Die Erforschung des Ächten : Besuch bei Hugo Zemp - E

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Die Erforschung des Ächten : Besuch bei Hugo
Zemp und Sylvie Bolle-Zemp
Autor(en):
Schaub, Martin
Objekttyp:
Article
Zeitschrift:
Du : die Zeitschrift der Kultur
Band (Jahr): 53 (1993)
Heft 7:
Der Sound des Alpenraums : die neue Volksmusik
PDF erstellt am:
19.08.2017
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-306278
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Die Erforschung des Ächten
Besuch bei Hugo Zemp und Sylvie Bolle-Zemp.
Martin Schaub
Von
Zufall hat
ein Ahnenritual ist, eine Ehrerbietung an die Herkunft.
Obwohl einige Ausstellungsräume ziemlich verstaubt sind, sagen
alle Gegenstände: Alles ist Gegenwart, vor allem die Vergangen¬
und
das selber
Zemp zum Musikethnologen gemacht,
EinZufälle, die inHugo
seinem schwer finanzierbaren Forschungsgebiet
herrschen, haben den in Basel geborenen Zemp, der die französische
Staatsbürgerschaft angenommen hat, zu den drei «Feldern» seiner
Tätigkeit geleitet: an die Elfenbeinküste, auf die Salomon-Inseln
sowie in die Schweiz und nach Georgien - Afrika, Ozeanien,
Europa, ein gewaltiges Dreieck. Fünf Jahre insgesamt hat Hugo
Zemp in den drei «Feldern» verbracht, der Rest, rund 25 Jahre,
war Auswertung und Publikation - Aufsätze, Bücher, Filme, Schall¬
platten. Seit 1966 arbeitet Hugo Zemp am Centre National de
Recherches Scientifiques (CNRS), wo er alle möglichen Vertrags¬
stufen durchlaufen hat, Auftrag, Forschungsstagiaire, Forschungs¬
assistent, beauftragter Forscher, Forschungsdirektor schliesslich. Er
ist zuständig für die Plattenpublikationen des Instituts. Das CNRS
ist ein staatlicher Betrieb, eine Errungenschaft des kurzen Volks¬
frontregimes in Frankreich, welche die späteren Regierungen nicht
kassiert, sondern ausgebaut haben. Zur Zeit arbeiten 27000 Wissen¬
schaftlerinnen und Wissenschaftler aller Fachrichtungen, Techniker
und Verwalter für den grossen und unübersichtlichen staatlichen
Forschungsapparat. Neidisches Staunen ist begründet, besonders
aus der Perspektive der Nachbarländer und der Vereinigten Staaten
von Amerika, welche die Forschung der ihren Konjunkturschwan¬
kungen unterworfenen Wirtschaft und den (von der Wirtschaft
gesponserten) Universitäten überlassen und freie Forschungsaufga¬
ben immer nur punktuell fördern.
In der Schweiz gibt es, obwohl sich das Land seiner eigenen
vielfältigen musikalischen Tradition rühmt, keine einzige volle
Stelle für Musikethnologie. Dabei ist Musikethnologie, wenn sie
sich mit traditioneller Musik befasst, eine dringliche Forschung
geworden. Alles verschwindet, man musste sich beeilen. Alle wissen
es, und niemand tut etwas. Der Musikethnologe, der sich bis jetzt
am intensivsten mit schweizerischer Volksmusik auseinandergesetzt
heit.
In der musikethnologischen Sammlung des Musée de l'Homme
sind neben Instrumenten aus aller Welt und aus allen Zeiten
Tausende von Tonaufnahmen aufbewahrt und katalogisiert, seit
der Wachswalzenzeit. Die Tonlabors sind auf dem letzten Stand
der Technologie; jeder menschenmögliche Ton kann analysiert
werden.
*
Für den Musikethnologen gilt viel mehr als für die Generalisten
unter den Völkerkundlern, dass ihre praktische Arbeit ein Nehmen
und Geben sein muss. Was Hugo Zemp in den siebziger Jahren bei
den Antipoden auf den Salomon-Inseln aufgenommen hat, ist auch
daselbst deponiert. In diesem Punkt nimmt er es, auch was seine
Filmarbeit angeht, vielleicht noch genauer als andere Kollegen. Ge¬
wisse Äusserungen und Aufsätze scheinen geradezu für das Unheil
einer kolonialistischen und zuweilen rassistischen «Völkerkunde»
späte Abbitte leisten zu wollen. Der Töne- und Bildernehmer Hugo
Zemp ist ein äusserst skrupulöser Mensch. Diesen Skrupeln opfert
er auch Eleganz und Glanz. In dem 1990 publizierten Aufsatz «Ethi¬
sche Probleme des ethnomusikalischen Filmens» versucht er den
Kopf aus jeder Schlinge zu ziehen, welche das kaufkraftmässige
und technologische Gefälle zwischen Filmendem und Gefilmten
auslegt. Die grundlegende Bedenklichkeit der Film- und Tonauf¬
nahme - die Bedenklichkeit des Nehmens eben - vermag er nicht
auszuräumen, aber er versucht es wenigstens.
Wie kommt jemand dazu, sein Leben der Erforschung traditioneller
Musik zu verschreiben? Ist es eine romantische Regung? Oder ein
sozusagen anarchischer Schub, Auflehnung gegen die extreme Re¬
duktion und Systematisierung der europäischen Musik? «Es war
ein Zusammentreffen verschiedener Umstände», sagt Hugo Zemp.
Der junge Jazzdrummer der fünfziger Jahre studiert am Konserva¬
torium Basel und wird Orchestermusiker. Sein Studium verdient
er als Schlagzeuger eines Tanzorchesters. Der Jazzdrummer hört
eine vom Musée de l'Homme herausgegebene Platte, «Batteries afri¬
caines», kauft sie und will seine beiden Kollegen auf eine Tournee
in den (damals belgischen) Kongo begleiten, landet schliesslich
allein an der Elfenbeinküste. Mit der Hilfe des Schweizer Konsuls,
der ein Transportunternehmen betreibt, gelangt er endlich in die
Kleinstadt, wo der französische Musikethnologe André Schaeffner
und die Ethnologin Denise Paulme arbeiten. Auf eigene Faust geht
er fasziniert zu den Dan, zu den Senufo. Und auf der zwölftägigen
Rückreise, bei der er zufällig wieder auf die beiden Musikethno¬
logen trifft, fällt der Berufsentscheid: Abschluss des Konsi, Ethno¬
logiestudium in Basel bei dem charismatischen Professor Alfred
Bühler, Fortsetzung in Paris, insgesamt zwei Jahre Feldforschung an
der Elfenbeinküste. 1964 die erste Publikation, 1965 die erste von
fünf Schallplatten und 1971 die Dissertation «Musik der Dan. Die
Musik im Denken und im sozialen Leben einer afrikanischen Ge¬
sellschaft»; sie ist ein Standardwerk der Musikethnologie gewor¬
den, weil Zemp anthropologische und soziale Perspektive kombi¬
niert.
hat, Max Peter Baumann, wirkt in Berlin.
Es verhält sich ähnlich wie bei der Volkskunde. Gäbe es in der
Schweiz beispielsweise einen Paul Hugger und die Schweizerische
Gesellschaft für Volkskunde nicht, existierte wohl keiner der zahl¬
reichen Filme über aussterbende Berufe. Paul Hugger hat das Geld
für seine wissenschaftlichen Filme regelrecht zusammenbetteln
müssen. Das Wort «Notfilmungen» stammt von ihm; zum Teil
haben Huggers fast ehrenamtliche Filmer (alle mit klingenden
Namen übrigens: Yves Yersin, Renato Berta, Hans Ulrich Schlumpf,
Claude Champion, Jacqueline Veuve, Friedrich Kappeier usw.)
gewisse Techniken und Vorgänge bereits rekonstruieren müssen.
Der Film über den Geschirrflicker («Beckibüetzer») im Entlebuch
wurde mit dem letzten Berufsmann gedreht.
Auch Hugo Zemp hat rekonstruiert, zusammen mit melanesischen Musikern, deren Erinnerung er hat auf die Sprünge helfen
müssen. Vielleicht war es der letzte Moment, dem Gedächtnis der
Menschheit die polytheistische Ahnenmusik eines verlorenen
Atolls an der Peripherie Polynesiens zu retten.
Die musikethnologische Gruppe des CNRS ist ins Programm
des «Musée de l'Homme» eingebunden. «Museum des Menschen»:
ein von französischem Rationalismus geprägter stolzer Name. In
Frankreich haben die Menschen, ihre Zivilisationen, ihre Lebens¬
stile und ihre Ahnen- und Todesrituale ein nationales Museum,
32
Der Häuserbau, die gesellschaftliche Organisation der Völker,
ihre Nahrungsbeschaffüng und -Zubereitung, ihr Kunsthandwerk,
ihre Kunst, ihre Sprache und ihre Musik gehören zum Erbe der
Menschheit. Hugo Zemp brauchte keine andere Motivation für
seine Arbeit des Sammeins und des Bearbeitens, und doch geht seine
Tätigkeit über das rein Wissenschaftliche oder Museologische hin¬
aus. Er sei kein Missionar der Tradition, sagt er, aber er tut zum
Beispiel alles, um das Ansehen traditioneller Musik im eigenen Land
zu heben. Seine Tonaufnahmen von den Salomon-Inseln hat er den
Radiostationen der Insel zur Verfügung gestellt, die ihr Publikum
ebenso wie auf der ganzen Welt mit «internationaler Variété-Musik»
- und das heisst hawaiischer und amerikanischer - überschwem¬
men; die Schulen haben Musikaufnahmen bekommen, und mit den
Einkünften der 15 Platten und Reeditionen hat er Batterieton¬
anlagen gekauft, damit sich die Urheber selber hören können. Die
belächelten Musiker sind im eigenen Land nicht gerade Stars gewor¬
den - es war noch nicht die Zeit der «World Music», doch ausgelacht
wurden sie und ihre Bambusinstrumente nicht mehr. Zemp hat
freilich nicht verhindern können, dass auf den Salomon-Inseln
Generatoren gekauft wurden, die nicht Licht in die Hütten brach¬
ten, sondern elektrische Gitarren, Verstärker und Lautsprecher
betrieben und die oft sehr zarten und verletzlichen Bambusflötenund Trompetentöne wegfegten.
Wichtig, ja zentral ist ihm die Visualisierung der Musik gewor¬
den. Seinen ersten eigenen Film hat Zemp 1973 gedreht; gegen¬
wärtig stellt er zwei Filme über georgische Musik fertig. Die Filme
sind zuerst einmal wertungslose Dokumente, doch in der Nach¬
bearbeitung verfolgt der Musikethnologe zwei Linien: einerseits
visualisiert er mit ausgeklügelten Techniken die Töne (ein quasi
synästhetisches Projekt), andererseits erhellt er mittels Montage und
kommentierenden Titeln ihren sozialen Kontext.
Ein solches Projekt hat ihn 1983/84 ins schweizerische Muotatal
geführt. Schon vorher hatte Zemp einmal in der Schweiz gearbeitet.
Die Darstellung des appenzellischen Naturjodeis, «Zäuerli, Yodel
d'Appenzell», halte ich nicht für besonders grundlegend, sie scheint
mir eine, zwar verdienstvolle, Gelegenheitsarbeit zu sein. Von ganz
anderem Kaliber sind die Publikationen - Artikel, Filme und Platte über die Musik des Muotatals.
Hugo Zemp greift mit wissenschaftlicher Kühle in ein Wespen¬
nest, er macht die Spannungen zwischen «Naturjodel» und «Jodel¬
kultur» zum Thema. Der erste und der letzte der insgesamt etwas
über zwei Stunden dauernden vier Filme stellen die musikalische
Landschaft in relativer Komplexität dar. In seiner Bestandesauf¬
nahme geht es um den traditionellen «Juuz» und um seine vom re¬
gionalen Mitgliedverein des Eidgenössischen Verbands kultivierte
Form, den «Jodel». Man solle doch beide gelten lassen, sagen Zemp
und sein Mitarbeiter, der Lehrer im Tal, Peter Betschard. Doch inter¬
essanter für sie, fremdartiger, «archaischer» ist selbstverständlich der
Juuz, ist sein Umgang mit dem tonalen Tonsystem, mit der 4. Stufe
(der Tonleiter) und vor allem die neutrale dritte und siebente Stufe,
die in den Ohren von geschulten Vereinsjodlern falsch klingen. Wie
in den Appenzeller «Zäuerli» und «Ruggusserli» gehört das «Alphorn-fa» zum Formeninventar, kein f, kein fis, sondern «etwas da¬
zwischen», etwa eine Viertelnote höher als die perfekte Quarte. Dar¬
über hinaus werden wie in gewissen zentralafrikanischen Gesängen
die Schlusstöne nicht gehalten oder messerscharf abgebrochen,
sondern fallen gelassen, sie schleifen hinunter zum tiefsten Ton
des Registers der Sängerin oder des Sängers (Bruststimme). Das
dauernde Kippen von Bruststimme in die Kopfstimme (Falsett),
dieses vitale Hin und Her von «O» und «U» findet auch im Jodel
statt, in den interessantesten Partien, den Refrains von doch mei¬
stens fast unerträglich heimattrunkenen Jodelliedern, doch da tönt
alles «richtig», wie wenn jemand alle Sängerinnen und Sänger mit
der Stimmgabel temperiert hätte.
Hugo Zemp lässt Bauern, Hirten, Holzarbeiter, einen Camion¬
neur, einen Schreiner und Cafetier, eine Bäuerin und ihre Kinder
juuzen. Von weit her scheinen ihre Töne zu kommen, «schön»
LÖFFEL
Unter die dorlichen instru¬
menta zählt Sebastian
Virdung in seiner 1511 in
Basel erschienenen Musica
gelutscht auch das BritschenAuffdem h afin, ein
Haushaltsinstrument.
diesen Kombinations¬
Zu
auf. 1975 fielen erstmals
junge Städterinnen auf,
die ihre eigenen Löffel an
ein Ländlerfest mitbrach¬
Der Aufschwung des
Löffelspiels in letzter Zeit
ten.
mentare Schlagzeuge wie
in Zeitungs¬
berichten über den Löffe¬
Kochtöpfe, Ffannendeckel,
das Waschbrett, Koch-
ler-Wettstreit, tier seit
1977 jeden Herbst in
instrumenten zählen
ele¬
lässt sich
und Esslöffel.
Giswil (Obwalden) durch¬
Johann Gottfried Ebel
beschreibt das Löffelspiel
1798 in «Schilderung der
geführt wird, beobachten.
Klapperten die Kandi¬
Gebirgsvölker der
Schweiz»: «Auch hörte ich
von zwei Knaben Lieder
singen, die ihren Gesang
mit dem Geklapper von
zwei hölzernen Löffeln
begleiteten, welche sie
daten in den siebziger Jah¬
ren noch häufig mit metal¬
lenen Suppenlöffeln oder
Salatbestecken
und nur
vereinzelt mit eigens zum
Löffelspiel geschnitzten
Holzlöffeln, trat 1986
kein einziger Löffler mehr
Aus
zwischen den Fingern fast
ebenso hielten und beweg¬
mit
ten wie die Spanier ihre
haltsinstrument ist in der
bekannten Kastagnetten,
Schweiz ein Modeschlag¬
zeug geworden, das alle
grösseren Musikhäuser an
wenn sie den Fandango
tanzen.»
Bis in die Mitte der
siebziger Jahre unseres
Jahrhunderts wurden für
dieses traditionelle Löffel¬
ausnahmslos me¬
Tischbesteck auf.
dem bescheidenen Haus¬
Lager führen. Löffelspieler,
die auf sich halten, bestel¬
len ihr Instrument aber
bei eigens spezialisierten
spielfast
tallene Suppenlöffel ver¬
wendet, die sich Männer
Löffelschnitzern.
Beat Kollegger, Musi¬
ker und Instrumenten¬
in Gaststätten vom
macher in Alvaneu, bei¬
spielsweise, versieht seine
Ser¬
vierpersonal erbaten, wenn
es
galt, einen Schwyzermit Löffelrhythmen
örgeler
zu begleiten.
Zum Spiel wird das
Löffelpaar ober- und un¬
terhalb des Zeigefingers an
den Griffen gehalten und
auf Unterarm, Oberschen¬
kel, an die freie Hand,
seltener
auf Unterschenkel,
Brust und Kopfgeschla¬
gen. Neben dem traditio¬
nellen Spiel mit Suppen¬
oder
- seltener - Kaffee¬
löffeln kam in den siebzi¬
33
ger Jahren das Löffeln mit
hölzernen Salatbestecken
Löffel mit Abziehbildern
und kann die enorme
Nachfrage nur noch unter
Mitarbeit einer Behindertenwerkstätte befriedigen.
B.B.-G.
klingen diese Tonfolgen in den Ohren jener, die mit Dirigent und
Stimmtraining im Jodelchor musizieren, nicht. Eine richtige querelle
des anciens et des modernes ist im Gange: Anton Bühler erzählt, dass
ihn die Preisrichter der Jodlerfeste schlecht benoteten, solange er so
juuzte, wie es im Tal hinten schon immer üblich gewesen war, und
dass er gleich in die erste Kategorie promoviert wurde, als er den
letzten Ton nicht mehr fallen liess und die klassischen Harmonien
rein intonierte. «Der kann's ja», werden sich die hohen Preisrichter
gesagt haben. Und nun, nach dem Beweis, darf Anton Bühler sogar
bei feierlichen Gesangswettbewerben ab und zu die wilden Töne
einfliessen lassen. Selbstverständlich wird die Harmonisierung des
Urchigen als Fortschritt betrachtet; die Verluste nimmt - ausser dem
Musikethnologen und den immer weniger werdenden Juuzerinnen
und Juuzern - niemand wahr.
«Mir händ üsi Art, diä andere händ iri Art, und so wird's eifach
bliibe», sagt einer. Aber so, wie er im letzten Satz eine Futurumform
braucht, die seine Mundart nicht vorsieht, so etwa wird der tempe¬
rierte Jodel den Juuz noch ganz verdrängen. Dass man die Juuzer
jetzt schon auslacht, ist ein sicheres Zeichen.
Auch das dokumentieren Zemps Filme, vor allem der Teil
«Glattalp»: Der Filmer konnte nicht einfach einem Alpaufzug fol¬
gen und die «Chuereiheli» (Kuhreihen) aufnehmen, in der Hütte
wurde am Abend der Filmaufnahmen nicht gejuuzt, und beim Mel¬
ken schon gar nicht, da hält einen die Melkmaschine in Trab. «Glatt¬
alp» ist eine idealisierende, fiktive Rekonstruktion, was Zemp mit
einem riesigen Zwischentitel - «avertissement» - offenlegt.
Die gesamte musikalische Landschaft dokumentiert der Teil
«Die Hochzeit von Susanna und Josef», ein einziges Glissando von
«Ur» zu «U», von Juuz (und Geisslä-Chlepfä) zu Jodel und Ländler,
wie man sie auch in den Fernsehsendungen von Wisel Gyr hätte
hören können. Während die bereits zweimal aufgelegte Schallplatte
den Juuz und die Büchel-Melodien - der Büchel ist das «kurze Alp¬
horn» - in Reinkultur präsentiert, illustrieren die Filme die musi¬
kalische Situation in ihrer Dynamik, im Formwandel. Einigen Leu¬
ten im Tal habe der Film nicht sehr gefallen; er zerstört die Illusion
der Intaktheit, an der Konservative oft wider besseres Wissen
spürbare Kameramensch, der Aufzeichner, der sich nie versteckt
und der nie sagt: «Tut so, als ob ich gar nicht da wäre.» In Fachkreisen
sind Zemps Filme hochgeschätzt. Auch das wäre ein Grund für eine
Ausstrahlung, für die Schweizer TV-Volkstümler allerdings kein
zureichender.
Einer von Hugo Zemps meistzitierten Aufsätzen betrifft die Meta¬
sprache von Musikern der Salomon-Inseln («Aspects of Are Are Mu¬
sical Theory», 1979). Zemp hat während seiner insgesamt zwei Jahre
dauernden Forschungsaufenthalte nicht nur die Sprache erlernt,
sondern auch das Spiel der gebräuchlichsten Instrumente. Er hat die
von kalifornischen Musikethnologen entwickelte Technik der Bi¬
Musikalität praktiziert und damit erfahren und beschreiben können,
wie die Musiker über Musik sprechen. Sein Aufsatz widerlegt die ge¬
läufige Auffassung, dass traditionelle Musik lediglich durch Imita¬
tion tradiert wird. Eine musikalische Metasprache ist auch Voraus¬
setzung für die Kreativität einer traditionellen Musik, das heisst für
die Erfindung neuer Stücke.
Im Muotatal war er nicht bi-musikalisch. Juuz und Jodel waren
dem ursprünglich aus dem Entlebuch stammenden Forscher fremd
und dem ehemaligen Jazzmusiker eher befremdlich, wenn nicht gar
verdächtig gewesen. Was hat ihn denn in das 3000-Seelen-Tal ge¬
führt? Ein rein wissenschaftliches Interesse. Der deutsche Musik¬
ethnologe Wolfgang Sichardt hatte 1936 im Muotatal Aufnahmen
gemacht und drei Jahre darauf das Buch «Der alpenländische Jodler
und der Ursprung des Jodeins» publiziert; darin war vom abfallen¬
den Schlussglissando, von der neutralen Intonation der Terz und der
Erhöhung der vierten Stufe der Tonleiter (Alphorn-fa) die Rede.
Den Wissenschaftler interessierte zunächst nur das; immerhin war
er geistesgegenwärtig genug, um in seinen Filmen die Konfliktsitua¬
tion darzustellen. Er selber weist auf die inspirierende Rolle der
Arbeiten seiner Frau, Sylvie Bolle-Zemp, hin, die sich mit den Pro¬
zessen der Fabrikation und der Identifikation eines musikalischen
Erbes (oberes Greyerzerland) befassen.
Verteidigt er wirklich nichts? In zwei Gesprächen ist oft der
Begriff «World Music» gefallen, seinerseits immer mit einem ab¬
schätzigen oder doch skeptischen Unterton; dem amerikanischen
Musikimperialismus und dem riesigen Geschäft mit regional eingefârbter Rockmusik kann Zemp nichts abgewinnen. Er ist der
Erforscher versinkender musikalischer Welten, allenfalls des ersten
Folkloreschubs. Er begrüsst die Versuche traditioneller afrikanischer
Musiker, ihre Tonfolgen und Instrumentierungen international
rechtlich zu schützen, obwohl er natürlich weiss, dass man den
Moog Synthesizer nicht verbieten kann, dass das ein Kampf gegen
hangen.
Eine beträchtliche Anzahl von Anekdoten sind mit den Feld¬
aufnahmen Hugo Zemps in einem der letzten Réduits der tradi¬
tionellen Musik in der Schweiz verbunden. So haben die Dörfler
den juuzenden Nachbarn geneckt, der auf dem Plattencover - mit
dem rechten Zeigefinger im Ohr - abgebildet ist... wegen seines
geflickten Hirtenhemds. Und der hat sich mit dem Hinweis auf
beträchtliche Tantiemen «gerettet». Man juuzt im Muotatal eben
sozusagen hinter vorgehaltener Hand. Jene, die es noch können
und manchmal, allerdings wesentlich seltener als früher, tun, hatte
Windmühlen ist.
Zemps einheimischer Mitarbeiter gekannt.
Die Arbeit im Muotatal muss als «dringliche Musikethnologie»
bezeichnet werden, es waren Notaufnahmen, Notfilmungen. Denn
das, was die noch immer oder erneut in der schweizerischen «gei¬
stigen Landesverteidigung» steckenden Konservativen heute unter
Tradition und Bodenständigkeit verstehen und entsprechend pfle¬
gen, hat oft null und nichts zu schaffen mit den wirklichen tradi¬
tionellen Kulturformen einer alpinen Zivilisation. Die Konserva¬
tiven geben immer den domestizierten Formen den Vorzug, vor
dem anarchisch Urwüchsigen haben sie Angst.
In dieses Bild gehört auch die Tatsache, dass das Deutschschwei¬
zer Fernsehen keinen der vier Filme Zemps gezeigt hat, während
der Westschweizer Sender immerhin einen programmierte. Dass
sie nicht alle technischen Normen erfüllen, dass ihre Kamerafüh¬
rung und Montage nicht über jeden Zweifel erhaben sind, ist nicht
zu bestreiten. Zemps Filme verhalten sich zu den volkstümlichen
Sendungen des Monopolmediums wie ein Juuz zu einem geschlif¬
fenen und frisierten Jodel. Als Filmer hat Hugo Zemp eine Kantig¬
keit bewahrt, die sein Lehrmeister und Vorbild Jean Rouch abgelegt
hat. Er filmt in Einstellungssequenzen, oft mit handgehaltener
Kamera, er löst die Szenen kaum auf, sondern bleibt immer der
Appenzell Ausserrhoden und das Muotatal sind kurze Episoden
in Hugo Zemps wissenschaftlicher Arbeit gewesen, weitere schwei¬
zerische Projekte hat er nicht. Seine aus dem waadtländischen Bex
gebürtige Frau will ihre musikethnologische Bestandesaufnahme in
der Haute-Gruyère jedoch weiterführen und auf andere westschwei¬
zerische regionale Traditionen ausdehnen, sobald und sofern sie
weitere Feldforschungen finanzieren kann.
Sylvie Bolle-Zemp bewegt sich in einem Gebiet, in dem es ausser
vielleicht der Kuhglockenmusik im Grunde oder am Grunde gar
keine traditionelle Musik gibt. Einer Region, in der man Trans¬
formationen für das Ursprüngliche hält, beispielsweise die Stücke selbst den «Ranz des vaches» - des Abbé Bovet oder die Glocken¬
spiele der Dorfkirchen. Eine vorläufige Bilanz ihrer Forschung, die
sie dank der Unterstützung durch den Nationalfonds durchführen
konnte, zieht ihre Dissertation «Le Réenchantement de la mon¬
tagne. Aspects du folklore musical en Haute-Gruyère» (1992, Georg
Editeur, Genf).
Aufschrift und Tritt begegnet die Autorin der Ideologisierung
von Musik und, «hinter der Musik», einer ländlichen Lebensweise.
Der Senn (1'armailli) besitzt eine «klare Stimme» (une voix claire),
eine der Höhenlage seiner Alp entsprechende Tenorstimme, weil
34
er während der Alpzeit so viel klare und reine Bergluft atmet. Im
Ernst! Wohlhabende Familien haben eher die «klare Stimme» als
weniger wohlhabende; solches sagen die weniger Bemittelten; das
Timbre erscheint ihnen quasi erblich. Das Volkslied, zum grossen
Teil geschrieben und getextet von Abbé Joseph Bovet, vor allem
das Chorlied, wirbt für die ländliche Schweiz, vor allem für die
höhergelegenen Regionen, und für ihre konservativen Werte. Die
Klage über ihren Verlust und der Wunsch nach ihrer Wiederherstel¬
lung gehen Hand in Hand. Wenn von «Reinheit» und von «Sauber¬
keit» und von «Einfachheit» des Chorgesangs die Rede ist, schwin¬
gen die christlichen Werte mit.
Sylvie Bolle-Zemp spricht in den Schlussfolgerungen ihres
Buchs von einem resistenten «Exotismus von innen», und sie unterlässt es auch nicht, auf den Chauvinismus, den Antiinternationalismus, die Abneigung gegen alles Proletarische des Abbé Bovet
sowie auf eine besondere Spielart («Renaissance Fribourgeoise») der
geistigen Landesverteidigung hinzuweisen, die einerseits für den
Faschismus recht offen und andererseits fast nahtlos in die Touris¬
muswerbung übergegangen ist. Kurz, sie ist daran, ein mythisches
Gewebe («texture mythique») aufzuzeigen, das nicht nur der Ruralität eigen ist, sondern ebensosehr von der urbanen Gesellschaft
fabriziert wird.
HALSZITHER
In der Schweiz sind drei
andern Saiteninstrumen¬
Halszithertypen bekannt,
die sich an äussern Merk¬
malen unterscheiden las¬
ten wie Konzertzither,
Bassgeige
sen.
Nach den Gebieten
ihrer Herstellung und Ver¬
wie Halszitherklänge und
Krienser Hausmusik
wendung heissen sie: Em¬
gespielt. Die Pflege der
mentaler, Toggenburger
Emmentaler Halszither,
sie wird auch Hanottere
genannt, ist bis auf ein¬
und Krienser Halszither.
Der Emmentaler und
Toggenburger Halszither
gemeinsam ist ein flacher,
Sylvie Bolle-Zemp breitet ihr Material mit jener gelassenen Objek¬
aus, die in der wissenschaftlichen Arbeit und in ethnomusikalischen Publikationen gefordert ist, aber die kompetent heraus¬
gearbeiteten Befunde könnten auch Grundlage für eine politische
Polemik sein, ja sie bieten sich nach der Abstimmung über einen
Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum vom 6.
Dezember 1992 geradezu dafür an. Diese Abstimmung hat die
Abneigung der «dörflichen Schweiz» gegen eine europäische Inte¬
gration deutlich gemacht. Der Abstimmungskampf war auch eine
Auseinandersetzung der (Selbst-)Bilder, und zu dem Bild, das ein
Volk von sich macht, gehört auch die Musik (des Volkes). Die Chor¬
sängerinnen und Chorsänger des Greyerzerlandes verstehen sich oft
als eine Verkörperung des «Schweizertums» (der suissité); sie sind
ein nicht allzu fernes Echo jener Zeit, in der Schweizervolk und
Schweizermusik und Schweizerliteratur und Schweizerfilm in
einem Wort geschrieben worden sind. Das Schweizerhaus ist eine
Alphütte, was auch immer geschehen mag; sie steht wie eine hei¬
melige und sichere Festung in der bösen Welt. (Ich erinnere mich an
Bunker aus «Reduit»-Zeiten, auf welche als Tarnung Holzfassaden
geklebt waren, und mir kommt auch die Bauordnung von Gstaad in
den Sinn, die nur das Chalet zulässt. Geistige Landesverteidigung
und Tourismus wieder Hand in Hand, als ewige Stafettenläufer.)
Volksmusik und ihre ideologische Besetzung sind eine der vielen
«Masken» (Sylvie Bolle-Zemp), die sich das konservative Sonder¬
falldenken aufsetzt.
Also: Nichts wie hinein in die «World Music», in die «Mestizisierung», Abschied von einer alpenländischen überheblichen My¬
thologie der reinen, einfachen, aufrichtigen «Volksmusik», der «drei
S» des Abbé Joseph Bovet: sobre, simple et sincère? Nur weg mit
dem verheerenden ideologieträchtigen Bild vom Oben und vom
Unten, von den Schweizern auf ihren Bergen, die näher bei Gott
leben als die Flachländer? Stephan Eicher, «Patent Ochsner» und
«Züri West» als grosse Erleichterung, als Befreiung vom überheb¬
lichen Sonderfalldenken, als Abschied von dieser stickigen und
tivität
sind als am Hals, sowie
ein griffbrettbelegter Hals,
es
der
Birne ähnlicher Reso¬
mit einem
offenen
Wirbelkasten versehen ist.
Toggenburger Halszithern
sind mit einer gedrechsel¬
ten Rosette, Emmentaler
Halszithern mit einem
geschnitzten Tier- oder
Frauenköpfchen bekrönt.
Nach ihrer doppelchörigen
Besaitung (je zwei gleich
gestimmte Saiten), nach
dem
mit Metallbünden
unterteilten Griffbrett,
nach Saitenbefestigung
und Steg zu schliessen,
zählt die Krienser Hals¬
zither ebenfalls zu diesem
Cistertyp.
Auf den
ersten
tung geistlicher Lieder, wie
die Aussage einer Watt-
wilerin bezeugt. Diese
be¬
hauptete um 1910, auf
einer Halszither dürften
keini Lumpeliedli, sondern
nurfrommi Liedli
er¬
klingen.
Hinter dem Begriff
Cither verbirgt sich ein In¬
strument der Renaissance¬
musik, das in Frankreich
eis tre, in England cittern
und in Italien cetera hiess.
Niederländische Gemälde
aus dem
17.
Jahrhundert
dokumentieren die Halszi¬
ther als populäres Musik¬
instrument lustiger Gesell¬
schaften im Wirtshaus
Blick ist sie aber der
Gitarre ähnlich und wird
oder als stilles Saitenspiel
im häuslichen Kreis.
mit
Bildliche Darstellun¬
gen aus der Schweiz wie
eine Holzskulptur von
1600 am Hochaltar von
Peter Spring in der Frei¬
burger Augustinerkirche
und ein musizierender
Engel aus Paul Stockers
diesem grössern Chordophon auch leicht ver¬
wechselt. Krienser Hals¬
zithern weisen ein
leeres
Schalloch, Toggenburger
Halszithern neben einer
zentralen Rosette zwei in
Tropfenmustern ein¬
geschnittene seitliche
35
zelne Spielleute aus dem
nanzkasten, Zargen, die
am Unterklotz schmaler
ten
¦
in Ensembles
Folkrevival ausgestorben.
Die Toggenburger Hals¬
zither diente im 19. Jahr¬
hundert frommen Frauen
und Mädchen zur Beglei¬
dem Umriss einer halbier¬
unerträglichen Enge?
Diese Erleichterung aber kann nicht heiter sein, dafür sorgt die
Dominanz der amerikanischen Elemente der «World Music»; das
politische und kulturelle dezentrale Denken hat erst begonnen,
vielleicht wird es das nächste Jahrhundert bestimmen. In der heu¬
tigen «World Music» kann man keine Region werden, sondern bloss
eine Provinz, wenn nicht gar eine Kolonie.
theorbierter Laute und
Deckengemälde von 1661
Schallöffnungen auf.
Die Krienser Hals¬
im Zurlaubenhof in Zug
zither wird zwar seltener
als früher, aber in un¬
gebrochener Tradition zu¬
sammen mit Gitarre und
zither sei hierzulande
schon im 17. Jahrhundert
als Kunstmusikinstrument
lassen vermuten, die Hals¬
bekannt gewesen. B.B.-G.
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