342 2016 ¥ 4 ∂ Architektur im Dialog 1 Nachhaltig wachsen – SeSa Build 2016 in Istanbul thematisiert die zukunftsfähige Stadt nügt es nicht mehr, wenn Spezialisten wie Architekten, Landschaftsplaner, Städte­ bauer oder Ingenieure getrennt voneinander arbeiten. Projekte müssen interdisziplinär geplant werden, um die knapper werden­ den Ressourcen an öffentlichem Raum oder finanziellen Mitteln angesichts der zuneh­ menden Verdichtung der Metropolen effizi­ ent einsetzen zu können. Einige der Projekte erscheinen so plausibel und einfach in der Umsetzung, dass man sich fragt, warum es davon nicht viel mehr gibt. Erstmals vor zwei Jahren hatte die Messe München zusammen mit ihrer türkischen Tochter MMI Eurasia in Istanbul einen ­intensiven Austausch zum Thema erd­ bebensicheres Bauen initiiert: die inter­ na­tionale Messe Seismic Safety mit Kongress, der federführend von DETAIL organisiert wurde. Der Anklang war groß, das Konzept wurde erweitert. Der Nach­ folger heißt SeSa Build und ging vom 25. bis 27. Februar 2016 an den Start. Im Fokus der SeSa Build 2016 mit internatio­ nalem Kongress SeSa Talks im Congress Center Istanbul standen erneut erdbeben­ sicheres Planen und Bauen, Hochbau und IT Solutions. Dazu kamen erstmals Themen wie städtebauliche Anforderungen und Kon­ zepte, die soziale Gegebenheiten und die Resilienz von Ökosystemen miteinander ver­ binden und die sich bereits in verschiede­ nen Regionen der Welt bewährt haben. Mit rund 800 Teilnehmern war das Fachforum sehr gut besucht. Bauboom in Istanbul Zum Beispiel in Istanbul. Die Stadt wächst explosionsartig. Zwischen 1950 und 2000 stieg die Zahl der Einwohner von 1 Mio. auf 10 Mio. Laut Prof. Dr. Murat Güvenç, Direk­ tor des Istanbul Studies Center der ­KadirHas-Universität, leben aktuell etwa 17 Mio. Menschen auf einem Streifen von rund 110 km Länge in Ost-West-Richtung und etwa 50 km in Nord-Süd-Richtung. Für die Jahre nach 2020 wird ein Bevölkerungsan­ stieg auf über 20 Mio. prognostiziert. Der Bauboom ist immens, auch in den als erd­ bebengefährdet ausgewiesenen Regionen. Infrastukturprojekte und der öffentlich Raum haben nur wenig Chancen, mit diesem Tempo mitzuhalten. Geplant sind eine wei­ tere Brücke über den Bosporus und der Top-Referenten aus Architektur, Wissen­ schaft, Politik und Industrie berichteten im Rahmen der SeSa Talks über innovative Ideen und Lösungen. Der Tenor: Um die wachsenden Herausforderungen der Klima­ veränderungen bewältigen zu können, ge­ 2 3 dritte Flughafen. Beide werden das Bau­ geschehen und den Zuzug auch in diesen Regionen weiter ankurbeln. Planer und Wis­ senschaftler wie Prof. Dr. Murat Güvenç, Prof. Dr. Hüseyin Kaptan, Atolye Yetemis oder Dr. Özdemir Sönmez vom Yildiz Tech­ nical University Department of Urban & Re­ gional Planning, die das Baugeschehen und seine Auswirkungen auf die Stadt seit vielen Jahren analysieren und dokumentieren, ­sehen ein unkontrolliertes Wachstum eher kritisch. Dr. Sönmez, der sich für mehr De­ zentralisierung der Zentren in Istanbul aus­ spricht, wünscht sich ein Umdenken und mehr Wertschätzung des öffentlichen Raums in seinem Land. Integriertes Design Der gesellschaftliche Diskurs und die politi­ schen Rahmenbedingungen in Nordeuropa sind andere. Hier setzen Planer (wieder) auf Verdichtung. Die »City in der City« verbin­ det öffentlichen Raum und Wohnen, Arbei­ ten und Lernen noch kompakter miteinan­ der. Gebäude öffnen sich nach außen, bie­ ten Passagen und Raum für Interaktionen mit der Öffentlichkeit, binden Landschaften bewusst ein oder schaffen selbst neues Grün. Sie bieten dem Nutzer eine ange­ nehme Atmosphäre, sind ein Ort, an dem man sich gern trifft oder Rückzugsmöglich­ 1 Podiumsdiskussion zum Thema Stadterneuerung mit Prof. Dr. Asuman Türkin, Dr. Özdemir Sönmez, Prof. Dr. Erol Köktürk, Cemal Gökçe, Assist. Prof. Dr. Çiğdem Şahin (v.l.n.r.) 2 Viggo Haremst, Werner Frosch, beide Henning Larsen Architekten, Sofie Kvist, Gehl Architekten, und Barbara Di Gregorio, Rare Office (v.l.n.r.) 3 Prof. Thomas Auer, Transsolar, Julian Weyer, C.F. Møller Architekten und Ferhan Tinli, MMI Eurasia (v.l.n.r.) 4 Viggo Haremst, Henning Larsen Architekten, im Gespräch mit Dr. Özdemir Sönmez, Yildiz Techni­ sche Universität Istanbul. ∂ 2016 ¥ 4 keit. Natur und Tageslicht sind wichtige Be­ standteile des integrativen Ansatzes. Als schwedisches Vorzeigeprojekt für die nachhaltige städtische Entwicklung gilt die SymbioCity, die Bo Jerlström, ehemaliger Botschafter und Leiter des Büros für Projekt­ export des Schwedischen Außenministeri­ ums in Istanbul vorstellte. Initiiert wurde es nicht zuletzt, um die einheimische Clean­ Tech Industrie zu fördern. Das Konzept wurde quasi zum Selbstläufer, der sich in viele andere Regionen der Welt übertragen lässt. Integriertes Designs ist das Thema von ­Julian Weyer, Partner bei C.F. Møller Archi­ tekten. Deren Ansatz ist es, den Prozessen hinter den Projekten auf den Grund zu ge­ hen. Sie beginnen damit, die Landschaft und den öffentlichen Raum zu entwickeln, um das Gebäude mit möglichst viel Zusatz­ nutzen für alle Beteiligten zu planen. Das können die hohe Energieeffizienz oder der integrierte Hochwasserschutz sein. Keine Frage, dass die Dänen seit Jahren mit mo­ dernsten Tools und Planungsmethoden wie BIM arbeiten. Weyer kann sich gut vorstel­ len, dass der türkische Markt in Richtung BIM für sein Büro von Relevanz sein wird. Wie interessant BIM für die Planer vor Ort ist und dass das Thema ähnlich wie hierzu­ lande heiß diskutiert wird, zeigte auch die Podiumsdiskussion über »BIM und Smart Buildings«, die mit Experten aus der Türkei beziehungsweise Qatar besetzt war. Kontextbezogene Planung, der Einfluss ein­ facher Geometrien und Open Spaces sind auch für Werner Frosch von Henning Larsen Architekten eine Selbstverständlichkeit. Im Detail geht es um auch um das spezifische Mikroklima vor Ort, den Einfluss von Tages­ licht oder Kühleffekte durch intelligente, mehrfach verglaste Fassaden. Beispielhaft dafür steht die neue Siemens-Zentrale in München, die State-of-the-art-Energie- und Klimatechnologien des Unternehmens in das Design integriert. Eine öffentlich zu­ gängliche Passage symbolisiert die neue Offenheit der Unternehmensarchitektur des 21. Jahrhunderts. Efficient »By-Design« Die Umwelt verbessern und CO2-Neutralität erreichen: Das sind grob gefasst die Ziele von Prof. Thomas Auer, Geschäftsführer von Transsolar und Inhaber des Lehrstuhls für Gebäudetechnologie und klimagerechtes Bauen an der TU München. Das geht mit Technologie und Computermodellierung. Am Ende ist es einfach »Hardcore-Engi­ neer­ing«. Transsolar unterstützt Architekten weltweit bei der Realisierung technisch an­ spruchsvoller Designs. Gut zu wissen, bei­ spielsweise für Bauherren: Das Klima-Engi­ neering zieht sich oft bis in die Betreiber­ Architektur im Dialog 343 phase hinein. Am Beispiel des Manitoba Hydro Downtown Office, eines Verwaltungs­ baus in der kanadischen Stadt Winnipeg, der unter extremen klimatischen Bedingun­ gen (im Schnitt –35 °C im Winter und +35 °C im Sommer) funktionieren muss, erläutert Thomas Auer, dass ein Gebäude, gerade ein so komplexes, nach seiner Fertigstellung oft noch im Detail nachjustiert werden muss. Blue Urbanism Stadt und Wasser sind das Thema von Dirk van Peijpe und seinem Team von de Urba­ nisten. Hier sieht der Stadtplaner Parallelen zu Istanbul. Sein Büro in Rotterdam erarbei­ tet Strategien und Konzepte, um Menschen, 4 Gebäude und Infrastrukturen vor Hochwas­ Feedback und meist haben alle Zeit ge­ ser, Sturmfluten oder Starkregen zu schüt­ spart, auch die Autofahrer. zen. Zu den Projekten, die die Niederländer über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht haben, gehört der Benthemplein Für den intensiven Dialog zwischen interna­ Water Square in Rotterdam. Mit drei Regen­ tionalen und türkischen Architekten und Pla­ rückhaltebecken mitten im öffentlichen nern, Wissenschaftlern und Immobilienex­ Raum leistet der Platz bei Bedarf einen perten hat sich die SeSa Build bereits zum zweiten Mal bewährt. Mirko Arend, Projekt­ wichtigen Beitrag zum Hochwasserschutz. leiter der BAU in München, zeigt sich vom Gleichzeitig haben die Planer mit differen­ Standort Istanbul auch für die Zukunft über­ zierten Nutzungsangeboten aus einem ehe­ zeugt: »Die Türkei, einer der wichtigsten mals unattraktiven Ort einen hippen Treff­ punkt für Anrainer und Touristen gestaltet. Baumärkte der Welt, verfügt über das Po­ Eine andere Herangehensweise ist für ein tential für eine noch stärkere Internationali­ neues Projekt Mexiko-Stadt gefragt. Ehe­ sierung der Themen und Kontakte. Wir wer­ den die gewonnenen Erkenntnisse dazu mals dominiert von Wasser, leidet die Stadt nutzen, das Konzept weiterzuentwickeln.« mit rund 21 Mio. Einwohnern heute eher un­ Die nächste SeSa Build ist für 2018 geplant. ter Knappheit. In einem Stadtteil soll erprobt HK werden, Starkregen, der sich als reißender Strom aus den Bergen in kürzester Zeit durch die Straßen ergießt, aufzuhalten, zwi­ ¥ www.sesa-build.com schenzuspeichern und wiederzuverwenden. Was diese Systeme eint: sie sind robust und bringen eine hohe Lebensqualität in den öf­ DETAIL-Forum Sicherheit fentlichen Raum, trotz knapper Budgets, mit verschiedenen Finanzierungsmodellen, bei­ Als etablierte Industrienation verfügen wir spielsweise Crowdfunding. schon immer über vergleichsweise hohe Better Places ­Sicherheitsstandards bei unseren Gebäu­ Straßen, die im öffentlichen Raum heute den. Reichen diese heute noch aus? Was ist rund 80 % einnehmen, und Plätze für Men­ der aktuelle Stand der Technik? Wie lassen schen zum Laufen und Fahrradfahren sind sich Menschen, Gebäude und Sachwerte das Thema von Sofie Kvist. Ohne dass sie optimal schützen? Welche Möglichkeiten das Auto verteufelt. Mit dem richtigen Plan bietet die Architektur? Antworten und Lösun­ gen gibt es am 12. Mai 2016 im hochkarätig funktioniert beides zusammen. Die Basis für die Projekte der Stadtplanerin von Gehl Ar­ besetzten DETAIL-Fachforum »Sicherheit chitekten aus Kopenhagen bilden Zahlen. planen« im Nemetschek-Haus in München. Die kommen aus unzähligen Untersuchun­ Hier können sich Architekten, Planer, Bau­ gen, Analysen und Gesprächen mit Stake­ träger aber auch Sicherheitsexperten, Ver­ holdern. Zusammen mit Stadtverwaltungen, treter aus Wissenschaft und Forschung lokalen Organisationen und Architekten er­ ­sowie Systemhersteller gezielt informieren arbeitet die Dänin Konzepte, die den öffent­ und austauschen. Erfahrene Planer aus re­ nommierten Büros wie HENN Architekten, lichen Raum wieder begehbar machen. Die K+P Architekten und Stadtplaner oder pbv Auswirkungen auf Gesundheit, Umwelt und Planungsbüro Vogel stellen Projekte aus Wirtschaft sind unbestritten positiv. Zum Beispiel braucht São Paolo in Brasilien am dem In- und Ausland vor und geben kon­ Tag 60 Hospitalplätze weniger, weil es weni­ krete Handlungsempfehlungen. Die Veran­ ger Unfälle gibt. Viele Städte weltweit haben staltung wird unterstützt von Salto Systems es schon ausprobiert, darunter New York und Dallmeier. am Time Square und Harald Square oder ¥ www.detail.de/sicherheit_2016 San Francisco. Fast immer gab es positives