3 Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligk eiten 3.1 Akute organische psychiatrische Syndrome – 16 3.2 Verlust erworbener Fertigkeiten und Demenz 3.3 Leichte kognitive Störung – 18 3.4 Störungen der Aufmerksamkeit – 18 3.5 Organische Persönlichkeitsstörungen 3.6 Organische depressive Störungen – 22 3.7 Suizidalität – 23 3.8 Organische Angststörungen – 24 3.9 Organische maniforme Störungen – 24 3.10 Organische Halluzinosen, Psychosen und wahnhafte Störungen – 25 3.11 Organische aggressive Störungen – 26 3.12 Syndromaler Autismus – 29 – 20 – 17 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 16 Kapitel 3 · Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten 3.1 Akute organische psychiatrische Syndrome Akute organische psychiatrische Syndrome können un terteilt w erden in S törungsbilder mi t Bewusstseinsstörung und s olche ohne Bewusstseinsstörung. Or ganische psy chiatrische S törungsbilder mi t B ewusstseinstrübung w erden als delira nte Syndrome b ezeichnet. D abei ka nn das Leitsymptom Bewusstseinsstörung aus einer eher q uantitativen H erabsetzung des B ewusstseins bestehen (S omnolenz, S opor, Koma) oder aus einer mehr q ualitativen V eränderung des bewussten Erlebens (z. B. verminderte Fokussierung der Aufmerksamkeit). Die q uantitativen B ewusstseinsstörungen sind folgendermaßen definiert: 5 Somnolenz: vermehrte Schläfrigkeit, erhaltene Ansprechbarkeit; 5 Sopor: Nichtansprechbarkeit, aber erhaltene motorische Reaktion auf Schmerzreize; 5 Stupor: Verminderung oder vollständiges Fehlen spontaner Bewegung mit teilweisem/ komplettem Mutismus, Negativismus und Haltungsstereotypien (oft im Rahmen katatoner Störungsbilder); 5 Koma: kompletter Bewusstseinsverlust. Das Delir im enger verstandenen, traditionellen Sinn zeigt sic h in V erwirrtheit, allg emeiner Unruhe, nest elnden B ewegungen, H alluzinationen (meist o ptischer Natur: z. B. B ewegungen kleiner Figuren, wie »weiße Mäuse«) und vegetativen Symptomen, wie H erzfrequenzsteigerung, Schwitzen und Tremor. Akute o rganische psy chiatrische S yndrome ohne Bewusstseinsstörung werden nach der vorrangigen klinischen Symptomatik unterteilt in 5 akutes amnestisches Syndrom, 5 organische Halluzinose, 5 affektive, paranoide und andere Syndrome. Die P rävalenz a kuter hir norganischer psy chiatrischer Syndrome im Kindes- und Jugendalter ist niedrig. Die Ursachen der Störungsbilder in dieser Al tersgruppe umfass en S chädel-Hirn-Traumata, ZNS-I nfektionen (M eningitis und Enzephalitis), Dr ogenintoxikationen o der -en tzug, Hirnblutungen sowie anticholinerge Substanzen (zentrales anticholinerges Delir). Schwere, p rolongierte delira nte Z ustände üb er 7–14(!) Tage mi t B ewusstseinsstörung, tagelanger I nsomnie, H alluzinationen und schweren v egetativen En tzugssymptomen wur den b eschrieben f ür das st imulierende flüssige Lösungsmittel Ga mma-Hydroxybutyrat (GHB) und v erwandte Substanzen, die zunehmend als »Liquid Ecstasy« oder sog. »After-Party-Droge« und »K.O .-Tropfen« b ei J ugendlichen Verbreitung finden (Rosenberg et al. 2003). »Hypoaktive« delira nte Z ustände tr eten b ei Kindern und J ugendlichen in sbesondere nac h Intoxikation mi t a tropinhaltigen, a nticholinergen Pflanzen oder Drogen auf (Tollkirsche; Phenothiazine, B utyrophenone, tr i- und t etrazyklische Antidepressiva; Löhrer u. Kaiser 1999). Im Rahmen von Epilepsien kommt es relativ häufig zu D ämmerzuständen, affektiven Auffälligkeiten und psychotischen Zustandsbildern, die zu den akuten psychiatrischen Syndrome zählen. Sie werden eingehender im 7 Abschn. 4.4 erläutert. Postoperative Syndrome Nach Operationen kann es bei Kindern, häufiger als bei Jugendlichen und Erwachsenen, zu ausgeprägten vorübergehenden psychopathologischen Auffälligkeiten kommen. So werden sowohl delirante, agitierte und halluzinatorische Bilder beobachtet, als a uch stuporöse Zustände. Gelegentlich wird im Klinikjargon zur Charakterisierung dieser t ransienten A uffälligkeiten der Begriff »Durchgangssyndrom« verwandt, der allerdings unspezifisch ist und sic h in den gä ngigen Klassifikationssystemen nicht findet. Die p ostopera- 3.2 Verlust erworbener Fertigkeiten und Demenz tive Situation im K rankenhaus ist f ür viele K inder stark angstbesetzt. Präventiv ist das Schaffen einer beruhigenden Atmosphäre, etwa durch die Anwesenheit der Eltern schon im Aufwachraum, sinnvoll. Eine adäq uate S chmerzbehandlung sollte selbstverständlich sein, zumal Kinder später eine er niedrigte S chmerzschwelle und mehr Schmerzreaktionen zeigen, wenn sie zu vor einmal starke Schmerzen erleiden mussten. Die B ehandlung der a kuten psychiatrischen Syndrome s ollte nach a usführlicher k linischer Diagnostik, ink lusive L aboruntersuchungen, bildgebenden V erfahren und EEG mög lichst kausal er folgen, d . h., die v erursachende o rganische Grunderkrankung ist zu b ehandeln. Die symptomatische Pharmakotherapie von Unruhe und psychotischen Symptomen kann mit hochpotenten (a ber mög lichst w enig a nticholinergen) N euroleptika er folgen, etwa mi t H aloperidol. U nter U mständen ka nn die k urzfristige Gabe v on B enzodiazepinen (b evorzugt L orazepam) sinnvoll s ein. S ystematische S tudien zu psychopharmakologischen S trategien b ei a kuten organischen psychiatrischen Syndromen im Kindes- und J ugendalter f ehlen (B uchmann u . Fegert 2004). 3.2 Verlust erworbener Fertigkeiten und Demenz Demenz b ezeichnet einen d urch o rganische Hirnerkarnkungen v erursachten Verlust er worbener Fähigkeiten, während Kinder und Jugendliche mi t M inderbegabungen nie ein hö heres Leistungsniveau er reicht ha ben. Die I CD-10 fordert, dass die S ymptomatik mindest ens ein halbes J ahr b estanden ha ben m uss. I m U nterschied zur k lassischen deu tschen Psychopathologie, die un ter D emenz einen c hronisch-progredienten, ir reversiblen P rozess a nsah, ka nn den a ktuellen K lassifikationssystemen folgend die demenzielle Entwicklung akut oder langsam 17 3 progredient, reversibel oder nicht reversibel sein (Wetterling 2002). ! Demenzielle Entwicklungen bei Kindern sind im Frühstadium schwer zu diagnostizieren, da auch die normale Entwicklung von Kindern nicht linear verläuft. Vorübergehende Rückschritte, z. B. das Wiederauftreten vo n B abysprache, t reten a uch r eaktiv im R ahmen v on b elastenden S ituationen und Herausforderungen auf, etwa in K rankheitsphasen, beim Eintritt in den Kindergarten und nach der G eburt j üngerer G eschwister. Z udem k önnen fast a lle kinder psychiatrischen K rankheitsbilder mit neu auftretenden Leistungsproblemen in der Schule einhergehen. Organische U rsachen f ür En twicklungsrückschritte sollten bei folgenden Anzeichen in Betracht gezogen werden (Goodman 2003): 5 Zunehmender Verlust vorher gut etablierter Fertigkeiten im sprachlichen, schulischen und kognitiven Bereich. Wünschenswert ist die Objektivierung der Einbußen durch wiederholte neuropsychologische Testungen. Diese Rückschritte sollten auch dann nachweisbar sein, wenn das Kind offensichtlich motiviert und unbelastet wirkt. 5 Erstmaliges Auftreten weiterer Symptome, wie Anfälle, Tremor, Gleichgewichtsstörungen, visuelle Beeinträchtigungen. 5 Zusätzliches Vorliegen von Risikofaktoren, z. B. positive Familienanamnese hereditärer Erkrankungen (Huntington-Chorea) oder mütterliche HIV-Infektion Demenzielle Entwicklungen im K indesalter finden sic h z. B. b eim M orbus W ilson, j uveniler neuronaler Ceroid-Lipofuszinose, Morbus Huntington, HIV-Enzephalopathie, b ioelektrischem Status ep ilepticus (ES ES), t uberöser S klerose, Adrenoleukodystrophie, systemis chem L upus erythematodes und Sa nfilippo-Syndrom. Die 18 1 2 Diagnostik muss breit angelegt sein und umfasst neben ausführlicher klinischer Diagnostik Laboruntersuchungen (S erum, L iquor), b ildgebende Verfahren und EEG. 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 3 · Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten 3.3 Leichte kognitive Störung Organische k ognitive S törungen, die nic ht die Ausprägung einer D emenz er reichen, k önnen als leich te k ognitive S törungen zus ammengefasst werden. Die ICD-10 subsumiert die leichten kognitiven Störungen unter der Rubrik »sonstige organische P ersönlichkeits- und V erhaltensstörungen (F07.8)«. Die S törungen k önnen sic h u . a. zeig en in Beeinträchtigungen von 5 Aufmerksamkeit und Konzentration, 5 Merkfähigkeit, 5 räumlich-perzeptiven, räumlich-kognitiven und räumlich-konstruktiven Leistungen, 5 Problemlösefertigkeiten, 5 Sprache, 5 Antrieb, 5 schulischen Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen). Leichte kognitive Störungen treten infolge einer Vielzahl k örperlicher Erkra nkungen mi t H irnfunktionsstörung a uf, etwa b ei ma nchen E pilepsieformen, nac h S chädel-Hirn-Traumata, Schlaganfällen und b ei v erschiedenen g enetischen Syndromen. Nicht nur demenzielle Entwicklungen, sondern auch leichte kognitive Störungen wirken sich auf die Anpassung der K inder und J ugendlichen in F amilie, S chule und Freizeit a us und sind daher s orgfältig zu diagnostizieren, zu b ehandeln und im V erlauf zu untersuchen (7 Abschn. 6.6). Dies s ei v erdeutlicht a m B eispiel der S törungen rä umlich-konstruktiver F ähigkeiten. Diese S törungen der Or ientierung im R aum gehören zu den hä ufigen Folgen von Hirnfunk- tionsstörungen. Sie gehen oft mit Auffälligkeiten einher, die a uf den er sten B lick nic ht mi t der raumanalytischen Basisfertigkeit in Verbindung gebracht werden: Bei dies en Kinder finden sich u. a. folgende Symptome (nach Muth et al. 2001): 5 eine bestimmte räumliche und soziale Distanz zu anderen wird nicht eingehalten, 5 das Lesen der Zeigeruhr gelingt nicht, 5 Stadt- und Fahrpläne können nicht gelesen werden, 5 Basteln und Ausschneiden gelingt nicht, 5 der Abstand im Straßenverkehr wird falsch eingeschätzt, 5 der Schulweg muss oft geübt werden, 5 Lesen und Schreiben bereiten ausgeprägte Probleme. Kinder mi t S törungen der rä umlich-konstruktiven F ähigkeiten g elten o ft als ag gressiv (o hne dies wirk lich zu s ein), da sie s oziale S chlüsselreize o ft nic ht a ngemessen in terpretieren. Die g enannten S ymptome k önnen neb en ihr en unmittelbaren A uswirkungen a uch zu einem negativen Selbstkonzept des Kindes (»ich schaffe das s owieso nic ht«), Verweigerung und ä nsgtlichem V ermeiden f ühren. Die r echtzeitige Diagnostik und neur opsychologisch f undierte Ā erapie ha t daher a uch immer p räventiven Charakter. 3.4 Störungen der Aufmerksamkeit Störungen der Aufmerksamkeit gehören zu den am häufigsten b eklagten Symptomen im G efolge v on H irnfunktionsstörungen. A ufmerksamkeitsstörungen k önnen in dr ei v erschiedenen Formen auftreten (Lauth 2001): Subklinische Schwierigkeiten. Sie werden häu- fig a uch als K onzentrationsschwächen b ezeich- 3.4 Störungen der Aufmerksamkeit net. Diese werden von vielen Patienten (und von gesunden K indern und J ugendlichen) b eklagt, sind aber unscharf definiert, sodass Angaben zu ihrer H äufigkeit b ei P atienten mi t H irnfunktionsstörung ka um mög lich, w enig a ussagekräftig und f ür die Ā erapie v on un tergeordneter Bedeutung sind. Begrenzte Störung der Aufmerksamkeitsfähigkeit. Eine s olche S törung liegt da nn v or, wenn eine einzelne A ufmerksamkeitsfunktion im V ergleich zur s onstigen L eistungsfähigkeit des K indes deutlich b eeinträchtigt ist. Dies kann v erschiedene A spekte der A ufmerksamkeit b etreffen: s elektive und g eteilte A ufmerksamkeit, S törungen v on V igilanz und Ak tivierung, B eeinträchtigungen der D aueraufmerksamkeit. Als relevant werden Abweichungen um mindestens eine Standardabweichung vom sonstigen Leistungsspektrum des P atienten angesehen. Dies er fordert den Ein satz st andardisierter u nd a ltersnormierter ne uropsychologischer Verfahren. Die F unktionsstörung m uss zudem zu einer b elegbaren B eeinträchtigung im Alltag f ühren. S o stel lt das g leichzeitige B eachten visueller und akustischer Reize (die geteilte Aufmerksamkeit), eine Anf orderung da r, die etwa im Schulunterricht im sim ultanen Erfassen von Erklärungen des Lehrers und Informationen von der Tafel oder aus dem Buch benötigt wird. Kinder mi t S törungen der g eteilten A ufmerksamkeit fallen unter Schulbedingungen häufig durch eine s chwankende und da mit f ehlerbehaftete Aufmerksamkeitsleistung auf, was wiederum ein beträchtliches Handicap im Erlernen des Lesens und da rauf a ufbauender F ähigkeiten da rstellt. Heubrock und Petermann (2001) berichten, dass etwa jedes f ünfte K ind, das im R ahmen einer ambulanten neuropsychologischen Rehabilitation untersucht wur de, eine b egrenzte Aufmerksamkeitsstörung a ufwies. I m F all einer s olchen Aufmerksamkeitssstörung ist ein Training spezifischer Aufmerksmamkeitsleistungen angezeigt. 19 3 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms. Die dr itte F orm der A ufmerksamkeits- störungen tr itt im R ahmen eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (DSMIV: AD HS; nac h I CD-10: h yperkinetische Störung, HKS) a uf. H ierbei ha ndelt es sic h um eine k omplexe S törung, b ei der n ur eines der Kernsymptome die gestörten Aufmerksamkeitsleistungen (erhö hte Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit) sind . Weitere K ernsymptome sind I mpulsivität (mit risikoreichem, unbedachtem Verhalten) und mo torische U nruhe (H yperaktivität). Dieses S ymptommuster s oll d urchgehend und in einem für den Entwicklungsstand des Betroffenen abnormen Ausmaß situationsübergreifend auftreten. Die Störung beginnt vor dem Alter von 6 Jahren und s ollte in mindest ens zwei Lebensbereichen (z. B. in der S chule, in der F amilie, in der U ntersuchungssituation) üb er mehr als 6 Monate auftreten. Abgesehen v om Al terskriterium, das o hnehin in der f ür 2011 geplanten Revision des DSM bis a uf das 16. Lebensjahr a usgeweitet w erden soll, k önnen die diagnostis chen K riterien f ür ADHS/HKS a uch zur Eino rdnung v on H yperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung inf olge v on H irnfunktionsstörungen v erwandt werden. ADHS-ähnliche S törungsbilder sind hä ufig bei 5 Autismus, 5 hemiplegischen und ataktischen Zerebralparesen (Rutter et al. 1970), 5 Epilepsien (Holtmann et al. 2006b), 5 Folgen von Schlaganfällen (Daseking u. Petermann 2007), 5 Neurofibromatose Typ I, 5 tuberöser Sklerose, 5 fetalem Alkoholsyndrom (Fryer et al. 2007), 5 Fragilem-X-Syndrom, 5 Angelman-Syndrom, 5 22q11.2-Deletions-Syndrom. 20 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Kapitel 3 · Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten Die Ā erapie der S ymptomatik kann sich una bhängig v on der Ä tiologie a n den L eitlinien zur B ehandlung h yperkinetischer S törungen (DGKJP et al. 200 7) orientieren. Sie wird in der Regel als m ultimodale B ehandlung d urchgeführt. Ansatzpunkte der Behandlung sind 5 Aufklärung und Beratung (Psychoedukation) der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und des Erziehers bzw. des Klassenlehrers, 5 Elterntraining und Interventionen in der Familie, 5 Interventionen im Kindergarten bzw. in der Schule (einschließlich Platzierungsinterventionen), 5 Pharmakotherapie zur Verminderung hyperkinetischer und impulsiver Symptome Sofern in An betracht des En twicklungsstandes und der k ognitiven B eeinträchtigungen möglich, k önnen a b dem S chulalter a uch k ognitive therapeutische Elemente in die Behandlung aufgenommen we rden ( Selbstinstruktionstraining zur Verminderung von impulsiven und unorganisierten Aufgabenlösungen, Selbstmanagement zur Modifikation des Problemverhaltens). 13 14 15 16 17 18 19 20 3.5 Organische Persönlichkeitsstörungen Organische Persönlichkeitsstörungen zählen zu den psychiatrischen Syndromen nach Hirnfunktionsstörungen, für die in der ICD-10 eigene diagnostische Kriterien formuliert wurden (ICD-10 F07.0). Gemeint sind Änderungen von Gewohnheiten, W esenszügen und V erhaltensmustern, bei denen es zu einer oft sozial nicht mehr angemessenen Akzen tuierung p rämorbider P ersönlichkeitszüge o der V erhaltensmuster k ommt oder aber auch zu deren völliger Veränderung. Zur Diagnos estellung m uss der zei tliche Zusammenhang der P ersönlichkeitsverände- rung mi t einer H irnerkrankung, H irnschädigung o der H irnfunktionsstörung g egeben s ein oder wahr scheinlich g emacht w erden k önnen. Darüber hina us gr ündet sic h die Diagnos e a uf mindestens zwei der folgenden Merkmale: 5 andauernd reduzierte Fähigkeit, zielgerichtete Aktivitäten über längere Zeiträume durchzuhalten und Befriedigungen aufzuschieben; 5 verändertes emotionales Verhalten, das durch emotionale Labilität, flache und ungerechtfertigte Fröhlichkeit (Euphorie, inadäquate Witzelsucht) und leichten Wechsel zu Reizbarkeit oder kurz andauernden Ausbrüchen von Wut und Aggression charakterisiert ist; in manchen Fällen kann Apathie mehr im Vordergrund stehen; 5 Äußerungen von Bedürfnissen und Impulsen meist ohne Berücksichtigung von Konsequenzen oder sozialen Konventionen (der Patient kann unsoziale Handlungen begehen wie Stehlen, unangemessene sexuelle Annäherungsversuche, gieriges Essen oder die Körperpflege vernachlässigen); 5 kognitive Störungen in Form von Misstrauen oder paranoidem Denken und/oder exzessiver Beschäftigung mit einem einzigen, meist abstrakten Ā ema (z. B. Religion, Recht und Unrecht); 5 auffällige Veränderungen in der Sprachproduktion und des Redeflusses, Umständlichkeit, Begriffsunschärfe, zähflüssiges Denken und Schreibsucht; 5 Verändertes Sexualverhalten (verminderte Sexualität oder Wechsel in der sexuellen Präferenz). Begriffe, die hä ufig a nalog f ür die o rganische Persönlichkeitsstörung v erwandt w erden, sind: Frontalhirnsyndrom, Leukotomiesyndrom, Lobotomiesyndrom, o rganische Pseudopsychopathie, organische pseudoretardierte Persönlichkeit, Persönlichkeitsstörung bei limbischer Epilepsie. 21 3.5 Organische Persönlichkeitsstörungen 3 Leitsymptome Untergruppen F07 Die diagnostischen Kriterien einer Persönlichkeitsund Verhaltensstörung aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder funktionsstörung des Gehirns sind erfüllt (s. Abbildung 1) Störung durch eine Virus- oder bakterielle Enzephalitis bedingt? ja nein postenzephalitisches Syndrom (F07.1) Störung durch Schädeltrauma bedingt? ja organisches Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma (F07.2) nein Mindestens zwei der folgenden Merkmale: 1. andauernd reduzierte Fähigkeit, zielgerichtete Aktivitäten durchzuhalten und Befriedigungen aufzuschrieben 2. verändertes emotionales Verhalten 3. Äußerungen von Bedürfnissen und Impulsen meist ohne Berücksichtigung von Konsequenzen oder sozialen Konventionen 4. kognitive Störungen in form von Misstrauen oder paranoidem Denken und/oder exzessiver Beschäftigung mit einem einzigen, meist abstrakten Thema 5. auffällige Veränderungen der Sprachproduktion und des Redeflusses, Umständlichkeit, Begriffsunschärfe, zähflüssiges Denken und Schreiben 6. verändertes Sexualverhalten (verminderte Sexualität oder Wechsel in der sexuellen Präferenz) ja organische Persönlichkeitsstörung (F07.0) nein • sonstige organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F07.8) • nicht näher bezeichnete organische Persönlichkeits- und Verhaltensstörung (F07.9) . Abb. .. K lassifikation organisch bedingter Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen infolge einer Hirnfunktionsstörung (ICD-10 F07). (Nach DGKJP et al. 2007) 22 1 Häufigkeit organischer Persönlichkeitsstörungen bei verschiedenen Erkrankungen (nach Wetterling 2002) 2 5 Allgemeinbevölkerung: ca. 5% 5 Epilepsie (bes. Temporallappenepilepsie): 6–53% 5 Multiple Sklerose: 19% 5 Schädel-Hirn-Trauma: 66% 5 Schlaganfall: 33% 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 3 · Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten Im DS M-IV (APA 200 4) w erden die o rganisch bedingten P ersönlichkeitsstörungen d urch die vorherrschende S ymptomatik nä her b eschrieben (a ffektiv la biler, en themmter, ag gressiver, apathischer, paranoider Typus sowie die Restkategorien anderer, kombinierter und nic ht näher bezeichneter Typen). 3.6 Organische depressive Störungen Gemäß ICD-10 wird für die S ymptomatik einer depressiven Episode eine Dauer von mindestens 2 Wochen g efordert. K ürzere Z eiträume k önnen berücksichtigt werden, wenn die Symptome ungewöhnlich schwer oder schnell auftreten. Die L eitsymptome dr ücken sich in emo tionalen und vegetativ-körperlichen Störungen aus, wobei die ersten drei Kriterien für die Diagnosestellung immer vorhanden sein müssen: 5 gedrückte Stimmung ohne deutliche Abhängigkeit von bestimmten Lebensumständen, 5 Verlust von Interesse oder Freude, 5 erhöhte Ermüdbarkeit, 5 Verlust von Selbstvertrauen oder Selbstwertgefühl, 5 unbegründete Selbstvorwürfe, 5 wiederkehrende Gedanken an den Tod oder an Suizid oder suizidales Verhalten, 5 Änderung der psychomotorischen Aktivität (Agitiertheit oder Hemmung), verminderter Antrieb, 5 Kopfschmerzen, gastrointestinale Beschwerden, 5 Schlafstörungen (typisch sind Ein- und Durchschlafstörungen sowie Früherwachen), 5 Störungen des Appetits, 5 vermindertes Denk- oder Konzentrationsvermögen. ! Die Symptomatik der organischen depressiven Störungen ist vielfältig, z. T. altersabhängig und wenig situationsgebunden. Somatische und/ oder psychotische Symptome können zusätzlich vorhanden sein. Bei der leich tgradigen S törung ka nn das K ind oder der Jugendliche unter Schwierigkeiten seine normalen s chulischen und s ozialen Ak tivitäten fortsetzen, eine mi ttelgradige S törung f ührt zu erheblichen S chwierigkeiten b ei s ozialen, häuslichen und s chulischen Aufgaben. Eine s chwere episodische o der r ezidivierende dep ressive S törung führt zu einer sehr begrenzten Fortführung oder zu dem v ölligen Erlieg en der allg emeinen Aktivitäten. ! Während bei Jugendlichen die Symptomatik der depressiven Episode jener der Erwachsenendepression ähnelt, kann das klinische Bild bei Kindern heterogen sein (Leitlinie Depressive Störungen; DGKJP et al. 2007). Bei j üngeren K indern ist die daher die B eobachtung des S pielverhaltens, Essv erhalten und Schlafverhalten besonders wichtig. Im Vorschulalter wir d a uf die Exp loration zugun sten der (Interaktions-)Beobachtung b eim S pielen zu spezifischen Ā emen (z. B. Tod) v erzichtet. B ei älteren K indern ist zus ätzlich die B eobachtung des Leistungsverhaltens angezeigt. 3.7 Suizidalität Depressive Symptome im Kleinkindbzw. Vorschulalter Auffälligkeiten im 5 Spielverhalten (Spielunlust, schnelle Entmutigung, mangelnde Phantasie) 5 Essverhalten (Mäkeligkeit, verminderter/gesteigerter Appetit) 5 Schlafverhalten (Ein- und Durchschlafstörungen, Früherwachen, Alpträume) Somatisch kra nke K inder, in sbesondere s olche mi t c hronischen B ehinderungen, k önnen depressive S ymptome tei ls mi t k örperfixierten, teils mit therapiebezogenen Ängsten entwickeln. Depressive S ymptome finden sich gehäuft bei Kindern und Jugendlichen mit Epilepsien, Schädel-Hirn-Trauma, Hirntumoren, Neurofibromatose Typ I, t uberöser S klerose, j uveniler neur onaler C eroid-Lipofuszinose, H untington-Chorea, syt emischem L upus er ythematodes und Rett-Syndrom. 3.7 Suizidalität In den aktuellen Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV ist S uizidalität ein S ymptom, keine Diagnos e. Die k linische und t herapeutische Bedeutung der S uizidalität ist allerdings größer als die ma ncher definierter psychiatrischer Diagnosen. Jede Handlung, die unmittelbar lebensbedrohlich ist, kann zur Suizidalität gehören. Unter dem v ollendeten Suizid versteh t man eine selbst intendierte Handlung mit tödlichem Ausgang. D er S uizidversuch o der Parasuizid ist eine Handlung mit nicht tödlichem Ausgang, bei der ein Individuum entweder gezielt ein Verhalten zeigt, das o hne Intervention von dritter Seite eine S elbstschädigung b ewirken würde, o der absichtlich eine S ubstanz in einer D osis einnimmt, die üb er die v erschriebene o der i . Allg. 23 3 als t herapeutisch a ngesehene D osis hina usgeht, und die zum Z iel hat, durch die ak tuellen oder er warteten Konsequenzen Veränderungen zu b ewirken (L eitlinie S uizidalität im K indesund J ugendalter; D GKJP et al . 200 7). Parasuizidale Gedanken und Affekte sind v erbale und nichtverbale Anzeichen, die direkt oder indirekt Beschäftigung mi t S elbsttötungsideen a nzeigen ohne Verknüpfung mit Handlungen. Es können gezielte und konkrete Planungen auftreten. ! Das für die Selbstschädigung gewählte Mittel ist nicht ausschlaggebend als Hinweise auf die Ernsthaftigkeit einer suizidalen Handlung. Vielmehr liegt die Definition einer Handlung als suizidal beim Patienten. Hinweise auf eine er nsthafte Todesabsicht können sein 5 durchgeführte Handlung und Isolation, 5 Zeitpunkt mit geringer Entdeckungswahrscheinlichkeit, 5 Vorbereitungen in Todeserwartung, 5 Information Dritter bzw. hinterlegte Nachricht, 5 ausbleibende Alarmierung Dritter nach der Handlung. Nicht zur S uizidalität zählen A utomutilation, Selbstverletzungen oder autoaggressives Verhalten. Allerdings vermischen Automutilation und Suizidalität sich häufig im Verlauf. Patienten mit neurologischen Erkrankungen, auch mi t S chädel-Hirn-Trauma, ha ben ein erhöhtes Suizidrisiko. Eine stark erhöhte Rate an Suizidalität infolge von Hirnfunktionsstörungen findet sic h b ei Anfalls erkrankungen, in sbesondere b ei J ugendlichen mi t neudiag nostizierter Epilepsie, die b ereits in der V orgeschichte psychiatrisch auffällig waren (Pompili et al. 2006a). 1 24 Kapitel 3 · Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten 3.8 Organische Angststörungen 4 Zur Diagnos e der o rganisch b edingter Än gste (F06.4) k önnen die K riterien der I CD-10 für An gststörungen v erwandt w erden. An gststörungen we rden abhäng ig von d er vorhe rrschenden Symptomatik weiter unterteilt. Unterschiedem werden: 5 Panikstörung (F.). Au ftreten wiederkehren- 2 3 6 7 8 9 10 11 12 13 14 der, a usgeprägter An gstattacken, die sic h nic ht auf eine sp ezifische S ituation o der b esondere Umstände beschränken, nicht vorhersehbar sind und deshalb zu Er wartungsangst f ühren k önnen. Generalisierte Angststörung (F.). Fre i flot- tierende, anhaltende Angst mit vielfältigen, insbesondere v egetativen S ymptomen; im K indes- und J ugendalter hä ufig w eniger typ ische Beschwerden und s pezifische ve getative S ymptome (andere emotionale Störung des K indesalters, Störung mit Überängstlichkeit, F93.8). Angst und depressive Störung, gemischt (F.). Gleichzeitiges B estehen v on An gst und Depression, ohne dass eine der beiden Störungen überwiegt. Die Symptome erfüllen nicht die Kriterien einer Angst- oder depressiven Störung. Sonstige gemischte Angststörungen (F.). 15 16 17 18 19 20 Gleichzeitiges B estehen v on g eneralisierter Angststörung und M erkmalen einer neur otischen, B elastungs- o der s omatoformen S törung (F4 2–F48), der en K riterien jedo ch nic ht vollständig er füllt sind . I n dies er K ombination treten a m hä ufigsten S ymptome einer Z wangsstörung (F42), einer dissoziativen Störung (F44), von Somatisierungsstörungen (F45.0, F45.1) oder einer hypochondrischen Störung (F45.2) auf. Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (F.). Angst v or der T rennung von wic htigen B ezugspersonen, die er stmals während der ersten L ebensjahre a uftritt und durch a ußergewöhnlichen S chweregrad s owie abnorme Dauer zu einer B eeinträchtigung sozialer Funktionen führt. Bei neu a ufgetretenen An gststörungen ist eine gr ündliche s omatische A bklärung zum Ausschluss einer o rganischen An gststörung oder einer subst anzbedingten S törung una bdingbar. Zum Einsatz kommen laborchemische Kontrollen (H ypoglykämie, Phäo chromozytom ,Ā yreotoxikose, Dr ogenscreening), EEG und ggf. b ildgebende Verfahren. Erkra nkungen, die vermehrt mi t S ymptomen einer Angststö rung einhergehen sind u . a. S chädel-Hirn-Traumata, Epilepsien (b enigne E pilepsie mi t a ffektiven Symptomen, T emporallappenepilepsie), H irntumoren, Schlaganfall, tuberöser Sklerose, systemischer L upus er ythematodes und Ret t-Syndrom. 3.9 Organische maniforme Störungen Zur Diag nose der o rganisch b edingten ma niformen S törungen k önnen die K riterien der ICD-10 für ma nische E pisoden v erwandt w erden. In der manischen Episode ist die Stimmung in einem deu tlich a bnormen A usmaß üb er die Dauer von einigen Tagen gehoben oder gereizt. Es besteht eine g esteigerte Aktivität oder motorische R uhelosigkeit, ein G efühl v on k örperlicher und seelischer Leistungsfähigkeit. Die bipolare affektive Störung ist charakterisiert d urch das A uftreten v on mindest ens zw ei abgrenzbaren Episoden einer affektiven Störung, eine da von mi t ma nischen M erkmalen (H ypomanie; M anie; g emischte E pisode: c harakterisiert durch entweder eine M ischung oder einen raschen W echsel v on ma nischen und dep ressiven Symptomen). 3.10 Organische Halluzinosen, Psychosen und wahnhafte Störungen Folgende Merkmale einer ma nischen Episode können vorhanden sein und die p ersönliche Lebensführung beeinträchtigen: 5 gesteigerte Gesprächigkeit, Rededrang, 5 Ideenflucht, 5 Verlust normaler sozialer Hemmungen, altersinadäquate Kritiklosigkeit, 5 vermindertes Schlafbed ürfnis, 5 überhöhte Selbsteinschätzung, 5 erhöhte Ablenkbarkeit, 5 gesteigerte Libido, 5 ggf. Halluzinationen und Wahn (Größenwahn). Manische Zustandsbilder wurden bei einer Reihe von o rganischen Erkra nkungen b erichtet, z. B. im R ahmen v on I nfektionskrankheiten, zer ebrovaskulären Erkra nkungen, met abolischen Störungen, E pilepsie, G ehirntumoren, S chädel-Hirn-Trauma, a ber a uch b ei C annabiskonsum (vgl. die a usführliche Übersicht in H eilä et al. 1995). Maniforme Zustände im K indes- und Jugendalter, die durch organische Grunderkrankungen bzw. die damit verbundenen Pharmakotherapien verursacht werden, sind insgesamt sehr selten (Braun-Scharm u. Bilke 2006). In der Literatur finden sic h einzelne F allberichte, s o etwa manische Bilder bei Morbus Cushing (Frank u. Doerr 1989), bei multipler Sklerose (Heilä et al . 1995) und bei tuberöser Sklerose (Hagenah et al. 1999). Als ia trogene S törung finden sich ma niforme Symptome im R ahmen von Steroid- bzw. Steroidentzugspsychosen. Daüber hina us sind f olgende o rganische Ursachen in B etracht zu ziehen (vg l. D GKJP et al. 2007, Leitlinien Manische und bipolare affektive Störungen): 5 durch Substanzmissbrauch induziertes manisches Syndrom (Alkohol, Amphetamine, Cannabis, Kokain, Inhalanzien), 5 iatrogen induziertes manisches Syndrom (ACTH und Kortikosteroide, Antidepressiva, Antiepileptika, Benzodiazepine), 25 3 5 Erkrankungen des ZNS (Infektionen, inklusive HIV; Encephalitis disseminata; Tumore, insbesondere des Orbitallappens; Temporallappen-Epilepsien), 5 internistische Erkrankungen (häufig bei Hyperthyreose; Tbc), 5 Stoffwechselerkrankungen (Morbus Wilson, Porphyrien). Studien zur B ehandlung o rganisch b edingter maniformer Störungen bei Kindern und Jugendlichen lieg en nic ht v or; en tsprechende U ntersuchungen f ür das Er wachsenenalter sind s elten (Wetterling 200 3). Eine k ontrollierte Studie an Erwachsenen mit organischer manischer Störung konnte die Wirksamkeit von Clonidin belegen (Bakchine et al. 1989). Darüber hinaus wird Valproat empfohlen. Die Behandlung von wahnhaften Symptome, Denkstörungen und Antriebssteigerung in der Ak utphase kann mit ho chpotenten N eurolpetika, etwa Ola nzapin, Risp eridon und H aloperidol erfolgen. Der Einsatz von Lithium wird wegen vermehrter unerwünschter Wirkungen b ei o rganischen S törungen nic ht empfohlen (Wetterling 2003). 3.10 Organische Halluzinosen, Psychosen und wahnhafte Störungen Halluzinationen sind Wahrnehmungserlebnisse, die für wirkliche Sinneseindrücke gehalten werden, o hne dass eine en tsprechende Reizq uelle vorliegt. Sie k önnen alle Sinne b etreffen. In der ICD-10 finden sich (im Unterschied zum DSMIV) Kriterien für organische Halluzinosen. ! Die häufigste Ursache für organische Halluzinosen im Kindesalter sind Intoxikationen (Eggers 1975), bei Jugendlichen Substanzmissbrauch. 26 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 3 · Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten Halluzinosen k önnen a ber a uch im R ahmen entzündlicher Erkra nkungen, b ei S toffwechselstörungen (z. B. met achromatische L eukodystrophie), E pilepsien und medika mentöser Überstimulation des do paminergen S ystems vorkommen, eb enso wie als S ymptom im R ahmen deliranter und organischer wahnhafter und schizophreniformer Z ustandsbilder (Wetterling 2003). Insgesamt ist aber nur in etwa 3% der Schizophrenien die S ymptomatik F olge einer o rganischen Hirnerkrankung (Falkai et al. 2001). Am hä ufigsten w erden is olierte o ptische und ak ustische H alluzinationen b erichtet. B ei medikamentös ind uzierten H alluzinosen und im R ahmen v on I ntoxikationen do minieren optische H alluzinationen. Eine is olierte o rganische H alluzinose o hne w eitere psy chopathologische S ymptome ist s elten. Wenn zus ätzlich zu den W ahrnehmungserlebnissen wa hnhafte Symptome auftreten, sollte eher eine o rganische wahnhafte bzw. schizophreniforme Störung diagnostiziert werden. Als W ahn w ird eine feststehende Ü berzeugung b ezeichnet, a n der f estgehalten wir d, obwohl sie einer Üb erprüfung nic ht st andhält. Wahninhalte sind hä ufig A uslöser f ür a ggressives V erhalten. S chwierig ist die Differenzialdiagnose zwischen der organischen wahnhaften oder s chizophreniformen S törung und S chizophrenien (Wetterling 200 3). Initiale S ymptome einer A drenoleukodystrophie w erden o ftmals zunächst als beginnende Schizophrenie verkannt. Patienten mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis weisen in 2% der F älle Deletionen auf Chr omosom 22q11.2 auf (K arayiorgou et al . 1995). Demnach wäre dieses Mikrodeletionssyndrom einer der wich tigsten b ekannten Risi kofaktoren für die En twicklung einer S chizophrenie (Murphy 2002). Schizophrenieähnliche S ymptome k önnen auftreten bei 5 Delir, 5 substanzinduzierten psychotischen Störungen, 5 Intoxikation, vor allem mit Amphetaminen, Kokain, Antihistaminika, kodeinhaltigen Mitteln und Psychopharmaka, 5 Endokrinopathien (z. B. Hypo- und Hyperthyreoidismus), 5 intrazerebralen Raumforderungen, 5 degenerativen Erkrankungen (z. B. Huntington-Chorea), 5 Infektionen wie Enzephalitis und Meningitis, 5 Epilepsien (besonders bei Temporallappenepilepsien), 5 juveniler neuronaler Ceroid-Lipofuszinose, 5 systemischem Lupus erythematodes, 5 Deletion 22q11.2. Wie b ei a llen neur opsychiatrischen S yndromen im R ahmen organischer Störungen hat die kausale Ā erapie der G runderkrankung P riorität. Symptomatisch er folgt die B ehandlung von Halluzinosen und o rganischen wahnhaften S törungen mi t ho chpotenten N euroleptika, b ei stark a ngstbesetzten W ahninhalten zus ätzlich mit Benzodiazepinen. 3.11 Organische aggressive Störungen Mangels eig ener diagnostis cher K riterien f ür aggressive Handlungen im R ahmen organischer Psychosyndrome können zu deren Beschreibung, Diagnostik und Behandlung die entsprechenden Leitlinien f ür S törungen des S ozialverhaltens angewandt w erden. Dies e sind c harakterisiert durch ein M uster diss ozialen, ag gressiven o der aufsässigen Verhaltens mi t Verletzungen al tersentsprechender s ozialer Er wartungen, w elches länger al s 6 Monate be steht. D ie S ymptomatik ist breit und reicht von oppositionellem, aufsässigem, p rovokativem und tr otzigem V erhalten über u ngewöhnlich hä ufige o der s chwere Wutausbrüche und erheb liche Destruktivität gegen- 27 3.11 Organische aggressive Störungen über G egenständen h in z u Gr ausamkeit ge genüber anderen Menschen oder Tieren. Eine wichtige U nterform a ggressiver Übe rgriffe s tellt b ei hirnorganischen Störungen gehäuft auftretendes sexuell-delinquentes Verhalten dar. Leicht ausgeprägte Störungen des S ozialverhaltens zeigen zusätzlich zu den für die Diagnose erforderlichen Symptomen nur wenige oder keine weiteren Symptome und gehen mit geringem Schaden für Dritte einher; demgegenüber treten bei s chweren S törungen eine V ielzahl w eiterer Probleme a uf und es k ommt zu erheb lichem Schaden für Dritte. ! Prognostisch und therapeutisch hilfreich sind die Unterscheidungen nach Beginn der Störung (vor oder nach dem 10. Lebensjahr) und nach klinischen Charakteristika (proaktiv-instrumentell versus reaktiv-impulsiv). 3 Bei Beginn vor dem 10. Lebensjahr sind wesentlich mehr Jungen als Mädchen betroffen, es sind häufiger k örperliche A ggression und g estörte Peer-Beziehungen zu b eobachten und die En twicklung zu einer diss ozialen P ersönlichkeitsstörung ist häufiger. Die Differenzierung v on in strumenteller, zielg erichteter A ggression und im pulsivreaktiver A ggression is t t herapeutisch hilf reich (. Tab. 3.1). Beide Formen zeigen u. a. bei Motivation, a ffektiver B eteiligung und a utonomvegetativer B egleitreaktion e igene C harakteristika. N ach H irnfunktionsstörungen s ind e her impulsiv-aggressive Verhaltensauffälligkeiten zu beobachten. Impulsive Aggression ist eher psycho- und p harmakotherapeutischen B ehandlungen zugänglich als zielg erichtete Aggression, der in ihren schweren Ausprägungen oft nur mit juristischen Sanktionen begegnet werden kann. . Tab. .. Charakteristika instrumenteller und impulsiver Aggression Instrumentell Impulsiv Motivation Sich einen Vorteil verschaffen Ausführen von Impulsen ohne ausreichende Handlungskontrolle Konsequenzen Eher Vorteile (z. B. materieller Gewinn oder Macht) Eher Nachteile Auslöser (Pro-) aktiv Reaktiv (auf vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung oder Provokation) Vorgehen Verdeckt Offen Kontrolle Kontrolliert Unkontrolliert Affekt Niedrig (emotionslos) Hoch Leitaffekte Selbstvertrauen, Machtgefühl Ärger, Wut, Angst Autonome Erregung Niedrig Aktivierung niedrig Reaktivität hoch Gewissensbildung Nein Beeinträchtigt Symptome Delinquentes Verhalten (z. B. Diebstahl, Erpressung, Drogenhandel) Aggressive, körperliche Konflikte 28 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Kapitel 3 · Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten Aggressives V erhalten findet sic h b ei einer Vielzahl v on H irnfunktionsstörungen un terschiedlicher Ä tiologie, etwa im R ahmen v on Hirntumoren (b esonders b ei f rontaler L okalisation), b ei E pilepsie, S chädel-Hirn-Traumata, tuberöser Sk lerose, nach f etalem Al koholsyndrom, P rader-Willi-Syndrom und Sa nfilippoSyndrom. Häufig sind organisch bedingte Wahninhalte Auslöser für aggressives Verhalten. Historisch interessant und oft angeführt wird der F all des Eis enbahnarbeiters Phine as Gag e, der im J ahr 1848 Op fer eines s chweren Unfalls wurde, b ei dem eine Eis enstange die r echte Augenhöhle und das dahin ter liegende Frontalhirn d urchstieß. Er üb erlebte dies e s chwerwiegende Verletzung und zeigt e zunäc hst er staunlicherweise ka um B eeinträchtigungen. S eine intellektuellen F unktionen s chienen v ollkommen unversehrt geblieben zu sein. Im Anschluss kam es j edoch zu einer s chleichenden Veränderung s einer P ersönlichkeit. Aus dem g ewissenhaften Arb eiter und f ürsorglichen F amilienvater wurde eine Person, die ihre Pflichten immer mehr v ernachlässigte und sic h ka um no ch um seine Familie kümmerte. Ausgehend von dieser Krankengeschichte un tersuchten die N eurobiologen Hannah und Antonio Damasio Patienten, die eine v ergleichbare H irnschädigung erli tten hatten, und k onnten belegen, dass tra umatische Schädigungen im B ereich des r echten Orb itofrontalhirns zu einem V erlust der F ähigkeit zur Hemmung s ozial uner wünschter V erhaltensweisen f ühren. Trotz no rmaler I ntelligenz und gegebener moralischer Einsichtsfähigkeit in die Bewertung von Verhaltensweisen sind die P atienten nicht in der L age, sich entsprechend dieser moralischen Bewertung zu verhalten (Damasio et al. 1990). Bemerkenswert sind die Ergebnisse von zwei Einzelfallstudien an Kleinkindern, die ihre Schädigung im rechts-orbitofrontalen Bereich bereits im Al ter v on 3 b zw. 15 Monaten erli tten, als o in einer Z eit, in der no ch k eine Moralentwick- lung oder Gewissensbildung stattgefunden hatte (Anderson et a l. 1999). Dies e b eiden Patienten, zum Z eitpunkt der N achuntersuchung 20 b zw. 23 Jahre al t, ha tten im G egensatz zu den P atienten mit zeitlich späterer Schädigung massivere Verhaltensauffälligkeiten und wa ren im V erlauf ihrer Entwicklung auch nicht in der L age gewesen, überhaupt eine Vorstellung von moralischen Kategorien zu entwickeln. ! Interessant ist, dass bei antisozialen Persönlichkeitsstörungen ohne traumatische Hirnschädigungen ebenfalls Auffälligkeiten im präfrontalen Kortex belegt sind (reduziertes Volumen, reduzierte Durchblutung, reduzierte Aktivität). Psychotherapeutische An sätze ha ben die E tablierung al ternativer Verhaltensweisen, etwa in Antiaggressionstrainings und P roblemlösetrainings, zum Ziel; ergänzend ist ein Elterntraining mit Anlei tung zur V erhaltensbegrenzung sinnvoll. Gemeindenahe Programme in Schulen und Jugendhäusern und die r echtzeitige Ein schaltung der J ugendhilfe (b is hin zur a ußerfamiliären U nterbringung) sind sinn voll (S cheithauer et al. 2003). Nondirektive, tiefenpsychologisch fundierte oder psychoanalytische B ehandlungsansätze sind nic ht wirks am (B restan u . E yberg 1998). Eine medika mentöse M itbehandlung sollte nic ht nic ht a us P rinzip un terlassen, s ondern vor allem bei impulsiver Aggression erwogen werden, etwa mi t Stimulanzien, niedr igpotenten und a typischen N euroleptika (in sbesondere Risperidon), Lithium oder Valproat. Neben der k linischen Diagnostik und Behandlung ist der J ugendpsychiater gu tachterlich b ei der f orensischen B ewertung ag gressiver D elikte inf olge v on H irnfunktionsstörungen i nvolviert. G egenstand d er B egutachtung ist meist die F rage, ob der J ugendliche das Delikt b edingt durch die H irnfunktionsstörung im Zustand der Schuldunfähigkeit oder der verminderten S chuldfähigkeit b egangen ha t. Eine erhöhte Reizba rkeit und v erminderte B elastbarkeit durch Stress infolge von Hirnfunktionsstörungen können u. U. als krankhafte s eelische Störung im Sinne der §§ 20 und 21 StGB angesehen werden. 3.12 Syndromaler Autismus Bei einer Reihe v on organischen Erkrankungen mit Hirnfunktionsstörung findet sich eine Überlappung mit Symptomen einer a utistischen Störung en tsprechend den K riterien der I CD-10. Zum einen w eist Autismus eine en ge Komorbidität mit vielen weiteren psychischen Störungen und k örperlichen Erkra nkungen a uf, in sbesondere mi t g eistiger B ehinderung in mindest ens 30% und mit Epilepsie in ca. 20% der Fälle. Zum anderen geht Autismus in 10–15% der F älle mit organischen Erkra nkungen sp ezifischer Ätiolo- 3 29 3.12 Syndromaler Autismus gie o der mi t ob jektivierbaren mo nogenen S törungsbildern einher, bei denen n ur ein einzig es Gen v erändert ist und der en g enetische U rsachen schon bekannt sind. Diese Fälle werden als syndromaler Autismus b ezeichnet. Ob die o rganischen Erkrankungen in diesen Fällen die Ursache der autistischen Symptomatik sind, ist nicht in allen F ällen klar. Dafür spricht, dass z. B. bei Phenylketonurie das A uftreten v on A utismus verhindert werden kann, wenn postnatal innerhalb von 6 Wochen eine phenylanalinarme Diät eingeleitet wir d. D agegen sp richt die B eobachtung, dass es nich t r egelhaft b ei den je weiligen organischen Erkrankungen zu a utistischen Verhaltensweisen kommt. So wird etwa die tuberöse Sklerose nich t in a llen F ällen, s ondern j e nach untersuchter S tichprobe in 40–80% v on einer Autismusspektrumstörung begleitet (Poustka et al. 2004). Für die Diagnosestellung des frühkindlichen Autismus wesentliche Kernsymptome (nach ICD-10) . Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion – Unfähigkeit, soziale Interaktionen durch nichtverbales Verhalten zu regulieren (Blickkontakt, soziales Lächeln, subtiles Mienenspiel, mimischer Ausdruck von Gefühlen; interaktionsbegleitendes Mienenspiel fehlt weitgehend) – Unfähigkeit, Beziehung zu Gleichaltrigen aufzunehmen (ausgeprägter Mangel an Interesse an anderen Kindern, an Phantasiespielen mit Gleichaltrigen; fehlende Reaktion auf Annäherungsversuche anderer; Unfähigkeit, Freundschaft einzugehen) – – Mangel an Aufmerksamkeit oder Freude, die mit anderen geteilt wird (andere werden nicht auf Dinge gelenkt, um sie dafür zu interessieren) Mangel an sozioemotionaler Gegenseitigkeit (Annäherungsversuche des Kindes und seine Reaktionen in sozialen Situationen sind unangemessen oder unpassend; Gefühlsäußerungen, wie jemand zu trösten, fehlen; andere Personen scheinen wie Gegenstände benutzt zu werden) 6 30 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Kapitel 3 · Organische psychiatrische Syndrome und Verhaltensauffälligkeiten . Qualitative Auffälligkeit der Kommunikation und Sprache – Bei der Hälfte der Kinder mit frühkindlichem Autismus entweder keine oder unverständliche Sprache – Keine Kompensation der mangelnden Sprachfähigkeiten durch Mimik oder Gestik, kein spontanes Imitieren der Handlungen anderer, insbesondere bei Kindern unter 4 Jahren, später kein spontanes oder phantasievolles Spielen bzw. Symbolspielen – Stereotype, repetitive oder idiosynkratische sprachliche Äußerungen (neologistische Wortbildungen, Vertauschung der Personalpronomina, verzögerte Echolalie, kein sprachlicher Austausch im Sinne einer informellen Konversation) 10 . Repetitive, restriktive und stereotype Verhaltensmuster – Ausgedehnte Beschäftigung mit stereotypen, ungewöhnlichen Handlungen und eng begrenzten Spezialinteressen (zwanghaftes Festhalten an nicht funktionalen Handlungen oder Ritualen, extrem ängstliche oder beunruhigte Reaktion beim Unterbrechen dieser Handlungen) – Stereotype und repetitive motorische Manierismen (Drehen oder Flackern der Finger vor den Augen, Schaukeln, Aufund-ab-Hüpfen) – Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionellen Elementen von Gegenständen (ungewöhnliches Interesse an sensorischen Teilaspekten wie am Anblick, Berühren, an Geräuschen, am Geschmack oder Geruch von Dingen oder Menschen) 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 An monogenen Störungsbildern, die mit syndromalem Autismus einhergehen, sind insbesondere zu nennen das F ragile-X-Syndrom, das Ret tSyndrom, die tuberöse Sklerose, das Smith-Lemli-Opitz-Syndrom und das C ohen-Syndrom. Zudem exist iert eine k leine Z ahl v on s eltenen, angeborenen S toffwechselerkrankungen, bei denen das A uftreten von Autismus, atypischem Autismus o der a utistischen V erhaltensweisen beschrieben wir d. N ur b ei zw ei dies er Erkra nkungen, dem S mith-Lemli-Opitz-Syndrom und der Phen ylketonurie, ist die A ssoziation mi t Autismus unzw eifelhaft b elegt (vg l. die Üb ersicht b ei H oltmann et al . 2006c). S tudien mi t gleicher W ertigkeit exist ieren da rüber hina us noch für den sog. Purinautismus; allerdings sind die sp ezifischen Stoffwechseldefekte b ei b etroffenen Patienten nicht exakt definiert. Beim syndromalen A utismus ist wa hrscheinlich, dass die a utistische S ymptomatik d urch die s chwere Begleiterkrankung (mit-)verursacht wird. Demgegenüber ist die g enaue Ätiologie der ca. 90% mit idiopathischem Autismus noch unklar.