Koranexegese in Geschichte und Gegenwart Ömer Özsoy Offenbarung und Wort Gottes Bevor wir in das Thema einsteigen, möchte ich zum islamischen Verständnis von „Heiliger Schrift“ und dem „Wort Gottes“ kurz folgendes erörtern. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass das einzig unbestritten Heilige im islamischen Glaube die Gottheit ist. Da es jedoch heftig diskutiert ist, ob der Koran das Wort Gottes oder eine Reflexion des Wort Gottes sei, ist es immer problematisch, den Koran als heiliges Buch zu bezeichnen. Die in früheren Jahrhunderten des Islams viel diskutierte Problematik, ob der Koran geschaffen oder ewig sei, zeigt interessante Parallelitäten zu den Diskussionen zur Christologie in der christlichen Theologie auf. Von daher ist die muslimische Auffassung vom Wort Gottes und folglich vom Koran mit der christlichen Auffassung von Jesus Christus aber nicht mit der von der Bibel zu vergleichen. Wenn wir die theoretische Diskussionen über die Abstraktion vom Wort Gottes bei Seite lassen, dann können wir sehen, dass man im Islam in der Praxis mit dem Koran immer als ein geschichtliches Phänomen umgegangen ist. Er wurde ja als ein Gegenstand zum Verstehen und Interpretieren wahrgenommen und stets mit jenen Methoden ausgelegt, die auch für andere, menschliche Texte angewendet wurden. An dieser Stelle möchte ich auch darauf hinweisen, dass das Verständnis von Offenbarung im Islam sich besonders im folgenden Punkt charakterisiert: Der Koran gilt im Glauben des Islams letztendlich als das von Gott an Muhammad offenbarte und von ihm an die Menschen übermittelte Wort. Auch wenn umstritten ist, wem die arabische Formulierung des Offenbarten, ob Gott, dem Erzengel Gabriel oder dem Propheten Muhammad gehört, glauben alle Muslime von vornherein daran, dass die von Muhammad empfangene Worte göttlicher Herkunft waren und von Muhammad treu weitergeleitet wurden. (Vgl. Sure 69:40-47). Dass Gott sich als der einzige Herr zu erkennen gibt, macht nach islamischem Verständnis die ganze Offenbarung aus; und dass die Menschen sich ihm dementsprechend vertrauensvoll und gehorsam zuwenden, ist schlechthin „Islam“, d.h. „Hinwendung“, „Sichergeben“, „Sichüberlassen“, „Sichanheimstellen“. In der Sicht des Korans liegt diese Urform von Offenbarung und Islam also allen besonderen Religionsgeschichten und Religionsgemeinschaften voraus. Zugleich sieht er sie aber auch noch in Muhammads Umwelt gegenwärtig bei den „Hanifen“, einzelnen Frommen, die sich, ohne Christ oder Jude zu sein, zu dem einen Gott bekennen, gläubig aus ursprünglicher Innerlichkeit. Zu deren Glauben ruft der Koran zurück: “Richte dein Gesicht auf die Religion als Hanif!” (Sure 30:302). Das Urbild dieses fundamentalen Glaubens ist Abraham, der „weder Jude noch Christ“ war, „sondern ein Hanîf und Muslim (oder: aus Innerstem gläubig, [Gott] zugewandt)“ (3: 67). In diesem Sinn wird der Islam im Koran „die Religion Abrahams“ genannt (2: 135) und nicht etwa, weil Gottes Offenbarung mit ihm einen eigenen Anfang genommen hätte. Die historische Entstehung des Korantexts Der Koran besteht aus Offenbarungen, die der Prophet Muhammad in einem Zeitraum von über 22 Jahren zwischen 610 – 632 empfing und verkündigte. Die göttlichen Worte wurden als eine lebendige Anrede an die dort lebenden Adressaten, d.h. den Propheten, seine Gefährten, die heidnischen Araber, Juden und Christen, offenbart. Daher wurde die neue religiöse Bewegung um den Propheten durch die koranische Offenbarung nicht nur geleitet, sondern auch begleitet, weshalb wir im Korantext nicht nur Anweisungen bzw. Bestimmungen, sondern auch Spuren von fast aller Ereignisse seinerzeit lesen können. Die offenbarten Worte Gottes wurden allerdings von Beginn an nicht nur als göttliche Wegweisung, göttlichen Eingriff in die aktuelle Geschichte, sondern auch als Rezitationsbzw. Liturgietext wahrgenommen. Deswegen lag man schon zu Lebzeiten des Propheten einen besonderen Wert darauf, die vom Propheten verkündigten Worte sorgfältig zu fixieren und ständig zu rezitieren. So sind unter den ersten Generation Personen zu finden, die den ganzen Koran auswendig lernten, aber auch die, die über individuelle Koranexemplare verfügten. In der Zeit des ersten Kalifen Abū Bakr (632-634) entstand zum ersten Mal das Bedürfnis, ein Koranexemplar bereitzustellen, das im Zentrum des Kalifats aufbewahrt werden sollte. Eine Kommission, die unter der Führung von einem der Koranschreiber des Propheten, Zayd ibn Thābit, im Jahr 633 gegründet wurde, hat ein derartiges Koranexemplar fertig gestellt. Zur Regierungszeit des dritten Kalifen Uthmān (644-656) weitete sich das islamische Gebiet so aus, dass wir sehen, dass sich der Koran in unterschiedlichen Ortschaften unterschiedlich ausgesprochen wird. Durch redaktionelle Tätigkeit der Kommission wurden die Unterschiede in der Rezitation aufs Mindeste reduziert. Dieser Redaktionsstab hat, während er den Koran zusammenstellte, weder die chronologische Offenbarungsreihenfolge beachtet, noch ihn nach Themen geordnet. Er hat sich an die Rezitationsreihenfolge gehalten, die der Prophet angeordnet hatte und man daher kannte, und von der man glaubte, dass diese von Gott so bestimmt worden war. Aus diesem Grund ist der Korantext, der uns vorliegt, im Unterschied zu irgendeinem Buch, weder thematisch, noch systematisch oder chronologisch geordnet. Viele Passagen, die im Koran hintereinander stehen, sind eigentlich mit verschiedenerlei Anlässen und zu unterschiedlichen Zeiten verkündigte Offenbarungspassagen. Deswegen werden diejenigen, die den Koran lesen, sehen, dass er im Nu von einem Thema zum anderen springt. Wenn jemand erfahren möchte, wie im Koran ein bestimmtes Thema bewertet wird, wird er sehen, dass verschiedene Aspekte zum gleichen Thema in verschiedenen Stellen behandelt werden. Um den Koran zu verstehen, verlangt all dies nach historischen Forschungen, die die Zusammenstellung des Korans überragen. Deswegen haben die Rechtsgelehrten, die den Koran mit der Absicht lasen, nach Lösungen für Probleme im praktischen Leben zu suchen, die Verse zu bestimmten Themen zusammengetragen, ihre Chronologie festgestellt und erst dann versucht ein Urteil hervorzubringen. Weil sich die Koranexegese (tafsīr) unabhängig von der Gesetzeswissenschaft entwickelte, hat sich in der Entstehung dieser Disziplin nicht die Tradition gebildet, den Koran nach seinen Themenzusammenhängen auszulegen. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich bei den ersten Muslimen schon ein historisches Koranverständnis entwickelte, da sie ihn nicht als einen abgeschlossenen Text, sondern als eine aktuelle Anrede erlebten, die sich auf ihre Begebenheiten und Gegebenheiten bezog, auf ihre Fragen reagierte und ab und zu ihre Aussagen zitierte. Der Anfang des Korans als zeitbezogenes Gespräch, als aktuelle Anrede Die Selbstwahrnehmung bzw. Selbstdarstellung des Korans ist, dass er ein lebendiger Dialog ist. Der enge Zusammenhang der koranischen Offenbarung mit der Offenbarungszeit zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen im gesamten Koran. Er bezeugt diesen Zusammenhang z.B. folgendermaßen (Sure 5: 101): “Ihr Gläubigen! Fragt nicht über das, was euch die Freude vertreibt, wenn es erklärt wird. Wenn ihr darüber fragt, während der Koran offenbart wird, wird es euch erklärt.” Wie dieser Vers zeigt, beeinflussten die Fragen und Äußerungen der Adressaten offenbar, worauf die Offenbarung reagieren und folglich was der Koran beinhalten sollte. Die Offenbarung war dann ein lebendiger Dialog zwischen dem Immanenten und dem Transzendenten zur Offenbarungszeit. So fragten die Adressaten z.B., was ist, wenn Frauen ihre Tage haben, und Gott gab Antwort (2: 222). Sie fragten über den Neumond, und er gab Antwort (2: 189). Sie fragten, ob es recht ist, in den Friedensmonaten Krieg zu führen, und er gab Antwort (2: 217). Kann man nun behaupten, dass diese von den Adressaten gestellten Fragen alle möglichen Fragen seien, die der Mensch je an Gott richten könne? Kann man denn dann behaupten, dass die im Koran gegebenen Antworten die gesamte Menschheit im umfassenden Sinn zufrieden stellten. Wie viele Menschen würden heute, wenn sie so eine Möglichkeit hätten, an Gott die Frage stellen, wie es zum Neumond kommt. Und wie vielen würde der Gehalt der koranischen Antwort darauf wissenschaftlich genügen? Sie hält offenkundig die Absicht der Fragenden seinerzeit vor Augen und ist zeitbezogen. Mit welchem Ziel etwas im Koran vorkommt, ist deshalb entscheidender als dass es vorkommt! Und noch entscheidender ist die Frage, ob über Kriegsführung in den Friedensmonaten im Koran überhaupt etwas stünde, wenn während der Offenbarungsjahre darüber kein Problem bestanden hätte. Dieselbe Frage kann man für den gesamten Inhalt des Korans stellen. Ausgehend von Beispielen zu Auslegungen des Propheten und seiner Gefährten, die in hadith-Sammlungen, tafsir-Literatur und ulum al qur’an-Werken überliefert werden, sind wir einigermaßen darüber informiert, was für Schwierigkeiten die erste Generation (sahaba) beim Verstehen des Korans gehabt haben oder gehabt haben könnten. Anhand dieser Beispiele lässt aber sich feststellen, dass der Koran von den arabisch sprechenden Adressaten im Grunde verstanden wurde. (Vgl. Sure 12:2; s. 20:113; 39:28; 41:3; 42:7; 43:3) Die Bezeichnung „arabisch“ bezieht sich dabei vor allem auf die Sprache des Korans, ist aber nicht mit ihr begrenzt. Denn die Sprache hängt von der gesamten Kultur so ab, dass sie als ein rein kulturelles Produkt bezeichnet werden kann. Eine Sprache zu verwenden heißt daher nicht nur ein Instrument zu benutzen, sondern auch in eine kulturelle Welt einzutreten, deren Tür die Sprache bildet. Die koranische Offenbarung trat durch das Arabische in die damalige arabische Kulturwelt ein, wodurch sie zu Arabern eben durch den Wortlaut einen aktuellen Kontakt aufnahm. Wenn es sich um den Koran in der Offenbarungszeit handelt, geht es also dann nicht um ein visuelles Phänomen, sondern um ein auditives. Am Anfang war der Koran, mit anderen Worten, nicht etwas zum Lesen, sondern etwas zum Hören. Er hat die Adressaten, durch seine Eigenschaften ergriffen, welche ihn für sie eine aktuelle Anrede machte, die ihn aber im gleichen Maße uns, den späteren Generationen, fremd macht. Die erste Umwandlung der Koranwahrnehmung: Koran als Text ohne Kontext Die ersten Beispiele dafür, dass der Koran als Text aufgefasst wird, können wir in rechtswissenschaftlichen Werken finden, welche vom Koran in erster Linie ein Rechtssystem zu gewinnen versuchten, sowie in exegetischen Werken, die den Koran als widerspruchsfreien, einheitlichen und homogenen Text präsentieren wollen und daraufhin untersuchten. Die Unterscheidung in der Methodologie des islamischen Rechts (usul al fiqh) zwischen der ursprünglichen Bedeutung (ma’na) und dem endgültigen Ziel (magza) und die Theorie von maqasid as schari’a (Zwecke der Scharia) beruhen auf der Annahme, dass sich jede Bestimmung im Koran ursprünglich auf einen bestimmten historischen Kontext beziehe und für die ähnlichen Situationen gültig sei. Damit lässt sich eine erste Umwandlung der Koranwahrnehmung der Muslime übergehen, nämlich der Koran als Text ohne Kontext. Die glücklichste Generation in dem Sinne waren die tabiun, die die Zeugen der koranischen Offenbarung unmittelbar kannten und von ihnen erzogen wurden. Diese Möglichkeit hat selbstverständlich von Generation zu Generation allmählich abgenommen. Die zweite Generation hat den Koran als einen schriftlichen Text betrachtet und wahrgenommen, während ihn die erste Generation als eine an sie selbst gerichtete wörtliche Rede betrachtet und wahrgenommen hat. Dieser Änderung auf der Ebene der Betrachtung und Wahrnehmung liegt es teilweise zu Grunde, dass zur Zeit des 3. Kalifen ’Uthman aus der Offenbarung ein Buch zwischen zwei Deckeln geworden ist. Der wichtigere Grund war jedoch, dass der Koran für die tabiun kein offener Prozess mehr war, der sich auf ihre Umstände bezog und sich mit ihren aktuellen Begebenheiten und Gegebenheiten auseinandersetzte, sondern nunmehr eine abgeschlossene Gesamtheit darstellte. Ihre Koranwahrnehmung zeigt sich an ihren Beiträgen zur Koranauslegung, wie sie mit dem Koran als ein schriftlicher Text mit Schwergewicht der Grammatik und Linguistik umgingen. Die Koranexegese wurde dadurch zur Entdeckung des Inhaltes einer Schrift umgewandelt. Weitere Entwicklungen: Der Koran als Referenztext In den klassischen Zeiten des Islams nach dem 3. Jahrhundert der Higra, in der sich die islamischen Wissenschaften herausbildeten, sehen wir eine weitere wichtige Entwicklung in der Koranwahrnehmung der Muslime. Der Koran ist eben zu einem Referenztext geworden. Der erste Schritt in diese Richtung wurde zur Zeit des 3. Kalifen ’Uthman durch die Standardisierungsversuche des Korantextes unternommen. Einerseits wollten die Exegeten z. B. die Aufeinanderfolge der Versen in Suren als kohärent erweisen (tanâsub), konnten aber andererseits sich bemühen, um die chronologische Reihenfolge derselben Versen festzulegen. Die Literatur der Koranexegese ist voll von Beispielen für Bedeutungsunterschiede, die auftreten, wenn einerseits der textliche, andererseits der geschichtliche Kontext zum Maßstab für die Bedeutungsfeststellung einer Koranstelle genommen wird. Man kann durchaus sagen, dass es unter den Muslimen in den klassischen Zeiten des Islams immer einen gewissen krankhaften Anachronismus gegeben hat. Im Grunde entstammt auch die Auffassung, dass eine Stelle mehr als eine Bedeutung haben kann, aus diesem Anachronismus. Es haben sich aber in der Zeit drei Prinzipien entwickelt, die mit diesem Bewusstsein der Historizität nicht in Einklang zu bringen waren, die aber fast über die gesamte klassische Literatur herrschten und folglich auf die Koranwahrnehmung der späteren Muslime entscheidende Einflüsse ausübten: 1. Koranische Bestimmungen sind allgemeingültig, obwohl sie eigene ursprüngliche Gründe haben. 2. Koranverse können mehrere Bedeutungen beinhalten. 3. Man darf über Sachen keine freie Meinung führen, zu denen es einen kanonischen Text gibt. Diese drei Prinzipien bedeuten der Sieg des (traditionalistischen) textorientierten schafiitischhanbalitischen Dogmatismus (ahl al-hadith) gegenüber dem (reformistischen) realitätsorientierten malikitisch-hanafitischen Rationalismus (ahl ar-ra’y). Die Koranexegese in der Moderne Die Moderne drehte alles auf den Kopf, indem sie eigene Werte und Regeln etablierte. Für die Muslime kam nun hinzu, dass sie über Veränderungs- und Erneuerungsphänomene im Bezug auf den Koran nachzudenken hatten. Denn die koranische Verkündigung entsprach quasi in keinem Bereich der Gegenwart. Der Koran spricht ja weder in der gegenwärtigen Begrifflichkeit, noch behandelt er die gegenwärtigen Probleme. Deshalb gibt es auch keine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen der koranischen Verkündigung und der gegenwärtigen Außenwelt. Die muslimischen Reaktionen auf diese Frage kann man natürlich unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Ihre feinen Unterschiede aber lassen sich nach ihren Vorstellungen von Offenbarung und Geschichte erklären. Die beiden Extrempositionen in der islamischen Welt sind der konservative Traditionalismus und säkularistische Modernismus. Beide treffen sich in der Annahme, dass „sich modernisieren und gleichzeitig Muslim bleiben“ unmöglich sei. Die erneuerungsorientierten Haltungen schlagen hier einen Mittelweg zwischen der traditionalistischen und modernistischen Position ein. Sie vertreten einen verheißungsvolleren Ansatz, der das Pseudo-Dilemma zwischen Koran und Gegenwart ablehnt und im Prinzip annimmt, dass es möglich ist, sich zu erneuern und gleichzeitig Muslim zu bleiben. Bedauerlicherweise müssen wir gestehen, dass diese Annahme nicht immer auf einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Koran und Geschichte beruht. Islamische Reformisten haben sich z. B. von den Traditionalisten das Dogma ausgeliehen, dass die koranische Verkündigung übergeschichtlich sei, und von den Modernisten das Dogma, dass der gegebene Zustand, die Moderne, überhaupt Fortschritt sei. Damit haben sie sowohl den Koran als auch die Moderne als Wert anerkannt. Die Ergebnisse sind nichts als moderne Bedeutungen, die mittels einiger philologischer Schachzüge in den koranischen Wortlaut hineingelesen werden. Mit einem derartigen Ansatz kann man den Koran alles Mögliche sagen lassen. So können Sie aus dem Koran einen laizistischen, demokratischen, pluralistischen, sogar einen liberalen Staats- und Gesellschaftsentwurf herauslesen; aber ebenso gut ein theokratisches und totalitäres System. Ja, Sie können dann nachlesen, wie der Koran von den großen technischen Leistungen des 20. Jahrhunderts spricht. Die Kritik an derartigen Überinterpretationen des Korans und folglich an dem Anachronismus beim Verstehen und Auslegen führt dazu, dass auch die Geschichtlichkeit des Korans zur Debatte steht. In diesem Zusammenhang postuliert der islamische Modernismus, dass die Rede des Korans auf ihre Adressaten der Offenbarungsperiode und den damaligen Umständen begrenzt und folglich unumgänglich ist, in der Auslegung des Korans auf den historischen Kontext zu schauen. Diese Herangehensweise, die sich im Grunde auf das Wesen der koranischen Rede bezieht, birgt in sich gleichzeitig die Frage nach der Wandelbarkeit koranischer Gebote. Denn der geschichtliche Ansatz sucht die ursprünglichen Bedeutungen der Koranpassagen im geschichtlichen Kontext, in dem sie entstanden sind. Das natürliche Ergebnis dieses Ansatzes ist, die festgestellten wörtlichen Bestimmungen auch als geschichtlich zu bezeichnen. Die größte Schwierigkeit, die eine mögliche historische Koranexegese zu überwinden hat, ist meiner Ansicht nach, die Sachlage zwischen dem Ziel, die koranischen Prinzipien in die Gegenwart zu tragen, und dem Risiko, Argumente vorzulegen, die mit diesem Ziel unvereinbare Praktiken rechtfertigen. Dies verlangt die Begleitung eines Fingerspitzengefühls der wissenschaftlichen Tiefe. Eine mögliche historische Koranexegese hat schließlich die Aufgabe, darauf zu achten, weder die Gegenwart auf die Vergangenheit zu reduzieren, indem sie in der Geschichte hängen bleibt, noch den Islam mit der Modernität zu identifizieren, indem sie den Koran ohne Kritik den Anforderungen der Moderne unterwirft. Schluss Zum Schluss kann folgendes gesagt werden, dass das bis hierhin gezeichnete Panorama der Beziehungsgeschichte der Muslime mit dem Koran zeigt, dass man die Relation des Korans mit der Geschichte im Prinzip akzeptiert, aber sich in der Praxis nicht daran gehalten hat. Die Kernfrage lautet: Hält der Koran als eine „geschichtliche Rede“ die ihm direkt und nur in der Offenbarungsperiode begegnenden „Adressaten“ vor Augen, oder berücksichtigt er als ein „übergeschichtlicher Text“ auch die zukünftigen „Leser“? Eine Antwort auf diese Frage zu suchen heißt, das Wesen des koranischen Diskurses hinsichtlich seiner Beziehung zur Geschichte zu erörtern, indem man seine Entstehungsgeschichte, Ausdrucksweise und inhaltlichen Einzelheiten untersucht. Festzuhalten ist, dass die ursprüngliche gesprochene Rede sich allmählich zur verschriftlichten Rede umwandelte. Daher erfordert jede Koranstelle zum Verständnis ihren im Text nicht enthaltenen, historischen Kontext. Folglich hat ein Koranleser, der nur den Text des Korans sieht, nur einen Teil der zum Koranverständnis notwendigen Materialien in Händen.