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12 Originalia
Funktionsdiagnostik der kortikomotorischen Bahnen
mit der transkraniellen Magnetstimulation: eine
Einführung
Functional Assessment of Corticospinal Conduction with Transcranial
Magnetic Stimulation: Basic Principles
Autoren
S. Groppa1, M. Peller1, H.R. Siebner1, 2
Institute
1
Schlüsselwörter
▶ transkranielle
●
Magnetstimulation
▶ zentralmotorische
●
Leitungszeit
▶ motorisch evoziertes
●
Potenzial
▶ Triple-Stimulationstechnik
●
▶ kortikomotorische Bahnen
●
Zusammenfassung
&
Abstract
&
Diese Übersichtsarbeit gibt eine Einführung in
die neurophysiologische Funktionsdiagnostik
der schnellleitenden kortikomotorischen Bahnen
mithilfe der transkraniellen Magnetstimulation
(TMS). Zunächst werden die für die klinische
Diagnostik relevanten technischen und methodischen Grundlagen beschrieben. Dann werden
die wesentlichen neurophysiologischen Kennwerte präsentiert, mit denen die kortiko-motorische Überleitung charakterisiert werden kann.
Es folgt eine kochrezeptartige Beschreibung der
praktischen Untersuchungsschritte.
Here we review how transcranial magnetic
stimulation (TMS) is used in clinical practice
to examine the functional integrity of the fast
conducting fibres of the human corticomotor
pathways. We first summarise the technical and
physiological principles of TMS that are relevant
to its clinical use. We then discuss the neurophysiological measures that are used to characterise
corticospinal conduction. Finally we present a
step-by-step description of how to perform TMS
in clinical practice.
Abkürzungen
&
zeugt senkrecht zur Spulenebene ein zeitveränderliches magnetisches Feld von sehr kurzer Dauer. Das Magnetfeld kann menschliches Gewebe
(z. B. die Schädeldecke) ungehindert durchdringen
und induziert im schädelinnenraum ein elektrisches Feld, was wiederum im leitfähigen Gewebe (z. B. in der Gehirnrinde) einen Gewebsstrom
parallel zur Spulenebene und gegenläufig zur
▶ Abb. 1).
Stromrichtung in der Spule generiert (●
Der durch das Magnetfeld erzeugte Gewebsstrom
kann kortikale Axone depolarisieren und bei
überschwelliger Depolarisierung Aktionspotenziale auslösen. Der Begriff „Magnetstimulation“
ist somit ein wenig irreführend. Das zeitveränderliche Magnetfeld bewirkt keine direkte, sondern eine indirekte Neurostimulation, indem es
in der Gehirnrinde ein elektrisches Feld induziert
(induktive neuronale Stimulation) [2]. Hierzu
muss in der Stimulationsspule ein magnetisches
Feld in einer physiologisch optimalen Zeit (ca.
50–100 μs) auf- bzw. abgebaut werden. Die erforderlichen Spulenströme liegen im Bereich von
circa 1 000–5 000 Ampere und die Spannungen
im Bereich von circa 1 000–3 000 V.
Universitätsklinik für Neurologie, Christian Albrechts Universität, Kiel
Danish Research Centre for Magnetic Resonance, Department for Magnetic Resonance Imaging, Hvidovre University
Hospital, Hvidovre, Dänemark
MEP
ZML
SMAP
KML
PML
TMS
Bibliografie
DOI 10.1055/s-0029-1220905
Klin Neurophysiol 2010;
41: 12–22
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York
ISSN 1434-0275
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. H. R. Siebner
Danish Research Center for
Magnetic Resonance
MR Department
Hvidovre University Hospital
Kettegård Allé 30
2650 Hvidovre
Denmark
[email protected]
motorisch evoziertes Potenzial
zentralmotorische Leitungszeit
Summenmuskelaktionspotenzial
kortikomuskuläre Leitungszeit
periphere motorische Leitungszeit
transkranielle Magnetstimulation
Technische Grundlagen
&
Wirkprinzip der transkraniellen
Magnetstimulation
Die transkraniell Magnetstimulation (TMS)
wurde 1985 von Barker und Kollegen als
schmerzlose, nichtinvasive Stimulationstechnik
des menschlichen Gehirns eingeführt [1]. Die
„Magnetstimulation“ führt über die Induktion
eines zeitveränderlichen magnetischen Feldes zu
einer elektrische Stimulation neuronaler Strukturen. Bei der transkraniellen Anwendung der
Magnetstimulation wird in einer dem Schädel
aufliegenden Stimulationsspule kurzzeitig ein
starkes elektrisches Feld aufgebaut. Dieses in der
Stimulationsspule generierte elektrische Feld er-
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Key words
▶ transcranial magnetic
●
stimulation
▶ central motor conduction
●
time
▶ motor evoked potential
●
▶ triple-pulse stimulation
●
▶ corticospinal tract
●
2
Abb. 1 Neurophysiologische Funktionsdiagnostik der kortikomuskulären
Bahnen. Mit einer Rundspule wird im Hirngewebe ein zum Strom in der
Stimulationsspule gegenläufiger Gewebsstrom induziert. Dieser führt
bei überschwelliger Reizintensität zu deszendierenden Erregungswellen
in den schnellleitenden, kortikomuskulären Bahnen, welche sich
entlang des peripheren motorischen Axons zum Muskel ausbreiten.
Die induzierte Muskelerregung kann als Motorisch Evoziertes Potenzial
(MEP) oberflächenmyografisch abgeleitet werden. Ergänzend werden
neben der transkraniellen Stimulation des motorischen Kortex eine
magnetische oder elektrische Stimulation des proximalen Abschnittes
Monophasische versus biphasische Pulsform
Der meist verwendete transkranielle Einzelpulstimulator (Magstim 200, Magstim Company, Whitland, Dyfed, Großbritannien)
generiert in der Stimulationsspule einen elektrischen Spulenstrom mit „monophasischer“ Pulsform. Die klinische TMS kann
aber genauso gut mit Stimulationsgeräten durchgeführt werden,
die in der Stimulationsspule eine biphasische Pulsform (Vollwelle) generieren. Wichtig ist, dass auch beim biphasischen Puls die
Reizwirkung von der Stromrichtung in der Spule abhängig ist.
Während beim monophasischen Puls die initiale Pulsabschnitt
für die Reizwirkung entscheidend ist, trägt bei den biphasischen
Pulsformen mit Polaritätswechsel der zweite Pulsabschnitt am
meisten zur Reizwirkung bei.
sowie eine supramaximale elektrische Stimulation des distalen Abschnittes
der peripheren Motoneurone durchgeführt. Die peripher induzierte
Muskelantwort wird ebenfalls elektromyografisch aufgezeichnet. Diese
Abbildung zeigt eine Serie von aufeinanderfolgenden MEP, die unter
identischen Stimulationsbedingungen im M. interosseus dorsalis I. mit
gerade überschwelliger TMS des kontralateralen primärmotorischen
Handareals ausgelöst wurden. Die erhebliche Variabilität der Amplitude
und Form der MEP lässt sich auf spontane Fluktuationen der kortikalen und
spinalen Erregbarkeit zurückzuführen.
achtförmigen Spule ein relativ klar definiertes Maximum des
elektrischen Feldes. Diese Spule kann auch für die Routinediagnostik verwendet werden, allerdings stellt die Fokalität der Spule höhere Ansprüche an die Spulenplatzierung. Im Gegensatz
zur Rundspule muss bei Verwendung der achtförmigen Spule
das Spulenzentrum über dem kortikalen Zielareal platziert werden. Um die Stromrichtung des induzierten Gewebsstromes umzukehren, muss der Spulengriff der Achterspule in seiner Orientierung um 180 Grad gedreht werden. Ein Umdrehen der Spule,
sodass die dem Schädel aufliegende Spulenoberfläche gewechselt wird, hat keinen Effekt auf die Richtung des induzierten Gewebstroms im stimulierten Kortexareal.
Skalierung und Adjustierung der Stimulusintensität
Rundspule versus Achterspule
In der klinischen Routinediagnostik empfiehlt es sich, die klas▶ Abb. 1A). In der
sische Rundspule für die TMS zu verwenden (●
Rundspule ist der elektrischer Leiter spiralförmig aufgewickelt. Die
Rundspule zeichnet sich durch eine hohe Tiefenreichweite (ca.
2–6 cm) und geringe Erwärmung aus. Das magnetische Feld der
Rundspule hat sein Maximum genau im Zentrum der Spule. Dagegen verläuft das maximale elektrische Feld, welches für die Neurostimulation relevant ist, ringförmig um das Zentrum der Spule. Für
die klinische Praxis ergibt sich daraus eine wichtige Konsequenz:
das zu stimulierende motorische Kortexareal sollte immer unter
den Spulenwindungen und nicht im Spulenzentrum liegen. Wichtig ist auch, dass man durch Umdrehen der Rundspule die Richtung
des Spulenstroms umkehrt. Somit ist für die TMS mit der Rundspule zu beachten, welche Seite der Spule dem Schädel aufliegt.
Die Ausrichtung des Spulengriffes ist dagegen nicht relevant.
Die Achterspule (auch: Doppel- oder Schmetterlingsspule) besteht aus zwei nebeneinander angeordneten Rundspulen. Der
Spulenstrom durchfließt zunächst die eine und dann in gegenläufiger Stromrichtung die zweite Teilspule. Hierdurch summieren sich die induzierten elektrischen Felder am Berührpunkt der
beiden Teilspulen. Es resultiert genau unterhalb der Mitte der
Die Reizstärke magnetischer Stimulatoren wird auf einer Skala
von 0 bis 100 % angegeben. Diese Intensität bezieht sich gerätetechnisch auf die eingestellte Entladespannung des Pulskondensators relativ zum spezifischen Maximum des jeweiligen Gerätetyps. Die Prozentangabe kann daher nicht zum Vergleich von
Reizintensitäten bei unterschiedlichen Stimulationskonfigurationen verwendet werden. Mit Änderung des Spulentyps oder
der Pulsform verändert sich auch die Reizschwelle. Grundsätzlich muss bei jedem Patienten die individuelle Reizschwelle für
die aktuell verwendete Kombination von Spulentyp, Stimulatortyp und Pulsform individuell bestimmt werden. In der klinischen
Praxis wird die Stimulationsintensität an der minimal erforderlichen Reizintensität adjustiert, mit der ein transkranieller Einzelpuls gerade noch eine motorische Antwort im kontralateralen
Zielmuskel auslöst ( = kortikale motorische Reizschwelle).
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Originalia 13
14 Originalia
Es wird angenommen, dass das im Kortex induzierte elektrische
Feld hauptsächlich kortikale Axone stimuliert, die einen gebogenen Verlauf aufweisen und in einem Abschnitt des Axons parallel zum induzierten elektrischen Feld verlaufen [3]. Bei überschwelliger Reizintensität lösen die durch die TMS induzierten
Aktionspotenziale transsynaptisch eine komplexe Abfolge von
exzitatorischen und inhibitorischen postsynaptischen Potenzialen aus. Es werden auch Synapsen aktiviert, die kortikospinale
Neurone erregen. Die TMS führt zu einer indirekten transsynaptischen Erregung der schnellstleitenden kortikospinalen Pyramidenbahnzellen, die direkte monosynaptische Verbindungen
mit den motorischen Vorderhornzellen des Rückenmarks eingehen.
In Abhängigkeit vom Spulentyp, der Ausrichtung des induzierten
Gewebsstroms, der Pulsform und Reizintensität induziert ein
transkranieller Einzelreiz eine charakteristische Abfolge von deszendierenden Erregungswellen in den schnellstleitenden kortikospinalen Bahnen [4]. Die deszendierenden Wellen bewirken
eine Depolarisation der spinalen Motoneurone. Hier summiert
sich der depolarisierende Effekt der multiplen deszendierenden
Wellen auf. Bei Überschreitung der Schwelle generieren die
Motoneurone ein Aktionspotenzial, welches entlang der peripheren motorischen Axone zum Zielmuskel weitergeleitet wird.
Die transkraniell ausgelöste Muskelantwort kann entsprechend
der peripheren motorischen Neurografie mit Oberflächenelektroden als Summenmuskelaktionspotenzial (SMAP) aufgezeichnet werden [1]. Dieses Potenzial wird im Klinikalltag als Motorisches Evoziertes Potenzial (MEP) bezeichnet und bildet die
Grundlage für den klinischen Einsatz der TMS in der neurophysiologischen Diagnostik.
Das MEP resultiert aus der transsynaptischen Fortleitung der
kortikal ausgelösten Erregung vom primären motorischen Kortex zum Muskel [3]. Dies begründet zwei wichtige physiologische Charakteristika des MEP. Die Latenz und die Größe des
MEP hängen nicht nur von der gewählten Stimulusintensität,
sondern auch vom aktuellen Erregungszustand des kortikomotorischen Systems zum Zeitpunkt der Stimulation ab. Dies macht
man sich in der klinischen Untersuchung zu Nutze, in dem man
den Patient auffordert, eine leichte tonische Kontraktion des
Zielmuskels durchzuführen [5]. Im Vergleich zur TMS im entspannten Zustand führt die willkürliche Vorspannung zu einer
deutlichen Bahnung des MEP und zu einer Verkürzung der kortikomotorischen Latenz. Auch die kortikale motorische Reizschwelle ist unter Vorinnervation deutlich geringer als im entspannten Zustand.
Zum anderen kommt es während der kortikospinalen Erregungsausbreitung zu einer Chronodispersion der Erregungsausbreitung entlang der zentralen und peripheren Motoneurone.
Die asynchrone Aktivierung der motorischen Einheiten im Zielmuskel hat deutliche Konsequenzen für das über die Oberflächenelektroden ableitbare SMAP. Die asynchrone Erregung einzelner motorischer Einheiten führt zu einer relevanten Phasenauslöschung. Im Vergleich zu den SMAP nach supramaximaler
distaler elektrischer Nervenstimulation sind die MEP in der Amplitude deutlich reduziert, in der Dauer verlängert und zeigen
häufige Richtungsinversionen im Potenzialverlauf. Eine für die
klinische Diagnostik relevante Untersuchungsmethode, welche
mit einer Kollisionstechnik den Einfluss von Chronodispersion
und Phasenauslöschung auf das MEP minimiert, ist die Triple-
Stimulationstechnik, die am Ende dieses Beitrages beschrieben
wird [6].
Das kortikale und spinale Erregbarkeitsniveau beeinflussen die
kortikomuskuläre Erregungsausbreitung und somit auch das
Ausmaß an Chronodispersion. Nun ist das Erregbarkeitsniveau
auf kortikaler und spinaler Ebene keine feste Größe, sondern unterliegt spontanen Fluktuationen. Diese Fluktuationen sind die
Ursache dafür, dass bei wiederholter Stimulation die Latenz,
Größe und Form der MEP von Durchgang zu Durchgang trotz
▶ Abb.
identischer Stimulationsbedingungen deutlich variieren (●
1B). Diese intrinsische Variabilität der MEP ist selbst unter Vorinnervation noch vorhanden. Daraus folgt für die klinische Anwendung der TMS, dass mindestens fünf Durchgänge unter Vorinnervation durchgeführt werden müssen. Das MEP mit der
kürzesten Latenz und der größten Amplitude wird dann für die
Beurteilung der kortikomuskulären Überleitung herangezogen.
Klinische Indikationen
Die TMS wird hauptsächlich für die Untersuchung der Integrität
der kortikospinalen und kortikobulbären motorischen Bahnen
z. B. bei Patienten nach motorischem Schlaganfall, bei multipler
Sklerose, zervikaler spondylotischer Myelopathie oder amyotropher Lateralsklerose verwendet. Eine weitere wichtige Indikation ist die Differenzialdiagnostik der akuten Fazialisparese.
Auch bei Verdacht auf eine Parese im Rahmen einer Somatisierungsstörung ist die TMS hilfreich, um die Integrität der kortikomotorischen Überleitung zu objektivieren. Eine ausführliche
Beschreibung aller Indikationen und der klinischen Befunde im
Rahmen spezifischer Erkrankungen findet sich in einer aktuellen
Übersichtsarbeit [7].
Sicherheitsaspekte und Anwendungsrichtlinien
Die in der klinischen Routinediagnostik angewandte transkranielle Einzelpulsstimulation ist bei Einhaltung der publizierten
Anwendungsrichtlinien ein risikoarmes Verfahren [8]. Die TMS
kann vor allem bei Patienten mit erniedrigter Anfallsschwelle
einen epileptischen Anfall auslösen. Bei Personen mit normaler
kortikaler Erregbarkeit ist das Risiko der Anfallsauslösung bei
der Verwendung einzelner Stimuli als äußerst gering einzustufen, wenn diese mit einer unregelmäßigen Frequenz von ≤ 0,25 Hz
verabreicht werden [8]. Differenzialdiagnostisch muss beim
Auftreten einer akuten Bewusstseinstörung, insbesondere zu
Beginn einer TMS-Untersuchung, auch an eine vasovagale Synkope gedacht werden.
Im Gegensatz zur transkraniellen elektrischen Stimulation ist
die TMS nahezu schmerzfrei. Allerdings kann die TMS als unangenehm empfunden werden. Dies ist besonders dann der Fall,
wenn hohe Stimulusintensitäten verwendet werden oder der
Stimulationsort so gewählt wird, dass die TMS über eine begleitende periphere Nervenstimulation zu Kontraktionen der Gesichts- oder Schläfenmuskulatur führt. Selten beklagen Patienten nach der diagnostischen TMS Spannungskopfschmerzen,
die meist nach mehreren Stunden abklingen. Die Entladung der
Stimulationsspule verursacht eine Bewegung der Spulenwindungen im Gehäuse, was zu einem lauten ( > 120 dB), hochfrequenten Klick (2–7 kHz) führt. Deshalb sollte vor allem das Personal, welches die TMS täglich durchführt, während der TMS
Ohrstöpsel als Lärmschutz tragen.
Kontraindikationen für den diagnostischen Einsatz der TMS sind
das Vorliegen einer akut erhöhten zerebralen Anfallsbereitschaft
oder einer Schwangerschaft. Gleiches gilt für Patienten mit im-
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Neurophysiologische Grundlagen
&
plantierten biomedizinischen Geräten wie z. B. Cochleaimplantaten, automatischen Defibrillatoren, Medikamentenpumpen,
Herzschrittmacher, Shuntsystemen sowie Patienten mit intrakraniellen oder intraokulären Metallpartikeln (z. B. intrakranielle Gefäßclips). Träger eines Schrittmachersystems zur tiefen
Hirnstimulation (engl.: deep brain stimulation) können prinzipiell mit einer diagnostischen TMS untersucht werden. Es muss
allerdings sichergestellt sein, dass die Stimulationsspule nicht versehentlich in unmittelbarer Nähe des Impulsgenerators ( < 15 cm)
entladen wird. Dies kann z. B. dadurch gewährleistet werden,
dass Patienten mit einem implantierten Hirnschrittmachersystem während der TMS eine Schwimmweste am Körper tragen. Eine aktuelle Beschreibung der Sicherheitsaspekte und Anwendungsrichtlinien findet sich in Paulus und Siebner (2007)
[8]. Zudem werden die TMS-Sicherheitsrichtlinien von der Internationalen Föderation für klinische Neurophysiologie (IFCN) aktuell überarbeitet und voraussichtlich im Jahr 2009 publiziert
werden.
Das Hauptanliegen der klinischen TMS ist es, den Funktionszustand der kortikospinalen motorischen Projektionen zu erfassen.
Neben der kortikalen motorischen Reizschwelle wird hier vor
allem die zentral-motorische Leitungszeit und die Größe des
MEP in Relation zum maximalen peripheren SMAP herangezogen.
Die postexzitatorische kortikale Innervationsstille (engl.: cortical silent period) sowie die intrakortikale, peripher-kortikale
und kortiko-kortikale Doppelpulsbahnung oder Doppelpulshemmung reflektieren die Erregbarkeit bestimmter intrakortikaler Neuronenpopulationen [9]. Diese Kennwerte haben sich
für die Erforschung der Physiologie und Pathophysiologie des
motorischen Kortex als sehr wertvoll erwiesen, haben aber keine praktische Bedeutung für die klinische Funktionsdiagnostik
der kortikospinalen motorischen Bahnen [7].
Axonen regulieren, kann geschlossen werden, dass die kortikale
motorische Reizschwelle in erster Linie die Erregbarkeit kortikokortikaler Axone widerspiegelt, die durch das induzierte elektrische Feld depolarisiert werden. Dieser Zusammenhang ist z. B.
für die diagnostische TMS bei Patienten mit Epilepsie von klinischer Relevanz, die mit einem Natriumkanal-Blocker oder anderen Antiepileptika behandelt werden. Diese Patienten können
sehr hohe motorische Schwellen aufweisen. Mitunter lassen sich
sogar keine MEP mehr auslösen.
Auch bei sehr jungen Kindern ist die kortikospinale Erregbarkeit
sehr niedrig, sodass mit hoher Reizintensität am voraktivierten
Zielmuskel (für die Hand- und Unterarmmuskeln z. B. durch das
Traktionsmanöver) abgeleitet werden muss. Die motorische
Reizschwelle nimmt während der weiteren motorischen Entwicklung kontinuierlich ab und erreicht etwa ab dem 15. Lebensjahr das Niveau von Erwachsenen [13].
Geringe Rechts-Links-Asymmetrien in der motorischen Ruheschwelle sind als physiologisch einzustufen. Für das primäre
motorische Handareal konnte gezeigt werden, dass die linke
Großhirnhemisphäre bei gesunden Probanden häufig eine diskret höhere kortikale Reizschwelle in Ruhe als die rechte Hemisphäre aufweist [14]. Als klinische Faustregel kann gelten, dass
relative Seitenunterschiede von > 20 % (oder mehr als 10 % der
maximalen Ausgangsleistung des Stimulators) als abnorm gelten können und im Befundbericht erwähnt werden sollen.
Ein wesentlicher Faktor, der die kortikale motorische Reizschwelle bestimmt, ist der Abstand zwischen Stimulationsspule
und motorischem Kortex. So kann sich z. B. durch ein subdurales
Hygrom der Abstand des motorischen Kortex zur Spule vergrößern und somit die motorische Schwelle einseitig erhöhen.
Bei einem Hydrocephalus internus kann ein gegenläufiger Effekt
mit beidseitiger Abnahme der motorischen Reizschwelle durch
die Verringerung des Spulen-Kortex-Abstandes entstehen. Diese
diskreten Veränderungen sind allerdings diagnostisch nicht relevant.
Kortikale motorische Reizschwelle
Zentrale motorische Leitungszeit (ZML)
Die kortikale motorische Reizschwelle entspricht der minimalen
Reizintensität, die erforderlich ist, um mit der TMS eine gerade
noch nachweisbare motorische Antwort im kontralateralen Zielmuskel auszulösen. In der klinischen Routineuntersuchung wird
die kortikale Reizschwelle bei völliger Entspannung (kortikale
motorische Ruheschwelle) bestimmt. Hierzu wird die Stimulationsspule über dem optimalen kortikalen Stimulationsort platziert und mit einer deutlich überschwelligen Reizintensität begonnen. Die Stimulationsintensität wird dann schrittweise (1 %
der maximalen Stimulatorleistung) reduziert, bis in 50 % der
Durchgänge ein MEP mit einer Amplitude von 50 μV nachweisbar ist [10]. Diese Stimulationsintensität wird dann als kortikale
motorische Ruheschwelle definiert. Der Vollständigkeit halber
sei erwähnt, dass auch andere Verfahren beschrieben wurden,
um die kortikale Reizschwelle zu bestimmen [11]. In der Praxis
hat sich aber das von Rossini et al. (1994) beschriebene Verfahren als einfach durchführbar und für klinische Zwecke ausreichend erwiesen [10].
Obwohl die kortikale Ruheschwelle für diagnostische Zwecke
nur von eingeschränkter Bedeutung ist, sollte sie dennoch in die
neurophysiologische Gesamtbeurteilung einfließen. Die motorische Reizschwelle wird durch Medikamente, welche spannungsabhängige Natriumkanäle blockieren (z. B. Antiepileptika
wie Carbamazepin, Oxcarbazepin, Phenytoin), erhöht [12]. Da
die spannungsabhängigen Natriumkanäle die Erregbarkeit von
Die ZML ist ein wichtiger Kennwert des Funktionszustands der
schnellstleitenden kortikospinalen Neurone [15]. Die ZML bezeichnet die Zeitspanne von der Reizung der primären motorischen Hirnrinde bis zum Beginn der Erregung des peripheren
▶ Abb. 2). Sie wird berechnet aus der Differenz
Motoneurons (●
zwischen der gesamten kortikomuskulären Leitungszeit (KML)
▶ Abb. 2).
und der peripheren motorischen Leitungszeit (PML) (●
Sowohl demyelinisierende als auch axonale Schäden des kortikospinalen Traktes können die ZML verlängern.
Zur Messung der KML wird der primäre motorische Kortex am
optimalen Reizort mit einem überschwelligen Einzelpuls
(~ 130 % der individuellen motorischen Reizschwelle in Ruhe)
erregt. Die MEPs werden vom leicht vorgespannten Zielmuskel
mit Oberflächenelektroden abgeleitet. Die KML entspricht der
kürzesten Latenz von drei bis fünf gemessenen MEPs.
Es stehen drei Untersuchungstechniken zur Ermittlung der
PML zur Verfügung: die F-Wellen-Methode, die transkutane
elektrische Reizung des proximalen Spinalnerven oder die magnetische Reizung des Spinalnerven nahe des Durchtritts durch
das Foramen intervertebrale. Die Bestimmung der PML erfolgt
immer in Muskelruhe.
(1) Bei der F-Wellen-Methode wird der den Zielmuskel innervierende Nerv elektrisch mit einer bipolaren Reizelektrode
muskelnah mit supramaximaler Stimulusintensität stimu-
Wichtige Kennwerte der kortikospinalen Überleitung
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Originalia 15
Abb. 2 Schematische Darstellung der wichtigsten
elektrophysiologischen Kennwerte, die zur Beurteilung der
kortikospinalen Überleitung herangezogen werden. Zur
Bestimmung der zentral motorischen Leitungszeit (ZML) wird hier
die foraminale Nervenstimulation mit der Rundspule (periphere
Magnetstimulation) verwendet. Weitere Erklärungen finden sich im
Text. KML = Kortikomotorische Leitungszeit. PML = Periphere motorische
Leitungszeit. SMAP = Summenmuskelaktionspotenzial.
liert (Kathode proximal, Anode distal). Üblicherweise werden 10–20 F-Wellen ausgelöst und die F-Welle mit der kürzesten Latenz für die Berechnung der PML herangezogen. Das
Intervall zwischen aufeinander folgenden Reizungen sollte
drei bis fünf Sekunden betragen. Für die Berechnung der PML
wird folgende Formel verwendet:
PML [ms] = 0,5 × (F + M − 1 ms).
Hierbei entspricht „F“ der kürzesten Latenz aller aufgenommenen F-Wellen, „M“ der M-Wellen-Latenz und „1 ms“ der
geschätzten Verzögerung am spinalen Motoneuron. Die
F-Wellen-Methode liefert eine weitgehend korrekte Schätzung der ZML, kann aber nur bei distalen Zielmuskeln durchgeführt werden.
(2) Bei der transkutanen magnetischen Stimulation wird die
Rundspule in der Mittellinie oder 1–2 cm paramedian ipsilateral zum Zielmuskel so platziert, dass das horizontale Segment der Rundspule über dem zu stimulierenden spinalen
Segment liegt. Die technische Stromflussrichtung im horizontalen Segment zeigt zur Seite des Zielmuskels. Der Spinalnerv wird in seinem durch das Neuroforamen verlaufenden Abschnitt erregt, da hier das durch die Magnetstimulation induzierte elektrische Feld aufgrund des geringeren
Gewebswiderstandes gebündelt wird. Die magnetische foraminale Stimulation sollte mit gerade überschwelliger Reizintensität erfolgen, da bei höheren Stimulusintensitäten der
Ort der Nervenstimulation sich weiter nach distal verlagert.
Eine transkutane magnetische Stimulation mit gerade überschwelliger Stimulusintensität hat zudem den Vorteil, dass
sie für die Patienten angenehmer ist. Die PML entspricht der
Zeit zwischen Stimulation und erster negativer Deflektion
des SMAP. Bei der transkutanen magnetischen Reizung wird
aufgrund des Stimulationspunktes im Bereich des Neuroforamens die Leitungszeit entlang des proximalen Spinalnerven bis zum Austritt aus dem Spinalkanal der ZML zugeschlagen. Der Fehler hängt von der Länge des Spinalnervensegmentes im Spinalkanal ab und beträgt bei zervikalen Spinalnerven 0,5–1,4 ms, bei lumbalen Spinalnerven 3,0–4,1 ms
[15].
Die transkutane magnetische Stimulation wird auch zur proximalen Stimulation der Hirnnerven eingesetzt. Auch hier
nützt man die Fokussierung des durch den Magnetreiz induzierten elektrischen Feldes in den Austrittslöchern der Hirnnerven an der Schädelbasis. Der N. trigeminus kann durch
TMS in der Nähe des Foramen ovale proximal stimuliert werden, wenn die Rundspule lateral über der Schläfe platziert
wird. Der N. facialis kann durch TMS im proximalen Teil des
Canalis facialis erregt werden, wenn die Spule temporo-occipital über und hinter dem Ohr platziert wird. In Analogie zur
TMS über der Wirbelsäule umfasst die ZML zu den kranialen
Muskeln neben der Leitungszeit entlang des kortikobulbären
Traktes auch mehr oder weniger lange Abschnitte des proximalen Hirnnervens im Bereich der Schädelbasis.
(3) Bei der transkutanen elektrischen Stimulation wird der
Spinalnerv in seinem proximalen Abschnitt stimuliert [16].
Für eine supramaximale Reizung ist ein Hochvoltstimulator
erforderlich. Die Kathode wird über dem Dornfortsatz des
Zielsegmentes platziert, während die Anode bei zervikaler
Stimulation 5–6 cm kranial von der Kathode und bei lumbaler Stimulation über der Crista iliaca kontralateral zum
Zielmuskel angebracht wird.
In der klinischen Routine wird für die Bestimmung der PML
oft die transkutane magnetische Reizung im Bereich des
Neuroforamens favorisiert, da sie im Vergleich zur transkutanen elektrischen Reizung weitgehend schmerzfrei ist und
schneller durchgeführt werden kann als die F-Wellen-Methode. Bei transkutaner magnetischer Reizung erfolgt die
Stimulation in der Nähe des Foramen intervertebrale – also
am Austrittspunkt des Spinalnervens aus dem Spinalkanal.
Dies ist von praktischer Bedeutung, falls eine proximale Nervenschädigung (z. B. eine Polyradikulopathie) vorliegt. Eine
Leitungsverzögerung im Bereich des proximalen Spinalnervens kann die mit der transkutanen Magnetstimulation bestimmte ZML verzögern und wird dann fälschlicherweise als
zentralmotorische Störung interpretiert. Bestehen Zweifel
bzgl. der Zuordnung einer Leitungsstörung zu kortikospinalem Trakt versus proximalem Spinalnerv, ist die F-WellenMethode das Verfahren der ersten Wahl.
Bei der klinischen Beurteilung der ZML sind Körperlänge und
Alter zu berücksichtigen. Die ZML nimmt linear mit der Länge
der Wegstrecke vom Motorkortex zum spinalen Motoneuron des
Zielmuskels zu, wobei die individuelle Länge des kortikospinalen
Traktes gut mit der Körperlänge korreliert. Die ZML zu Muskeln
der unteren Extremität korreliert deshalb mit der individuellen
Körperlänge, während der Einfluss der Körperlänge auf die ZML
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16 Originalia
Originalia 17
Amplitudenquotient
Die Amplitude der MEP ist eine weitere wichtige physiologische
Kenngröße der kortikospinalen Überleitung und wird meist als
Differenz des maximalen negativen und positiven Ausschlages
▶ Abb. 2).
eines MEP (Spitze-zu-Spitze Amplitude) angegeben (●
Die Spitze-zu-Spitze Amplitude kann meist problemlos automatisch ausgemessen werden und ist robust gegenüber Störfaktoren wie Rauschen oder einer instabilen Grundlinie [5]. Aufgrund der deutlichen Bahnung unter willkürlicher Voraktivierung des Zielmuskels werden die MEP in der klinischen Routinediagnostik meist unter leichter tonischer Voranspannung des
Zielmuskels abgeleitet. Aufgrund der Variabilität der MEP von
Durchgang zu Durchgang werden fünf MEP pro Muskel abgeleitet. Die Spitze-zu-Spitze Amplitude des MEP mit der größten
Amplitude – und nicht die gemittelte Amplitude aller MEP –
wird ausgemessen, da die größte MEP-Amplitude die optimale
kortikomuskulär fortgeleitete Reizantwort am besten abbildet.
Die maximale kortikal evozierbare MEP-Amplitude wird immer
in Relation zum maximalen peripher auslösbaren SMAP beurteilt, weil auch eine periphere motorische Schädigung die transkraniell ausgelöste MEP-Amplitude reduzieren kann. Deshalb
muss zusätzlich zur TMS des primären motorischen Kortex immer auch eine supramaximale distale Elektrostimulation des
Nerven, der den Zielmuskel versorgt, durchgeführt werden. Die
maximale MEP-Amplitude wird dann als Amplitudenquotient in
▶ Abb. 2).
Prozent des maximalen peripheren SMAP angegeben (●
Die Berechnung eines Amplitudenquotienten mit Normalisierung auf das maximale SMAP hat zudem den Vorteil, dass hierdurch interindividuelle Unterschiede bzgl. des maximalen peripheren SMAP minimiert werden und sich so besser Normalbereiche definieren lassen. Wie für die Beurteilung der motorischen
Reizschwellen und der ZML ist auch für die diagnostische Einschätzung der MEP-Amplituden der intraindividuelle Seitenvergleich der MEP-Amplituden homonymer Muskeln besonders
hilfreich.
Insbesondere bei einer leichtgradigen Schädigung der kortikospinalen motorischen Bahn kann der MEP-Amplitudenquotient noch normal sein. Die diagnostische Aussagekraft der MEPAmplitude lässt sich mit der Triple-Stimulationstechnik deutlich
steigern [6].
Praktische Durchführung
Die schrittweise Durchführung der klinischen Untersuchung ist
▶ Abb. 3 zusammengefasst. Vor jeder Untersuchung soll die
in ●
Abb. 3 Schematische Darstellung der Untersuchungsschritte zur
Beurteilung der kortikospinalen motorischen Überleitung. Die zeitliche
Abfolge der peripheren und transkraniellen Neurostimulation kann
entsprechend der subjektiven Präferenz des Untersuchers vertauscht
werden.
klinische Fragestellung klar definiert und das Vorliegen von Kontraindikationen mithilfe eines Fragebogens und eines persönlichen Gesprächs ausgeschlossen werden. Die Untersuchung
kann nur von geschultem und in die verwendeten Medizingeräte
eingewiesenem Personal durchgeführt werden. Die Aufklärung
des Patienten über die TMS ist anhand eines standardisierten
Formblatts durchzuführen und schriftlich zu dokumentieren.
Die Untersuchung kann im Liegen oder Sitzen stattfinden.
Laborspezifische Untersuchungsstandards müssen etabliert
werden mit genauen Angaben bzgl. der zu verwendenden Stimulationsgeräte, Stimulusform, Stimulationsintensität, Geräteeinstellungen, Aktivierungsmanöver für die zu untersuchenden
Muskeln. Im klinischen Alltag erfolgt die Magnetstimulation mit
der Rundspule. Es werden in der Regel die Leitfunktion der
schnellstleitenden Bahnen zu distalen Muskeln aller vier Extremitäten untersucht. Meist erfolgt eine Ableitung der motorischen Antworten bilateral von einem intrinsischen Handmuskel (M. abductor pollicis brevis, M. interosseus dorsalis I. oder
M. abductor digiti minimi) und einem Unterschenkelmuskel
(M. tibialis anterior) bzw. intrinsischen Fußmuskel (M. abductor
hallucis). Der Seitenvergleich ist oft entscheidend, um subtile
unilaterale Veränderungen in der kortikospinalen Überleitung
nachzuweisen.
Anbringen der Oberflächenelektroden
Wie bei einer peripheren Neurografie werden bei MEP-Aufzeichnungen die „differente“ Elektrode mittig über dem Muskelbauch
des Zielmuskels und die „indifferente“ Elektrode am Muskelansatz platziert (Muskelbauch-Muskelsehnen-Montage). Der elektrische Widerstand zwischen Haut und Elektrode wird durch
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zu Muskeln der oberen Extremität vernachlässigbar ist [16]. Die
ZML nimmt zudem mit dem Lebensalter leicht zu. Auch die PML
ist von Körperlänge und Lebensalter abhängig. Deshalb sollten
Normwerte der KML und ZML immer auf die Körperlänge und
das Alter bezogen werden.
Neben der absoluten ZML ist der intraindividuelle Seitenvergleich der ZML zu homonymen Muskeln besonders wichtig. Bei
einer leichtgradigen umschriebenen Schädigung des kortikospinalen Systems besteht oft nur eine pathologische Seitendifferenz
der ZML. Als Faustregel kann gelten, dass die physiologischen
Seitendifferenzen der ZML zu Muskeln der oberen Extremität im
Seitenvergleich bis maximal ca. 2,0 ms betragen kann; zu Muskeln der unteren Extremität können die physiologischen Seitendifferenzen bis maximal ca. 3,5 ms betragen. Größere Seitendifferenzen zeigen eine Leitungsstörung zur Seite mit der längeren
ZML an, auch wenn die absolute ZML noch im Normbereich
liegt.
18 Originalia
Technische Einstellungen
Das von den Muskeln abgeleitete Biosignal wird vorverstärkt
(z. B. 1 000-fache Verstärkung). Der präferenziell aufgezeichnete
Frequenzbereich wird mit einem Breitbandfilter eingegrenzt
und von einem Analogsignal in ein digitales Signal umgewandelt. Als Filtereinstellung empfiehlt sich 1 Hz als untere Grenzfrequenz (Hochpassfilter) und 2 KHz also obere Grenzfrequenz
(Tiefpassfilter) mit präferenzieller Aufzeichnung des EMGSignals im Frequenzbereich zwischen 1 und 2 000 Hz. Viele Geräte haben einen sog. 50 Hz-Notch-Filter, der Frequenzen um
50 Hz „herausfiltert“ und so Wechselstromartefakte unterdrückt.
Diese 50 Hz-Notch-Filter sollten nicht verwendet werden und
sind bei guter Untersuchungstechnik auch nicht erforderlich.
Die Abtastrate bei der Digitalisierung des Biosignals sollte nach
dem Nyquist-Abtasttheorem doppelt so hoch sein wie die
höchste Frequenz des aufgezeichneten Biosignals [17]. Eine Abtastrate von 5 000 Messpunkten pro Sekunde (5 000 Hz) ist für
die klinische Anwendung der TMS ausreichend. Allerdings sollte
hier die Grenzfrequenz des Tiefpassfilters 2 500 Hz nicht überschreiten.
Die aufgezeichneten MEP sollten auf dem Monitor des Aufzeichnungsgerätes immer gut sichtbar sein. Hier sollte die Bildschirmverstärkung so gewählt werden, dass das ausgelöste MEP optimal vergrößert wird, ohne die Spitzenwerte abzuschneiden. Die
Amplitude der abgeleiteten MEP und somit die optimale Bildschirmeinstellung hängt von vielen Faktoren wie der Stimulusintensität, dem untersuchten Muskel und der willkürlichen Voraktivierung ab. Falls die MEP-Amplituden sehr klein ausfallen,
muss der Verstärkungsfaktor entsprechend vergrößert werden.
Es empfiehlt sich, als Bildschirmverstärkung (y-Achse) von
50–100 μV pro Skaleneinheit (z. B. 50 μV/cm) für die Messung
der motorischen Schwelle und 1–2 mV pro Skaleneinheit während der eigentlichen MEP-Aufzeichnung (z. B. 1 mV/cm) zu
wählen. Neben dem TMS-Artefakt sollten immer der Beginn und
das Ende des MEP auf dem Bildschirm gut erkenntlich sein. Die
auf dem Bildschirm dargestellte Zeitachse (x-Achse) sollte daher
bei Ableitung vom Gesicht oder den oberen Extremitäten eine
Vorlaufgeschwindigkeit von zumindest 5 msec pro Skaleneinheit
(z. B. 5 ms/cm) und bei Ableitung von den unteren Extremitäten
von 10 ms pro Skaleneinheit (z. B. 10 ms/cm) haben.
Pro Einzelmessung sollte die Aufzeichnung der EMG-Aktivität
50 ms vor dem transkraniellen Stimulus beginnen und für mindestens 100 ms nach Gabe des transkraniellen Stimulus andauern. Ein Aufzeichnungsbeginn 50 ms vor Stimulation erlaubt die
Beurteilung der Muskelaktivität (Muskelruhe oder Voraktivierung) zum Zeitpunkt der TMS. Soll die postexzitatorische Innervationsstille ausgemessen werden, muss die EMG-Aktivität für
mindestens 400 ms nach dem transkraniellen Stimulus aufgezeichnet werden. Der postexzitatorischen Innervationsstille
wird oft in der klinischen Routine keine Beachtung geschenkt,
sie kann aber bei passender Geräteeinstellung ohne Mehraufwand mit erfasst werden.
Bestimmung des optimalen transkraniellen
Stimulationsortes
Die Platzierung der Spule auf dem Kopf hängt vom Zielmuskel
ab. Daneben ist auch die Stromrichtung und Kippung der Spule
zu beachten, da die Effizienz der TMS auch von diesen beiden
Faktoren abhängt. Die Stimulation soll an einem Ort beginnen,
an dem man die motorische Antwort des Zielmuskels erwartet.
Hierbei sollte der für die Stimulation entscheidende Spulenabschnitt tangential der Kopfoberfläche aufliegen. Die dabei eingestellte Intensität sollte klar überschwellig sein. Die Spule wird an
der Schädeloberfläche in kleinen Schritten (~5 mm) in alle Richtungen verschoben, bis ein überschwelliger Stimulus im Zielmuskel ein maximales MEP mit maximaler Anstiegsgeschwindigkeit des ersten MEP-Abschnitts auslöst. Wenn man sich dem
Ort der optimalen Stimulation nähert, nehmen die MEP an Amplitude zu und werden steiler. Die optimale Spulenposition wir
dann mit einem Stift auf der Kopfhaut markiert.
Bei Ableitung der MEP von den Handmuskeln sollte die Spule so
positioniert werden, dass das Kortexareal 4–5 cm lateral und
▶ Abb. 4). Die Reprä1 cm anterior vom Vertex stimuliert wird (●
sentation der Schultergürtelmuskeln (z. B. M. deltoideus) liegt
ca. 1,5–2 cm weiter medial als die distalen Handmuskeln. Die
Repräsentation der Oberarmmuskeln befinden sich zwischen
diesen Extrempunkten entsprechend des motorischen „Homunculus“. Bei Verwendung einer monophasischen Pulskonfiguration sollte der Spulenstrom von vorne nach hinten verlaufen
▶ Abb. 4). Dies induziert im primären motorischen Handareal
(●
einen gegenläufigen Gewebsstrom von hinten nach vorne, welcher die kortikospinalen Neurone optimal erregt.
Das primärmotorische Beinareal wird besonders effektiv erregt,
wenn der Strom in der Spule und somit auch im Gewebe „koronar“ (von Ohr zu Ohr) verläuft, wobei hierbei die optimale
Stromrichtung für das rechte und linke Beinareal gegenläufig ist
▶ Abb. 5). Die Rundspule wird tangential auf den Schädel auf(●
gelegt und der geometrische Mittelpunkt der Spule über der
Elektrodenposition Fz nach dem internationalen 10–20-System
zur EEG-Elektrodenplatzierung zentriert. In dieser Position liegt
das Spulenzentrum ca. 5–6 cm vor dem Vertex und die (für die
TMS relevanten) Spulenwindungen des posterioren Spulenanteils kommen ca. 1–2 cm hinter dem Vertex über dem primär▶ Abb. 5). Diese Spulenposimotorischen Beinareal zu liegen (●
tion dient lediglich zur initialen Orientierung; der optimale Reizort muss jeweils individuell bestimmt werden.
Kortikale Reizschwelle, Intensität der Stimulation,
Vorspannung
Die Anpassung der Intensität auf die individuelle Reizschwelle
erlaubt eine bessere Standardisierung der TMS-Intensität und
verbessert so die interindividuelle Vergleichbarkeit der Messungen. Die motorische Reizschwelle wird am Ort der optimalen
Antwort bestimmt. Sie wird in der klinischen Routine meist im
entspannten Zustand bestimmt. Eine detaillierte Beschreibung
der kortikalen motorischen Reizschwelle in Ruhe findet sich im
Abschnitt „Kortikale motorische Reizschwelle“.
Die MEP-Amplitude zeigt eine sigmoidale Zunahme mit steigender Stimulusintensität. Auch die kortikomuskuläre Überleitungszeit nimmt mit zunehmender Stimulusintensität ab. Unter
willkürlicher Voranspannung des Zielmuskels nimmt die MEPAmplitude nicht weiter zu und die KML nicht weiter ab, wenn
eine Stimulationsintensität von > 125–130 % der motorischen
Ruheschwelle verwendet wird. Da der Zielmuskel während der
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entfettende Reinigung der Haut und Aufbringen von Elektrodengel oder -paste verringert. Vor allem bei Ableitungen an den
Händen sollten die Elektroden ausreichend geklebt werden, um
ein Ablösen der Elektroden während der Untersuchung durch
Schwitzen oder Bewegung zu verhindern. Eine gute Erdung trägt
wesentlich dazu bei, das durch den Magnetstimulation verursachte Artefakt in der MEP-Ableitung zu minimieren. Die Erdung
sollte zwischen dem Ort der Stimulation und den Ableitelektroden an der Extremität angebracht werden.
Abb. 4 Transkranielle Stimulation der kortikospinalen Bahnen zu den
distalen oberen Extremitäten mit der Rund- bzw. Achterspule. Punkt auf
dem Spulenring: optimaler Reizort des primären motorischen Handareals
rechts oder links, Pfeile: technische Stromflussrichtung in der Spule. Für die
optimale Stimulation des rechten motorischen Handareals (Ableitung der
MEP von einem intrinsischen Muskel der linken Hand) sollte die technische
Stromrichtung in der Spule von oben gesehen im Uhrzeigersinn zeigen.
Für die Stimulation des linken motorischen Handareals (Ableitung der
MEP von einem intrinsischen Muskel der rechten Hand) mit der runden
Stimulationsspule gilt, dass der technische Stromfluss in der Spule von
oben betrachtet gegen den Uhrzeigersinn orientiert ist. Als Ausgangspunkt
können bei der Ableitung von Handmuskeln die Spulen so positioniert
werden, dass der stimulierende Spulenteil sich über dem motorischen
Kortex, ca 0–1 cm anterior und etwa 4–5 cm lateral vom Vertex befindet.
Abb. 5 Transkranielle Stimulation der kortikospinalen Bahnen zu den
distalen unteren Extremitäten mit der Rund- bzw. Achterspule. Punkt
auf dem Spulenring: optimaler Reizort des primärmotorischen Beinareals
rechts oder links, Pfeile: technische Stromflussrichtung in der Spule. Zur
Stimulation des rechtshemisphärischen Beinareals (Ableitung der MEP
von einem Unterschenkel- oder Fußmuskel des linken Beins) verläuft die
Stromrichtung in dem Spulenanteil, der dem Beinareal aufliegt, von rechts
nach links. Zur Stimulation des linkshemisphärischen Beinareals (Ableitung
der MEP von einem Unterschenkel- oder Fußmuskel des linken Beins)
verläuft die Stromrichtung in dem Spulenanteil, der dem Beinareal aufliegt,
von links nach rechts. Das Spulenzentrum soll ca. 5–6 cm vor dem Vertex
und die Spulenwindungen des posterioren Spulenanteils ca. 1–2 cm hinter
dem Vertex über dem primärmotorischen Beinareal dem Schädel aufliegen.
TMS leicht voraktiviert wird, sind für die klinische Routine für
die TMS Stimulationsintensitäten von 130 % der individuellen
kortikalen Ruhereizschwelle in der Regel ausreichend.
Die willkürliche Voraktivierung des Zielmuskels bahnt die kortikomotorische Erregungsweiterleitung. Dies führt im Vergleich
zur TMS im entspannten Zustand bei gleicher Stimulusintensität
zu einer Vergrößerung der MEP-Amplitude und einer Verkür-
zung der kortikomuskulären Überleitungszeit zum Zielmuskel.
Die Wirkung der Vorspannung auf die MEP Effekte ist abhängig
vom untersuchten Muskel. Während bei kleinen Handmuskeln
eine geringe Anspannung eine beträchtliche Bahnung bewirkt,
sind die Effekte in den proximalen Armmuskeln und Beinmuskeln eher linear. In der klinischen Routineuntersuchung ist eine
Voranspannung des Zielmuskels mit ca. 20 % der maximal mög-
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Originalia 19
lichen Kraft ausreichend. Es ist hilfreich, den Patienten ein akustisches oder optisches Feedback der elektrischen Muskelaktivität im Zielmuskel zu geben. Das erleichtert es den Patienten, ein
konstantes Kraftmaß aufzubringen. Zudem kann die Person,
welche die Untersuchung durchführt, sich vergewissern, dass
der Patienten die Voranspannung auch richtig durchführt.
Aufzeichnung und Auswertung der MEP
Auch unter willkürlicher Voranspannung variieren die Latenz
und Amplitude der MEP von Durchgang zu Durchgang. Für eine
repräsentative Messung müssen daher mehrere aufeinander folgende MEP unter identischen Stimulationsbedingungen aufgezeichnet werden. In der klinischen Funktionsdiagnostik werden
4–5 MEP fortlaufend alle 5–8 s aufgezeichnet, während der Patient den Zielmuskel mit konstanter Kraftaufwendung voraktiviert. Die kürzeste KML und die größte Amplitude der aufgezeichneten MEP werden für die Auswertung herangezogen.
Die TMS wird ergänzt durch eine F-Wellenmessung oder transkutane proximale Nervenstimulation im Bereich des Neuroforamens zur Ermittlung der ZML (s. o.). Abschließend wird noch
eine supramaximale Nervenstimulation des peripheren Nerven,
der den Zielmuskel versorgt, durchgeführt. Diese Messung ist
nötig, um den Amplitudenquotienten aus TMS induzierter MEPAmplitude und maximalem peripheren SMAP zu berechnen. Im
Gegensatz zur TMS erfolgen die peripheren neurophysiologischen Messungen allesamt in Muskelruhe. Die Reihenfolge der
Messungen kann die untersuchende Person selbst wählen. Einige Untersucher bevorzugen es, mit der peripheren Neurostimulation zu beginnen und dann die TMS durchzuführen. Andere
wählen die umgekehrte Reihenfolge. Entscheidend ist es letztlich eine standardisierte Untersuchungsroutine im Labor zu etablieren, um die Vergleichbarkeit der Messungen zu optimieren.
Triple-Stimulationstechnik
&
Die Triple-Stimulationstechnik (TST) nutzt eine Kollisionsmethode, um die durch einen transkraniellen Magnetstimulus ausgelösten Entladungen der spinalen Motoneurone zu synchronisieren
[6, 18, 19]. Hierdurch eliminiert die TST die Einflüsse von Desynchronisation und Mehrfachentladungen auf das MEP. Dies verhindert Phasenauslöschungsphänomene, die durch die Dispersion der
kortikomuskulären Erregung entstehen. Somit reflektiert der mit
der TST bestimmte MEP-Amplitudenquotient die Anzahl leitender
zentraler Motoneurone zu einem Zielmuskel wesentlich genauer
als der mit der konventionellen Methode bestimmte MEP-Amplitudenquotient. Dies erklärt die höhere diagnostische Sensitivität
der TST bei zentralen kortikospinalen Leitungsstörungen [18].
Die TST besteht aus drei aufeinander folgenden Stimuli
▶ Abb. 6A): Zuerst wird ein transkranieller Stimulus verabreicht.
(●
Dann folgt ein supramaximaler distaler Stimulus des den Zielmuskel versorgenden Nerven. Zuletzt wird ein supramaximaler Stimulus über dem proximalen Nervenabschnitt gegeben. Wichtig ist es,
die Interstimulusintervalle individuell anzupassen. Analog zur
konventionellen MEP-Ableitung sollte die Ableitung der durch die
TST ausgelösten Muskelantwort unter leichter willkürlicher Voraktivierung des Zielmuskels erfolgen, um die Effizienz der TMS zu
bahnen. Eine Vorinnervation des Zielmuskels sollte auch während
der peripheren Kontroll-TST durchgeführt werden [19].
Bei gesunden Personen erregt der transkranielle Stimulus bei
ausreichender Stimulusintensität alle den Zielmuskel versorgenden spinalen Motoneurone und führt zu desynchronisierten
Aktionspotenzialen in allen motorischen Axonen des peripheren
▶ Abb. 6B). Die Aktionspotenziale werden orthodrom
Nerven (●
in Richtung Zielmuskel weitergeleitet. Der zweite distale elektrische Stimulus erzeugt Aktionspotenziale in allen motorischen
Axonen, die sich nicht nur nach distal (orthodrom) sondern auch
▶ Abb. 6B). Die orthonach proximal (antidrom) ausbreiten (●
dromen Aktionspotenziale führen zu einer ersten maximalen
Muskelerregung (maximales SMAP im Zielmuskel). Die nach proximal aufsteigenden (antidrom fortgeleiteten) Potenziale kollidieren mit den durch den transkraniellen Stimulus induzierten,
▶ Abb. 6B).
orthodrom weitergeleiteten Aktionspotenziale (●
Dies führt zu einer vollständigen Kollision, mit Auslöschung der
Aktionspotenziale. Die durch den dritten proximalen Stimulus
ausgelösten Aktionspotenziale sind hochgradig synchronisiert
und können sich nun ungehindert orthodrom nach distal zum
Muskel ausbreiten. Aufgrund einer minimalen Dispersion der
Erregungsausbreitung im peripheren Nerven bewirken die durch
den dritten proximalen Stimulus ausgelösten Aktionspotenziale
▶ Abb. 6B). Die
eine synchrone maximale Muskelerregung (●
durch den transkraniellen Stimulus induzierte desynchronisierte
Erregung peripherer motorischer Axone wird also mit der TST
„resynchronisiert“.
Schaffen es die durch den ersten transkraniellen Stimulus induzierten kortkospinalen Erregungswellen nicht, die spinalen
Motoneurone zur Entladung zu bringen, werden in den motorischen Axonen des peripheren Nerven keine in Richtung Zielmuskel verlaufenden Aktionspotenziale generiert. Der zweite
periphere distale Stimulus führt über die orthodrom fortgeleiteten Aktionspotenziale zu einem maximales SMAP des Zielmuskels. Die nach proximal (antidrom) aufsteigenden Potenziale
kollidieren nun nicht mehr mit den durch den ersten transkraniellen Stimulus induzierten Aktionspotenzialen, sondern mit den
orthodromen Aktionspotenzialen, die durch den dritten proximalen Nervenstimulus induziert wurden. Die Kollision verhindert, dass die vom zweiten distalen Stimulus stammenden antidromen Aktionspotenziale sich nach distal ausbreiten können.
Daher führt der dritte proximale elektrische Stimulus zu keiner
motorischen Reizantwort. Das Fehlen einer Reizantwort auf den
dritten Stimulus zeigt also an, dass der transkranielle Stimulus
keines der spinalen Motoneurone zur Erregung brachte.
Bei inkompletter Blockade der kortikospinalen Erregungsausbreitung wird durch die TMS nur ein Teil des spinalen Motoneu▶ Abb. 6C). In diesem Fall
ronenpools zur Entladung gebracht (●
führen die orthodrom fortgeleiteten Aktionspotenziale nur zu
einer partiellen Auslöschung der durch den peripheren Stimulus
induzierten, antidrom fortgeleiteten Aktionspotenziale. Die verbleibenden antidrom fortgeleiteten Aktionspotenziale kollidieren nun mit den orthodrom fortgeleiteten Aktionspotenzialen,
die durch den peripheren Stimulus ausgelöst werden. Hierdurch
kommt es zu einer Amplitudenabnahme der durch die TST aus▶ Abb. 6C).
gelösten SMAP (●
Die TST schaltet allerdings nicht die Einflüsse einer Desynchronisation aus, die während der Erregungsausbreitung entlang des
peripheren Nerven auftritt. Die durch den dritten proximalen
Nervenstimulus ausgelösten Aktionspotenziale breiten sich orthodrom entlang des Nerven bis zum Muskel aus und sind aufgrund der unterschiedlichen Leitgeschwindigkeiten der einzelnen motorischen Axone einer temporalen Dispersion unterworfen. Diese periphere Desynchronisation kann insbesondere bei
Patienten mit peripherer Neuropathie die MEP-Amplitude verringern. Ferner kann eine muskulo-neurale Reexcitation im Bereich der intramuskulären Nervenendigungen auftreten und
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20 Originalia
Abb. 6 Schematische Darstellung der Triple-Stimulationstechnik (TST) für
die Ableitung der MEP von den intrinsischen Handmuskeln. OMN = Oberes
Motoneuron; UMN = Unteres Motoneuron. A. Untersuchungsaufbau
mit drei Stimulationsgeräten, welche über einen Implusgenerator in
einer zeitlich genau definierten Abfolge angesteuert werden. Es erfolgt
zuerst eine Stimulation des primären motorischen Handareals, dann
eine supramaximale elektrische Stimulation des peripheren distalen
Nervenabschnittes und zuletzt eine supramaximale elektrische Stimulation
im proximalen Nervenabschnitt (Erb’scher Punkt).
antidrom aufsteigende Nervenaktionspotenziale induzieren, die
mit den Kollisionen der TST interferieren.
Diese Fehlerquellen erfordern eine Kontrollmessung (KontrollTST). Hierbei handelt es sich um eine modifizierte TST, welche
den transkraniellen Stimulus durch einen proximalen peri▶ Abb. 6D). Der zweite distale Nerpheren Stimulus ersetzt (●
venstimulus und der dritte proximale Nervenstimulus werden
wie bei der eigentlichen TST-Testableitung verabreicht. Die TSTKontrollableitung unterliegt im gleichem Ausmaß der peripheren Desynchronisation und muskulo-neuralen Reexcitation
wie die TST-Testableitung.
Durch Bildung des Quotienten aus dem durch die eigentliche
TST ausgelösten SMAP und dem durch die periphere KontrollTST ausgelösten SMAP lässt sich der Einfluss der peripheren
▶ Abb. 6B
Desynchronisation und Reexcitation herausrechnen (●
und C). Der kritische elektrophysiologische Kennwert ist somit
der Amplitudenquotient aus der Test- und Kontrollmessung. Der
B. Schematische Darstellung der Ausbreitung der durch die jeweiligen
Stimuli induzierten Aktionspotenziale und der daraus resultierenden
motorischen Antwort. C. Veränderte Ausbreitung der Aktionspotenziale im
peripheren Nerven und der durch die TST induzierten motorischen Antwort
bei Vorliegen einer partiellen kortikospinalen Überleitungsstörung.
D. Periphere Kontrollstimulation mit initialer Stimulation über dem
Erb’schen Punkt statt einer TMS des kontralateralen Handareals. Eine
detaillierte Beschreibung der Kontrollstimulation findet sich im Text.
TST-Amplitudenquotient ist damit ein Maß für die Anzahl der
durch die TMS zur Erregung gebrachten kortikospinalen Neurone, ausgedrückt in Prozent der Gesamtzahl der den Zielmuskel
innervierenden Neurone. Beim Gesunden beträgt er für alle bis▶ Abb. 6B). Die dafür
lang untersuchten Muskeln nahezu 100 % (●
erforderliche TMS-Reizstärke muss individuell durch schrittweise Steigerung der Reizstärken adjustiert werden. Wie die
konventionelle MEP-Messung kann die TST nicht zwischen einer
axonalen oder neurapraktischen kortikospinalen Schädigung
differenzieren. Hier können Verlaufsuntersuchungen Aufschluss
geben.
Die Interstimulusintervalle müssen so gewählt werden, dass das
schnellste zu kollidierende Aktionspotenzial noch nicht am Kollisionsstimulus vorbei gelaufen ist. Auf der anderen Seite sollte
aber auch das langsamste der zu kollidierenden Aktionspotenziale noch in die Reizabfolge der TST mit einbezogen werden [18].
Praktisch werden die Reizintervalle wie folgt berechnet: Das
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Originalia 21
erste Reizintervall (Reizintervall I) zwischen transkraniellem
und distalem peripheren Reiz ergibt sich aus der Differenz zwischen der kürzesten kortikomotorischen Latenz nach TMS und
der SMAP-Latenz nach distaler Stimulation (auf die nächste Millisekunde aufgerundet). Das zweite Reizintervall (Reizintervall
II) zwischen dem distal applizierten peripheren Reiz und dem
proximal applizierten peripheren Reiz errechnet sich aus der
Differenz zwischen der SMAP-Latenz nach proximaler Stimulation und der SMAP-Latenz nach distaler Stimulation (auf die
nächste Millisekunde abgerundet).
Für die Kontroll-TST, bei der der erste Reiz über dem proximalen
Plexus statt über dem motorischen, Kortex verabreicht wird,
sind Reizintervall I und Reizintervall II indentisch. Das Reizintervall entspricht der Differenz aus SMAP-Latenz nach proximaler
Stimulation und SMAP-Latenz nach distaler Stimulation (auf die
nächste Millisekunde abgerundet).
Für die TST sind neben einem Einzelreizmagnetstimulator noch
zwei elektrische Nervenstimulatoren, ein EMG-Gerät und ein
▶ Abb. 6A). Der ImImpulsgenerator (engl. timer) notwendig (●
pulsgenerator ist nötig, um die drei eingesetzten Stimulatoren in
der gewünschten zeitlichen Abfolge anzusteuern. Falls das benutzte EMG-Gerät über zwei eingebaute elektrische Stimulatoren verfügt, kann man über eine Software die beiden eingebauten Stimulatoren und den externen Magnetstimulator in der
gewünschten Abfolge ansteuern und gleichzeitig die EMG-Aufzeichnung beginnen und beenden. Die Software kann auch die
Berechnung der Intervalle zwischen den drei Stimulationen und
die Anpassung der Stimulationszeitpunkte für die Test-TST und
Kontroll-TST liefern.
Insbesondere die supramaximale proximale Nervenstimulation
ist für die meisten Patienten unangenehm, aber meist zumutbar.
Es empfiehlt sich mit der TST-Kontrollmessung zu beginnen, da
diese unangenehmer als die TST-Testmessung ist. Die Untersuchungszeit pro Patient liegt in der Regel deutlich unter 30 min.
Spezielle Software zur korrekten zeitlichen Ansteuerung der Stimulatoren vereinfacht und verkürzt die Untersuchung. Die TST
eignet sich nur für distale Muskeln (intrinsische Hand und Fußmuskeln sowie Unterschenkelmuskeln) mit ausreichend langer
peripherer Leitungsstrecke zwischen distaler und proximaler
Nervenstimulation.
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