Grenzen und Räume – Formen und Wandel

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Joachim Becker – Andrea Komlosy
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
Grenztypen von der Stadtmauer bis zum „Eisernen Vorhang“
Grenze erweckt vielfältige Assoziationen. Gartenzäune, Stadtmauern, Zollstationen,
Sperranlagen stellen ganz unterschiedliche Formen von Grenze dar, die im Menschen
positive wie negative Gefühle ansprechen können. Grenze steht – nicht zuletzt bedingt
durch jene Seite, von der aus man sie betrachtet – gleichermaßen für Schutz und für
Ausgrenzung, für Ein- und für Ausschluss. Auch ihr Gegenteil, die Grenzenlosigkeit,
kann sowohl mit Freiheit und Offenheit als auch mit der Einebnung von Vielfalt und
Differenz gleichgesetzt werden. Fest steht: Grenzen konstitutieren die soziale Welt und
existieren sowohl in der Wirklichkeit als auch in deren Interpretation und Aneignung.
Als historisches Phänomen unterliegen ihre Verläufe, ihre Ausgestaltung und ihre Handhabung permanentem Wandel. Eine spezifische Grenze lässt sich errichten, verschieben
oder abschaffen, als allgemeines Phänomen ist Grenze jedoch immer vorhanden. So
gesehen ist Grenze eine universale Kategorie, die Mensch, Natur und Gesellschaft betrifft. Damit ruft sie geradezu nach vergleichender Betrachtung.
Wenn Grenze allgegenwärtig ist, haftet ihr dennoch ganz und gar nichts Natürliches
an. Oft decken sich Grenzen mit Küstenlinien, Bergkämmen oder Wasserläufen, weil
diese naturräumlichen Barrieren die Siedlungstätigkeit der Menschen beeinflusst haben. Wenn die Natur als Argument für einen Grenzverlauf beansprucht wird, dann stehen in der Regel gleichwohl handfeste politische Interessen dahinter. Aus der Perspektive eines Staates, dessen Territorium über solche geographisch vorgegebenen Barrieren
hinausreicht, wird die Natürlichkeit der Grenzen niemals als Argument angeführt.
Grenzziehungen und Grenzveränderungen zwischen politischen Einheiten sind das
Resultat innerer und äußerer Kräfteverhältnisse. Jede räumliche Verschiebung dieser
Kräfteverhältnisse spiegelt sich im Verlauf der Grenze wider. Raum und Grenze müssen
also immer in ihrer Wechselwirkung betrachtet werden (Febvre 1988:32; Prescott 1987).
Jeder politische, wirtschaftliche und kulturelle Raum wird durch soziales Handeln konstituiert. Dabei muss der soziale Zusammenhalt nicht unbedingt ein flächenhafter sein,
sondern kann sich auf Personen und punktuelle Orte beziehen, also ein Raumfragment
darstellen. Fragmentiertes Territorium impliziert andere Formen der Grenzziehung als
flächenhaftes Territorium. Tendenziell lässt sich mit der Herausbildung moderner Formen der Staatlichkeit eine flächenhafte Ausgestaltung des Territoriums, die Akzentuie-
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rung von dessen Außengrenze und eine Linearisierung der Grenze beobachten. Es gibt
aber immer auch gegenläufige Tendenzen. Weiters übt die flächenhafte Territorialisierung
von Staatlichkeit einen maßgeblichen Druck zur Anpassung wirtschaftlicher und kultureller Gemeinsamkeiten aus. Wo herrschaftliche, wirtschaftsräumliche, sprachliche und
religiöse Grenzen nicht mit den Staatsgrenzen übereinstimmen, brechen Spannungsverhältnisse auf, die einerseits die Expansion des staatlichen Territoriums bis an die Grenzen der Kultur- und Wirtschaftsräume, andererseits die Assimilierung von ethnischen
und religiösen Minderheiten mit einer dominierenden Staatssprache oder Staatsreligion
verlangen.
Der vorliegende Beitrag nähert sich der Einheit von Raum und Grenze zunächst von
der Grenze aus. Dabei werden Eigentumsgrenzen, politische Grenzen, wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Grenzen, Wohlstands-, Block- und Systemgrenzen berücksichtigt. In jedem Fall interessieren uns Ausgestaltung und Verlauf, Steuerungsinteressen,
Geltungsbereich, Durchlässigkeit und Kontrolle. Neben dem trennenden Aspekt der
Grenze wird die Frage nach ihren verbindenden Funktionen gestellt. In der Praxis lassen
sich, wie die nachfolgenden Beiträge zeigen werden, die einzelnen Funktionen der Grenze
nicht klar auseinanderhalten. Grenzen sind multifaktorielle Phänomene, deren einzelne
Elemente einander verstärken, aber auch miteinander in Konflikt stehen können. Für die
Analyse konkreter Grenzziehungen erweist es sich jedoch als nützlich, das Bündel zusammengesetzter Faktoren auf seine Einzelbestandteile hin zu untersuchen (Heigl 1978).
Der zweite Teil des Beitrages erschließt Grenze schließlich vom Staat aus, dessen
historischer Formwandel und unterschiedliche Ausprägungen in den Zentren und Peripherien der Weltwirtschaft chronologisch dargestellt werden. Die Außengrenze des Staates
steht in engem Zusammenhang mit innerstaatlichen Grenzen und trans- oder supranationalen Formationen. Ebenso lässt sich die Staatsgrenze nicht auf ihren politischen
Aspekt reduzieren, sondern spiegelt ökonomische Kräfteverhältnisse innerhalb und
zwischen den Staaten und vermittelt soziale und kulturelle Unterschiede. Auch dieser
Teil versteht sich als Grundlage zum besseren Verständnis und zur Einordnung der verschiedenen Beispiele von Grenzziehungen, die örtlich und zeitlich je unterschiedliche
Formen des Zusammenspiels von Raum und Grenze zutage bringen. Typologie und
Chronologie wollen dazu beitragen, die vorgestellten Fallbeispiele in einem raum-zeitlichen Systemzusammenhang wahrzunehmen.
Typen von Grenzen
Grenzsteine und Stadtmauern
„My home is my castle“, kann als anthropologische Grundkonstante gelten, denn jeder
Mensch braucht Haus, Heim und abgegrenzte soziale Räume zum Leben. Unabhängig
von Lebensform und Gesellschaftssystem spielen Mauer und Schwelle des Hauses eine
zentrale Rolle und vermitteln Schutz und Sicherheit (Greverus 1969; Weichhart 1999).
Zum Haus kommt die kollektive Abgrenzung der menschlichen Siedlung zur Wildnis
hinzu (Strohmeier 1995). Eine anthropologische Begründung privaten Eigentums lässt
sich aus den Feldforschungen in Stammesgesellschaften nicht ableiten. Sobald wir jedoch Gesellschaften betrachten, in denen es Privateigentum gibt, dienen Grenzen nicht
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nur zur Abgrenzung von Lebensbereichen, sondern auch von Besitz. Grundstücksgrenzen,
Herrschaftsgrenzen, Gemeindegrenzen bilden den zentralen Gegenstand von Vertrag,
Markierung, Konflikt und Rechtssprechung. Dennoch hat die lineare Grenze des Mittelalters nichts mit der modernen Grenzlinie zu tun (Komlosy 1995:387f; Medick 1993:199;
Schmale/Stauber 1998:13ff). Die Stadtgrenze als die – wohl augenscheinlichste – Grenze
des Mittelalters umgab zwar einen bestimmten Raum, betraf in ihrer rechtlichen Bedeutung jedoch nur jene Bewohner der Stadt, die als Bürger galten. Sie war linear, aber
keineswegs exklusiv. Sie legte positive Rechte für Bürger fest, die für andere Stadtbewohner nicht galten. Damit verband sich die räumliche mit einer sozialen Grenze.
Ökonomische, soziale und kulturelle Grenzen
Bei ökonomischen, sozialen und kulturellen Grenzen fallen uns Natur- und Wirtschaftsräume ein, die Regionen eine bestimmte Prägung verleihen; wir denken auch an die
Einzugsgebiete von Märkten, die über den Handel räumlich begrenzte Handlungshorizonte eröffnen; an den Geltungsbereich von bestimmten Währungen; an Ethnie,
Sprache, Religion und andere kulturelle Praktiken, die unter den Angehörigen einer
Gruppe ein Wir-Gefühl erzeugen, das sie von anderen unterscheidet. Ökonomische, soziale und kulturelle Grenzen unterscheiden sich prinzipiell von Staatsgrenzen. Meist
sind sie weniger eindeutig gezogen, sondern zeichnen sich durch Abstufungen, Schattierungen und fließende Übergänge aus, die ihre Formen unter neuen Rahmenbedingungen rasch ändern. Auch wenn sie scharf und exklusiv gezogen sind, ist ihr Verlauf in
erster Linie sach-, kontext- oder personenbezogen (Komlosy 2003:210-220). Solche
Grenzen können zwischen gesellschaftlichen Gruppen verlaufen, die sich in Bezug auf
Reichtum, Beruf oder kulturelle Ausdrucksformen unterscheiden und müssen keinen
räumlichen Bezug haben. Es gibt aber auch viele Beispiele für ökonomische und kulturelle Grenzen mit klaren räumlichen Zuordnungen, wie etwa ein klar umgrenztes, naturräumlich bestimmtes landwirtschaftliches Produktionsgebiet, eine Region mit ganz bestimmtem Brauchtum oder eine homogene Sprachinsel. Die lineare Grenze ist in allen
diesen Fällen anlassbezogen: Sie gilt für ein bestimmtes Phänomen, für andere Belange
ist sie ohne Bedeutung. So gesehen ist die soziale Welt von einem Netz vielfältiger,
inkongruenter Grenzen durchzogen. Wenn in Bezug auf alle beliebigen gesellschaftlichen Unterschiede von „Grenze“ gesprochen wird, läuft diese aber auch Gefahr, zu
einem Allerweltsphänomen zu werden.
Ohne Bezugnahme auf naturräumliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Grenzen ergibt die Diskussion um politische Grenzen im Raum allerdings keinen Sinn. Denn
einerseits spiegeln Verlauf und Handhabung politischer Grenzen naturräumliche Voraussetzungen für Siedlung und Befestigung, historische Festsetzungen und Veränderungen sowie politische Macht- und ökonomische Kräfteverhältnisse wider. Politische Grenzen kamen in der Geschichte meist ohne Rücksicht auf jeweils bestehende wirtschaftliche und kulturelle Gemeinsamkeiten zustande. Selbst wenn sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt deckten, entwickelten sich politische, wirtschaftliche und kulturelle Grenzen
in unterschiedlicher Weise weiter. Andererseits bedürfen politische Territorien zu ihrer
Legitimierung identitätsstiftender Eigenschaften. Im Zeitalter der Fürstenstaaten stand
dabei der dynastische Anspruch im Vordergrund, der durch Gründungslegenden und
religiösen Auftrag legitimiert wurde. Auch natürliche Grenzen, gemeinsame Kultur und
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zivilisatorische Aufgaben wurden bemüht, um Herrschaft und Expansion zu rechtfertigen. Es bestand allerdings kein Anspruch auf Deckungsgleichheit zwischen Staats-,
Wirtschafts- und Kulturraum.
Erst die Bemühungen zur Schaffung eines Staatsbürgerverbandes unter einheitlicher zentraler Verwaltung erforderte die Legitimierung der staatlichen Zugehörigkeit
durch ein Gemeinschaftsgefühl, das politisch (Staatsbürgerschaft und bürgerliche Rechte),
wirtschaftlich (Nationalökonomie) oder sprachlich-kulturell (gemeinsame Sprache und
Kultur), in der Regel jedoch durch eine Kombination all dieser Faktoren begründet wurde. Die nationalen Grenzen sollten per definitionem einen Staat umgeben, in dem politische Macht, wirtschaftliche Integration und gemeinsame Kultur übereinstimmten
(Anderson 1996:18-26; am französischen Beispiel: Braudel 1989:316-36; Guenée
1986:26; Nordman 1986). Kaum ein Staat entsprach dem Idealbild des Nationalstaates.
Die Herrschenden waren jedoch bemüht, Anspruch und Wirklichkeit zur Übereinstimmung zu bringen: durch Assimilierung anderssprachiger Bewohner, z.B. die Bewohner
der Bretagne oder des Languedoc in Frankreich; durch Umsiedlung oder Missionierung
von Andersgläubigen, wie der Protestanten oder der Griechisch-Orthodoxen in der
Habsburgermonarchie; sowie allerorts durch Vereinheitlichung des Binnenmarkts und
der Rechtsnormen. Die Maßnahmen unterschieden sich je nach Heterogenität, wirtschaftlichem Entwicklungsstand und Rolle des Staates in der internationalen Arbeitsteilung.
Ein voller Erfolg war nirgends beschieden. So klafften die ökonomischen und sozialen
Unterschiede sowohl innerhalb als auch zwischen den Staaten auseinander und beflügelten soziale Bewegungen dazu, nach Umverteilung und nachholender Entwicklung
zu verlangen. Ein zweiter Impetus für soziale Bewegungen entstand aus dem Auseinanderklaffen von Staatsgrenzen und Sprachgrenzen, insbesonders wenn sich Letztere mit
ökonomischen und sozialen Entwicklungsgefällen verbanden. Die Folge war die Entstehung nationaler Bewegungen, welche die Kongruenz politischer und ethnisch-sprachlicher Grenzen forderten – innerhalb des Staates, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie, oder zwischen den Staaten, indem einzelne Volksgruppen ihre Territorien nationalisierten, das heißt vom bisherigen staatlichen Zusammenhang abspalteten. Dieser Prozess begann in Ost- und Südosteuropa in Griechenland
(1821) und Serbien (1830) und erlebte weitere Wellen der Unabhängigkeitswerdung
nach 1878 (Berliner Kongress), 1918 (Friedensschlüsse nach dem Ersten Weltkrieg)
und 1989 (Ende des realen Sozialismus) (Anderson 1996:37-76; Hofbauer/Komlosy
2000). Dem erklärten Ziel der Nationalbewegungen, politische, wirtschaftliche und kulturelle Grenzen zur Übereinstimmung zu bringen, kamen die neuen Staaten nicht wirklich näher. Neue Grenzziehungen schufen neue Minderheitenprobleme.
Wieder anders stellt sich das Auseinanderklaffen zwischen sozialen und kulturellen
Grenzen und Staatsgrenzen in jenen Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas dar,
wo ererbte Kolonialgrenzen scharf in wirtschaftliche und soziale Lebensräume sowie in
bestehende Herrschafts- und Siedlungsgebiete eingeschnitten haben (Anderson 1996:77105; Bornträger 1999:29-60). Aufgrund der mangelnden Fähigkeit der kolonialen und
später der abhängigen Staaten, ihren Bürgern ein genügendes Auskommen zu gewährleisten, greifen diese auf Subsistenzwirtschaft und informelle Sektoren zurück, deren
Räume nicht mit den Staatsgrenzen übereinstimmen. Während staatliche Eliten die Legitimität des Staates durchsetzen wollen, was die Anerkennung der Grenzen voraus-
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setzt, operieren traditionelle und informelle Netzwerke grenzüberschreitend (Altvater/
Mahnkopf 2002).
Wohlstandsgrenzen
Betrachten wir nun Grenzen unter dem Aspekt von Trennung und Verbindung. Nur in
wenigen Ausnahmen dienen Grenzen dazu, ein bestimmtes Gebiet oder eine Gruppe
von Menschen völlig von anderen zu trennen. In der Regel legen sie das Verhältnis
zwischen beiden Seiten fest und bestimmen durch ihre Ausgestaltung über die Bedingungen des Kontakts, des Überschreitens und der Durchlässigkeit (Heigl 1978:46; Seger/
Beluszky 1993:14-25).
Dabei stellt sich die Frage, ob Grenzen Gleiches oder Ungleiches verbinden. Wenn
Grenzen den politischen Raum in Staaten, Provinzen und Bezirke unterteilen, stehen
einander auf jeder Ebene gleichartige Raumeinheiten gegenüber. Dasselbe gilt für wirtschaftliche und kulturelle Grenzen, die Regionen nach wirtschaftlicher Spezialisierung,
nach Klima und Naturraum und die Menschen nach Ethnie, Sprache, Religion oder
Beruf gruppieren. Die gegenseitige Abgrenzung zielt auch hier auf die gleichen Kategorien. In der Praxis zeigt sich, dass zwischen Räumen und sozialen Gruppen keine Gleichheit herrscht, sondern Differenz, die in unterschiedlichen Niveaus von Einkommen und
Wohlstand zum Ausdruck kommt. Treten diese Einheiten miteinander in Beziehung,
entsteht Interdependenz, die aufgrund der ungleichen Kräfteverhältnisse ein mehr oder
weniger starkes Ungleichgewicht darstellt. Damit wird die Grenze, die zwischen den
ungleichen Nachbarn verläuft, zur Wohlstandsgrenze – sie dokumentiert ein Gefälle. Im
Fall von sozialen Gruppen vermittelt sie zwischen unterschiedlichen Klassen, die durch
Abhängigkeit oder Ausbeutung verbunden sind. Im Fall von Räumen vermittelt sie zwischen Zentren und Peripherien, die durch ein Entwicklungsgefälle und den Werttransfer
von der Peripherie ins Zentrum geprägt sind.
Hier interessiert uns die Frage, wie eine Staatsgrenze zwischen Nachbarn vermittelt. Grundsätzlich hat ein Staat die Möglichkeit, den grenzüberschreitenden Waren-,
Kapital- und Personenverkehr zu regulieren (Beschränkungen von Ein- und Ausfuhr,
Ein- und Ausreise), zu besteuern (Zölle, Gebühren) und auf diese Art und Weise dessen
Auswirkungen auf die Binnenökonomie zu beeinflussen. Der Ort, an dem diese Maßnahmen umgesetzt werden, ist seit über 200 Jahren in der Regel die Grenze; selbst wenn
Zollämter, Pass- und Einwanderungsbehörden im Landesinneren liegen, markiert die
Grenzlinie den Geltungsbereich der staatlichen Politik.
Theoretisch ist es möglich, dass es sich bei zwei Nachbarstaaten um zwei gleich
starke Entitäten handelt, die das gleiche Interesse an der Durchlässigkeit bzw. dem Einsatz der Grenze als Steuerungsinstrument haben. In diesem Fall vermittelt diese zwischen gleichen Partnern und ermöglicht ein ähnliches Ausmaß von Durchlässigkeit in
jede Richtung. Im Extremfall kann die Grenze völlig offen, ungeschützt und unkontrolliert sein, wie dies lange Zeit etwa zwischen den Beneluxstaaten der Fall war und heute
im Verkehr zwischen den Schengen-Staaten üblich ist. Der gegenteilige Fall ist gegeben, wenn die Grenze den Kontakt zwischen den Nachbarn völlig unterbindet. Dies
war – mit Ausnahme der beiden Koreas – nicht einmal in den Jahren des „Kalten Krieges“ der Fall, da Waren- und Personenverkehr zwischen Ost und West in eingeschränkter Form immer stattfand; der Kontakt war jedoch zu Zeiten des „Eisernen Vorhangs“,
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vor allem was den Kapitalverkehr und die Reisefreiheit anbelangt, extrem eingeschränkt.
Abschottung bzw. Boykott werden im zwischenstaatlichen Verkehr immer wieder eingesetzt und führen dazu, dass manche Teile der Welt für andere gänzlich unzugänglich
sind. In diesem Fall ist die Grenze undurchlässig.
Die Praxis zeigt meistens Mischformen. Erstens ist eine Grenze in der Regel für
manche Beziehungen offen, während sie bei anderen Einschränkungen durchsetzt. Zweitens hat die Frage von Offenheit oder Geschlossenheit eine soziale Komponente, das
heißt bestimmte Regeln gelten nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen, z.B. Mittellose, während Wohlhabende frei passieren können. Drittens stellt sich die Durchlässigkeit
für jede Seite der Grenze unterschiedlich dar. Ein Staat möchte beispielsweise seine
qualifizierten Arbeitskräfte im Land halten und beschränkt daher deren Ausreise, der
andere ist an billigen ausländischen Arbeitskräften interessiert, öffnet ihnen seine Grenzen und unternimmt sogar Anwerbeaktionen. Ähnlich divergierende Interessen lassen
sich für Waren- und Finanzströme bestimmen. Die unterschiedliche Interessenlage spiegelt den unterschiedlichen Entwicklungsstand der beiden Nachbarn wider. Je höher der
Entwicklungsstand eines Landes, desto eher ist es an offenen Grenzen, also Freihandel,
und freiem Kapital- und Personenverkehr interessiert. Weniger entwickelte Staaten hingegen benötigen Protektionismus, um Wirtschaft, Know-how und/oder gesellschaftliche Modelle entwickeln zu können.
Politik mit der Grenze
Offene Grenzen erlauben den Unternehmen der wettbewerbsfähigen Ökonomien, nach
Belieben Waren aus peripheren Ökonomien einzuführen, Kapital zu exportieren und die
Arbeitskräfte vor Ort oder – als Fremd- oder Gastarbeiter – im eigenen Land einzusetzen. Auf diese Art und Weise bleibt die periphere Ökonomie freilich abhängig vom
Ausland; sie trägt durch ihr niedriges Lohnniveau zum Wachstum der Zentren bei und
bleibt selbst abhängig auf diese bezogen. Unter den Bedingungen kolonialer Herrschaft
kann sie diesem Verhältnis wenig entgegensetzen. Formelle staatliche Souveränität erlaubt es, der Abhängigkeit durch Förderung der Wirtschaft und Regulierung der Außenwirtschaftsbeziehungen politisch gegenzusteuern. Dadurch ergibt sich auch für den peripheren Staat formal die Möglichkeit, die Grenze als politisches Instrument einzusetzen. Diese Möglichkeit wird durch die Außenorientierung, die aus der peripheren Integration entstanden ist, freilich real erheblich reduziert. Der Spielraum bleibt also trotz
Souveränität beschränkt.
Die Regierung eines peripheren Staates kann im Prinzip zwischen einem assoziativen und einem dissoziativen Weg wählen (Senghaas 1982:41-58; Menzel 1988:9-24).
Assoziation bedeutet eine periphere Anbindung an die entwickelten Staaten. Anstatt auf
nachholende Industrialisierung setzt sie auf die Wahrnehmung von Zulieferfunktionen,
die periphere Ökonomien für die Zentren erbringen können: die Lieferung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln, der Export von Arbeitskräften oder, in jüngerer Zeit, die Bereitstellung von Erholungslandschaft und touristischen Dienstleistungen für die Bewohner der Zentren. Im Gegenzug bezieht eine abhängige Ökonomie Waren aus den
(post)industrialisierten Staaten, für deren kostengünstige Herstellung sie allenfalls auch
günstige Produktionsbedingungen anbietet. Ein solches Modell stellt andere Anforderungen an die Durchlässigkeit der Grenze: Die Peripherie darf keine Bedingungen für
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Waren- und Kapitalverkehr aus den Zentralräumen stellen und muss ihren Arbeitskräften ohne Auflagen den Wegzug in die Hochlohnländer gestatten – was freilich nicht
bedeutet, dass diese dort unquotiert und unkontrolliert zum Einsatz kommen. Im Gegenzug erhofft man sich Einnahmen aus dem Rohstoffexport, Investitionen in arbeitsintensive Sektoren und Rückflüsse aus Gastarbeiter-Ersparnissen.
Die Alternative zum assoziativen Weg besteht in einer nationalen Industrialisierungsstrategie, die die Auslandsabhängigkeit abbaut, Kapitalflüsse, Gewinnabflüsse, ungleichen Tausch und brain drain reduziert. Die Geschichte zeigt, dass die erfolgreichen
westlichen Staaten am Beginn der Industrialisierung auf Dissoziation gesetzt hatten.
Fast alle späteren Industriestaaten bauten ihre Industrie gegen indische und chinesische
Konkurrenten auf, die bis ins 18. Jahrhundert die Weltindustrieproduktion beherrschten
und erst durch imperialistische Vorstöße vom Weltmarkt verdrängt wurden (Frank 1998;
Wallerstein 1998). Und sie verteidigten ihren Vorsprung gegenüber anderen Mitbewerbern mit merkantilistischen Methoden. Der Freihandel wurde immer erst dann zum Leitbild erkoren, wenn ein Staat marktbeherrschend geworden war. Das war in Großbritannien in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in den USA in der Mitte des 20. Jahrhunderts der
Fall; während des eigenen Aufstiegs zur Führungsmacht setzten beide Staaten zur Förderung der nationalen Industrie auf Protektionismus und Zollschutz (Bairoch 2001).
In der Folge wurde der Schutz der nationalen Industrialisierung von rückständigen
europäischen Staaten und – nach Unabhängigkeitswerdung und Entkolonialisierung –
auch von den jungen Staaten der europäischen Peripherien, Afrikas, Asiens und Lateinamerikas betrieben. Sie setzten die Staatsgrenze zum Schutz der nationalen Industrie
ein und versuchten gleichzeitig zu verhindern, dass einheimische Arbeitskräfte in Länder mit höherem Lohnniveau auswanderten. Wenn Regierungen der Peripherie die westlichen Strategien zum Vorbild nehmen und ihrerseits Protektionismus betreiben, wird
ihnen von den Zentren Störung der internationalen Ordnung vorgeworfen. Diese wurde,
um den freien Handel im Sinne der starken Industriestaaten durchzusetzen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in hohem Maße durch internationale Finanz- und Handelsorganisationen wie Weltbank, IWF, GATT oder WTO ausgeformt und abgesichert.
Entwicklungsländern wird gleichzeitig die Regulierung ihrer Grenzen im nationalen
Interesse untersagt. Die Wettbewerbsregeln der internationalen Finanzorganisationen
gestatten im Dienste der freien Konkurrenz und damit der transnationalen Konzerne
jede (Markt-)Eroberung. Indem die entwickelten Staaten ihre Interessen verstärkt mittels internationaler Finanzorganisationen sichern, dient dies nicht zuletzt dazu, Staaten
der Peripherie eine eigenständige „Politik mit der Grenze“ unmöglich zu machen. Sie
machen „Grenzenlosigkeit“ und „Grenzüberschreitung“ zum ideologischen Bekenntnis. Die „Grenzenlosigkeits“-Ideologie richtet sich gegen die Versuche peripherer Staaten, die innere soziale und wirtschaftliche Entwicklung durch eine in ihrem Interesse
liegende Ausgestaltung von Durchlässigkeit und Übertrittsbedingungen der Staatsgrenze zu regulieren. Die Grenze als Instrument staatlicher Entwicklungspolitik und nachholender Entwicklung einzusetzen ist damit zum Tabu geworden. Damit hat sich unter
dem Deckmantel der „Grenzenlosigkeit“ ein Grenzregime durchgesetzt, das Grenzen
im Interesse der starken Kapitale öffnet, ohne den Entwicklungsländern zu gestatten,
auf die Bedingungen der internationalen Kapitalbewegungen Einfluss zu nehmen (Gill
1995; Brand u. a. 2000). Allerdings muss die Einflussnahme nicht unbedingt über inter-
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nationale Organisationen wie die WTO, regionale Blöcke oder die geplante Freihandelszone für die Amerikas (ALCA) laufen. Es ist auch durchaus möglich, dass über
bilaterale Handels- und Investitionsabkommen eine eigenständige Grenzpolitik unterbunden wird. Der Bilateralismus ermöglicht es Zentrumsstaaten, die jeweilige Machtasymmetrie sehr wirkungsvoll zum Einsatz zu bringen und Vorteile für das jeweilige
„nationale“ Kapital herauszuschlagen. Im Fall Lateinamerikas ist beispielsweise eine
Tendenz zu einer bilateralen Vertragspolitik seitens der USA erkennbar (Claes/d3e 2003).
Selektive Abkoppelung und nachholende Industrialisierung stehen nur in bestimmten historischen Situationen auf der Tagesordnung. Eine günstige Voraussetzung ergibt
sich immer dann, wenn die Staaten des Zentrums durch militärische Niederlagen und
gesellschaftliche Umbruchssituationen nach Kriegen am expansiven Zugriff auf die
Peripherie gehindert werden (Becker 1996). Auch Wirtschaftskrisen zwingen unter gewissen Bedingungen zur Rücknahme der internationalen Verflechtung. Das mangelnde
Interesse der Metropolen an den Peripherien kann für diese einen Freiraum eröffnen.
Eine Chance auf Abkoppelung und die Umsetzung nationaler Entwicklungsstrategien
entsteht dabei freilich nur für jene Staaten, die über eine ausreichende Ressourcenbasis,
eine einheimische Bourgeoisie, ein klares Entwicklungsziel sowie eine starke politische
Führung verfügen. Für Brasilien, Argentinien, Mexiko und die Türkei eröffnete die
Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre die Möglichkeit einer importsubstituierenden Industrialisierung, welche die einheimischen Unternehmungen vor überlegener ausländischer Konkurrenz schützte. Die Schwäche des Binnenmarkts sowie die Abhängigkeit
von Kapital, Technologie, Know-how und Absatzmärkten für Cash Crops setzte der
Abschottung vom Weltmarkt jedoch klare Grenzen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete die Entkolonialisierung auch für zahlreiche
ehemalige Kolonien die Möglichkeit, mittels einer staatlichen „Politik der Grenze“ das
Verhältnis zum Ausland neu zu regeln. Die starke Außenabhängigkeit der jungen Staaten erschwerte jedoch die Abnabelung von der ehemaligen Kolonialmacht bzw. wurde
rasch durch neue Weltmarktzwänge ersetzt. Es gab jedoch zahlreiche Fälle, wo protektionistische Maßnahmen gesetzt wurden, um die Exportorientierung durch den Aufbau
einheimischer wirtschaftlicher Kapazitäten zu ersetzen (z.B. Indien, Tanzania, Jugoslawien). Die entscheidende Wende erfolgte im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise der
1970er-Jahre. Diese führte zu einer verstärkten Globalisierung der Produktion und der
Finanzmärkte, die in den Staaten der Peripherie den Spielraum für eigenständige Wirtschaftspolitik immer mehr einschränkte. Unter diesen Umständen hatten Ansätze einer
radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, wie im sandinistischen Nicaragua oder in Mosambik, nur mehr geringe Chancen, sich zu behaupten (Coraggio/
Deere 1987a; Becker 1988).
Im Grunde standen die ost- und südosteuropäischen Regionen nach Erlangung der
Unabhängigkeit 1918 vor dem gleichen entwicklungspolitischen Problem wie die ehemaligen Kolonien (Hofbauer/Komlosy 2000; Szlajfer 1990; Teichová 1988). Eine Ausnahme stellte lediglich die Tschechoslowakei dar, deren westliche Landesteile zu den
wirtschaftlichen Kernräumen der Habsburgermonarchie gezählt hatten. Alle anderen
Länder waren überwiegend Agrarstaaten, deren Wirtschaftsstruktur auf den Export von
Cash Crops nach Zentral- und Westeuropa ausgerichtet war. Die Situation war eine klassisch postkoloniale. Innerhalb der Führungsschichten wurde um Assoziation oder Dis-
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soziation gerungen. Für eine Fortsetzung der Rohstoff- und Exportorientierung traten
vor allem die Großgrundbesitzer ein, die in den meisten Staaten eine dominante gesellschaftliche Position innehatten. Sie hatten Interesse an offenen Grenzen und niedrigen
Zöllen. Das einheimische Bürgertum und die Arbeiterorganisationen hingegen plädierten für die Überwindung der Zulieferrolle und den Aufbau und Schutz einheimischer
Industrie. Gleichzeitig traten sie für eine Landreform ein, was ihnen die Unterstützung
der Bauern und Landarbeiter sicherte. Protektion spielte also in den nationalen Entwicklungsstrategien eine zentrale Rolle.
Den eigenständigen Entwicklungsbemühungen war in der Zwischenkriegszeit nur
geringer Erfolg beschieden. Neben der Außenabhängigkeit und den innenpolitischen
Auseinandersetzungen war dafür vor allem die Weltwirtschaftskrise verantwortlich, die
in Ost- und Südosteuropa keine importsubstituierende Entwicklung begünstigte. Sie
drückte auf die Preise und versperrte den Produkten aus den europäischen Peripherien
den Zugang zu westlichen Märkten. Die Misserfolge brachten allerorts autoritäre Regime an die Macht. Die Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien wurden Opfer der
NS-Expansion; Ungarn, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien und Kroatien hofften, ihre
nationalen Ambitionen im Bündnis mit NS-Deutschland zu realisieren. Tatsächlich wurden sie aber zu Vasallen reduziert, die Soldaten und Nahrungsmittel lieferten.
Eine neue Situation ergab sich mit dem Kriegsende 1945. Die geostrategische Lage
im Einflussbereich der Sowjetunion schuf eine neuartige Ausgangsposition. Eine Mehrheit für eine sozialistische Regierung gab es nur in der Tschechoslowakei, die – vergeblich – darauf setzte, ihren Weg zum Sozialismus eigenständig zwischen den beiden Blöcken anzusiedeln. Allen anderen Staaten wurde das sowjetische Gesellschaftsmodell
ohne eigenes Zutun übergestülpt. Während dieses in der Eigentums- und in der Religionsfrage auf Ablehnung stieß, eröffnete es in wirtschaftlicher Hinsicht die Möglichkeit einer nachholenden Industrialisierung, wie sie seit der Staatsgründung angestrebt worden
war. Als Schutz gegen die Abhängigkeit vom Westen diente nunmehr nicht die Staatsgrenze, sondern die durch den „Eisernen Vorhang“ bestimmte Systemgrenze.
Block- und Systemgrenzen
Wenn Staaten in wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Hinsicht ein dauerhaftes
Bündnis eingehen, lässt sich dies als Blockbildung fassen. Die Grenzen eines solchen
Blocks werden durch die Zugehörigkeit bzw. Mitgliedschaft in diesem Bündnis gebildet. Die Blockaußengrenzen sind mit den Staatsgrenzen der Mitglieder identisch. Blockzugehörigkeit ist nicht notwendigerweise flächenhaft; in den meisten Fällen haben die
Blöcke jedoch regionalen Charakter. Als Beispiele für Militärblöcke sind NATO und
Warschauer Pakt zu nennen; für Wirtschaftsblöcke die Europäische Gemeinschaft/Europäische Union, EFTA, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW-COMECON),
die Nordamerikanische Freihandelszone (NAFTA) oder die von den USA und Japan
getragene Asiatisch-Pazifische Kooperation (APEC). Eine „Blockbildung“ anderer Art,
die sich explizit gegen die bipolare Beherrschung der Welt richtete, war die Bewegung
der Blockfreien, der Staaten aus allen Teilen der Dritten Welt, aber auch Jugoslawien
angehörten. Daneben gab und gibt es Regionalblockbildungen in verschiedenen Teilen
der Dritten Welt (Verband Südostasiatischer Staaten ASEAN in Südostasien, Ostafrikanische Gemeinschaft EAC, SADCC im südlichen Afrika, Gemeinsamer Zentral-
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amerikanischer Markt MCCA in Zentralamerika, CARICOM in der Karibik, Mercosur
in Südamerika etc.). Diese folgten je nach politischer und wirtschaftlicher Konjunktur
unterschiedlichen Zielen. So hatte die SADCC anfänglich vordringlich ein politisches
Anliegen, nämlich die Minderung der infrastrukturellen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von Apartheid-Südafrika. Die Integrationspolitik im Lateinamerika der 60erund 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts war vor allem auf die Stützung der importsubstitutierenden Industrialisierung gerichtet, während sie in den 90er-Jahren stärker auf
eine Positionsverbesserung bei der Weltmarktintegration orientiert war (siehe Altvater/
Mahnkopf 1996, Dietrich 1998, Becker 1998).
Unter einem System versteht man eine Gruppe von solchen Staaten, die einem bestimmten wirtschaftlichen und politischen Gesellschaftsmodell verpflichtet sind. Der
Begriff entstand in der Periode der bipolaren Systemkonkurrenz von Kapitalismus und
Sozialismus und schloss die Staaten ein, die dem westlichen oder dem östlichen
Gesellschafts- bzw. Bündnissystem angehörten. Die Systemkonkurrenz wird oft auch
allgemeiner als Gegensatz zwischen demokratisch verfassten Staaten und Diktaturen
gefasst. Auch Weltzivilisationen, deren kulturelle und religiöse Traditionen sehr unterschiedliche Auffassungen von wirtschaftlicher und politischer Organisation hervorbrachten, werden immer wieder als Systeme begriffen. Aktuell ist diese Betrachtungsweise durch
den US-amerikanischen Präsidentenberater Samuel Huntington belebt worden, der nach
dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus einen weltweiten „Kampf der Kulturen“ anbrechen sah. Die jeweils konkurrierenden Systeme werden
mit abwertenden Attributen belegt. Systeme basieren auf weltanschaulicher und/oder kultureller Zugehörigkeit und nicht auf Mitgliedschaft. Sie sind daher von keiner formellen
Grenze umgeben. Eine physische Trennlinie wird nur an jenen Orten wahrgenommen, wo
die Systeme direkt aufeinander prallen, wie z.B. am 53. Breitengrad zwischen Nord- und
Südkorea oder an der europäischen Teilungslinie. Eine Systemgrenze ist am augenscheinlichsten, wenn sie nicht einfach zwischen Staaten, sondern zwischen Bündnisblöcken
verläuft, wie dies am „Eisernen Vorhang“ der Fall war.
Blöcke bilden sich aufgrund von gemeinsamen Interessenslagen heraus, die politisch, strategisch und/oder militärisch bedingt sind. Sie umfassen große und kleine,
mächtige und schwache Staaten mit unterschiedlichem Entwicklungsstand. Die eingegrenzte Form der Zusammenarbeit erfordert keine homogene Rolle ihrer Mitglieder in
der internationalen Gemeinschaft. Blöcke und Systeme weisen ausgeprägte innere regionale Disparitäten auf und beinhalten Kern- und Randstaaten.
Der reale Sozialismus verkörperte nicht nur eine andere Ideologie, sondern ein Modell
nachholender Entwicklung für periphere Staaten, das sich von anderen Versuchen nachholender Entwicklung durch Verstaatlichung, Umverteilung und zentrale Planung unter
der Leitung einer kommunistischen Partei unterschied (Bettelheim u.a. 1969; ChaseDunn 1982; Frank 1992; Hofbauer/Komlosy 2000:488f; Senghaas 1982:275-320). Diese nachholende Entwicklung in staatssozialistischem Gewande wurde von den kapitalistischen Mächten besonders vehement bekämpft, weil ein Erfolg nicht nur andere periphere Gesellschaften bestärkt, sondern möglicherweise auch einen Systemwechsel in
den westlichen Staaten begünstigt hätte.
Die Folge war, dass die Systemgrenze zwischen West und Ost zur hochgerüstetsten
Grenze der Welt wurde. Sie war Staats-, Block- und Systemgrenze in einem und deckte
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sich in ihrem Westabschnitt weitgehend mit der alten Wohlstands- und Kulturgrenze
zwischen dem westlichen und östlichen Europa, „als hätten Stalin, Churchill und
Roosevelt peinlich genau den Status quo der Epoche Karls des Großen am 1130. Todestag des Kaisers studiert“ (Szücs 1991:15). Während Westeuropa zum Zentrum des kapitalistischen Weltsystems aufstieg, gehörten Ost- und Südosteuropa zu dessen Peripherien. Hier fanden in verschiedenen staatlichen Rahmen und unter verschiedenen politischen Vorzeichen seit dem 19. Jahrhundert Versuche nachholender Entwicklung statt. In
Russland eröffnete die Oktoberrevolution einen Sonderweg, der durch die Frontstellung
am Ende des Zweiten Weltkrieges auf die osteuropäischen Satellitenstaaten ausgeweitet
wurde. Sie bildeten den so genannten Ostblock, dem auf westlicher Seite die OEEC
(Organisation of European Economic Cooperation)-Staaten gegenüberstanden, deren
Integration durch den Empfang von Marshallplan-Geldern begründet wurde. Weder die
östliche noch die westliche Seite waren ganz einheitlich. Neben Rat für gegenseitige
Wirtschaftshilfe (RGW) und Warschauer Pakt als geschlossenem System unter Führung
der Sowjetunion entstand China als eigener staatssozialistischer Pol. Der Westen zeichnete sich durch unterschiedliche Bündnisse und Zusammenschlüsse aus, die aufgrund
der führenden Stellung der USA den gesamten euro-atlantischen Raum umfassten. Beide Seiten rangen in der Dritten Welt um Verbündete. In der Peripherie wurde der „kalte“
wiederholt zum „heißen“ Krieg – Korea, Indochina, Zentralamerika, Afghanistan, Angola, Mosambik etc. Hauptprotagonisten in der Konflikteskalation waren meist westliche Regierungen. Kam es zu sozialrevolutionären oder auch nur zu ausgeprägt reformistischen Umschwüngen, sahen sie „Kommunisten“ am Werk und intervenierten durch
ökonomischen Druck, militärische Destabilisierung oder direkte Intervention. Hieraus
folgte oft eine weitere Internationalisierung des Konfliktes im Sinne der Blockkonfrontation (Halliday 1984; Halliday 1989; Coraggio/Deere 1987b:44ff).
Der „Eiserne Vorhang“ als besonderer Typus von Grenze
Unser Bild vom „Eisernen Vorhang“ ist durch die hochgerüstete Grenzsperre bestimmt,
die seit 1949 an der ungarischen, der tschechoslowakischen und der Westgrenze der
DDR errichtet wurde und 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer höchste Symbolkraft
erlangte (Kernic 1991; Komlosy 1999; Varga 1999). Die Grenzkontrollen vereinigten
politische und militärische mit ökonomischen Funktionen und ermöglichten den Behörden und Wachorganen, jede Bewegung und jede Beziehung zu kontrollieren, die über
die Demarkationslinie zwischen Ost und West hinwegging.
Metallgitterzaun und Überwachungsanlagen waren aber nur die Spitze des Eisberges. Darunter lag der Gegensatz zwischen Ost und West, der sowohl auf dem Antagonismus zwischen Kapitalismus und Sozialismus als auch auf dem Entwicklungsgefälle
zwischen dem westlichen Zentrum und der östlichen Peripherie beruhte. Durch die Ausgestaltung des realen Sozialismus als Instrument nachholender Entwicklung verbanden
sich die beiden Differenzen zu einer unauflöslichen Einheit. Der Grenzlinie, an der die
Gegensätze aufeinander trafen, kam praktische wie symbolische Bedeutung zu. Sie wurde
im Zusammenwirken beider Seiten geformt.
Wenn nach dem Zweiten Weltkrieg US-Hilfsprogramme und Marshallplan-Förderung nur den politisch zuverlässigen westeuropäischen Staaten zugute kamen und Osteuropa und die Sowjetunion nicht in die Wiederaufbauhilfe einbanden, ist dies dem
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Joachim Becker – Andrea Komlosy
Systemgegensatz und der Entwicklungsdisparität gleichermaßen geschuldet: Investitionen in die peripheren osteuropäischen Ökonomien versprachen einerseits keinen wirtschaftlichen Nutzen, andererseits wollte man dem politischen Gegner keine Hilfe angedeihen lassen (Lunestadt 1986:67f). Das von den USA überwachte COCOM-Embargo,
das allen europäischen Marshallplan-Empfängern in weiten Bereichen den Austausch
mit den osteuropäischen Nachbarn verbot, sollte das sozialistische System treffen und
isolieren (Adler-Karlsson 1971; Hofbauer 1992:83-92). Es konstituierte einen „Eisernen Vorhang“, bevor von östlicher Seite die technischen Grenzsperren in Angriff genommen wurden. Der Sowjetunion, welche die größten Kriegsschäden zu verzeichnen
hatte, war nach dem Krieg an der Fortsetzung eines kooperativen Verhältnisses zu den
ehemaligen Kriegsalliierten gelegen – in der Hoffnung auf US-amerikanische Wiederaufbaukredite und Unterstützung ihrer Forderungen nach gesamtdeutschen Reparationen (Haberl 1986:76). Diese kooperative Haltung, die im Wunsch der Sowjetunion zur
Teilnahme an Weltbank, Internationalem Währungsfonds und Marshallplan zum Ausdruck kam und Embargo und militärische Blockbildung zurückwies, resultierte aus der
wirtschaftlichen Schwäche der Sowjetunion: Das Entwicklungsgefälle legte ihren Führern nahe, den Dialog mit dem Westen nicht abzubrechen. Die USA hingegen betonten – nicht zuletzt aus innenpolitischen Gründen, um die Ausgaben für den Marshallplan zu legitimieren – den Systemgegensatz. Sie ließen beim Pariser Außenministertreffen im Juni 1947 die Verhandlungen mit der Sowjetunion über den Marshallplan platzen, was der Blocklogik gemäß auch die Teilnahme der osteuropäischen Verbündeten
unmöglich machte (Komlosy 1999:273; Lunestadt 1986:63). Gleichzeitig entzogen die
USA der Sowjetunion durch die Aufnahme des westdeutschen Teilstaates in das europäische Wiederaufbau-Programm die Chance auf gesamtdeutsche Reparationen, wie
sie die Kriegsalliierten im August 1945 auf der Potsdamer Konferenz vereinbart hatten.
Dies war ein klarer Schritt zur Isolierung der Sowjetunion, der die Eskalation des Kalten
Krieges zur Folge hatte. Ein symbolischer Akt, um die Gründung eines gegen die Sowjetunion gerichteten westlichen Militärbündnisses zu verhindern, war der Aufnahmeantrag der Sowjetunion in die NATO 1949, zwei Tage vor Unterzeichnung des Bündnisvertrags, und erneut 1954 (Komlosy 2001:44f; Siegler 1963:354ff).
Zu diesem Zeitpunkt hatte die sowjetische Führung bereits mit der Abkoppelung
der Sowjetunion und der Staaten innerhalb ihrer Einflusssphäre vom Westen begonnen.
Die kommunistische Planwirtschaft wurde in ein Instrument nachholender Entwicklung transformiert. Gestützt auf die eigenen Kräfte und mit den Mitteln der sozialistischen Transformation wurde – ungeachtet des westlichen Boykotts – ein gewaltiges
Industrialisierungsprogramm in Angriff genommen. Wichtige Voraussetzung dieser nachholenden Industrialisierung war nun gerade der Abbruch der Beziehungen mit dem kapitalistischen Westen. Die Waffe, die sich gegen die wirtschaftliche Erholung der Sowjetunion und ihrer Partner gerichtet hatte, wurde so in ein propagandistisches Instrument der Entwicklung umfunktioniert: Durch die Abkoppelung ließen sich die Produktivkräfte der sozialistischen Länder aufbauen, ohne permanent an der höheren Produktivität des Westens gemessen zu werden, welche die eigenständigen Entwicklungsanstrengungen aufgrund dessen wirtschaftlicher Überlegenheit in Frage gestellt hätte.
Ein strenges Grenzregime erlaubte es, Waren-, Kapital- und Arbeitskräfteströme unter
Kontrolle zu halten und den Markt als Maßstab für die Existenzberechtigung einzelner
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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Produktionsbereiche außer Kraft zu setzen. Ein beabsichtigter Nebeneffekt des Grenzregimes bestand freilich auch in der Blockade von Ideen und Entwicklungsvorstellungen,
die nicht dem sowjetischen Fortschrittsmodell entsprachen. Die Grenzbefestigungen des
„Eisernen Vorhangs“ nahmen einen zentralen Stellenwert im Maßnahmenpaket der aktiven Abkoppelung ein, die allen Ländern des sozialistischen Ostens – ob es in ihrem
Interesse lag oder nicht – auferlegt wurde (vgl. Komlosy 1999:282).
Indem Stalin die ungewollte Ausschließung durch den Westen in eine aktive Entwicklungsstrategie transformierte, gewann er an Macht. Nicht nur gegenüber dem Westen, sondern auch gegenüber den ost- und südosteuropäischen Partnern, die – unter dem
zum Schutzschild umgewandelten Embargo – in die Sowjetisierung getrieben wurden.
Diese führte schließlich auch in jenen Staaten, die bis 1947/48 demokratische Verhältnisse aufwiesen, zur Machtergreifung durch die kommunistischen Parteien. So entpuppten
sich das Embargo und das sowjetische Modell nachholender Industrialisierung als eine
Art Dialog, den die Großmächte im Rahmen des „Kalten Krieges“ miteinander führten.
Ein Argument im Rahmen dieses Dialoges war die Beschaffenheit der Grenze. Indem die USA mit dem Embargo Druck auf die Sowjetunion und Osteuropa ausübten,
vertieften sie die ökonomische Kluft zwischen West- und Osteuropa. Dadurch, dass die
Sowjetunion die Grenzen schloss und mit dem „Eisernen Vorhang“ ein totales Grenzkontrollregime errichtete, gewann sie die politische Kontrolle über die Grenze zurück.
In der Charakteristik dieser Grenze stand damit nicht mehr das unterschiedliche Niveau
der wirtschaftlichen Entwicklung im Vordergrund, sondern die Zugehörigkeit zu zwei
unterschiedlichen Systemen der gesellschaftlichen Ordnung.
Sobald die Grenzlinie von östlicher Seite mit Draht, Minen und Signalanlagen hochgerüstet wurde, verknüpfte sich der ursprünglich viel breiter anlegte Begriff „Eiserner
Vorhang“ mit den die staatssozialistischen Länder umgebenden Grenzsperren (Komlosy
2001:279).
Blockgrenzen nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“
Mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus und der Westorientierung der ost- und
südosteuropäischen Staaten verlor die Systemgrenze ihren spezifischen Charakter. Gleichzeitig gewann sie ihre Funktion als Wohlstandsgrenze zurück, die in der staatssozialistischen Zeit aufgrund der nachholenden Modernisierung im realsozialistischen
Gewande in den Hintergrund getreten war. Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“
wurde der Entwicklungsunterschied wieder deutlicher sichtbar. Er resultierte keineswegs nur aus den Defiziten der Planwirtschaft, sondern entsprach dem historischen
Wohlstandsgefälle zwischen dem entwickelten Westen und dem rückständigen Osten
des Kontinents. An die Stelle der Systemgrenze trat also eine herkömmliche Wohlstandsgrenze. Diese Transformation der Grenze erfolgte allerdings nur in Europa, nicht jedoch
im Verhältnis von China zu seinen Nachbarn. China hat eine andere Transformationsstrategie und eine viel selektivere Politik der Grenzöffnung verfolgt als die früheren
RGW-Länder und war damit auch wirtschaftlich weit erfolgreicher.
Mit der Selbstauflösung des RGW und des Warschauer Paktes (1991) hörte auch
die Blockgrenze auf, zwei Blöcke voneinander zu trennen. Da gleichzeitig die Europäische Union durch den Ausbau der supranationalen Ebene ihre Blockintegration vorantrieb, entstand ein extremes Ungleichgewicht. Dieses bewirkt eine enorme Sogkraft des
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Joachim Becker – Andrea Komlosy
Zentrums und setzt die Peripherie einem starken Anpassungsdruck aus. Auf der einen
Seite der ehemaligen Systemgrenze bildete sich ein supranationaler, zunehmend auch
außen- und sicherheitspolitisch agierender Regionalblock mit gemeinsamer Außengrenze,
auf der anderen Seite befand sich eine – durch Sezession und Zerfall ansteigende – Vielzahl von kleinen Nationalstaaten, die nach dem Zerfall des RGW nur ein Ziel kannten:
eine möglichst rasche Assoziierung an die Europäische Union und/oder die NATO. Die
Aufnahme in die NATO folgt militärstrategischen Überlegungen der USA, die neue
Mitgliedsstaaten als Stützpunkte, als Beteiligte an internationalen Einsätzen und als Puffer
gegenüber Russland begrüßen. In Bezug auf die Europäische Union waren die Anforderungen höher; die Erweiterung des EU-Regionalblocks wurde erst in Angriff genommen, nachdem die Planungs- und Umverteilungsmechanismen in den Gesellschaften
zerschlagen und die Eigentumsverhältnisse im Interesse der westeuropäischen Konzerne geregelt waren (Bohle 2003; Hofbauer 2003:185-189). Die Bedingungen für den
Beitritt wurden von der Europäischen Union vorgegeben und mit jedem Beitrittswerber
gesondert vereinbart. Innerhalb der Staaten brachen Gegensätze zwischen relativen
Wohlstandsregionen, die meist im Westen lagen, und marginalisierten und zunehmend
peripherisierten Regionen im Osten auf.
Die Blockgrenze ist auf diese Art und Weise nicht verschwunden, sondern durch die
Erweiterung nach Osten verschoben worden. Derzeit ist sie zwischen den neuen EUMitgliedern und deren östlichen Nachbarn im Aufbau begriffen. Die Fortifikation der
EU-Außengrenze entspricht dem heutigen Stand der Technik; sie setzt viel mehr elektronische Formen der Überwachung ein als der „Eiserne Vorhang“, der dem Entwicklungsstand der Nachkriegsära entsprach. An Effektivität und Exklusionskraft ist sie diesem allerdings weit überlegen. So genannte Drittstaats-Angehörige werden durch Visumpflicht und erschwerten Zutritt zum Arbeitsmarkt an der Einreise und am Aufenthalt in
den EU-Staaten gehindert; gleichzeitig werden die Staaten am Limes der Europäischen
Union mit der Perspektive der Assoziierung dazu angehalten, einen vorgelagerten
Sicherheitsgürtel um die Europäische Union zu bilden, der bei Bedarf und Wohlverhalten auch ihren zukünftigen Beitritt zur Folge haben kann. Die Staffelung der Mitgliedschaft in der NATO, der Europäischen Union und den Schengen-Vertragsstaaten umgibt
den europäischen Kernraum mit einem konzentrischen Ring von vorgelagerten Staaten,
die als wirtschaftliche Peripherien, als militärische Verbündete oder als strategische Puffer
abgestufte Aufgaben im Interesse des Zentrums erfüllen. Die osteuropäische Peripherie
wird damit zu einer flexiblen, unterschiedlich eng an das Zentrum angebundenen Grenzzone gegenüber Russland, dessen Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO nicht
zur Debatte steht. Die Situation weist frappante Parallelen zum römischen Limes auf,
den Jean-Christophe Rufin folgendermaßen charakterisierte: „Der Limes ist in dem Maße,
wie sich das römische Bürgerrecht erweitert, ein Ort zunehmender Ungleichheit. Nach
Caracalla trennt er zwei Welten voneinander, die in jeder Hinsicht vereint sind, die unaufhörlich Menschen und Güter austauschen, zwischen denen aber ein erheblicher Rechtsunterschied klafft. (…) Es handelt sich um eine Diplomatie der Apartheid im Weltmaßstab.“ (Rufin 1993:246)
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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Formen von Raum und Staatlichkeit
Bislang haben wir verschiedene Formen von Grenzen dargestellt. Nun möchten wir uns
dem Zusammenhang zwischen Veränderung der Staatlichkeit und der Grenzziehungen
zuwenden. Die bürgerliche Form des Territorialstaates und der entsprechenden Grenzlinien hat ihren Ursprung in Europa und ist durch die europäische Expansion anderen
Weltregionen meist gewaltsam aufgezwungen worden. Diesen Prozess wollen wir nachzeichnen. Daher diskutieren wir die vorkolonialen Formen der politischen Herrschaft
und Grenzziehung hier nicht. Sie wurden bis auf wenige Ausnahmen durch die koloniale Besetzung zerstört. In einigen Fällen ermöglichte allerdings eine weit fortgeschrittene Form der staatlichen Zentralisierung und der technischen und militärischen Entwicklung, eine direkte Kolonialherrschaft abzuwenden (Japan), die direkte Besetzung auf
einige Exklaven – bei allerdings erheblichem Einfluss auf die gesamtstaatliche Politik –
zu begrenzen (China) oder die Epoche der Kolonialherrschaft wenigstens sehr kurz zu
halten (Äthiopien). Allerdings kam es auch in diesen Fällen zur Übernahme wesentlicher Elemente des europäischen Staatsmodells, wenn auch in einer stärker selbstbestimmten Weise.
Vorkapitalistische Buntscheckigkeit
Vorkapitalistische Gesellschaften zeichneten sich durch eine räumliche Buntscheckigkeit
aus. Ein Großteil der Produktion war auf die Subsistenz ausgerichtet. Ein Mehrprodukt
wurde über direkte politische Herrschaft abgepresst. Wenn überhaupt, fand die Akkumulation von Kapital nur am Rande der Gesellschaften statt. Märkte waren kein zentrales gesellschaftliches Phänomen. Im Fall des mittelalterlichen Europa unterlagen sie je
nach Charakter des Handels – Fern- oder Lokalhandel – sehr unterschiedlichen Regularien (Pirker 2003:86f; Polanyi 1990:87ff). Ähnlich sah es mit dem Geld aus. Vielfach
benutzten unterschiedliche gesellschaftliche Klassen unterschiedliche Gelder. Geld in
kleinen Einheiten für die ärmeren Klassen hatte oft „informellen“ Charakter und wurde
von lokalen Kaufleuten oder Städten ausgegeben. In andere Währungen war es oft schwer
tauschbar. Das gilt gerade auch in Hinblick auf die höherwertigen Währungen der begüterten Klassen. Auch der räumliche Geltungsbereich von Währungen war oft nicht klar
abgegrenzt (Helleiner 2003: Kap. 1). Entsprechend fragmentiert war, speziell im mittelalterlichen Europa, die politische Herrschaft. Weder Grundherrschaften noch die europäischen Fürstenstaaten selbst zeichneten sich durch geschlossene territoriale Einheit
aus (Komlosy 2003:57ff). Adelige Herrschaftsträger übten über ihre Untertanen persönliche Herrschaftsrechte, Verwaltungs-, Gerichts- sowie Polizeihoheit aus. Die Zentralgewalten wirkten eher als lose Klammer. Die Bevölkerung war sprachlich, ethnisch und
meist auch religiös gemischt zusammengesetzt. Das heißt, die politische Herrschaft war
wenig homogenisierend, die Gesellschaft nicht durchstaatlicht. Entsprechend vielfältig
sahen die Grenzziehungen aus. Mit Ausnahme der Grundherrschaften, die ihre räumlichen Besitzansprüche mit klaren Linien abgrenzten, muss man sich die Grenzen zwischen den mittelalterlichen Reichen als Zonen überlappender Einflüsse und Herrschaftsrechte vorstellen (Guenée 1986:18ff; Komlosy 1995:387).
Für die freie Bewegung von Waren und Personen stellten Grenzen in der Regel
keine Schranke dar. Die Einhebung von Zöllen und Mauten, die direkt in der Hand der
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Joachim Becker – Andrea Komlosy
Landesfürsten lag oder an unterschiedliche Herrschaftsträger übertragen wurde, erfolgte nicht an den Grenzen, sondern an Zollstationen, die an zentralen Orten bzw. an strategischen Plätzen entlang der Transportwege gelegen waren (Bowman 1950; Hassinger
1987; Komlosy 2003:44ff). Der Personenverkehr unterlag keiner staatlichen Regulierung und Kontrolle. Während Untertanen an die Scholle gebunden waren, reisten Adelige, Diplomaten, Händler, Handwerker und Fahrende unter dem Schutz – und mit den
Passdokumenten – ihrer Schutzherren, Standes- oder Berufsorganisationen (Komlosy
2003:161ff).
Herausbildung des absolutistischen Staates und der Grenzlinie
Die moderne Form der Staatlichkeit und damit letztlich auch die moderne Form politischer Grenzen entstand aus der Krise des europäischen Spätfeudalismus. Der Konflikt
um das (agrarische) Mehrprodukt verschärfte sich. Die Bauern wehrten sich gegen die
steigenden Lasten. Als Reaktion kam es zu einer zunehmenden Zentralisierung der landesfürstlichen Macht im Zuge der militärischen Niederschlagung der Bauernaufstände, der
auch der Adel zustimmte. Dies führte in der Tendenz, aber nicht durchgängig, zur Herausbildung des absolutistischen Staates. Dieser wies einen höheren Grad der Vereinheitlichung politischer Herrschaft als seine Vorgänger auf (siehe Anderson 1979; Wallerstein 1984: Kap. 3). Sein Ressourcenbedarf war wegen des Ausbaus der militärischen
Schlagkraft ebenfalls höher. Dieser Ressourcenbedarf wurde über Steuern, also in monetärer Form, befriedigt. Hiervon ging ein erster Impuls zu einer Stärkung staatlicher
Währung und einer Vereinheitlichung des Währungssystems aus. Zu einer Herausbildung territorialer Währungen kam es allerdings erst im 19. Jahrhundert (Helleiner
2003:91ff). Der fiskalische Finanzbedarf bedeutete auch eine zunehmende Abhängigkeit der absolutistischen Macht vom guten Gang der Geschäfte und damit von der Bourgeoisie. Damit verschoben sich auch die Kräfteverhältnisse vom Feudaladel zur (oft
städtischen) Bourgeoisie. Mit der Herausbildung der absolutistischen Staaten ging ein
erster Schub innerer Vereinheitlichung einher, der aber noch nicht bis in alle Fasern der
Gesellschaft reichte. Nach außen erkannten sich die so entstehenden Territorialstaaten
mit dem Westfälischen Frieden (1648) wechselseitig als souverän an. Hiermit Hand in
Hand ging die Anerkennung klar definierter Grenzlinien.
Im „langen“ 16. Jahrhundert erlebte die europäische Staatlichkeit eine erste Phase
äußerer Expansion. Absolutistische Territorialstaaten und städtische Handelsbourgeoisie
verbanden sich bei der kolonialen Expansion. Den einen ging es um die Erschließung
neuer Steuerquellen, den anderen um eine Ausweitung der Geschäftsfelder (Boris 1992).
In Asien und Afrika beschränkte sich die überseeische Aktivität zunächst vor allem auf
die Gründung von Handelsniederlassungen und die Anbahnung von Handelsgeschäften. In Lateinamerika, im 17. Jahrhundert auch in Nordamerika, implementierten die
Kolonialmächte eine abhängige Version des Territorialstaates, den Kolonialstaat. Der
spanische und portugiesische Kolonialstaat organisierte die Unterwerfung der autochthonen Bevölkerung unter die neue Herrschaft und deren Ausbeutung zum Nutzen und
Frommen externer Interessen. Die Ausbeutung erfolgte in verschiedensten Formen unfreier Arbeit. Hierbei wurde nicht allein auf die lokalen Arbeitskräfte zurückgegriffen,
vielmehr wurden auch AfrikanerInnen versklavt und zur Zwangsarbeit nach Lateinamerika verfrachtet. Die Sklaverei hatte kommerziellen Charakter. SklavInnen wurden vor
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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allem in der Exportproduktion eingesetzt. Allein 38 Prozent aller SklavInnen, die lebend in den Häfen der Amerikas eintrafen, wurden in Brasilien angelandet (Gorender
2000:33). Die Sklaverei bestand vielfach über die Kolonialepoche hinaus und vererbte,
wie am Fall Brasilien sehr augenfällig wird, den heutigen Gesellschaften extreme soziale und politische Ungleichheit sowie einen sehr gewaltsamen Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse (siehe Gorender 2000: Kap. VII & VIII). Die früheren Grenzen zwischen „Freien“ und „Unfreien“ wirken heute subtiler als Grenzen ethnischer Ungleichheit fort. Ein etwas anderes Modell stellte die britische Kolonisierung in Nordamerika
im 17. Jahrhundert dar. In Großbritannien war die Herausbildung bürgerlicher Verhältnisse weiter vorangeschritten als in Spanien oder Portugal, so dass auch der Kolonialstaat einen stärker bürgerlich-kapitalistischen Einschlag hatte. Formen unfreier Arbeit –
von relativ milder Ausprägung bei Weißen bis hin zu völliger Rechtlosigkeit bei schwarzen SklavInnen – kamen auch hier zum Einsatz (Ringer 1983: Kap. 2 & 3). Auch hier
wirkte die Sklaverei lange in Form juristischer Ungleichheit und bis heute in sozialer
Diskriminierung fort.
Bürgerlicher Staat und territoriale Homogenisierung
Von der Kolonisierung gingen neue Impulse für den internationalen Handel aus. Bei den
beiden zunächst führenden Kolonialmächten – Spanien und Portugal – führte der
Ressourcenzufluss allerdings zunächst nicht zu einer kapitalistischen Transformation,
sondern zu einer Festigung der absolutistischen Ordnung. In Nordwesteuropa hingegen
verbanden sich Ausweitung des internationalen Handels und langsame Zersetzung der
spätfeudalen Ordnung. Kapital sickerte aus Handel und Finanzwesen allmählich in die
Produktion ein. Damit gewannen Formen formal „freier“ Arbeit an Bedeutung. Die Arbeitskräfte waren in doppelter Hinsicht frei – frei von feudalen Abhängigkeiten und frei
von Subsistenzmitteln. Die Bedingungen für die Verbreitung der Lohnarbeit wurden
politisch-rechtlich durch den Staat geschaffen. Sowohl die Befreiung von feudalen Fesseln wie auch die Trennung der künftigen ProletarierInnen von den Subsistenzmitteln
wurden über staatliche Politik hergestellt. Der sich transformierende Staat sorgte auch
künftig dafür, dass auf der einen Seite Eigentumsrechte für eine Minderheit festgeschrieben wurden und andererseits für die Mehrheit von der Eigentumslosigkeit bei Produktionsmitteln der stumme Zwang zur Lohnarbeit ausging.
Die Trennung der ArbeiterInnen von den Produktionsmitteln muss allerdings als
ein langfristiger Prozess angesehen werden, in dem freie Lohnarbeit mit anderen Formen von Arbeit koexistierte bzw. in den Haushalten spezifische Verbindungen freier
und unfreier, bezahlter und unbezahlter Arbeit hervorbrachte (Komlosy u.a. 1997; Wallerstein 1984). Teilweise war der Verlust von Subsistenzmitteln, vor allem Boden, zwar
nicht vollständig, aber doch so stark, dass es einen Zwang zur Aufnahme von Lohnarbeit gab. Konnten die LohnarbeiterInnen ihren Unterhalt zum Teil mit eigenen Subsistenzmitteln bestreiten, so brauchte der Lohn nicht die gesamten Lebenshaltungskosten
zu decken. Dies erlaubte es der Kapitalseite, die Löhne niedrig zu halten. Zumindest für
einen Teil der Branchenkapitale war eine solche Konstellation durchaus einträglich. In
Westeuropa erfolgte die weitgehende Trennung der Arbeiterschaft von den Subsistenzmitteln im Verlaufe des 19. Jahrhunderts, abgeschlossen wurde dieser Prozess aber
meist erst im 20. Jahrhundert. Die Mobilisierung von Arbeitskräften erfolgte nicht al-
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Joachim Becker – Andrea Komlosy
lein im nationalstaatlichen Rahmen, sondern – abhängig von der jeweiligen Konjunktur – auch über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus. Im Rahmen einer ungleichen
Arbeitsteilung wurden bestimmte Regionen faktisch Arbeitskräftereservoire. Die zwischen- und die innerstaatliche Migration wurde einerseits von der Stellung der Regionen in der ungleichen überregionalen Arbeitsteilung, der Möglichkeit der Menschen, in
ihren Heimatregionen Arbeit und Einkommen zu finden, sowie der Nachfragesituation
auf den Arbeitsmärkten bestimmt. Andererseits unterlag sie staatlicher Regulierung durch
Einwanderungs- und Auswanderungsgesetze, Pass- und Aufenthaltsbestimmungen
(Komlosy 2003).
Die Herausbildung nationaler Binnenmärkte basierte auf einem – immer wieder
konfliktträchtigen – Kompromiss zwischen der staatlichen Zentralmacht, den adeligen
Grundbesitzern und der Waren produzierenden Bourgeoisie. Eine wesentliche Rolle in
diesem Kompromiss spielte die flächenhafte Ausgestaltung des staatlichen Territoriums. Im Gegenzug für die Anerkennung staatlicher Zugriffsrechte auf Untertanen und
Steuerkraft unterstützte der Staat die Möglichkeit zur Kapitalakkumulation. Er setzte
mit zahlreichen Reformen die vorindustriellen Regelwerke außer Kraft, die lokale Marktorte und regionale Produzenten gegenüber der überregionalen Konkurrenz begünstigten. Dies erlaubte Industriellen und Agrarunternehmern, die auf überregionale Märkte
ausgerichtet waren, wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg. Deren Verbindung mit der
Staatsmacht führte dazu, dass sich staatlicher Raum und wirtschaftliche Aktivität zunehmend deckten. An die Stelle der mittelalterlichen Städtenetzwerke und Großhandelsverbindungen traten im Laufe des 16. bis 19. Jahrhunderts flächenhaft verfasste Nationalökonomien. Dabei rückten Binnenzölle und Mauten vom Landesinneren an die Außengrenzen der Staaten.
Im Gegensatz zum Staat hatten Industrielle prinzipiell die Möglichkeit, über Staatsgrenzen hinaus zu agieren; beim Bezug von Rohmaterialien, beim Zukauf von Vorleistungen und beim Warenabsatz war dies oft unerlässlich und wurde im Sinne der merkantilistischen Philosophie auch staatlich gefördert. Widersprüchliche Ansichten bestanden in der Frage, ob der staatliche Eingriff durch koloniale Besitzungen formal ausgeweitet werden sollte oder ob der Zugriff auf periphere Märkte und Arbeitskräfte besser
ohne Kolonisierung zu bewerkstelligen sei. Während bis ins 18. Jahrhundert formelle
Kolonisierung selektiv erfolgte und im Wesentlichen auf Amerika und Südostasien beschränkt blieb, eröffnete die Staatenkonkurrenz um Rohstoff- und Absatzmärkte im 18.
und 19. Jahrhundert einen Wettlauf um Kolonien (Rothermund 2003). Die Grenze zwischen Mutterland und Kolonie wurde durch die direkte Herrschaft jedoch niemals aufgehoben – weder was die wirtschaftliche Rolle, die Rechtsnormen noch was den Zutritt
von kolonialen Waren und Untertanen zur Metropole anlangte. Insofern umfasste die
Herausbildung der Nationalökonomien nur die Mutterland-Territorien.
Diese unterlagen nicht nur in Bezug auf Wirtschaftsaufbau und Infrastrukturerschließung, sondern – mit gewisser zeitlicher Verzögerung – auch in Bezug auf die Rekrutierung der Arbeitskräfte einer nationalstaatlichen Territorialisierung. Menschen
wurden im Zuge der Trennung von ihren Subsistenzmitteln sukzessive aus der örtlichen
Bindung an den Grundherrn befreit und ermächtigt, Arbeit an anderen Orten anzunehmen (Komlosy 2003:77ff). Gleichzeitig wurde diese Mobilisierung durch Auswanderungsrestriktionen unterschiedlicher Art in die Grenzen des Staates verwiesen; diese
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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Restriktionen bezogen sich entweder nur auf Fachkräfte, wie in Großbritannien, oder
betrafen die gesamte Bevölkerung, wie in der Habsburgermonarchie, wo bis 1867 ein
generelles Auswanderungsverbot herrschte (Komlosy 2003:154). In vielen Staaten wurde auch die innere Migration mit Hilfe von Pass-, Reise- und Aufenthaltsgesetzen, die
auf verschiedenen räumlichen Ebenen wirksam waren, kanalisiert. Diese brachten den
staatlichen Anspruch auf das Monopol auf Ermächtigung, Selektion und Kontrolle von
Wanderungen zum Ausdruck. Wanderungen sollten nicht verhindert werden, sondern
den Anforderungen der Wirtschaft nach verfügbaren und disziplinierten Arbeitskräften
angepasst werden. Reisen, die diesem Anspruch nicht entsprachen, wurden erschwert
und zurückgedrängt – unabhängig davon, ob sie adelige Kavalierstouren, fahrende Berufe oder Bettler betrafen.
Die Einwanderung wurde in der Regel liberaler als die Auswanderung gehandhabt;
Einwanderungsrestriktionen wurden erst eingezogen, wenn die Einwanderung in Konflikt mit dem internen Arbeitskräfteangebot geriet. Dies war im Wesentlichen erst um
die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg der
Fall. Das 19. Jahrhundert hingegen kannte nur wenige Freizügigkeitsbeschränkungen
zwischen den europäischen Industriestaaten sowie den Destinationen in Übersee (Fahrmeir/Faron/Weil 2003). Die europäischen Grenzen konnten freilich nur deshalb so weitgehend offen gelassen werden, weil die Überseemigration, insbesondere in die USA,
ein Ventil für die europäischen Arbeitsmärkte darstellte. Die Gleichzeitigkeit von innerund zwischenstaatlichen Ein- und Auswanderungen ermöglichte so eine Anpassung der
europäischen Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur an die Erfordernisse der modernen
Industriegesellschaft. Nach einer Periode intensiver Arbeitskräftemobilität innerhalb und
zwischen den Staaten, die ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
erreichte, waren Arbeitsmärkte und nationale Wirtschaftsräume in der Zwischenkriegszeit weitgehend deckungsgleich geworden.
Die Ausbreitung der Warenform, speziell in die Sphäre der Arbeitskraft, machte
auch die Ausweitung der Rechtsform erforderlich (Paschukanis 1970). Die sozialen
Verhältnisse wurden seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend verrechtlicht.
Formalrechtlich wurden so einheitliche Regeln geschaffen, die sich allerdings auf materiell ungleiche Verhältnisse bezogen und diese auch festigten. Das aufstrebende Bürgertum suchte direkten Einfluss auf Rechtsgebung und Politik zu gewinnen. Damit gewannen politische Rechte, insbesondere das Wahlrecht, sowie die Kompetenzen des Parlaments an Bedeutung. Relativ bald versuchte das Bürgertum die politischen Rechte an
ein bestimmtes Mindesteigentum zu binden. Dies implizierte einen doppelten Ausschluss:
der ArbeiterInnenschaft und der Frauen (siehe Eley 1996:307ff; Rossi-Doria 1996:9ff;
Sauer 2001:147ff). Arbeiter- und Frauenbewegung kämpften hingegen – teils getrennt,
manchmal vereint – für eine Ausweitung der politischen Rechte. Das allgemeine und
gleiche Männerwahlrecht wurde im Regelfall vor dem Frauenwahlrecht durchgesetzt
(Juráňová 2002). In der Zivilgesellschaft – also den widerstreitenden politischen, sozialen und religiösen Interessengruppen (Gramsci 1996:1502) – und in den staatlichen Institutionen wurde dann auch um die Ausgestaltung sozialer Rechte gerungen. Hierbei
ging und geht es nicht zuletzt auch darum, wer an einem bestimmten Ort soziale Rechte
wahrnehmen konnte und darum, ob diese beispielsweise an die Staatsbürgerschaft, an
das Heimatrecht in einer Gemeinde oder an das Arbeitsverhältnis gebunden waren. Dies
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Joachim Becker – Andrea Komlosy
bedeutet unterschiedliche Ausprägungen des Ein- und Ausschlusses von bestimmten
Rechten. Insgesamt war die Durchsetzung der bürgerlichen Staatlichkeit mit einer vereinheitlichenden rechtlichen Normierung innerhalb staatlicher Grenzen und damit auch
einer Homogenisierung der jeweiligen Räume verbunden. Aber auch der staatliche Verwaltungsapparat wurde vereinheitlicht und rationalisiert.
Allerdings waren und sind die Grenzziehungen zwischen den Nationalstaaten, die
Kompetenzaufteilungen zwischen subnationalen, nationalen und übernationalen
Entscheidungsinstanzen nicht für alle Male fix, sondern – speziell in Krisensituationen – Gegenstand politischer Konflikte. Denn Raum- und damit Grenzfragen sind immer auch Machtfragen. Soziale und politische Akteure sind in verschiedenen Räumen
unterschiedlich artikulations- und durchsetzungsfähig; entsprechend agieren sie politisch. So war Ende des 19. Jahrhunderts für das Bündnis von Industrie und Großgrundbesitz im Deutschen Reich bei ihrer Strategie der konservativen Modernisierung die
preußische Machtbasis besonders wichtig. Daher privilegierten sie eine starke Stellung
der Länder, speziell Preußens, im Deutschen Reich (siehe Nipperdey 1998:108f). Im
neu gegründeten Nationalstaat Italien hingegen fürchteten die Kräfte der konservativen
Modernisierung lokal basierte Widerstände und favorisierten daher einen zentralisierten
Staat (siehe Banti 1996:21f). Mithin hängen die Machtstrategien von der jeweiligen
Machtkonstellation ab. Auch die Privilegierung der internationalen Regulierung durch
die Kapitalseite in den letzten drei Jahrzehnten ist Ausdruck von Machtstrategien. Denn
die Kapitalseite ist international aktionsfähiger als andere soziale Klassen und verspricht
sich daher Vorteile von der internationalen Festschreibung bestimmter Normen. Gleichzeitig ist die Kapitalseite strukturell relativ mobil und produziert häufig so, dass die
einzelnen Schritte des Produktionsprozesses in unterschiedlichen Regionen bzw. Staaten angesiedelt sind (Wallerstein 1984:23ff). Sie war historisch daher oft an einem
Grenzregime interessiert, das grenzüberschreitenden Kapitalbewegungen geringe Hürden in den Weg legt. Dies ermöglicht es dem Kapital auch, sich politischen Kompromissen durch Kapitalflucht zu entziehen (Becker 1996; Becker 2002:281f). Umgekehrt forderten bestimmte Kapitalfraktionen immer wieder protektionistische Maßnahmen zum
Schutz der nationalen Märkte.
Für die ökonomische Homogenisierung war das Vermittlungsmedium des Geldes
von besonderer Bedeutung. In kapitalistischen Gesellschaftsformationen geht es um die
Akkumulation von Kapital, also die Spirale Geld – Ware – (mehr) Geld. Damit gewann
das Geld als ein allgemeines Wertäquivalent, das verschiedene Privatarbeiten in Raum
und Zeit verbindet, zunehmend an Relevanz. In der zeitlichen Dimension stellen Inflation und Deflation Probleme dar, in der räumlichen Dimension ist der Tausch von einer
Währung in die andere eine Hürde. Auch Währungsgrenzen sind fundamentale Grenzen. Bestehen innerhalb eines politischen Territoriums Währungsgrenzen, ist der Akkumulationsprozess fragmentiert und es besteht die Unsicherheit des Wechselkurses. Eine
Vereinheitlichung des Währungsgebietes dagegen reduziert Unsicherheit. Wird abhängige Arbeitsleistung entlohnt, bedeutet dies eine Eingliederung der Arbeitskräfte in die
Geldkreisläufe. Auch dies machte letztlich eine Aufgabe sozial geschichteter Spezialwährungen zugunsten territorial vereinheitlichter Geldnormen erforderlich. Die Durchsetzung einer territorial vereinheitlichten Währung ermöglichte über Beschränkungen
der Konvertibilität bzw. die Manipulation der Paritäten auch den Schutz der jeweiligen
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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territorialen Ökonomie. Und auch fiskalische Erwägungen sprachen für die Etablierung
territorialer (meist zentralstaatlicher) Währungen, wie sie im 19. Jahrhundert, teils aber
auch erst gegen Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgte (Helleiner 2003). Die nationale
Währung wurde zum Symbol nationaler Vereinheitlichung, manchmal sogar der nationalen Sinnstiftung. Zu denken wäre hier an die D-Mark als Symbol des bundesdeutschen Wirtschaftswunders und damit der BRD-Identität (siehe Pointon 1998; Lohoff
1998:6). Auch Währungsgrenzen sind veränderbar. Dies gilt nicht allein im Hinblick auf
das monetäre Grenzregime – also Regeln der Konvertibilität und des Wechselkursregimes –, sondern auch im Hinblick auf die geographische Grenzziehung. Die Konvertibilität – also Tauschbarkeit – von Währungen kann politisch beschränkt werden, was
speziell in Krisenphasen historisch auch immer wieder der Fall war. Aber auch das
Wechselkursregime – fixe oder mehr oder weniger „frei“ schwankende Wechselkurse –
stellt mit dem damit verbundenen Maß an Unsicherheit der Wechselkursentwicklung
eine monetäre Grenze dar. Veränderungen der geographischen Geld-Grenzziehungen
hat es ebenfalls wiederholt gegeben. Der wohl weitreichendste Fall der jüngsten Vergangenheit ist die Schaffung einer europäischen Währung, die mit der aktuellen Herausbildung einer europäischen Staatlichkeit einhergeht. In diesem Fall können wir von der
Schaffung eines neuen Währungsterritoriums sprechen. Im Fall eines schleichenden
Vertrauensverlustes in die nationalen Währungen oder von offenen Finanzkrisen kann
es aber auch zur Durchlöcherung des monetären Territoriums kommen. Einerseits können lokale oder regionale Währungen von unten entstehen (beispielsweise zur Schaffung von Liquidität im Fall einer Deflation; siehe Schuldt 1997), andererseits kann es
sein, dass die nationale Währung durch eine wertbeständigere ausländische Währung
verdrängt wird (Fiori 1999). Die (teilweise) Ersetzung der einheimischen durch eine
ausländische Währung impliziert auch den weitgehenden Verlust nicht nur monetärer,
sondern auch allgemeiner politischer Autonomie.
Die Normierung war aber nicht auf Rechts- und Geldnormen beschränkt. Arbeitsdisziplin, der Umgang mit Gesetzen, allgemein die Akzeptanz der bürgerlichen Gesellschaftsordnung sollten auch verinnerlicht werden. Auch hierbei spielten staatliche Institutionen wie Schulen, Behörden und Militär eine Rolle. Gerade diesen Institutionen
stellte sich auch die Frage nach der zu verwendenden Sprache. Im Fall einer bereits
relativ vereinheitlichten Sprachnorm war das für den bürgerlichen Staat keine sehr explosive Frage, anders stellte sich die Sache im Falle eines mehrsprachlichen Staates dar.
Denn dann waren mit der Festschreibung der Amtssprache(n) manifeste Vorteile für die
jeweilige(n) Sprachgruppe(n) verbunden, wurde die Sprache potenziell zum Medium
einer politischen Vereinheitlichung innerhalb der Sprachgruppe – und zum Definitionsmerkmal der Abgrenzung innerhalb des staatlichen Territoriums und damit der potenziellen Abspaltung. Als solche spielte sie als Legitimation der Abspaltung neuer Nationalstaaten von den multiethnischen Staaten Zentral- und Osteuropas eine Rolle (Gellner
2003: Kap.7). Im Gegensatz zum westeuropäischen Regelfall eines durch hohen Assimilationsdruck bewerkstelligten Staatsnationalismus nahm in Zentral- und Osteuropa
die nationale Bewegung die Form eines Sprach- oder Kulturnationalismus an (Hobsbawm
1991). Im Fall Deutschlands und Italiens strebte sie die Vereinigung von Kleinstaaten
an, während es im Fall der Reiche Zentral- und Osteuropas um Autonomie oder im Fall
der Radikalisierung der nationalen Bewegungen um die Abspaltung von Nationalstaa-
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Joachim Becker – Andrea Komlosy
ten ging. In den multiethnischen Reichen wurden innere Sprachgrenzen von der nationalen Bewegung politisiert, auf die realen Grenzziehungen nach ihrem Zerfall hatten
aber die militärischen und diplomatischen Kräfteverhältnisse – nicht nur vor Ort, sondern auch zwischen den jeweiligen Verbündeten – maßgeblichen Einfluss (siehe Schultz
2002:113). Die Auflösung multiethnischer Staaten, Grenzverschiebungen bzw. „nachholende“ sprachliche Homogenisierung waren vielfach auch mit Vertreibungen und
„Bevölkerungsaustausch“, wie es zuweilen euphemistisch hieß, verbunden. „Ethnische
Säuberungen“ sowie geregelte Bevölkerungstransfers erfolgten vor allem während oder
unmittelbar nach Bürger- oder zwischenstaatlichen Kriegen (z.B. Haas 1995; Naimark
2001). Ethnische oder religiöse Gruppen – speziell Sinti und Roma bzw. Juden – wurden in bestimmten Perioden auch intern systematisch ausgegrenzt. Diese Ausgrenzung
erfolgte auf Grundlage von Rechtsnormen und systematisierten Identitätszuschreibungen,
die aber auch Ausnahmeregelungen und Assimilation zuließen. Das faschistische Deutschland radikalisierte die Ausgrenzungspolitik bis hin zum bürokratisch akribisch organisierten Völkermord an Juden sowie Sinti und Roma (Bauman 2002).
Kolonialer Staat und koloniale Grenzen
In Asien, Afrika und den Amerikas folgte die endogene Entwicklung politischer Herrschaft nicht dem europäischen Modell. Vielmehr gab es sehr unterschiedliche Formen
politischer Herrschaft – von äußerst geringer Zentralisierung politischer Macht bis hin
zur Staatsbildung mit zentralen Herrschaftsorganisationen wie Bürokratie und Militär.
Als autonome Formen politischer Herrschaft wurden diese meist zerschlagen, nur wenigen Staaten wie Japan oder China gelang es zumindest, die formelle politische Unabhängigkeit zu bewahren. Aber auch sie sahen sich durch den äußeren Druck zu starken
Veränderungen in Wirtschaft, Politik und Grenzregime gezwungen.
Über die Kolonialpolitik wurde ausgehend vom europäischen Ursprungsraum das
Grundmodell territorialer Staatlichkeit und damit verbundener Grenzlinien auch anderen Weltregionen aufgenötigt. Kam internationaler Handel noch ohne koloniale Landnahme aus, so erforderte die kapitalistische Inwertsetzung neuer Regionen deren militärische Besetzung und politische Unterwerfung. Kapitalistische Ausbeutung bedurfte der
Aneignung der Ressourcen durch die kolonialen Interessen und der juristischen Festschreibung der Eigentumsrechte. Auch die Arbeitskräfte mussten zugunsten der kolonialen Unternehmungen mobilisiert werden.
Bei der Mobilisierung der Arbeitskräfte wurde auf zwei Grundmodelle zurückgegriffen. In einem Modell wurde die Ursprungsbevölkerung im Rahmen der kolonialen Eroberung so stark dezimiert, dass Arbeitskräfte von außen rekrutiert werden mussten. Dies war
das Grundmodell vieler Siedlerkolonien – speziell in Nordamerika, Australien und Teilen
Lateinamerikas. Bei den von außen ins Land gebrachten Arbeitskräften sind „freie“ Siedler – selbstständige Siedler und LohnarbeiterInnen – einerseits und „unfreie“ Arbeitskräfte, im Fall der Amerikas aus Afrika verschleppte SklavInnen sowie in unterschiedlicher
Weise zwangsverpflichtete MigrantInnen aus Europa und Asien andererseits zu unterscheiden (Hoerder 2002). In Nordamerika erfolgte ein Großteil der Immigration von
LohnarbeiterInnen allerdings erst nach der politischen Unabhängigkeit im Gefolge der
Industrialisierung. In Lateinamerika immigrierte der Großteil von LohnarbeiterInnen nach
dem Agrarexportboom in den La-Plata-Staaten und Brasilien gegen Ende des 19. und zu
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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Beginn des 20. Jahrhunderts. Die „freien“ Siedler erhielten relativ bald die üblichen Bürgerrechte, während die Nachfahren der „SklavInnen“ sich politischen und sozialen Diskriminierungen ausgesetzt sahen und sehen. Insofern wirkt die frühere Grenze zwischen
„frei“ und „unfrei“ als innere gesellschaftliche Grenze bis heute fort.
Im zweiten Grundmodell wurden vor allem einheimische Arbeitskräfte rekrutiert.
Dies wurde teils durch mittelbaren Zwang – Erhebung kolonialer Steuern und/oder Enteignung von Grund und Boden –, teils durch unmittelbare Zwangsarbeit bewerkstelligt.
Dieser Prozess der abhängigen „ursprünglichen Akkumulation“ wurde von der Metropole und ihrem kolonialstaatlichen Ableger zugunsten externer kolonialer Interessen in
Gang gesetzt. Hierbei konkurrierten Staaten des Zentrums um die koloniale Landnahme. Grenzziehungen erfolgten entsprechend den militärischen und diplomatischen Kräfteverhältnissen. Beim Abstecken der Grenzen war den Kolonisatoren das neu abgegrenzte
Territorium oft kaum bekannt (Weiss/Mayer 1984:140). Die materiellen Erwartungen
der Kolonisatoren erfüllten sich in vielen Fällen nicht.
Die kolonialen Ökonomien wurden auf die jeweilige Metropole ausgerichtet. Es
entstanden kapitalistische Enklaven, die Trennung der Arbeitskräfte von den Subsistenzmitteln war jedoch nicht vollständig. Den (männlichen) Lohnarbeitern wurde meist
nur ein Lohn ausgezahlt, der für den Unterhalt ihrer eigenen Person ausreichte. Frauen,
Kinder und Alte sollten sich über die Subsistenzproduktion durchbringen (Komlosy u.a.
1997; Wallerstein 1984:18ff). Das heißt, die Ökonomien wurden oft nicht völlig durchkapitalisiert, sondern mehrere Produktionsweisen waren miteinander verbunden. Auf
diese Art und Weise erlangte das Kapital Zugriff auf deformierte traditionelle oder informelle Sektoren und ihre ProduzentInnen, die mit ihrer un- oder unterbezahlten Arbeit
die Lohnarbeitskräfte mitversorgten und im Fall von Krankheit, Arbeitsplatzverlust oder
Alter unterstützten. Dieser Werttransfer hält die Lohnkosten im formellen Teil der Peripherie-Ökonomien vergleichsweise gering, die Existenz großer Teile der Bevölkerung,
die nicht (direkt) von Lohnarbeit leben, schafft eine „Reservearmee“, die verbrauchte
Arbeitskräfte im modernen Sektor jederzeit durch neue ersetzen kann (Komlosy 2002:50).
Besonders radikal waren die Enteignungen im Fall von Siedlerkolonien. Über diese
wurde den Kolonisierten nicht nur die materielle Existenzgrundlage beschränkt oder
genommen, sondern sie wurden aus Gründen der politischen Kontrolle auch in ihrem
Siedlungsgebiet und in ihrer Mobilität stark eingeschränkt. Dies gilt gerade auch für
jene Siedlerkolonien, in denen die ursprüngliche Bevölkerung weiterhin die Mehrheit
(oder doch eine große Minderheit) stellte. Im Fall der Siedlerkolonien des südlichen
Afrika wurden die Kolonisierten vom jeweiligen siedlerkolonialen Staat in städtischen
Townships und ländlichen Homelands, Tribal Trust Lands etc. zusammengepfercht und
einer strikten Kontrolle ihrer Mobilität unterworfen (Wolpe 1976). Im Fall Israels gilt
die politische Segregation zwar nicht für das eigentliche Staatsgebiet, wohl aber für die
besetzten Gebiete (siehe den Beitrag von Waltz). Die Zuordnung zu den Kolonisierten
erfolgte aufgrund strikter Klassifikationen. Teils wurden die Kolonisierten auch noch
bestimmten ethnischen Gruppen mit entsprechenden Wohngebieten zugeordnet und damit
ihre „Identität“ fixiert. Siedlerkolonien zeichneten sich durch besonders rigide innere
Grenzziehungen und räumliche Segregation aus.
Die Kolonialmächte nahmen eine juristische Trennung zwischen kolonialem Untertan und kolonisierendem Staatsbürger vor. Die Kolonisierten waren einerseits dem
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Joachim Becker – Andrea Komlosy
Kolonialrecht, andererseits oft dem so genannten „Gewohnheitsrecht“ unterworfen. Der
Kolonialstaat band oftmals lokale Gruppen über die indirect rule in die Herrschaftsausübung ein, in besonders perfektionierter Weise im britischen Fall (Mamdani 1996).
Teils wurden für eine anpassungs- und aufstiegswillige Minderheit der Kolonisierten,
die so genannten „Evolués“, Sonderrechte eingeführt. Es galten in den Kolonien also
keine vereinheitlichten juristischen (und politischen) Normen, sondern Doppelstandards.
Disziplinierung erfolgte nicht allein über Gewalt und Repression, sondern auch über
Schule und Missionierung. Meist erfolgte die „zivilisatorische“ Mission in einer Fremdsprache. Aufstieg in der Kolonialgesellschaft war an die Kenntnis der kolonialen Amtssprache gebunden. Vielfach waren die Aufstiegsmöglichkeiten zudem von ethnischen
Zuschreibungen abhängig. So galten beispielsweise in der kolonialen Stereotypenbildung
bestimmte Ethnien als besonders gefügig oder „intelligent“ und wurden daher bei der
Stellenvergabe durch private Unternehmen oder kolonialstaatliche Stellen bevorzugt.
So schreibt Anderson (1988:129) im Hinblick auf die französische Praxis in Indochina:
„Die Franzosen hielten mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg, dass die Vietnamesen
trotz ihrer Unzuverlässigkeit und Habgierigkeit entschieden strebsamer und intelligenter als die ‚kindlichen‘ Khmer und Laoten seien. Dementsprechend setzten sie vietnamesische Funktionäre sehr oft im westlichen Indochina ein.“ Auch im kulturellen Bereich kann letztlich nicht von einer einheitlichen Normierung gesprochen werden. Bestimmte Sprach- und Verhaltensnormen mussten allerdings für einen – begrenzt möglichen – Aufstieg im kolonialen Staatsapparat erfüllt werden. Die Bildungsnormen waren
dem europäischen Beispiel entlehnt, „das Bildungssystem war nicht auf Afrika, sondern
auf Europa ausgerichtet. Schulbücher wurden in den Hauptstädten der Metropolen verfasst
und veröffentlicht; die Studenten legten ihre Examina an den Universitäten der metropolitanen Universitäten ab.“ (First 1970:66)
Außenorientiert war auch die Geldnorm. Die Kolonialmächte verdrängten die lokalen Währungen und ersetzten sie durch koloniale Währungen mit territorialer Gültigkeit.
Insofern kam es zwar zur Vereinheitlichung der Geldnorm, doch war diese auf den Bedarf der Metropole zugeschnitten. Sie ermöglichte im Gegensatz zu den nationalen
Währungen der Zentrumsstaaten auch keinen Außenschutz. Vielmehr sicherte die koloniale Geldverfassung ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse ab (Byé/de Bernis 1987:
842ff; Helleiner 2003: Kap. 8).
Zusammenfassend können wir festhalten, dass die Durchkapitalisierung und Durchstaatlichung der kolonialen Gesellschaften schwächer ausgeprägt war als in den Zentrumsstaaten. Die formale Normierung war weniger einheitlich als in den Metropolen, trotzdem wurde eine neue Form der Räumlichkeit und der inneren wie äußeren Grenzziehung
durch die Kolonialmetropolen durchgesetzt.
Postkoloniale Kontinuitäten
Die antikolonialen Bewegungen bezogen sich oft auf das Uneingelöste der bürgerlichdemokratischen Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Auch wenn kontinentale
Freiheitsutopien eines Bolivarismus, eines Pan-Afrikanismus oder Pan-Arabismus entworfen wurden, orientierten sich die antikolonialen Bewegungen sowohl im frühen 19.
(Lateinamerika) wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Asien und Afrika) real
mehrheitlich an einer Unabhängigkeit im kolonial vorgeprägten territorialen Rahmen
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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(siehe Kaplan 1991; Anderson 1988: Kap. 6; Davidson 1964:58ff; Davidson 1992). „Die
Verknüpfung der jeweiligen Ausbildungs- und Verwaltungsfahrten lieferte“, so Anderson
(1988:140), „die räumliche Grundlage für neue ‚vorgestellte Gemeinschaften‘, in welchen die ‚Eingeborenen‘ dazu gelangten, sich als ‚Staatsbürger‘ zu verstehen. Der
Kolonialstaat lud die ‚Eingeborenen‘ in die Schulen und Amtsstuben ein, der Kolonialkapitalismus schloß sie gleichzeitig von den Vorstandszimmern aus; so wurde eine einsame, zweisprachige Intelligenz, die der bodenständigen örtlichen Bourgeoisie nicht
verbunden war, in bisher unbekanntem Maß zur frühen Schlüsselfigur des Nationalismus in den Kolonien.“ Das Band der formalen politischen Abhängigkeit wurde mit der
Unabhängigkeit zerschnitten, die territoriale Grenze wurde auch zur Staatsgrenze gegenüber der Kolonialmetropole. Doch blieb es meist bei einer starken ökonomischen,
politischen und kulturellen Orientierung auf die Metropole (First 1970:50f; Davidson
1992). Selbst in den Fällen, in denen die neue Staatsmacht tatsächlich eine sozio-ökonomische Transformation anstrebte, gingen oft ererbte koloniale Praktiken und Planungen
in die neue Staatsroutine ein (z.B. Schiefer 1986). Es erwies sich als äußerst schwierig,
die Außenorientierung der Ökonomie abzubauen. Aufgrund der Auslandsverschuldung
und der fiskalischen Abhängigkeit nicht nur von Steuern, sondern von „Auslandshilfe“
war der postkoloniale Staat oft im Spagat zwischen inneren und äußeren Legitimierungszwängen gefangen. Die Geldnorm blieb oft stark außengeprägt. Am augenfälligsten ist
dies in der Zone CFA zwischen Frankreich und seinen afrikanischen Ex-Kolonien erkennbar. Damit waren die postkolonialen Gesellschaften oft durch eine Außenorientierung
und eine nur begrenzte, seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts oft sogar rückläufige
Durchstaatlichung der Gesellschaften gekennzeichnet. Gleichzeitig lebten die kolonial
ererbten Spannungen zwischen Ethnien oder Religionsgemeinschaften innerhalb der
postkolonialen Territorialstaaten fort oder wieder auf, welche die Kolonialmächte gemäß der Devise „stärken, was trennt“ gefördert hatten. Daher ist ihre Territorialstaatlichkeit fragil, die Grenzen zu den Nachbarstaaten sind oft porös, und aufgrund der
Abhängigkeiten wollen oder können sie oft auch kein schützendes Grenzregime gegenüber den früheren Kolonialmetropolen aufbauen.
Die wirtschaftliche Krise hat zuweilen – vor allem, aber nicht nur im subsaharischen
Afrika – zu einer Krise des Staates geführt. Mehrprodukt wird hier nicht mehr privat
über die juristisch fixierten Eigentumsverhältnisse abgeschöpft. Der Staat ist auch kaum
mehr zur Steuererhebung in der Lage, seine Beschäftigten beziehen nur mehr ein geringes und oft auch unregelmäßig gezahltes Gehalt. Stattdessen bilden sich bewaffnete
Gruppen heraus, die sich Mehrprodukt mit unmittelbarer Gewalt aneignen. Gewinnen
sie den lokalen Zugriff auf Rohstoffe, klinken sie sich in internationale Handelsnetzwerke
ein. Manche dieser militärisch-politischen Gruppen sind grenzüberschreitend aktiv. Dies
galt beispielsweise für die Soldateska von Charles Taylor in Liberia, die sich mit der
Revolutionary Unity Front (RUF) in Sierra Leone verband. Oft kleiden sich militärische
Gruppen in ein ethnisches oder religiöses Gewand. Dies ist aber nicht immer der Fall.
Die RUF wurde beispielsweise durch politisch an den Rand gedrängte Intellektuelle
gegründet und rekrutierte ihre Kämpfer aus deklassierten, arbeitslosen Jugendlichen
(Rozès 2003; Le Billon 2003:154; siehe auch Ruf 2003:24ff). In Extremfällen – wie
Somalia, Liberia oder Sierra Leone – ist vom Staat nur die äußere Hülle geblieben. Aber
auch staatliche Armeen spielen im Konflikt um Einflusszonen und Ressourcen zuwei-
46
Joachim Becker – Andrea Komlosy
len eine Rolle. Einen bezeichnenden Fall stellt der Kongo dar. Hier unterstützten verschiedene Regierungen die Koalition von Laurent-Desiré Kabila beim Sturz des MobutuRegimes und suchten sich im Gegenzug Einflusszonen im Kongo zu sichern. In diesen
Zonen bemühten sie sich auch um den – teils vertraglich verbrieften – Zugang zu Rohstoffvorkommen (siehe Braeckman 1999). In diesem Fall ist der Staat stark fragmentiert,
seine Territorialität ist stark geschwächt. Es gibt kein staatliches Gewaltmonopol, aber
immerhin noch eine politische Instanz, die punktuell Grenzen setzt.
Alle diese Konflikte drehen sich im Kern um den Ein- und Ausschluss bei der Nutzung materieller Ressourcen. In dem Maß, in dem die bürokratisch ordnende Hand des
Staates schwächer wird, gewinnt die bewaffnete Hand militärischer Gruppen an Bedeutung. Auch die militärisch-politischen Gruppen etablieren Formen der räumlichen Kontrolle, nicht aber formalisierte Normen oder einen entsprechenden Verwaltungsapparat.
Ist die Staatsmacht in Gegenden mit geostrategischer Bedeutung oder wichtigen Rohstoffen stark geschwächt, so nutzen dies westliche Regierungen als Vorwand für militärische Interventionen und für die Etablierung einer quasi-kolonialen Kontrolle (Ruf 2003).
Zu offiziellen Grenzänderungen haben diese Konflikte bislang kaum geführt, da die
Bedeutung der formellen Staatsgrenze in diesen Fällen mehr als relativiert worden ist.
Wandel von Räumen und Grenzen
Mithin ist deutlich, dass Territorien keine abgeschlossenen Container sind. Sie weisen
zwar über bestimmte Normen eine innere Homogenisierung auf, doch werden sie überlagert von (meist asymmetrischen) Interaktionsmustern verschiedener Akteure. Politische Akteure wirken oft nicht nur in einem, sondern in mehreren Territorien. Waren,
Kapital und Arbeitskräfte fließen von einem Ort zum anderen, nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen Territorien. So entstehen auch Verflechtungsräume (Becker
2002:242ff; Novy 2001:35ff; vgl. auch Komlosy 1995:394f). Diese Verflechtungsräume
können mehr oder weniger territorialen Charakter haben; oft erfolgt die Interaktion in
Form von Netzwerken und nimmt keine flächenhafte Gestalt an. In beiden Fällen sind
sie durch (innere und äußere) territoriale Grenzen und Grenzregime (Zölle, Kapitalverkehrskontrollen, Pass- und Einwanderungsbestimmungen etc.) konditioniert. Sie
nehmen damit eine transnationale Form an, in der nationalstaatliche Grenzen mit den
grenzüberschreitenden Bewegungen im Verflechtungsraum koexistieren. Staatliche Politik ist – abgesehen von der Außenpolitik – per definitionem auf das staatliche Territorium begrenzt, während transnationale wirtschaftliche Aktivitäten in ihrer Reichweite
nicht auf einen Staat fixiert sind. Dies bedeutet, dass Letztere in der Standortkonkurrenz
die Bedingungen einzelner Staaten gegeneinander ausspielen können. Gleichzeitig versichern sie sich aber auch der Unterstützung ihres Herkunftsstaates zur Durchsetzung
ihrer Interessen im Ausland und auf internationalen Märkten.
Raum, Grenzziehungen und Grenzregime sind weder im Fall der Staaten noch der
transnationalen Verflechtungsräume ein für alle Mal fixiert, sondern veränderlich. Gesellschaftliche Akteure suchen Grenzziehungen und Integrationsintensität politisch zu
beeinflussen, da dies auf die Machtbeziehungen, ihre wirtschaftlichen und politischen
Möglichkeiten Einfluss hat.
Die Veränderungen von Machträumen, Grenzlinien und -regimen kann entlang zweier
grundlegender Konfliktlinien kapitalistisch geprägter Gesellschaften bewerkstelligt wer-
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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den: der Konkurrenz und dem Klassenkonflikt (Becker 2002: Kap.3.6 und 5.5). Konkurrenz ist dabei nicht allein auf Konkurrenz zwischen Einzelkapitalen beschränkt; auch in
anderen sozialen Klassen herrscht Konkurrenz. So konkurrieren beispielsweise Arbeitskräfte um Arbeitsplätze, vor allem solche, die gut bezahlt und sicher sind. Dies hat Auswirkungen auf die Ausgestaltung von Einwanderungsbedingungen, bei der einheimische mit zuwandernden Arbeitskräften konkurrieren. Bei der Konkurrenz wird auch der Staat in Dienst
genommen, um die jeweilige Konkurrenzposition zu verbessern. Insofern hat Konkurrenz
auch eine politische Komponente. Hierbei organisieren sich Gruppen auch aufgrund bestimmter Merkmale wie Sprach- oder Religionszugehörigkeit. Diese können dann auch
als Bezugspunkt für die Formulierung ethnischer oder nationaler Forderungen dienen.
Damit gewinnen sie oft einen explizit räumlichen Bezug; beispielsweise dann, wenn Autonomie oder Unabhängigkeit gefordert wird, damit staatliche Einrichtungen der eigenen
ethnischen oder nationalen Gruppe besondere Förderung angedeihen lassen können.
Tatsächlich haben Grenzregime und der Verlauf von Grenzlinien erhebliche Wirkungen auf die Konkurrenzverhältnisse. So drängen starke Kapitalfraktionen oft auf
freien Waren-, Kapital- und Personenverkehr, da sie so ihre Konkurrenzposition in einem weiten Raum ausspielen können. Hingegen wünschen schwächere Kapitalfraktionen
oft eher ein restriktives Grenzregime bei Handel (und Kapitalverkehr), da ihnen dieses
einen gewissen Schutz vor überlegener Konkurrenz verspricht. Auch beim Personenverkehr favorisieren weniger konkurrenzfähige Kapitalfraktionen – und auch Staaten in
schwacher Konkurrenzposition – zuweilen Maßnahmen, die der Abwanderung vor allem der qualifizierten einheimischen Arbeitskräfte ins Ausland entgegenwirken. Es ist
kein Zufall, dass erfolgreiche nachholende Industrialisierung oft mit einem protektionistischen Grenzregime verbunden war (Bairoch 2001; Chang 2002). Ähnlich ist die Perspektive etablierter Lohnarbeiter, die auf den jeweiligen nationalen (oder früher auch
lokalen) Arbeitsmarkt verwiesen sind. Auch sie wünschen Abschottung nach außen zum
Schutz vor Konkurrenz. Sie stärken so auch ihre Verhandlungsposition gegenüber der
Kapitalseite. Hier geht es also nicht allein um Konkurrenz, sondern auch um den Klassenkonflikt. Anders ist die Perspektive von Arbeitskräften, die schlechter Bezahlung und
hoher Arbeitslosigkeit individuell durch einen Ortswechsel entkommen möchten. Ihnen
ist an durchlässigeren Migrationsgrenzen gelegen, zumindest bis sie sich selbst etabliert
haben. So haben sie paradoxerweise das gleiche Interesse an offenen Grenzen wie die
starken Kapitale der Grenzen, obwohl diese für ihre besondere Form der Ausbeutung als
ArbeitsmigrantInnen verantwortlich sind.
Eine Veränderung der Grenzziehung kann Konkurrenzverhältnisse verändern. Insoweit nur die Karten neu gemischt werden, es aber nicht zu einer neuen Phase wirtschaftlicher Entwicklung und einer Veränderung der Stellung in der internationalen Arbeitsteilung kommt, könnte man von einer nicht-transformativen Form des Wirtschaftsnationalismus sprechen (Szlajfer 1990:80). Diese ist zu unterscheiden von einer Veränderung der Grenzziehung oder einem Grenzregime, das einer Veränderung der sozioökonomischen Verhältnisse und einer Modifizierung der Position in der internationalen
Arbeitsteilung den Weg bereitet. Eine nicht-transformative Form des Wirtschaftsnationalismus war in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie zu erkennen. Das Eigentum wurde – beispielsweise über Nostrifizierungen – in die Hände der jetzt dominanten „nationalen“ Gruppe überführt. Aber die Außenabhängigkeit wurde in der Ten-
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Joachim Becker – Andrea Komlosy
denz nur von Wien oder Budapest nach Paris oder London verlagert und eine Transformation der wirtschaftlichen Strukturen unterblieb (siehe Becker/Odman in diesem Band).
Ähnlich verhielt es sich im jüngsten Fall der Auflösung Jugoslawiens. Hier versprachen
sich die dominanten Gruppen in den jugoslawischen Republiken – zumindest in den
reicheren – von einer Abspaltung einen besseren Zugriff auf den Staatsapparat und damit auf den Verlauf der ursprünglichen Akkumulation und die Privatisierung (siehe Barša
1999; Hofbauer in diesem Band). Auch die Entkolonisierung zog nicht notwendigerweise eine Transformation der ökonomischen Strukturen nach sich. Vielfach führte sie
nur zu einer (geringfügigen) Verschiebung der Eigentumsverhältnisse und zu einer Besetzung des Verwaltungsapparates mit nationalen Kadern.
Räumlichkeit und Grenze haben aber auch Konsequenzen für die Kräfteverhältnisse zwischen Klassen. Auffällig ist, dass historisch eine starke Schwächung des Weltmarktzusammenhanges und beschränkter Kapitalverkehr eine günstige Konjunktur für revolutionäre Veränderungen bzw. progressiven Reformismus geboten haben. So kam es zu
ersten sich anti-kapitalistisch verstehenden Revolutionen nach dem Ersten Weltkrieg
(Russland) bzw. war eine Wende zu eigenständigeren Entwicklungswegen bzw. einer
sozialreformistischen Politik im Gefolge der Krise der 30er-Jahre bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg festzustellen. In den unabhängigen Staaten der Dritten Welt konnte mit
der großen Krise der 30er-Jahre das außenorientierte Modell nicht fortgesetzt werden.
Daher kam es zu einer Neuausrichtung auf den Binnenmarkt, importsubstituierende Industrien wurden mit staatlicher Unterstützung ins Leben gerufen. Der soziale Block an
der Macht erfuhr eine Erweiterung um die Industriebourgeoisie und Gruppen des Kleinbürgertums, auch Teile der Arbeiterschaft konnten eine politische Aufwertung und materielle Besserstellung durchsetzen (Feldbauer u.a. 1995). Nach dem Zweiten Weltkrieg
wurde teils durch die innere gesellschaftliche Dynamik (China, Korea, Vietnam, Jugoslawien, mit Abstrichen die Tschechoslowakei), teils durch die sowjetische Politik (in
diversen osteuropäischen Staaten) ein staatssozialistisches Modell durchgesetzt, das sich
für einige Jahrzehnte auch konsolidieren konnte. Im Kontext der Systemkonkurrenz
und der geschwächten Weltmarktbeziehungen kam es auch in Westeuropa zur Etablierung eines stärker binnenmarktorientierten Wirtschaftsmodells und zu einem Ausbau
des Sozialstaates. In diesen Konjunkturen wurde eine eigenständigere Politik nicht gleich
durch internationalen ökonomischen Druck erstickt. Im Fall einer sozialreformistischen
Politik konnte sich die Bourgeoisie sozialen und politischen Kompromissen nicht durch
Kapitalflucht entziehen, da wenige Möglichkeiten zur Kapitalanlage im Ausland bestanden und im Gefolge des Krieges und des Nachkriegsaufbaus der Kapitalverkehr
strikten Kontrollen unterlag. Damit war ihr die Exit-Option versperrt. Eine annähernde
Deckungsgleichheit zwischen politischem Territorium und dem Verflechtungsraum verdichteter Wirtschaftsbeziehungen scheint daher für die Durchsetzung und Stabilisierung progressiver reformistischer Politik günstig (Becker 1996). Aus diesem Begründungszusammenhang rührt auch die gegenwärtige Forderung nach einer De-Globalisierung durch Teile der globalisierungskritischen Bewegung her. Umgekehrt setzen die
Kräfte des Kapitals auf einen freien Kapitalverkehr, da ihnen dieser einen größeren
Aktionsraum und den Hebel der Kapitalflucht gibt.
Auch für die sozialen Rechte der Beschäftigten erweist sich die Deckungsgleichheit
von politischem Territorium und dem Einzugsbereich des Arbeitsmarktes als günstige
Grenzen und Räume – Formen und Wandel
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Voraussetzung. Diese wurde allerdings seit den 1960er-Jahren aufgebrochen, als die
entwickelten westeuropäischen Industriestaaten und die USA Arbeitskräfte aus meist
nahe gelegenen Peripherie-Ökonomien importierten. Diese Initiative ging von jenen
Kapitalen aus, die so Lohnkosten senken und die Flexibilität der Beschäftigung erhöhen
wollten und stand im Widerspruch mit den Interessen der organisierten Arbeiterbewegung in den Industrieländern, die die „Gastarbeiter“ als Lohndrücker ansahen. Aus der
Perspektive der Entsendestaaten spiegelt die – zunächst meist als vorübergehend konzipierte – Abwanderung die Schwächen der nationalen Ökonomie und der politischen
Gegensteuerung wider. Den Staaten der Peripherie ging durch die Abwanderung der
jungen und dynamischsten Bevölkerungsgruppen Humankapital verloren. Da die Ostblock-Staaten der Arbeitsmigration ihrer Bevölkerung einen politischen Riegel vorschoben, konzentrierte sich die westeuropäische Arbeitskräfterekrutierung auf Südeuropa,
Jugoslawien und die Türkei, bis der Zusammenbruch des realen Sozialismus auch die
ehemaligen RGW-Staaten als Arbeitsmarkt für die westeuropäischen Zentralräume öffnete. Die Regierungen der GastarbeiterInnen-Exportstaaten bemühten sich vergeblich,
über Entsendeverträge Einfluss auf Quoten und Beschäftigungsbedingungen zu erlangen, wurden durch den Nachfragesog aus den westeuropäischen Industrieländern jedoch an den Rand gedrängt; ähnlich stellt sich die Situation zwischen den USA und
Mexiko dar (vgl. Imhof in diesem Band). Im Gegensatz zur geforderten Begrenzung der
Kapitalmobilität gilt die Arbeitskräftemobilität in Teilen der globalisierungskritischen
Bewegung als Indikator persönlicher Freiheit. Hierbei wird allerdings übersehen, dass
Einwanderungsquotierung, wie sie verstärkt seit den 1990er-Jahren betrieben wird,
Fremdengesetze und fremdenfeindliche Haltung in der Bevölkerung gegenüber ArbeitsmigrantInnen nicht bewirken, dass tatsächlich weniger Einwanderung stattfindet. Vielmehr werden ArbeitsmigrantInnen auf diese Weise in „legal“ und „illegal“ Anwesende
unterteilt, die auf unterschiedlichen Segmenten des Arbeitsmarktes eingesetzt werden
können.
Auch die Kompetenzverteilung zwischen verschiedenen territorialen Ebenen hat
Einfluss auf die sozialen Kräfteverhältnisse, denn die politischen Vertretungen unterschiedlicher sozialer Interessen sind auf den verschiedenen räumlichen Ebenen unterschiedlich artikulations- und durchsetzungsfähig. So waren für die Arbeiterbewegung
historisch die nationalen Parlamente zur Durchsetzung arbeits- und sozialrechtlicher
Forderungen sehr wichtig. Hingegen erweist sich die EU-Ebene mit ihrer Exekutivlastigkeit (extrem starke Stellung der EU-Kommission) für die europäischen Konzerne
als besonders viel versprechende Handlungsebene.
Bei Veränderungen der Räumlichkeit und damit der Grenzziehungen können sowohl konkurrenz- als auch klassenpolitische Überlegungen eine Rolle spielen. Das sei
am Beispiel der aktuellen Europäisierung der Geldpolitik illustriert. Von der Einführung
einer europäischen Währung versprachen sich die maßgeblichen politischen Kräfte sowohl eine Stärkung im internationalen Konkurrenzkampf mit dem US-Dollar als auch
eine Schwächung progressiver wirtschafts- und sozialpolitischer Impulse in den europäischen Ländern durch die restriktiven Bedingungen des so genannten Stabilitätspaktes,
der mit der Einführung des Euro verbunden war.
Generell war in den letzten zwei, drei Jahrzehnten sowohl eine Veränderung der
Grenzregime als auch der Kompetenzverteilungen zwischen den verschiedenen territo-
50
Joachim Becker – Andrea Komlosy
rialen Ebenen festzustellen. ProtagonistInnen dieser Veränderungen waren das transnationale Kapital und die mit ihm liierten politischen Kräfte. Der grenzüberschreitende
Kapitalverkehr wurde immer freier, während Arbeitskräftemigration eher restriktiveren
Regularien unterworfen wurde. In der Tendenz wurden die Kompetenzen globaler oder
regionaler Institutionen mit schwacher demokratischer Legitimierung gestärkt. Über
restriktive globale oder regionale Vertragswerke suchten liberale Kräfte Nationalstaaten, aber auch Kommunen auf lange Sicht auf eine liberale Regulierung festzulegen. Sie
waren bemüht, diese Politik über vorgebliche Wettbewerbszwänge zu legitimieren. Regionaler oder lokaler Wohlstandschauvinismus war oft das Echo. So will die Lega Nord
los vom ärmeren Süditalien, wünschen die katalanischen Nationalisten mehr Autonomie, spaltete sich Slowenien als erste Republik von Jugoslawien ab. Hier geht es um die
Loslösung privilegierter Regionen von bisher bestehenden nationalen Ausgleichs- und
Solidaritätsverpflichtungen. Die nationalstaatliche Grenze wird – beispielsweise durch
die Forderung nach De-Globalisierung – aber auch als Schutz thematisiert.
Literatur
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