Mediathek André Malraux

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Thema Mediathek André Malraux
Bauwelt 5 | 2009
Eine schmale Halbinsel im ehemaligen Industriehafen von
Straßburg erwacht zu neuem Leben. Damit die Mediathek
noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht, wurde der Designer Ruedi Baur gebeten, nicht nur innen, sondern auch
bei den Fassaden mit literarischen Schriftzügen zu agieren.
Mediathek André Malraux
Umbau eines Silos und Lagergebäudes in Straßburg: Ibos & Vitart
Kritik: Suzanne Stacher Fotos: Georges Fessy
Der ehemalige Entrepôt
Steegmuller steht auf einer
Halbinsel zwischen dem
Quai des Alpes im Norden
und der Route du Rhin im
Süden.
Nordwestlich schließt das
Stadtzentrum an. Auf der
Mitte der Halbinsel gibt es
einen weiteren Silobau.
Lageplan im Maßstab
1 : 3333
Im ehemaligen „Port Autonome d’Austerlitz“ Straßburgs haben
einige wenige bauliche Relikte die groß angelegte Umstrukturierung mit neuen, architektonisch weitgehend enttäuschenden Büro-, Veranstaltungs- und Hochschulgebäuden überlebt.
Eines dieser Relikte wurde nun von Jean-Marc Ibos und Myrto
Vitart, den früheren Partnern von Jean Nouvel, zur Mediathek
umgebaut. In Frankreich bekannt wurden die Architekten
durch die Umgestaltung und Erweiterung des Kunstmuseums
in Lille (Heft 35.1997). Ihre jüngsten Arbeiten sind das Archivgebäude in Rennes (Heft 14.2007) und die neue Feuerwache
von Nanterre.
Bei dem 2003 von der Stadt Straßburg ausgeschriebenen
Wettbewerb haben die Architekten mit einem Entwurf gewonnen, der den bestehenden Silo und das Lagergebäude aus
den dreißiger Jahren für die neue städtische Mediathek weitgehend bewahrt. Der industrielle Charakter wurde aber auch
teilweise erheblich abgewandelt und neu interpretiert: Der
Kopfbau der Anlage, ein Siloturm aus einem Stahlbetonskelett mit Ziegelausmauerung, blieb außen wie er war, lediglich
ein silbrig glänzender Anstrich entmaterialisiert nun seine
Oberfläche und verleiht ihm eine abstrakte Flächigkeit. Auf
die Fassade gedruckte Schriftzüge verstärken diesen Eindruck.
Für den Betrachter wird die Lektüre bereits hier, im städtischen Außenraum, zum Thema.
Der an den Silobau unmittelbar anschließende horizontale Baukörper, die ehemalige Lagerhalle, blieb nur in der
Grundstruktur erhalten. Um das umfangreiche Programm von
18.000 Quadratmetern unterbringen zu können, wurde das
steile Satteldach abgetragen und die drei existierenden Obergeschosse um weitere drei aufgestockt. Die vorhandene Betonstruktur wurde – deutlich schlanker – erweitert, bei gleichbleibendem Rhythmus des Stützenrasters. Die weitgehend
geschlossenen Ziegelfassaden der Halle wurden abgetragen
und, um eine maximale Belichtung zu gewährleisten, durch
eine Glasfassade in zwei Schichten ersetzt. Diese schließt an
die Traufhöhe des Silobaus an und lässt somit ein klares, kompaktes und doch gegliedertes Volumen entstehen. Die auf der
Nordseite ergänzten, weit außen liegenden Stahlfluchttreppen treten durch ihre industriell wirkende Metallstruktur mit
den beiden verbleibenden Schiffskränen in Dialog. Als Pendant
zum Kopfbau schließt am anderen Ende der Glashaut eine
silbrige Wellblechfassade das kompakte Volumen ab, hinter
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Architekten
Jean Marc Ibos, Myrto Vitart,
Paris
Projektleiter
Claudia Trovati, Stéphane Bara
Mitarbeiter
Uta Bengel, Nils Christa, Gilles Delalex, Stéphane Pereira
Tragwerksplanung
VP & Green Ingénierie, Paris
Bauherr
Communauté Urbaine, Straßburg
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Herstellerindex
www.bauwelt.de/herstellerindex
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Die Mediathek gliedert sich
in drei Baukörper. Der mittlere Teil hat erhebliche Veränderungen erfahren. Nachdem
das Satteldach abgetragen
war, erfolgte eine Aufstockung
um drei Geschosse. Die alte
Fassade wurde durch eine doppelte Glashaut ersetzt. Auf
der Nordseite sind die Fluchttreppen. Der östliche Teil erhielt eine Wellblechhaut; dahinter befinden sich Technik,
Magazin und ganz oben die
Räume der Mitarbeiter.
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Grundrisse und Ansicht im
Maßstab 1 : 750
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Haupteingang
Information
Cafeteria
Ausstellung
Vortragssaal
Eingang Mitarbeiter
Technik
Kinder
Jugendliche
Musik und Film
Sitzungssaal
Bibliothek
Leseplätze
„Salle du Patrimoine“
Magazin
Direktion
Dokumentation
Buchinstandhaltung
Büros
Mitarbeiter
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der sich in den Obergeschossen das Magazin befindet. Auch
hier sind an den Fassaden Schriftzüge zu finden, die die Bedeutung der Bibliothek hervorheben.
Kultursupermarkt?
Frei von Nostalgie und pittoresker Anpassung nimmt der Umbau mit seiner einfachen Form und den reduzierten Materialien den industriellen Charakter des Ortes auf. Durch die
neuen Glasfassaden mit ihren fixen horizontalen Glaslamellen, auch dies ein Produkt aus dem Industriebau, wird dem Industriegebäude nur ein neuer, anderer Charakter geschenkt.
Beim Konzept des Hauses hatte man weniger einen abgeschirmten Ort der Lektüre vor Augen, sondern ein offene Raumstruktur. Dies unterstreicht auch die späte Umbenennung der ursprünglichen Bibliothek in „Mediathek“, denn der damalige
Bürgermeister Robert Grossmann wünschte ein möglichst breites Publikum anzuziehen.
Dennoch ist in Straßburg auch eine Art „Tempel der Weisheit“ entstanden, denn paradoxerweise evozieren gewisse architektonische Elemente der Industriebauten der frühen dreißiger Jahre – wie zum Beispiel die achteckigen Stützen des
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Der Besucher gelangt zunächst
in die Halle des Silos mit
dem Atrium. Die Hinweise am
Boden leiten ihn zur Information. Gleich im Anschluss
kommt er in den Bereich Aktualität mit den Zeitschriften.
Schnitt im Maßstab 1 : 500
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Schnitt durch den Silo mit
dem Atrium. Beim aufgestockten Teil ist die Betonkonstruktion so schlank wie möglich ausgefallen. Die roten
Bänder setzen sich auch hier
fort.
Schnitt im Maßstab 1 :500
Foto Seite 20 unten: Philippe
Ruault
Speichers mit der pyramidalen Kopfausbildung Bilder von Palästen aus einer fernen Dynastie. Die Massivität und die Höhe
des Silos, die von den Architekten gleich hinter dem Haupteingang mit einem dramatisch wirkenden, bis zur Decke reichenden Atrium zur Schau gestellt werden, erinnern an berühmte
Zentralbibliotheken der Baugeschichte wie die Phillips Exeter
Akademie in New Hampshire von Louis Kahn. Doch sind die
Proportionen völlig andere: Die Enge des siebengeschossigen
Atriums weist die nach Referenzen suchenden Gedanken
schnell zurück, denn hier handelt es sich um postindustrielle
Nachnutzung. Umso beeindruckender, dass es den Architekten gelungen ist, mit der bestehenden Struktur so umzugehen,
dass jene vergleichenden Gedanken überhaupt entstehen
konnten. Um das rundum brandschutzverglaste Atrium ist im
ersten Obergeschoss die Kinderbücherei angeordnet, darüber
liegen die Lesesäle, und zuoberst befindet sich die Verwaltung
mit der Buchdokumentation und -instandhaltung.
LeWit und Varini
Eine dreiseitig abgeschrägte Rampe, die in ihrer Massivität
eine architektonische Einheit mit dem Silo bildet, führt hin-
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auf zum Haupteingang der Mediathek. Mit silbernen Einstreuungen in Beton versehen, lässt die Rampe zusammen mit der
silbrig-glänzenden Silofassade das Sonnenlicht zu einem gleißenden Universum werden, das den Besucher in das erholsame
Halbdunkel des Atriums hineingeleitet. Das grelle Licht im
Rücken und den expressionistisch anmutenden Innenraum vor
sich, drängt sich ihm im ersten Moment der Eindruck auf, es
handele sich um eine zeitgenössische Überlagerung mit Raumgraphiken von Sol LeWit oder Felice Varini. Wie eine ausgerollte Reptilienzunge holt ein roter Bodenbelag den Besucher
ab und geleitet ihn in das Gebäudeinnere. Hier spaltet sich der
rote „Weg“ in zwei Bänder auf, die dann kreuz und quer durch
das Gebäude verlaufen und alle fixen Elemente wie Boden,
Stützen, Decken, ja sogar Bücherregale durchkreuzen. „Oben“
und „unten“ wandeln sich zu verschwimmenden Begriffen, die
gewohnte räumliche Perspektive scheint sich in einer neuen
Dimension aufzulösen. Durch diese Intervention verändert
sich der Charakter der langen, niedrigen Räume mit grauen
Betonoberflächen, die sonst allzu sehr an ihre ursprüngliche
Funktion eines Depots erinnern würden. Das Rot wird zum
dominierenden, den Raum formenden Element.
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Im aufgestockten Teil des
Hauptgebäudes befinden sich
seitlich dreigeschossige Lesesäle. Dadurch erhält auch der
mittlere Teil des 22 Meter
breiten Gebäudes Tageslicht.
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Die „Salle du patrimoine“ mit
den kostbaren Büchern liegt
im 3. Obergeschoss. Auf beiden Seiten schließen die Lesesäle an. Der Blick auf das
Wasser ist auch vom zentralen Raum aus möglich.
Fotos diese Seite, ganz oben
und rechts: Philippe Ruault
Als glückliche Fügung erwies sich die Zusammenarbeit mit
dem Designer Ruedi Baur, der zu einem recht späten Zeitpunkt
vom Bürgermeister Robert Grossmann mit dem Orientierungssystem beauftragt wurde. „Dass keine zusätzlichen Informationsträger angebracht werden sollten, war schnell klar, das
Gebäude allein soll Träger der Schriften sein“, so Baur. Da der
transparente Kunstharz noch nicht gegossen war, konnte
Ruedi Baur nicht nur die Stützen und Wände, sondern auch
den Boden mit Schriftzügen versehen, in Überlagerung mit
den roten Bändern. Zuvor hatte er mit Mitarbeitern der Mediathek Textpassagen ausgewählt: poetische, philosophische,
alltägliche sowie Texte in anderen Sprachen.
Goldene Intarsie
Der lange Baukörper wird durch einen zentralen Erschließungskern gegliedert. Die notwendigen Brandabschnitte und
Fluchtwege der sonst offenen, nicht unterteilten Ebenen sind
somit gewährleistet. Östlich des Kerns hebt sich im dritten
Obergeschoss ein hoher verglaster Raum von den andern Bereichen ab: Sein Bodenbelag ist mit Goldsplittern versehen,
denn hier befindet sich der Fundus der kostbaren historischen
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Bücher. Den vergoldeten mittelalterlichen Schriftzügen entsprechend ist intarsienartig eine güldene Schatzschatulle in
den sonst homogen gestalteten Baukörper eingebaut, wobei
sich die anderen Gestaltungselemente, wie die rot durchsetzte
Decke, fortsetzen. Die Stirnwand erscheint durch eine glänzende Metallfassade entmaterialisiert, darauf gedruckte spiegelbildliche Schriftzüge werden von der gegenüberliegenden
Spiegelfassade in die reelle, lesbare Form gebracht. Schein und
Wirklichkeit verschmelzen in überraschender Weise.
Die räumliche Gedrücktheit der 22 Meter tiefen Ebenen
wird im aufgestockten Teil durch schmale zwei- und dreigeschossige Lesebereiche entlang den Glasfassaden aufgelockert.
Auf abgehängte Plafonds wurde verzichtet. Alle technischen
Installationen verlaufen – perfekt geordnet und gut sichtbar
– unter den Betondecken. Die Klimafassade ermöglicht eine
zentral gesteuerte Luftzufuhr, zudem gibt es automatisierte
Sonnenschutzrollos. Dank der Verglasung auf beiden Seiten
tritt ausreichend Tageslicht in den tiefen Baukörper. Durch
die vielen Ausblicke wird das Wasser zu einem Teil der Lesesäle. Nachts dreht sich dieses Verhältnis um: Die von innen rot
leuchtende Bibliothek wird zum weithin sichtbaren Signal.
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Im Atrium der Eingangshalle.
Blick ins erste Obergeschoss
mit dem Lesebereich für die
Kinder, darüber erstreckt
sich der Hauptsaal der Bibliothek. Das Haus verfügt über
30.000 Freihandstücke.
André Malraux (1901–1976),
der Namensgeber der Mediathek, war Schriftsteller, Widerstandskämpfer und Politiker zur Zeit von de Gaulle.
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