61 Literarisches Sinnbild Der in Braunschweig lebendigen Literatur(-geschichte) wird mit einem Palast gehuldigt; inmitten der Stadt, auf literaturhistorischem Boden: im Schnittpunkt der Achsen zwischen dem Grab Lessings, dem letzten Wohnort Raabes und dem Ankunftsort der Besucher. Für die Menschen dieser Stadt und die Gäste aus Europa. Wollte man dem vorgeblendeten Tympanon des Dichterpalastes von Robert Venturi eine »Inschrift« geben, so würde sich »Das Wort für die Freiheit« eignen: Campes Setzungen für eine neue Pädagogik, Hoffmann von Fallerslebens Eintritt für die politische Demokratisierung, Ricarda Huchs Plädoyer für die Freiheit der Literatur angesichts des Nationalsozialismus – Etappen einer reichen und facettenreichen Literaturgeschichte. Musikalischer Klangraum Mit der Projektidee »Festspielhaus für Neue Musik – Konzertsaal des 21. Jahrhunderts« wird ein an den Erfordernissen von Akustik und den Bedürfnissen des Publikums orientierter Architektenentwurf vorgestellt. Eine andere musikalische Traditionslinie greift das Land Niedersachsen mit der Errichtung der Landesmusikakademie in Wolfenbüttel auf. Literarisches Sinnbild – Musikalischer Klangraum Der amerikanische Architekt Robert Venturi, vor allem durch »Complexity and Contradiction« und »Learning from Las Vegas« als Wegbereiter der Postmoderne bekannt, hat einen fulminanten Projektvorschlag für den Braunschweiger Dichterpalast erarbeitet. Er stellt seinem Gebäude eine dünne, fast immaterielle Tempelscheibe zuvor; eine große Geste, die in ihrer kulissenartigen Verwendung sich gleichsam selbst parodiert; eine ironische Interpretation des Themas »Präsenz der Zeit«. Der Dichterpalast soll den Auftakt verschiedener städtebaulicher Inszenierungen und Interventionen bilden, die den Weg vom Hauptbahnhof zur Stadtmitte für den Besucher erlebbar machen werden. 2 3 1 Der Dichterpalast 2 Das Grab Lessings 3 Das Raabe-Haus 4 Der Hauptbahnhof 1 4 Entwurf: Robert Venturi 63 Der Dichterpalast Ein Literaturhaus auf Zeit »Nathan, der Weise«, »Robinson Crusoe« und »Till Eulenspiegel« – diese literarischen Figuren sind weltbekannt und, in der einen oder anderen Weise, allesamt Braunschweiger. Selbst Faust, der seine Uraufführung in Braunschweig erlebte, gesellt sich zu der illusteren Runde, zumal er in seinem unstillbaren Verlangen nach Wissen und Erkenntnis auch das aufgeklärte Bürgertum des damaligen Fürstentums repräsentieren könnte. Die unterschiedlichen Figuren künden vom literarischen Reichtum der Region, die namhafte Autoren hervorbrachte und dem wohl berühmtesten zur späten Heimat wurde. Zu diesem Literatenkreis gehören Hermann Bote, Schöpfer des spitzzüngigen »Till Eulenspiegel«, Joachim Heinrich Campe, der Vater des »Neuen Robinson Crusoe« und Begründer der Jugendliteratur, Gotthold Ephraim Lessing, Hoffmann von Fallersleben, der Dichter des Deutschlandliedes, der Reiseschriftsteller und erste Kartograph des Mississippi, Friedrich Gerstäcker, der bedeutende Realist Wilhelm Raabe und die streitbare Schriftstellerin Ricarda Huch, Verfechterin einer freien Literatur in der Zeit der Bücherverbrennungen und der kulturellen Gleichschaltung unter dem Nationalsozialismus. Diese literarische Landschaft mit ihren Wissens- und Erfahrungsschätzen gilt es im geplanten Dichterpalast neu zu entdecken. Der »Standort« des temporären Dichterpalastes in »Viewegs Garten« und damit auf literaturhistorischem Grund, direkt vor dem letzten Wohnhaus Wilhelm Raabes, markiert nicht nur einen schwierigen städtebaulichen Raum gegenüber dem Hauptbahnhof, sondern auch »urliterarisches« Terrain: Dieses Stadtgebiet wurde bis in das 19. Jahrhundert »Krähenfeld« genannt. Ein Stadtquartier, in dem Wilhelm Raabe lebte, das er liebte, das Eingang in sein Werk fand und wo auch Lessings Grab liegt. Raabe starb in unmittelbarer Nachbarschaft des zu errichtenden »Dichterpalastes«, in der Leonhardstraße, wo heute noch ein kleines, aber mit (literarischem) Leben erfülltes Museum an ihn erinnert, das »Raabe-Haus«. »Viewegs Garten«, heute ein öffentlicher Park, ehedem im Besitz der Verlegerfamilie Vieweg, erinnert gleichermaßen an die Verlagstradition der Stadt. In der Universitätsbibliothek Braunschweig (TU) wird das umfangreiche Archiv des Verlags aufbewahrt. Das am Hauptbahnhof Braunschweig zu errichtende Literaturhaus auf Zeit ist als Raumskulptur konzipiert, die den Blick der Besucher einfängt und deren Neugier weckt und den Besucher bei Ankunft am – eher uncharmanten – Bahnhof in Empfang nimmt. Ein Ort des Lesens, des Zuhörens und Nachdenkens. Als Begründerin einer der wichtigsten Jugendbuchwochen, als Urheberin des ältesten Jugendliteraturpreises in Deutschland, des Friedrich-Gerstäcker-Preises, legt die Stadt Braunschweig besonderen Wert auf das geschriebene Wort für Kinder und Jugendliche. Dementsprechend finden die jungen Leser und Autoren im Dichterpalast ein eigenes Forum mit einem europaweiten Internet-Schreibprojekt und einem Chatroom, in dem sie sich über Literatur austauschen können. Bedeutende Illustratoren von Kinder- und Jugendbüchern aus ganz Europa runden den inhaltlichen Kontext ab. Das ganzjährige Veranstaltungsprogramm im Jahr 2010 weist drei inhaltliche Schwerpunkte auf: Unter dem Thema »Nathan ist ein Braunschweiger« finden wechselnde Ausstellungen und Veranstaltungen rund um die Literaturgrößen der Region und ihre weltweite Ausstrahlung statt. Den Blicken der Welt auf die Region widmet sich ein Dialog mit zahlreichen Schriftstellern aus dem Ausland sowie ein Internet-Roman, der gemeinsam von Autorinnen und Autoren aus den Partnerstädten geschrieben und als »work in progress« über das gesamte Jahr im Palast zu verfolgen sein wird. Der Programmteil »Pegasus gefangen – oder: die verbrannten Federn« wirbt für eine Skizze: Robert Venturi Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit. Er setzt ein Zeichen für die Freiheit des Wortes, denn jährlich werden weltweit mehr als 600 Übergriffe auf Schriftsteller und Journalisten bekannt, die für das Recht auf freie Meinungsäußerung mit Verfolgung und gewaltsamer Einschüchterung bezahlen. Die Kulturhauptstadt Europas 2010 nimmt die Möglichkeiten des Wortes als Instrument gegen gesellschaftliche und politische Missstände ernst. Verfechter einer streitbaren, gesellschaftspolitisch ambitionierten Literatur werden deshalb im Dichterpalast ein Forum erhalten, um ihr Anliegen vorzutragen. In bester Nathanscher Tradition verwandelt sich Braunschweig in eine Area of Refuge. Und schon Johann Heinrich Campe schrieb an Eduard Vieweg: »Nur zu Braunschweig lebt man frei und glücklich, auch will ich Braunschweig gegen Himmel vertauschen, und kein anderes Land als dieses soll meine Asche in seinem Schoß verwahren«. Literarisches Sinnbild – Musikalischer Klangraum Festspielhaus für (Neue) Musik – Konzertsaal des 21. Jahrhunderts Alle Abbildungen: 5elf Architekten, Hannover Festspielhaus für (Neue) Musik Konzertsaal des 21. Jahrhunderts in Viewegs Garten Festspielhaus für (Neue) Musik/Konzertsaal des 21. Jahrhunderts Dynamischer Saal Das geplante Festspielhaus ist als idealer Konzertsaal für herkömmliche Aufführungen konzipiert, aber auch als ein einzigartiger Aufführungsort für die räumlichen und akustischen Erfordernisse Neuer Musik. Zugleich ist es multimediales Zentrum für grenzüberschreitende Ausstellungen und Installationen von Musik über Bildende Kunst bis hin zu Film und Fotografie. Das Haus bietet nicht nur vielfach größen-variable Proben- und Aufführungsorte für den Konzertbetrieb, sondern auch für die musikpädagogischen Institutionen Braunschweigs. Es ist auch Spielstätte für Musiktheater, Tanzund Theaterformen. Kern des Architekturkonzepts ist der bewegliche Saal. Ausgehend von einer traditionellen und akustisch perfekt beherrschbaren Form löst sich die klassische Typologie des Konzertsaals auf. Der Raum wandelt sich und mit ihm wandelt sich, dem Klangverhalten eines Instrumentes entsprechend, sein eigenes Klangverhalten. Musik und Architektur Insbesondere die zeitgenössische Musik, eine Musikform, die sich selbst von sämtlichen historischen Konventionen befreit hat, steht heute einer durchaus historischen Aufführungs-Architektur gegenüber. Der »Konzertsaal des 21. Jahrhunderts« bietet hier ein neues architektonisches Konzept, das sich an den Bedürfnissen Neuer Musik orientiert. Für die Finanzierung der in Europa bislang einzigartigen Projektidee werden die finanziellen Zuschuss-möglichkeiten (Bundeskulturstiftung, Land Niedersachsen, EU- und Sponsorenmittel) geprüft. 65 Villa Seeliger Abbildung: Stadt Wolfenbüttel Foto: Tomas Liebig Die Landesmusikakademie Lernen für den guten Ton Eine andere musikalische Traditionslinie greift das Land Niedersachsen mit der Errichtung der Landesmusikakademie in Wolfenbüttel auf. Die wohl wichtigsten musikhistorischen Impulse gehen im 16. Jahrhundert von Michael Praetorius aus, der als Hofkapellmeister in Diensten von Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg wirkte. Als zentrale Erscheinung der deutschen Musikgeschichte stellte Praetorius das musiktheoretische Wissen und die Musikpraxis seiner Zeit dar. Der Fortsetzung dieser Aufgabe hat sich die Landesmusikakademie verpflichtet. Das musikalische Lernen in der Region gewinnt durch die geplante Ansiedlung der niedersächsischen Landesmusikakademie in Wolfenbüttel einen neuen Stellenwert. Für die Wahl des Standorts war die bedeutende, durch die welfischen Herzöge begründete Musiktradition der Stadt ein entscheidender Faktor. 1571 wurde in der kulturell aufblühenden Residenzstadt die erste »Hofkapelle« ins Leben gerufen. Alle fürstlichen Hofkapellmeister, wie beispielsweise Michael Praetorius, wirkten zugleich als bedeutende Komponisten, deren Werke weit reichende Wirkungen im deutschen Sprachraum erzielten. Ihr breites Repertoire umfasste Instrumentalmusik zur höfischen Unterhaltung, Kammermusik, französische, italienische und deutsche Opern sowie Chormusik zur Ausschmückung der Gottesdienste. Nach Wegzug des Hofes bildete sich in Wolfenbüttel im 19. Jahrhundert eine weit verzweigte bürgerliche Musikkultur heraus, die bis heute in einer Vielzahl von Gesangvereinen und Laienorchestern fortlebt. Hieran knüpft die Landesmusikakademie an, die sowohl den regionalen und überregionalen Ensembles der Vokal- und Instrumentalmusik als auch den Trägern verschiedener musikalischer Lehrgänge als Weiterbildungsstätte dienen soll. Ihre Nutzung steht dem Landesmusikrat und seinen 53 Mitgliedorganisationen offen, um hier eine innovative musikalische Jugend- und Erwachsenenbildung in Breite und Spitze zu betreiben. Das Angebot reicht von Kammermusik-Förderkursen über Lehrgänge für Chorleiter sowie für Ausbilder und Dirigenten von Instrumentalensembles bis hin zu Rock- und JazzSeminaren. Hierbei können durch die Kooperation mit den in Wolfenbüttel vorhandenen musikalischen Institutionen – Fachbereich Musik der Bundesakademie für kulturelle Bildung, Arbeitsgemeinschaft Deutscher Chorverbände und Arbeitskreis Musik in der Jugend – Synergieeffekte erzielt werden. Der Neubau des Akademiegebäudes und eines städtischen Gästehauses in fußläufiger Entfernung gewährleistet optimale räumliche Arbeitsbedingungen sowie eine angemessene Unterbringung und Verpflegung der Teilnehmer. Als repräsentativer Sitz des Landesmusikrats und der Akademieverwaltung ist die Seeliger-Villa in der Nähe des Wolfenbütteler Schlosses vorgesehen. Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers (Mahler)