BERLINISCHE GALERIE LANDESMUSEUM FÜR MODERNE KUNST, FOTOGRAFIE UND ARCHITEKTUR STIFTUNG ÖFFENTLICHEN RECHTS PRESSEINFORMATION ALTE JAKOBSTRASSE 124-128 10969 BERLIN POSTFACH 610355 – 10926 BERLIN FON +49 (0) 30 –789 02–600 FAX +49 (0) 30 –789 02–700 [email protected] Ulrike Andres Leitung Marketing und Kommunikation Tel. +49 30-789 02-829 [email protected] Kontakt: BUREAU N Julia Albani und Gudrun Landl Tel. +49 30-62736102 [email protected] / [email protected] Berlin, 27. Mai 2015 Radikal Modern Planen und Bauen im Berlin der 1960er-Jahre Thematische Ausstellungsbereiche: TECHNO-GEOMETRIEN Charakteristisch für das Bauwesen der 1960er-Jahre ist eine neue Ästhetik der technischindustriellen Machbarkeit. Inspiriert von neuen Werkstoffen und Konstruktionsweisen verwandelten die Planer Baufunktionen in geometrische Formen und setzten diese als Leitmotiv ein. Die starke Zunahme des Automobilverkehrs gebot nicht nur eine grundlegende Neuordnung der städtischen Wege-struktur. Entstehende Brücken und Autobahnkreuze wurden räumlich in Szene gesetzt, Verkehrsknotenpunkte wurden durch weithin sichtbare Landmarken gekennzeichnet. Die Stadt wandelte sich zum Abbild einer modernen (auto-)mobilen Gesellschaft. Ausgelöst durch die Autobahnplanungen des West-Berliner Senats regte sich Ende des Jahrzehnts bürgerlicher Widerstand gegen den Abbruch innerstädtischer Wohngebiete. Neben der Entwicklung alternativer Transportmittel, wie etwa oberhalb der Straßen verlaufende Rollbänder für Fußgänger, entstanden Ideen zur vollständigen Überbauung ganzer Straßenzüge. Diese ähnelten bekannten inter-nationalen Entwürfen für sogenannte Megastrukturen, die gemein-samen Raum für Wohnen, Arbeit, Freizeit und Verkehr bieten sollten. BAU:KUNST Im Spannungsfeld des Kalten Krieges diente auch die Bildende Kunst der politischen Kommunikation. Die Kunst am Bau sowie die Ausstattung der Gebäude folgten im Westen der Abstraktion der internationalen Moderne. Im Osten waren es vor allem ornamentaler Fassadenschmuck, Personendenkmäler und szenische Wandbilder des sozialistischen Realismus, die die Staatsideologie in den Stadtraum hineintrugen. 1 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Auch die Architektur selbst wurde künstlerisch ausgeformt. In beiden Teilen der Stadt entstanden Einzelbauten mit einer ausgeprägten gestalterischen Qualität, die nicht weniger als Gesamtkunstwerke zu sein beanspruchten. Eine neue Raumkunst wurde geschaffen mit architektonischen Mitteln wie bewusst eingesetzten Materialien, organisch wachsenden Großformen und strukturalen Ordnungen. Wichtiges Stilmittel war auch und vor allem die ästhetische Durchdringung von Innen und Außen mithilfe großzügiger Glasflächen (und „schwebender“ Dächer), die aus dem Gros des auf Bauökonomie ausgerichteten industriellen Bauens herausragt. GROSSSIEDLUNG UND WIDERSTÄNDE Die Insellage, anhaltende Wohnungsnot und der schlechte Erhaltungszustand der Altbauten veranlassten die Planer in West-Berlin, ab 1960 Großsiedlungen zu errichten. Stark verdichtete Wohnbaukomplexe in weitläufigen, durchgrünten Stadtlandschaften sollten für Urbanität durch Dichte sorgen. Ziel war es, bei geringem Flächenbedarf für bis zu 40.000 Menschen Wohnraum zu schaffen. Die wichtigsten Berliner Siedlungen aus dieser Zeit sind das Märkische Viertel und die Siedlung Britz-Buckow-Rudow (ab 1972: Gropiusstadt). Im Unterschied zu den meisten „Trabantenstädten“ dieser Zeit, erzielte vor allem das Märkische Viertel mit seiner differenzierten Höhenstaffelung und kontrastreichen Farbgebung ein überzeugendes Ergebnis. Bei den umgesiedelten Bewohnern fanden der höhere Komfort, die funktionalen Grundrisse und die moderne technische Ausstattung der Wohnungen große Zustimmung. Ab Mitte der 1960er-Jahre kritisierte eine intellektuelle Minderheit von Publizisten, Wissenschaftlern und Studenten unter anderem die „Glätte“, die nachbarschaftliche „Anonymität“ und die „Unwirtlichkeit“ dieser neuen Bauweise. Ihre Haltung prägt die Debatte um dieses Bauerbe bis heute. SERIELLE VIELFALT Insbesondere für die dringende Massenanfertigung von Wohnraum wurde in den 1960erJahren in beiden Teilen Berlins eine industrielle Bauweise eingesetzt. Die serielle Vorfertigung einzelner Bauteile und die weitgehende Automatisierung von Planung und Ausführung sollten die Fertigungskosten senken und die Bauzeit verkürzen. In der Bundesrepublik verfolgten die Planer eine weitgehende Normierung neu entstehender Architekturen. Diese fand vor allem im sozialen Wohnungsbau Anwendung. Die DDR ging noch einen Schritt weiter und entwickelte standardisierte Gebäudetypen mit festem Bausystem. Architekten und Planern war durchaus bewusst, dass die Wiederholung gleicher Elemente einen Eindruck der Monotonie hervorrufen könnte. In beiden Teilen der Stadt bemühten sich daher Experten, trotz enger industrieller Vorgaben, abwechslungsreiche Gebäude-Varianten zu entwickeln. Die Mehrzahl ihrer Alternativentwürfe blieb jedoch unrealisiert. STADT-RÄUME / STADT-TRÄUME Seit dem Bau der Berliner Mauer, 1961, arbeiteten die Planungs-verantwortlichen in Ostund West-Berlin weitgehend unabhängig voneinander. West-Berlin war nun eine eingeschlossene Stadt ohne Wirtschaftskraft und Mäzene. Ihre Überlebenschancen beruhten auf einem höchst unsicheren weltpolitischen Gleichgewicht. Im Ostteil der Stadt lag das historische Zentrum von Berlin. Die einstige Mitte war durch die Teilung in eine urbane Randlage geraten. 2 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE Beflügelt von Aufbruchsstimmung und Technikeuphorie verfolgten Planer und Architekten beider politischer Systeme das Ziel, im Sinne der zeitgenössischen internationalen Moderne radikal neue Lebensräume zu gestalten. Nach dem Konzept der Stadtlandschaft von Hans Scharoun entstanden im Westen zum Beispiel der Breitscheidplatz und das Kulturforum. In Ost-Berlin markierten die Planungen für den Alexander- und Marx-Engels-Platz (heute Schloßplatz) die Wende von einer zuvor gültigen Architekturauffassung der „Nationalen Traditionen“ hin zu einer Moderne, die in der Sowjetunion begann und auf die Deutsche Demokratische Republik (DDR) ausstrahlte. AUFERSTANDEN AUS RUINEN Nach dem Zweiten Weltkrieg wandten sich viele Architekten von der Vergangenheit und ihren historischen Bauformen rigoros ab. Allein die Zukunft im Blick befürworteten sie nur in Ausnahmefällen den Erhalt kriegsbeschädigter Altbausubstanz. Teilweise begleitet von langjährigen – im Westen offen, im Osten leise geführten – Debatten, entstanden Gebäude, die auf unterschiedliche Weise eine Verbindung moderner und historischer Bauweisen veranschaulichen. Beispiele hierfür sind die neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der Umbau des Reichstags oder das Staatsratsgebäude der ehemaligen DDR. Welche symbolischen Aussagen die jeweiligen Architekten mit den spannungsvollen Dialogen von Alt und Neu treffen wollten, ist nicht eindeutig überliefert. Zum Zeitpunkt ihrer Entstehung wurden die gebauten Verknüpfungen verschiedener Zeitschichten auch als ein Versuch neuer Berliner Weltöffentlichkeit diskutiert. Heute stehen diese Gebäude für die einstige Suche nach einer architektonisch neu zu bestimmenden nationalen Identität. EPILOG Seit nunmehr einem halben Jahrhundert prägt die architektonische Nachkriegsmoderne das Stadtbild Berlins. Die Ende der 1990er-Jahre einsetzende journalistische und wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Bauauffassung wird bis heute von emotional aufgeladenen Diskursen über den Umgang mit diesem baulichen Erbe begleitet. Fotografie und Kunst nahmen diese Impulse auf und begannen die Zeugnisse der Vergangenheit mit Blick auf die Gegenwart zu befragen. In Ergänzung zu den Originalmaterialien der Architekten aus den 1960er-Jahren erweitern sie den historischen Blick und bieten zusätzliche Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Die hier beispielhaft vorgestellten fotografischen Arbeiten formulieren mit einer eigenen Bildsprache ganz persönliche Vorstellungen realer Orte oder konstruieren utopische Räume aus scheinbar vertrauten Architekturen. Plastische Objekte spüren zum einen den skulpturalen Qualitäten der Nachkriegsbauten auf Modellebene nach, zum anderen verarbeiten sie architektonische Fundstücke und verweisen auf längst verschwundene Anblicke im Stadtraum. Der formalen Übersteigerung von typisierten Fassadenelementen steht die Frage nach der sozialen Funktionalität industriell gebauter Wohnquartiere gegenüber. 3 WWW.BERLINISCHEGALERIE.DE