Pulvermühle mit je einer Fläche von etwa 40 m x 15 m sowie im „Schloßkeller Lager“, einem heute abgerissenen Saal des ehemaligen Hotels „Schloßkeller“ an der Schlosskreuzung, wo vor allem Kroaten untergebracht waren. Die von 1942 bis 1945 im Werk beschäf tigten Ostarbeiter mussten zusammengepfercht und ständig bewacht in 2 Ostarbeiterlagern leben, einige zusammen mit ihren Kindern: im „Lager „Herkules“, einem Barackenlager in der Hildburghäuser Straße, mit mehr als 500 Personen; im Lager „Grüner Baum“, einem ehemaligen Hotel am Markt 19, mit etwa 280 Frauen. Das Ende des Zieh und Stanzwerkes Schleusinger Blätter 8/2011 Bei einer Überprüfung des Betriebes am 10. Mai 1944 war im Vergleich zum Beginn ein Rückgang der deutschen Ange stellten und Arbeiter von 610 auf 372, davon 245 Frauen, und ein großer Zugang von insgesamt 1434 ausländischen Zwangsarbeitern, davon 1084 Frauen, zu verzeichnen. 42 Die Verpflegung erfolgte für sämtliche Ausländer als Massen speisung mittags im Werk, getrennt von den deutschen Arbei tern und Angestellten, früh und abends in den Unterkünften, isoliert von der deutschen Bevölkerung. Offensichtlich beka men die ausländischen Zwangsarbeiter weniger Essen als die Deutschen, meist in geminderter Qualität. Zubereitet wurde das Mittagessen in der Betriebsküche unter Leitung der beiden Schleusinger Frauen Emilie Müller (auch bekannt als Schleu singer Orginal „Miele“) und Helga Gothe mit Unterstützung einiger Zwangsarbeiterinnen als Hilfskräfte. Im Mai 1944 nah men u. a. auch etwa 180 Deutsche an der Mittagsverpflegung im Werk teil. Originallöffel aus dem Zieh und Stanzwerk Verpackte Maschinen des Zieh und Stanzwerkes in der Hildburghäuser Straße Ende der 1940er Jahre im Vordergrund, das Werksgelände im Hintergrund Mit der Besetzung der Stadt Schleusingen durch die Amerika ner am 6. April 1945 wurde auch die Arbeit im Werk einge stellt. Die letzten ausländischen Zwangsarbeiter verließen die Stadt Schleusingen jedoch erst in der Woche vom 27. Mai bis 2. Juni 1945. Was während dieser Zeit im Werk und mit den Ausländern geschah, bleibt bisher im Dunkeln. Nach Kriegsende wurden alle Produktionsanlagen demontiert, einige Maschinen, Werkzeuge und Geräte durch die SMAD (Sowjetische Militäradministration) Firmen aus der Region übergeben und der größte Teil verpackt, mit Holzbrettern ver Abriss des TrafoGebäudes I 2006 (heute Gelände REWEMarkt) Erinnerungen In den ehemaligen Wohnbaracken unterhalb des Kalkrangens in der Hildburghäuser Straße siedelte sich vorübergehend von 1947 bis 1948 die Bürstenfabrik Hübner KG an, nachdem die mit Läusen und Wanzen befallenen Baracken desinfiziert wa ren. Danach wurden sie abgerissen, wie sich der damals hier beschäftigte Lehrling KarlHeinz Edelmann noch erinnert. Dort entstanden in den 1950er Jahren die heutigen beiden Wohnblocks 13/15 und 17/19. Hannelore Hohnbaum, die als Kind nebenan wohnte, erinnert sich noch an die Sprengung des Werkes und an den nachfol genden „Abenteuerspielplatz“ in den Ruinen. Auch für Rainer Kralik waren die massiven Reste der abgerissenen Baracken lager ein begehrter Spielplatz unterhalb des Kalkrangens. Für die beiden Geschwister Gisela Jenk geb. Spindler und Günter Spindler bleibt noch in Erinnerung, wie sie als Kinder gemeinsam mit ihren Eltern aus dem Bauschutt des zerstörten Zieh und Stanzwerkes alte Mauersteine ausbud delten und diese mit dem Handwagen zum Hausbau in der Eisfelder Straße fuhren. Für uns Kinder (u. a. der Autor) war es ein besonderes Erlebnis, im ausgelassenen Hasselbacher Teich an der Hildburghäuser Straße nach den dort versenkten Zünd hütchen zu graben und sie mit Hammer und Nagel auf ihre Funktionstüchtigkeit zu überprüfen – ein gefährliches Spiel. Lothar Günther aus Suhl, damals als Kind in Scheusingen zu Hause, erinnert sich noch an viele Begebenheiten nach Kriegsende, u. a. als sie als Kinder die Zündhütchen auf die Straße und die Bahnschienen legten und sich über jeden Knall freuten, wenn diese überfahren wurden. Besondere Aben teuer für sie waren, wie sie die Kugellager aus dem demon tierten Werk holten, damit Roller bauten und diese auf der Hildburghäuser Straße ausprobierten oder in der damaligen Lehmgrube noch funktionstüchtige Munition ins Feuer war fen und dann vor der Explosion schnell in Deckung gingen. Wolfgang Klett, der bis 1938 unmittelbar am Zieh und Stanz werkGelände wohnte, erinnert sich noch genau an die Er richtung des Werkes und an das große Gewölbe des Eiskellers der ehemaligen Brauerei Schönbeck im Eichenhof, das unter irdisch weit bis zum heutigen Hundeplatz führte, als Be schussanlage diente und auch nach 1945 gesprengt wurde. „Da alles streng geheim war, bekamen wir Kinder auf die Frage ´Was wird dort hergestellt?´ oft die Antwort ´Schokolade´.“ Als Jugendlicher musste Arno Dobberkau nach Kriegsende mit anderen zusammen die verdreckten, mit Läusen und Wanzen befallenen Schleusebaracken reinigen – eine äußerst undank bare Aufgabe, wie er sich erinnert. Herta und Günther Möhring haben sich als junge Leute im Ziehund Stanzwerk kennengelernt und später den Bund fürs Leben geschlossen – er damals als Dreherlehrling im Werkzeug und Maschinenbau und sie als Arbeiterin in der Fertigung. Auch Ingeborg Parschan geb. Kummer arbei tete von 19431945 im Werk, in der Halle „K“ („Kegel“), wo die Geschosse für die Patronen hergestellt wurden. Wegen der Geheimhaltung durften andere Arbeitsbereiche nicht betreten werden. Für sie bleiben vor allem die freundschaftlichen Be ziehungen zu den ausländischen Arbeitern trotz strengen Ver bots in besonderer Erinnerung. Noch gegenwärtig sind auch für Heinz Leipold die ersten Eindrücke als Elektrikerlehrling bei der Installation der Rundfunkanlagen in den großen Produktionshallen im April 1942. So bleibt noch heute, 66 Jahre nach Kriegsende, die ehema lige Munitionsfabrik in Schleusingen mit unterschiedlichen Erlebnissen in Erinnerung. Dieser Beitrag soll vor allem jene zum Nachdenken anregen, die diese Zeit zum Glück nicht miterleben mussten und die Ereignisse um das Schleusinger Zieh und Stanzwerk nur vom Hörensagen oder gar nicht kennen. Quellen: Archive: Archiv der Stadtverwaltung Schleusingen, Kreisarchiv Hildburghausen, Thüringisches Staatsarchiv Gotha, Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, Bundesarchiv Berlin, persönliche Archive Lothar Günther (Suhl) und Helmut Billeb (Schleusingen) Dorbritz, Gerhard: „Der Krieg soll verflucht sein“ (B. Brecht), Dokumentation über den Rüstungskonzern Kopp & Co. m.b.H. Berlin, 2003 Günther, Lothar: Schleusingen im Zugriff der Siegermächte 19441945, Heinrich JungVerlagsgesellschaft mbH, ZellaMehlis/Meiningen, 2007, Kreisleitung Suhl der SED und Rat der Stadt Schleusingen (Hg): Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung der Stadt Schleusingen), o.O., 1969 Zeitzeugen: Ehemalige deutsche und ausländische Arbeiter im Zieh und Stanzwerk Schleusingen (persönliche Gespräche und Briefe, persönliche Dokumente von Rainer Kralik) Fotos und Reproduktionen: Helmut Billeb Schleusinger Blätter 8/2011 schlagen Ende der 1940er Jahre als Reparation in die Sowjet union transportiert. Einige Schleusinger wie auch der Autor erinnern sich noch, dass diese wochenlang in der Hildburghäuser Straße abholbereit stationiert waren. Auf Befehl der sowjeti schen Militärverwaltung waren am 22. Februar 1947 die massiven Gebäude des Werkes gesprengt worden bis auf die beiden TrafoStationen, die 2006 bzw. 2008 abgerissen wurden. 43