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 | Schwerpunkt
Journal . Architekten und Planer | Januar 2007
Schwerpunkt | Flexibilität und Leichtigkeit – Chancen für den Gebäudebestand
Prof. Dr.-Ing. Karsten Tichelmann, ITL – Institut für Trocken- und Leichtbau, Darmstadt
Hochschule Bochum, Tragwerkslehre und Konstruktives Entwerfen
Tichelmann, Simon, Barillas – Beratende Ingenieure, Darmstadt
Der größte Anteil unserer Bauaufgaben liegt heute im Bereich der Bestandsbauten. Dabei steht die Nachverdichtung in Ballungsgebieten an
oberster Stelle. Der Einsatz von dünnen, kaltgeformten Stahlprofilen, den man meist nur aus dem Trockenbau kennt, ist vor allem bei leichten
und flexiblen Dachaufstockungen von Vorteil, kann aber auch in anderen tragenden Bereichen äußerst wirtschaftlich eingesetzt werden. In den
Niederlanden, Frankreich und Großbritannien ist der Stahlleichtbau bereits weit verbreitet. Wie groß auch hierzulande das Potenzial ist, zeigt eine
Studie des Instituts für Trocken- und Leichtbau für den Verband der Wohnungswirtschaft: Allein in Deutschland gibt es 338 Mio. m2 Dachfläche,
die aufgrund ihrer Struktur und Tragfähigkeit für eine Nachverdichtung in Frage kommen.
Verwaltungskomplex von T-Mobile in Bonn: Diagonale Flachstähle
und hochfeste Stahllitzen bilden die minimierte Tragstruktur.
Peter Schmitz Architekten, Köln, in Zusammenarbeit mit TSB
Ingenieurgesellschaft, Darmstadt
Foto links: © Riehle/artur
Über gläserne Treppenhäuser werden die neuen, in Stahlleichtbauweise errichteten Wohnungen auf dem Wuppertaler Studentenwohnheim erschlossen
Foto rechts: © Riehle/artur
Vergleicht man in diesem Zusammenhang das Innovationspotenzial verschiedener Bauweisen, dann zeigt sich, dass bei monolithischen Strukturen
nur wenige Faktoren optimiert werden können. Bei hybriden Bauweisen wie
dem Stahlleichtbau hingegen können Profilgeometrien individuell an die Aufgabenstellung angepasst werden. Verschiedene Dämmmaterialien und Verkleidungen aus geeigneten Plattenwerkstoffen beeinflussen zum Beispiel das
Brand- oder Schallschutzverhalten.
Zudem kann der Stahlleichtbau einen wichtigen Beitrag zur Flexibilität von
Gebäuden leisten. Bereits vor einigen Jahren wurden sechs Kriterien aufgestellt,
um die Zukunftsfähigkeit von Entwürfen und Bauten zu beurteilen. Dabei beschreibt der Begriff „Erweiterungsflexibilität“, wie eine vorhandene Struktur in
Abhängigkeit von Tragverhalten und baurechtlichen Aspekten vertikal oder
horizontal erweitert und nachverdichtet werden kann.
Die „Veränderungsflexibilität“ ist ein Kriterium dafür, wie
gut innerhalb eines Gebäudes Einheiten zusammengefasst oder verkleinert werden können. Die schnelle
Anpassung an zukünftige Marktnachfragen wird als
„Angebotsflexibilität“ bezeichnet. Sie hängt stark mit der
„Nutzungsflexibilität“ zusammen, zum Beispiel bei der
Umwandlung von leer stehenden Büroflächen in Wohnraum und umgekehrt. Unter „Gebrauchsflexibilität“ versteht man die Anpassung an neue Kommunikationssysteme oder Schall-, Brand- und Wärmeschutzstandards,
während sich die „Ausstattungsflexibilität“ auf den sich
ändernden Bedarf bei einem Mieterwechsel bezieht.
Journal . Architekten und Planer | Januar 2007
| Schwerpunkt
Um Gewicht einzusparen, wurden die Flurtrennwände aus Kalksandstein durch leichte Metallständerwände mit entsprechendem Schalldämmmaß ersetzt.
Schematische Darstellung
der Umbaumaßnahmen
Ein Studentenwohnheim in Wuppertal, das vor 25 Jahren in Fertigteilbauweise errichtet worden war, sollte aufgrund seines mittlerweile nicht mehr
zeitgemäßen Standards abgerissen werden. Es wurde die Idee entwickelt,
den in der Mitte liegenden Aussteifungskern herauszustanzen und so das
Gebäude in vier Einzelteile aufzusplitten. Leichte Rahmentragwerke vor der
Fassade übernehmen die Aussteifung und vergrößern gleichzeitig die Wohnflächen. Dadurch konnte jedes Apartment mit Küche und Bad ausgestattet
werden. Die von oben bis unten gleich dimensionierten Stahlbetonschotten
wurden entsprechend dem Kraftfluss optimiert, so dass in den oberen Etagen Wohnungen für junge Familien mit drei bis vier Zimmern entstanden.
Die Waschbetonfassaden wurden entfernt, nichttragende Trennwände aus
Kalksandstein sowie der Zementestrich durch Trockenbausysteme ersetzt.
Die neuen Metallständerwände erreichen mit einem Flächengewicht von ca.
45 kg/m2 den gleichen Schalldämmwert wie die alten Wände mit bis zu 600
kg/m2. Insgesamt konnten durch die Umbaumaßnahmen etwa 800 t pro Gebäudeflügel eingespart werden, so dass zusätzlich aufgestockt werden konnte,
ohne dabei die bestehenden Fundamente zu überlasten. Die neuen ein- bis
zweigeschossigen Aufbauten sind ebenfalls als Leichtbaukonstruktion mit einer Passivhausfassade ausgeführt.
Ansicht der neuen Erschließungstürme
Journal . Architekten und Planer | Januar 2007
Foto: © Riehle/artur
Schwerpunkt | Die auskragenden Raummodule nutzen durch gezielt
eingesetzte Kippmomente die Resttragfähigkeit des
Bestands.
Um Deckenspannweiten von 7 m zu realisieren, dient die Querwand als Überzug.
Die drei- bis viergeschossige Waldsiedlung in Hanau-Großauheim wurde
Anfang der 60er Jahre für Mitarbeiter der Degussawerke errichtet. Um den
Bestand nachzuverdichten, untersuchte man zwei städtebauliche Varianten:
Zum einen sollten unter Beachtung der Abstandsflächen neue Gebäuderiegel
eingefügt werden. Um den parkähnlichen Charakter der Siedlung zu erhalten,
entschied man sich jedoch für die zweite Lösung mit zweigeschossigen Dachaufbauten und großen Dachterrassen.
Die Gebäude verfügen über eine tragende Mittelwandachse oder sind nach
dem Schottenprinzip gebaut. Deswegen sind die Außenwände nichttragend
ausgebildet, aber aufgrund der damaligen Wärmeschutzanforderungen in der
Regel mindestens 30 cm dick. Um ihre Resttragfähigkeit zu nutzen, kragen die
Aufstockungen aus, das entstehende Kippmoment leitet einen Teil der Lasten
in die Außenwände ein.
Bauweise und Tragfähigkeit der auskragenden Raummodule wurden zunächst
in einem Reihenhaustyp getestet. Auf einem Fertigteilkeller sind Module mit
unterschiedlichen Öffnungen und Spannweiten von knapp sieben Metern
gestapelt. Mit einem monolithischen System lassen sich diese Spannweiten
wenig wirtschaftlich erstellen, aber auch im Stahlleichtbau müssen Verformungen und Durchbiegungen verhindert werden. So wurde die Trockenbauwand zwischen zwei Kinderzimmern im Obergeschoss als Überzug ausgebildet, an dem die Stahlprofile der Bodenkonstruktion abgehängt sind. Die
Tragfähigkeit des Systems aus nur 1 mm dicken Profilen wurde im Experiment
nachgewiesen. Dabei sind weitere Synergieeffekte durch die Verwendung verschiedener Plattenwerkstoffe möglich.
Die Module in Stahlleichtbauweise konnten beim Bau
von Reihenhäusern in Oberursel erprobt werden.
Journal . Architekten und Planer | Januar 2007
12 | Schwerpunkt
Bislang ungenutzte Satteldächer werden
durch Dachaufbauten ersetzt und in
hochwertigen Wohnraum verwandelt.
Auch im Rahmen der Privatisierung der ehemaligen Opel-Werkswohnungen in
Rüsselsheim stand die grundlegende Sanierung des Gebäudebestands an. Die
alten Satteldächer der dreistöckigen Wohngebäude wurden abgetragen und
durch einen neuen, teilweise zweigeschossigen Dachaufbau mit zusätzlichen
Wohnungen ersetzt. Die neuen Leichtbaukonstruktionen erfüllen hohe Brandschutzanforderungen und sind zugleich so leicht, dass bei maximaler Ausnutzung der Fläche die Tragfähigkeit der Bestandsstruktur nicht überlastet wird.
Die Altmieter konnten ihre modernisierten Wohnungen durch den geschaffenen „Mehrwert“ zu günstigen Konditionen erwerben.
Journal . Architekten und Planer | Januar 2007
Schwerpunkt | 13
Auf dem gepachteten Flachdach eines Bürohauses in Wien planten die Architekten Delugan Meissl ihre eigene Wohnung. Um die Lasten aus dem
dynamisch geformten Dachaufbau gleichmäßig in den Bestand einzuleiten,
wurden komplexe Raumzellen in Stahlbauweise errichtet. Die Bauteile sind
zu einem großen Biegetragwerk zusammengefügt, wobei die Knicke und Faltungen große, stützenfreie Spannweiten ermöglichen. Die rückwärtig weit
über die Hoffassade auskragende Konstruktion stellt den Anschluss an das
vorhandene Treppenhaus her. Gewollt ist das entstehende Kippmoment, das
die Bestandsstruktur be- und entlastet, je nach Tragfähigkeit der lastabtragenden Wände.
In der ungewöhnlichen Formensprache sind viele Möglichkeiten und räumliche Qualitäten enthalten. Rampen überwinden unterschiedliche Konstruktionshöhen und Aufbauten. Die „Küchenskulptur“, die ebenfalls in Trockenbauweise errichtet wurde, zoniert den Wohnraum und führt gleichzeitig
unsichtbar die Entwässerung nach unten zur Hauswand und die Entlüftung
nach oben über das Dach.
Ein Stahltragwerk ermöglicht die extravagante Aufstockung auf einem
Wiener Bürohaus (oben links).
Das auskragende Bauteil bildet den Anschluss an das bestehende
Treppenhaus.
In der Raumskulptur ist nicht nur die Küchenzeile untergebracht,
sondern auch technische Installationen (rechts).
Fotos: © Rupert Steiner
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14 | Schwerpunkt
Hinter der zweigeschossigen Verglasung ist das
Tragwerk des Stegs kaum wahrnehmbar.
Foto: © Riehle/artur
Im Jahr 2003 wurde der 123.000 m2 große, von Schmitz Architekten
in Köln geplante Bonner Verwaltungskomplex von T-Mobile fertig gestellt. Nach dem Bezug zeigte sich die Notwendigkeit, einen
weiteren wettergeschützten Übergang zur Cafeteria zu schaffen.
Allerdings befindet sich unter der Hoffläche eine Tiefgarage und
auch der aufgeständerte Querriegel weist nur eine geringe Resttragfähigkeit zur Aufnahme einer Brücke auf. Gleichzeitig sollte auch
der Innenhof als Ganzes erhalten bleiben. Die Lösung, die in Zusammenarbeit mit dem Architekten Peter Schmitz gewählt wurde, war eine sehr leichte und aufgelöste Stahl-Glas-Konstruktion,
für die der Kraftfluss genau auf die vorhandene Beanspruchbarkeit
des Bestandes abgestimmt ist. Die auftretenden Kräfte werden im
Verhältnis 1 : 2 nach oben in den bestehenden Bürobau und nach
unten in die Decke über der Tiefgarage eingeleitet.
Journal . Architekten und Planer | Januar 2007
Eine Flachstahlkonstruktion aus filigranen Diagonalstäben steht unten auf der Tiefgaragendecke und wird über dünne Gewindestangen von dem darüber liegenden Büroriegel stabilisiert. Durch ein
geschicktes Spiel mit den Steifigkeiten verhindert die Abhängung
der Gewindestangen das Knicken der dünnen Flachstähle. Durch
die Ausbildung geschlossener Dreiecke übernimmt die Konstruktion gleichzeitig die Horizontalaussteifung. Von außen ist die verglaste Brücke fast nicht wahrnehmbar, die Flachstähle mit ihrer Ansichtsbreite von 18 mm treten kaum in Erscheinung.
So konnten durch die hervorragenden Eigenschaften des Werkstoffs
Stahl zwei zusätzliche begehbare Ebenen realisiert und die optische
Durchgängigkeit des begrünten Innenhofes bewahrt werden.
Quelle: Stahl-Informations-Zentrum, Düsseldorf
Redaktion: Martina Helzel, cirka drei, München
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