Nachhaltig wachsen – SeSa Build 2016 in Istanbul

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Architektur im Dialog
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Nachhaltig wachsen – SeSa Build 2016 in Istanbul thematisiert die zukunftsfähige Stadt
nügt es nicht mehr, wenn Spezialisten wie
Architekten, Landschaftsplaner, Städte­
bauer oder Ingenieure getrennt voneinander
arbeiten. Projekte müssen interdisziplinär
geplant werden, um die knapper werden­
den Ressourcen an öffentlichem Raum oder
finanziellen Mitteln angesichts der zuneh­
menden Verdichtung der Metropolen effizi­
ent einsetzen zu können. Einige der Projekte
erscheinen so plausibel und einfach in der
Umsetzung, dass man sich fragt, warum es
davon nicht viel mehr gibt.
Erstmals vor zwei Jahren hatte die Messe
München zusammen mit ihrer türkischen
Tochter MMI Eurasia in Istanbul einen
­intensiven Austausch zum Thema erd­
bebensicheres Bauen initiiert: die inter­
na­tionale Messe Seismic Safety mit
Kongress, der federführend von DETAIL
organisiert wurde. Der Anklang war groß,
das Konzept wurde erweitert. Der Nach­
folger heißt SeSa Build und ging vom
25. bis 27. Februar 2016 an den Start.
Im Fokus der SeSa Build 2016 mit internatio­
nalem Kongress SeSa Talks im Congress
Center Istanbul standen erneut erdbeben­
sicheres Planen und Bauen, Hochbau und
IT Solutions. Dazu kamen erstmals Themen
wie städtebauliche Anforderungen und Kon­
zepte, die soziale Gegebenheiten und die
Resilienz von Ökosystemen miteinander ver­
binden und die sich bereits in verschiede­
nen Regionen der Welt bewährt haben. Mit
rund 800 Teilnehmern war das Fachforum
sehr gut besucht.
Bauboom in Istanbul
Zum Beispiel in Istanbul. Die Stadt wächst
explosionsartig. Zwischen 1950 und 2000
stieg die Zahl der Einwohner von 1 Mio. auf
10 Mio. Laut Prof. Dr. Murat Güvenç, Direk­
tor des Istanbul Studies Center der ­KadirHas-Universität, leben aktuell etwa 17 Mio.
Menschen auf einem Streifen von rund
110 km Länge in Ost-West-Richtung und
etwa 50 km in Nord-Süd-Richtung. Für die
Jahre nach 2020 wird ein Bevölkerungsan­
stieg auf über 20 Mio. prognostiziert. Der
Bauboom ist immens, auch in den als erd­
bebengefährdet ausgewiesenen Regionen.
Infrastukturprojekte und der öffentlich Raum
haben nur wenig Chancen, mit diesem
Tempo mitzuhalten. Geplant sind eine wei­
tere Brücke über den Bosporus und der
Top-Referenten aus Architektur, Wissen­
schaft, Politik und Industrie berichteten im
Rahmen der SeSa Talks über innovative
Ideen und Lösungen. Der Tenor: Um die
wachsenden Herausforderungen der Klima­
veränderungen bewältigen zu können, ge­
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dritte Flughafen. Beide werden das Bau­
geschehen und den Zuzug auch in diesen
Regionen weiter ankurbeln. Planer und Wis­
senschaftler wie Prof. Dr. Murat Güvenç,
Prof. Dr. Hüseyin Kaptan, Atolye Yetemis
oder Dr. Özdemir Sönmez vom Yildiz Tech­
nical University Department of Urban & Re­
gional Planning, die das Baugeschehen und
seine Auswirkungen auf die Stadt seit vielen
Jahren analysieren und dokumentieren,
­sehen ein unkontrolliertes Wachstum eher
kritisch. Dr. Sönmez, der sich für mehr De­
zentralisierung der Zentren in Istanbul aus­
spricht, wünscht sich ein Umdenken und
mehr Wertschätzung des öffentlichen
Raums in seinem Land.
Integriertes Design
Der gesellschaftliche Diskurs und die politi­
schen Rahmenbedingungen in Nordeuropa
sind andere. Hier setzen Planer (wieder) auf
Verdichtung. Die »City in der City« verbin­
det öffentlichen Raum und Wohnen, Arbei­
ten und Lernen noch kompakter miteinan­
der. Gebäude öffnen sich nach außen, bie­
ten Passagen und Raum für Interaktionen
mit der Öffentlichkeit, binden Landschaften
bewusst ein oder schaffen selbst neues
Grün. Sie bieten dem Nutzer eine ange­
nehme Atmosphäre, sind ein Ort, an dem
man sich gern trifft oder Rückzugsmöglich­
1 Podiumsdiskussion zum Thema Stadterneuerung
mit Prof. Dr. Asuman Türkin, Dr. Özdemir Sönmez,
Prof. Dr. Erol Köktürk, Cemal Gökçe, Assist. Prof.
Dr. Çiğdem Şahin (v.l.n.r.)
2 Viggo Haremst, Werner Frosch, beide Henning
Larsen Architekten, Sofie Kvist, Gehl Architekten,
und Barbara Di Gregorio, Rare Office (v.l.n.r.)
3 Prof. Thomas Auer, Transsolar, Julian Weyer, C.F.
Møller Architekten und Ferhan Tinli, MMI Eurasia
(v.l.n.r.)
4 Viggo Haremst, Henning Larsen Architekten, im
Gespräch mit Dr. Özdemir Sönmez, Yildiz Techni­
sche Universität Istanbul.
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keit. Natur und Tageslicht sind wichtige Be­
standteile des integrativen Ansatzes.
Als schwedisches Vorzeigeprojekt für die
nachhaltige städtische Entwicklung gilt die
SymbioCity, die Bo Jerlström, ehemaliger
Botschafter und Leiter des Büros für Projekt­
export des Schwedischen Außenministeri­
ums in Istanbul vorstellte. Initiiert wurde es
nicht zuletzt, um die einheimische Clean­
Tech Industrie zu fördern. Das Konzept
wurde quasi zum Selbstläufer, der sich in
viele andere Regionen der Welt übertragen
lässt.
Integriertes Designs ist das Thema von
­Julian Weyer, Partner bei C.F. Møller Archi­
tekten. Deren Ansatz ist es, den Prozessen
hinter den Projekten auf den Grund zu ge­
hen. Sie beginnen damit, die Landschaft
und den öffentlichen Raum zu entwickeln,
um das Gebäude mit möglichst viel Zusatz­
nutzen für alle Beteiligten zu planen. Das
können die hohe Energieeffizienz oder der
integrierte Hochwasserschutz sein. Keine
Frage, dass die Dänen seit Jahren mit mo­
dernsten Tools und Planungsmethoden wie
BIM arbeiten. Weyer kann sich gut vorstel­
len, dass der türkische Markt in Richtung
BIM für sein Büro von Relevanz sein wird.
Wie interessant BIM für die Planer vor Ort ist
und dass das Thema ähnlich wie hierzu­
lande heiß diskutiert wird, zeigte auch die
Podiumsdiskussion über »BIM und Smart
Buildings«, die mit Experten aus der Türkei
beziehungsweise Qatar besetzt war.
Kontextbezogene Planung, der Einfluss ein­
facher Geometrien und Open Spaces sind
auch für Werner Frosch von Henning Larsen
Architekten eine Selbstverständlichkeit. Im
Detail geht es um auch um das spezifische
Mikroklima vor Ort, den Einfluss von Tages­
licht oder Kühleffekte durch intelligente,
mehrfach verglaste Fassaden. Beispielhaft
dafür steht die neue Siemens-Zentrale in
München, die State-of-the-art-Energie- und
Klimatechnologien des Unternehmens in
das Design integriert. Eine öffentlich zu­
gängliche Passage symbolisiert die neue
Offenheit der Unternehmensarchitektur
des 21. Jahrhunderts.
Efficient »By-Design«
Die Umwelt verbessern und CO2-Neutralität
erreichen: Das sind grob gefasst die Ziele
von Prof. Thomas Auer, Geschäftsführer von
Transsolar und Inhaber des Lehrstuhls für
Gebäudetechnologie und klimagerechtes
Bauen an der TU München. Das geht mit
Technologie und Computermodellierung.
Am Ende ist es einfach »Hardcore-Engi­
neer­ing«. Transsolar unterstützt Architekten
weltweit bei der Realisierung technisch an­
spruchsvoller Designs. Gut zu wissen, bei­
spielsweise für Bauherren: Das Klima-Engi­
neering zieht sich oft bis in die Betreiber­
Architektur im Dialog
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phase hinein. Am Beispiel des Manitoba
Hydro Downtown Office, eines Verwaltungs­
baus in der kanadischen Stadt Winnipeg,
der unter extremen klimatischen Bedingun­
gen (im Schnitt –35 °C im Winter und +35 °C
im Sommer) funktionieren muss, erläutert
Thomas Auer, dass ein Gebäude, gerade
ein so komplexes, nach seiner Fertigstellung
oft noch im Detail nachjustiert werden muss.
Blue Urbanism
Stadt und Wasser sind das Thema von Dirk
van Peijpe und seinem Team von de Urba­
nisten. Hier sieht der Stadtplaner Parallelen
zu Istanbul. Sein Büro in Rotterdam erarbei­
tet Strategien und Konzepte, um Menschen, 4
Gebäude und Infrastrukturen vor Hochwas­
Feedback und meist haben alle Zeit ge­
ser, Sturmfluten oder Starkregen zu schüt­
spart, auch die Autofahrer.
zen. Zu den Projekten, die die Niederländer
über die Landesgrenzen hinaus bekannt
gemacht haben, gehört der Benthemplein
Für den intensiven Dialog zwischen interna­
Water Square in Rotterdam. Mit drei Regen­
tionalen und türkischen Architekten und Pla­
rückhaltebecken mitten im öffentlichen
nern, Wissenschaftlern und Immobilienex­
Raum leistet der Platz bei Bedarf einen
perten hat sich die SeSa Build bereits zum
zweiten Mal bewährt. Mirko Arend, Projekt­
wichtigen Beitrag zum Hochwasserschutz.
leiter der BAU in München, zeigt sich vom
Gleichzeitig haben die Planer mit differen­
Standort Istanbul auch für die Zukunft über­
zierten Nutzungsangeboten aus einem ehe­
zeugt: »Die Türkei, einer der wichtigsten
mals unattraktiven Ort einen hippen Treff­
punkt für Anrainer und Touristen gestaltet.
Baumärkte der Welt, verfügt über das Po­
Eine andere Herangehensweise ist für ein
tential für eine noch stärkere Internationali­
neues Projekt Mexiko-Stadt gefragt. Ehe­
sierung der Themen und Kontakte. Wir wer­
den die gewonnenen Erkenntnisse dazu
mals dominiert von Wasser, leidet die Stadt
nutzen, das Konzept weiterzuentwickeln.«
mit rund 21 Mio. Einwohnern heute eher un­
Die nächste SeSa Build ist für 2018 geplant.
ter Knappheit. In einem Stadtteil soll erprobt
HK
werden, Starkregen, der sich als reißender
Strom aus den Bergen in kürzester Zeit
durch die Straßen ergießt, aufzuhalten, zwi­
¥ www.sesa-build.com
schenzuspeichern und wiederzuverwenden.
Was diese Systeme eint: sie sind robust und
bringen eine hohe Lebensqualität in den öf­
DETAIL-Forum Sicherheit
fentlichen Raum, trotz knapper Budgets, mit
verschiedenen Finanzierungsmodellen, bei­
Als etablierte Industrienation verfügen wir
spielsweise Crowdfunding.
schon immer über vergleichsweise hohe
Better Places
­Sicherheitsstandards bei unseren Gebäu­
Straßen, die im öffentlichen Raum heute
den. Reichen diese heute noch aus? Was ist
rund 80 % einnehmen, und Plätze für Men­
der aktuelle Stand der Technik? Wie lassen
schen zum Laufen und Fahrradfahren sind
sich Menschen, Gebäude und Sachwerte
das Thema von Sofie Kvist. Ohne dass sie
optimal schützen? Welche Möglichkeiten
das Auto verteufelt. Mit dem richtigen Plan
bietet die Architektur? Antworten und Lösun­
gen gibt es am 12. Mai 2016 im hochkarätig
funktioniert beides zusammen. Die Basis für
die Projekte der Stadtplanerin von Gehl Ar­
besetzten DETAIL-Fachforum »Sicherheit
chitekten aus Kopenhagen bilden Zahlen.
planen« im Nemetschek-Haus in München.
Die kommen aus unzähligen Untersuchun­
Hier können sich Architekten, Planer, Bau­
gen, Analysen und Gesprächen mit Stake­
träger aber auch Sicherheitsexperten, Ver­
holdern. Zusammen mit Stadtverwaltungen,
treter aus Wissenschaft und Forschung
lokalen Organisationen und Architekten er­
­sowie Systemhersteller gezielt informieren
arbeitet die Dänin Konzepte, die den öffent­
und austauschen. Erfahrene Planer aus re­
nommierten Büros wie HENN Architekten,
lichen Raum wieder begehbar machen. Die
K+P Architekten und Stadtplaner oder pbv
Auswirkungen auf Gesundheit, Umwelt und
Planungsbüro Vogel stellen Projekte aus
Wirtschaft sind unbestritten positiv. Zum
Beispiel braucht São Paolo in Brasilien am
dem In- und Ausland vor und geben kon­
Tag 60 Hospitalplätze weniger, weil es weni­
krete Handlungsempfehlungen. Die Veran­
ger Unfälle gibt. Viele Städte weltweit haben
staltung wird unterstützt von Salto Systems
es schon ausprobiert, darunter New York
und Dallmeier.
am Time Square und Harald Square oder
¥ www.detail.de/sicherheit_2016
San Francisco. Fast immer gab es positives
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