Luftkrieg in Mülheim

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Pamela Henstra
Der Luftkrieg in Mülheim an der Ruhr
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung.........................................................................................................................................3
II. Die Anfänge des Luftkrieges von 1939 – 1942............................................................................5
1. Britische Kriegsvorbereitungen...................................................................................................5
2. Der Beginn der britischen Bomberoffensive gegen das Deutsche Reich
und die Stadt Mülheim................................................................................................................7
3. Die Weiterentwicklung des britischen Bomber Command und die Auswirkungen auf die
Stadt Mülheim bis zum Ende des Jahres 1942............................................................................9
4. Die amerikanische Air Force im Luftkrieg über Deutschland...................................................18
5. Die Heimatluftverteidigung.......................................................................................................21
a) Nachtjagd..............................................................................................................................21
b) Flak.......................................................................................................................................23
6. Die Heimatluftverteidigung im Jahr 1942.................................................................................25
a) Nachtjagd..............................................................................................................................25
b) Flak.......................................................................................................................................26
c) Tagjagd.................................................................................................................................27
III. Das Jahr 1943.............................................................................................................................28
1. Die Konferenz von Casablanca..................................................................................................28
2. Die 8. USAAF............................................................................................................................31
3. Das Bomber Command..............................................................................................................32
4. Reaktionen auf deutscher Seite..................................................................................................33
5. Mülheim und der Beginn der „Battle of the Ruhr“....................................................................34
6. Der Großangriff auf die Stadt Mülheim an der Ruhr.................................................................36
7. Die Heimatluftverteidigung 1943..............................................................................................45
a) Flak ......................................................................................................................................45
b) Tagjagd ................................................................................................................................47
c) Nachtjagd .............................................................................................................................48
8. Vergeltung statt Verteidigung....................................................................................................51
9. V-Waffen im Einsatz ................................................................................................................53
a) V1..........................................................................................................................................53
b) V2 ........................................................................................................................................53
c) V3..........................................................................................................................................54
d) Die Bedeutung der V-Waffen-Offensive..............................................................................55
IV. Die letzte Phase des Luftkrieges 1944/45.................................................................................57
1. Die Verschärfung des Luftkrieges in der Endphase..................................................................57
2. Die letzten Luftangriffe gegen die Stadt Mülheim....................................................................59
V. Die Bevölkerung und der Bombenkrieg....................................................................................61
1. Ziviler Luftschutz......................................................................................................................61
2. Selbstschutz...............................................................................................................................62
3. Bunkerbau..................................................................................................................................63
4. Luftalarme..................................................................................................................................67
5. Die Versorgung der Bevölkerung..............................................................................................70
6. Jugend im Luftkrieg...................................................................................................................74
a) Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV)..........................................................................74
b) Das Lagerleben in der KLV .................................................................................................77
c) Mülheimer Flakhelfer...........................................................................................................80
VI. Schlussbetrachtung....................................................................................................................82
1. Die Auswirkungen des Bombenkriegs auf die Stadt Mülheim an der Ruhr .............................82
2. Fazit...........................................................................................................................................85
Quellen- und Literaturverzeichnis......................................................................................................87
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis................................................................................................90
Abkürzungsverzeichnis......................................................................................................................91
I. Einleitung
Die alliierte Bomberoffensive gegen das Deutsche Reich während des Zweiten Weltkrieges brachte
das Kriegsgeschehen direkt in die deutschen Städte. Vor allem die britischen Flächenangriffe
hinterließen dabei Schäden und Zerstörungen in einem verheerenden Ausmaß. Besonders im
Westen war das Ruhrgebiet, „die Waffenschmiede des Reiches“1 das vorrangige Ziel. Die
Menschen dort mussten bald pausenlos mit Luftangriffen rechnen und auch leben. Neben der
Zerstörung der Industrie spielte auch die Zerstörung der deutschen Moral eine bedeutende Rolle bei
den britischen Luftkriegsplänen. Die nächtlichen Flächenangriffe („area bombing“) zeichneten sich
schließlich dadurch aus, dass gezielt die Stadtkerne und Wohngebiete die Hauptangriffsziele waren.
Eine Taktik, für die später der Begriff „moral bombing“ stehen sollte.
Neben den Bombenangriffen an sich bestimmten u.a. Luftalarme, vorwiegend bei Nacht, immer
häufigere und längerandauernde Aufenthalte in den Bunkern sowie Engpässe bei
Versorgungsgütern aller Art, früh den Alltag der Menschen. Dazu gesellte sich bald die Erkenntnis,
dass Schutz- und Hilfsmaßnahmen nicht mehr ausreichten. Für die Jugend wurden Bereiche wie die
Kinderlandverschickung (KLV) und der Einsatz als Flakhelfer ein wesentlicher Teil des
Kriegsgeschehens.2
Die deutsche Luftverteidigung, die von Beginn an einen schweren Stand gegenüber Hitlers
Offensiv-Strebens hatte, bildete einen bedeutenden Schwachpunkt in der deutschen Kriegsführung.
Frühe Versäumnisse und zunehmender Material- und Personalmangel führten dazu, dass der
anwachsenden Stärke der Alliierten, bald nichts mehr entgegengesetzt werden konnte. Die
Vergeltung, die von Hitler bereits frühzeitig angekündigt wurde, sollte mithilfe der Fernwaffen
noch durchgesetzt werden, doch scheiterte auch dieses Vorhaben und entwickelte sich stattdessen
vielmehr zu einem Unruhestifter innerhalb der Bevölkerung, obwohl die Vergeltungsversprechen
eigentlich das genaue Gegenteil bewirken sollten.3
Diese Darstellung beschäftigt sich damit, am Beispiel der Stadt Mülheim an der Ruhr den Verlauf
des Luftkrieges und seine Auswirkungen auf die Stadt aufzuzeigen. Gerade aus der Sicht der
Zivilbevölkerung war der Luftkrieg ein einschneidendes Erlebnis, der auch diese Stadt zu einem
Teil der „Heimatfront“ machte, jedoch mit einem geringeren Ausmaß an Zerstörung, verglichen mit
1 Zit. n. Jochen von Lang: Krieg der Bomber. Dokumentation einer deutschen Katastrophe, Berlin; Frankfurt a.M.
1986 (Im Folgenden: von Lang: Krieg der Bomber), S. 100.
2 Allgemein zur KLV vgl. Gerhard Kock: Dedr Führer sorgt für unsere Kinder...Die Kinderlandverschickung im
Zweiten Weltkrieg, Paderborn 1997 (Im Folgenden: Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder); Allgemein zu
Flkahelfern vgl. Horst-Adalbert Koch: Flak. Geschichte der deutschen Flakartillerie und der Einsatz der
Luftwaffenhelfer, Bad Nauheim 1965 (Im Folgenden: Koch: Flak).
3 Hierzu allgemein vgl. Heinz Dieter Hölsken: Die V-Waffen: Entstehung – Propanganda – Kriegseinsatz, Stuttgart
1984 (Studien zur Zeitgeschichte Bd. 27) (Im Folgenden: Hölsken: V-Waffen).
4
anderen Städten im Ruhrgebiet. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung der Stadt Köln, aus
dem Jahre 1952.4 In den Missionslisten der Alliierten taucht Mülheim auch tatsächlich nur sechsmal
als direktes Ziel auf, fünfmal beim britischen Bomber Command und einmal bei der 8. United
States Army Air Force (USAAF). Von diesen sechs direkten Angriffen handelte es sich auch nur
bei einem einzigen um einen Flächenangriff. Dagegen galten Essen und Duisburg jeweils über
60-mal als Angriffsziele.5 Als direkter Nachbar dieser Städte erlebte Mülheim daher noch weitere
154 indirekte Angriffe. Welche Bedeutung hatten diese Angriffe für die Stadt bzw. für ihre
Bewohner? Denn auch wenn die Zerstörungen innerhalb der Stadt als gering eingestuft wurden,
bedeutete der Luftkrieg dennoch eine Belastung, sowohl physisch als auch psychisch. In dieser
Hinsicht dürfte sich Mülheim kaum von anderen deutschen Städten unterscheiden. Die
Zivilbevölkerung wurde ein aktiver Part des Krieges und das Jahr 1943, mit der britischen
Großoffensive gegen das Ruhrgebiet, der „Battle of the Ruhr“,6 bildete schließlich den Höhepunkt
des Luftkrieges in Mülheim.
4 Vgl. Wilhelm Ullrich: In drei Wellen flogen 499 Bomber an. Dokumentation über den britischen Luftangriff vom
22./23. 06. 1943. In: Jahrbuch der Stadt Mülheim, Jahrgang Nr. 84, Mülheim 1984 (Im Folgenden: Ullrich:
Dokumentation), S. 213-229 hier S. 226.
5 Vgl. Elmar Wiedeking: Kriegsalltag einer Stadt. Mülheim an der Ruhr 1939-1945. In: Jahrbuch der Stadt Mülheim,
Jahrgang 59, Mülheim 2004 (Im Folgenden: Wiedeking: Kriegsalltag), S. 229-268 hier S. 230ff.
6 Hierzu allgemein vgl. Alan W. Cooper: The Air Battle of the Ruhr. RAF Offensive March to July 1943, Shrewsbury
1992 (Im Folgenden: Cooper: Air Battle).
5
II. Die Anfänge des Luftkrieges von 1939 – 1942
1. Britische Kriegsvorbereitungen
Bereits ab 1934 sah man auf britischer Seite die Entwicklungen in Hitler-Deutschland als
bedrohlich an und bereits zu dieser Zeit entstanden Überlegungen, wie Deutschland im Falle eines
Krieges gegen England vorgehen würde und wie eine Reaktion von Seiten Englands darauf
aussehen sollte. Die Rolle der Air Force, speziell die des Bomber Command, war zu diesem
Zeitpunkt jedoch noch relativ unklar. Es gab daher Pläne für das Bomber Command als
Unterstützer der Navy, als Unterstützer der Army und Pläne, in denen das Bomber Command als
selbstständige Streitkraft eine Offensive gegen die deutsche Industrie führen würde. Mögliche
Operationen gegen das Deutsche Reich wurden bis 1939 entworfen und in den Western Air Plans
(W.A.) festgelegt.7 Auch wenn die Rolle des Bomber Command noch nicht klar definiert war, so
stand doch von Anfang an fest, dass dessen Stärke in jedem Falle ausgebaut werden müsse, um mit
der deutschen Luftwaffe mithalten zu können. Innerhalb von 5 Jahren wollte man über eine
gleichwertige Stärke verfügen. Die anfängliche Unterlegenheit der RAF gegenüber der deutschen
Luftwaffe machte deutlich, dass vor allem der Zeitfaktor eine große Rolle spielen würde, daher
entschied man, das Bomber Command, bzw. die gesamte RAF vorrangig in der Defensive
einzusetzen. Alle Schritte gegen Deutschland sollten lediglich Reaktionen auf deutsche Aktionen
gegen England, Frankreich oder Belgien sein. Im Falle eines deutschen Luftangriffs gegen England
sollte das Bomber Command deutsche Luftwaffenstützpunkte und Werkstätten angreifen, bei einem
deutschen Angriff gegen Frankreich oder Belgien, sollten die deutschen Kommunikations- und
Transportwege das Angriffsziel sein. Deutschland sollte auf keinen Fall dazu provoziert werden,
britische Städte zu bombardieren. Die defensive Ausrichtung der britischen Luftstreitkräfte basierte
neben der Vermeidung von Provokationen auch auf der Tatsache, dass man in England noch nicht
über Maschinen verfügte, die sich für Angriffe auf Deutschland eigneten und da zu dem für eine
notwendige Aufrüstung noch die finanziellen Mittel fehlten, beschränkte sich die Produktion
anfangs noch auf leichte Bomber. Als es ab 1936 die eigenen Mittel schließlich zuließen, wurde die
Produktion auf mittlere und schwere Bomber umgestellt. Die neuen Flugzeugtypen, Wellington,
Whitley, Hurricane, Spitfire, Blenheim und Hampden standen nun kurz vor der Einführung und
Pläne, aus denen später die 4-motorigen Bomber Stirling, Halifax und Lancaster hervorgingen,
wurden 1936 ebenfalls entworfen. Die Flugzeugproduktion sollte gesteigert werden. Bisher sahen
die Pläne 3800 Maschinen innerhalb von 2 Jahren vor, doch nun wurde die Produktion von über
8000 Maschinen innerhalb von 3 Jahren angestrebt (Scheme F). Im Jahr 1938 wurde dieser Plan
wiederum durch einen neuen ersetzt, der in einem Zeitraum von 2 Jahren eine Produktion con
7 Vgl. Charles Webster/Noble Frankland: The Strategic Air Offensive Against Germany 1939-1945, London 1961
(Im Folgenden: Webster/Frankland: Air Offensive), hier Vol. I, S. 86ff. ; ebd. Vol. IV, App. 6, S. 99ff.
6
12000 Maschinen vorsah (Scheme L). Zu Beginn der Produktion galt es, noch einige
Schwierigkeiten, vor allem den Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften, zu überwinden. Doch
schließlich gelang es, Scheme L annähernd den Erwartungen entsprechend umzusetzen.8
Auch nach Kriegsausbruch gingen die Planungen der Flugzeugproduktion weiter, deren gewünschte
Produktionszahlen ab 1941 jedoch stetig unrealistischer wurden.9 Die Produktion wurde zeitweise
zurückgeworfen, u.a. durch die Battle of Britain, zudem waren die schweren Bomber, die man ab
1941/1942 vermehrt herstellte, in ihrer Produktion viel komplexer.10 Insgesamt gelang es den Briten
aber, während des gesamten Krieges, die Flugzeugproduktion auf einem hohen Niveau zu halten.
Tabelle 1: Britische Flugzeugproduktion 193911
Produzierte Bombertypen: 12
Schwere: Manchester, Stirling, Halifax, Lancaster, Warwick
Mittlere: Wellington, Hampden, Hereford, Whitley, Albemarle
Leichte: Blenheim, Battle, Mosquito
Schwere Bomber
Mittlere Bomber
Leichte Bomber
Januar
54
59
78
Februar
54
74
107
März
55
107
117
April
41
81
111
Mai
55
101
140
Juni
72
74
127
Juli
43
108
114
August
51
81
83
September
74
112
93
Oktober
91
100
106
November
89
102
126
Dezember
79
80
122
758
1079
1324
Total
Jäger
8 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 75 ; zu den hier erwähnten Produktionsplänen vgl. Michael M.
Postan: British War Production, London 1975 (Im Folgenden: Postan: British War Production), S. 15ff. und App. 7,
S. 103f.
9 Vgl. Postan: British War Production, App. 3, S. 474ff.
10 Vgl. ebd. S. 123ff., S. 164ff.
11 Vgl. ebd. App. 3, S. 472 und App. 4, S. 484 ; Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV App. 7, S. 104.
12 Bis Anfang 1941 galten Hampden, Wellington und Whitley als schwere Bomber. Blenheim und Battle als
mittelschwere Bomber. Nach Einführung der 4-motorigen Bomber wurden die bis dahin schweren Bomber als
mittelschwer und die mittelschweren als leichte Bomber bezeichnet. Vgl. James Goulding/Phillip Moyes: RAF
Bomber Command and its aircraft 1941 – 1945, London 2002 (Im Folgenden: Goulding/Moyes: Bomber Command
aircraft), S. 08; zu den Flugzeugtypen der RAF vgl. auch www.raf.mod.uk (Letzter Zugriff: 18.01.2015).
7
Die Tatsache, dass die britische Kriegsproduktion auch auf Materiallieferungen aus den USA
zurückgreifen konnte, gehört an dieser Stelle zwar erwähnt, aber auch der Hinweis darauf, dass die
Importe nicht den Großteil der Gesamtproduktion ausmachten. Daneben wurden die Flugzeuge der
RAF auch in Kanada produziert, dort wurde auch ein Teil der Piloten ausgebildet. Insgesamt wurde
das Bomber Command aus Material und Personal des gesamten Commonwealth geformt.13
2. Der Beginn der britischen Bomberoffensive gegen das Deutsche Reich und die Stadt Mülheim
Erste Erfahrungen mit britischen und französischen Luftangriffen hatte man auf deutscher Seite
bereits während des Ersten Weltkrieges gemacht und daher war man sich zu Beginn des Zweiten
Weltkrieges durchaus darüber bewusst, dass eine reale Gefahr aus der Luft bestand. Bereits am
02. September 1939 veröffentlichte die Mülheimer Zeitung einen Aufruf des Polizeipräsidenten
Oberhausen/Mülheim und Leiter des örtlichen Luftschutzes, Lucian (Lutz) Damianus Wysocki, in
dem er die Bevölkerung dazu aufforderte, sich bei Feindeinflügen nicht im Freien aufzuhalten:
„Jede Neugier rächt sich bitter! Um euch vor dem Abwurf feindlicher Bomben zu schützen, muss die
Flak schießen. Dabei können stets Geschützsplitter und auch größere Teile herunterfallen und Euch
auf den Straßen gefährden.“14
Die Auswirkungen von Feindeinflügen auf das Alltagsleben der Bevölkerung sollten die Menschen
im Laufe des Krieges noch deutlich zu spüren bekommen.
Auf britischer Seite galten die ersten 8 Kriegsmonate als „phoney war“, oder auch als Sitzkrieg.
Während dieser Zeit beschränkten sich die Aktionen des Bomber Command, neben
Flubglätterabwürfen, auf gelegentliche Tagesangriffe gegen militärische und industrielle Ziele, vor
allem in Küstennähe. Der eigentliche Wert dieser frühen Aktionen lag aber wohl eher darin, Präsenz
über deutschem Raum und Bereitschaft zum Kampf zu demonstrieren.15 Elektrizitäts- und
Treibstoffwerke im Ruhrgebiet galten zwar als besonders lohnenswert, waren jedoch schwer zu
erreichen. Auf keinen Fall sollten sich die Angriffe gegen die Zivilbevölkerung richten:
„Indiscriminate attack on civilian populations as such will never form part in our policy“ lautete der
britische Grundsatz zu Kriegsbeginn. Zu dieser Haltung verpflichteten sich bei Kriegsausbruch alle
Beteiligten, nachdem der amerikanische Präsident Roosevelt zu einem eingeschränkten
Bombardement appelliert hatte.16 Erste Angriffe gegen das Ruhrgebiet flog das Bomber Command
im Mai 1940. Zu diesem Zeitpunkt hatte man bereits den Wechsel von Tages- auf Nachtangriffe
vollzogen. Besonders verlustreiche Angriffe im Dezember 1939, auf militärische Ziele entlang der
13 Vgl. Postan: British War Production, App. 4, S. 484f. und Tab. 36, S. 247; Webster/Frankland: Air Offensive Vol.
II, S. 04 ; Anthony Verrier: Bomberoffensive gegen Deutschland 1939-1945, Frankfurt am Main 1979 (Im
Folgenden: Verrier: Bomberoffensive), S. 200.
14 Zit. n. Stadtarchiv Mülheim Bestand 11430/55 Mülheimer Zeitung (Im Folgenden: StAMH: MZ), vom 02.09.1939.
15 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 87 und S. 110.
16 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 134f., zit. n. Ebd. S. 135.
8
deutschen Nordseeküste, lieferten die endgültige Entscheidung zu diesem Schritt.17 Eine
Umstellung, die das Bomber Command noch mit einigen Problemen konfrontieren sollte. Die Idee,
Nachtangriffe zu fliegen, entstand aber nicht erst zu dieser Zeit, bereits im W.A. 5, dem
„Ruhrplan“, war von Nachtangriffen die Rede und ebenso in einer Direktive vom April 1940,
betreffend britischer Gegenmaßnahmen nach der deutschen Invasion Skandinaviens. Mit diesem
Ereignis eröffneten die Briten auch schließlich den strategischen Bombenkrieg gegen das Deutsche
Reich.18
Mülheim traf es zum ersten Mal am 13. Mai 1940 und zehn Tage später ein weiteres Mal. Diese
Angriffe verursachten nur geringe Schäden am Kahlenberg und in der Prinzeß-Luise-Straße. Die
Sorge der Bevölkerung hielt sich noch in Grenzen und stattdessen überwog die Neugier, so wurden
die betroffenen Gebiete zu beliebten Ausflugszielen.19 Auch wenn sich die Bevölkerung zu diesem
Zeitpunkt nur in einem geringen Maße bedroht fühlte, so waren die Feindeinflüge doch bereits ein
Zeichen dafür, dass die Stadt vor Angriffen aus der Luft nicht hundertprozentig sicher war. Mit
steigender Zahl solcher leichten Angriffe, stieg aber auch die Beunruhigung innerhalb der
Bevölkerung. Aus diesem Grund wertete man auf britscher Seite auch diese Angriffe als gewissen
Erfolg und die Auswirkung der Luftangriffe auf die Stimmung der Zivilbevölkerung sollte in den
britischen Plänen noch eine wesentliche Rolle spielen.20
Ab Ende 1940 verstärkte das Bomber Command seine Luftangriffe, was sich auch in Mülheim
bemerkbar machte. Zu diesem Zeitpunkt veränderte das Bomber Command auch seine
Angriffstaktik dahingehend, dass die Auswirkungen auf die Bevölkerung stärker in den Fokus
traten. Hatte man sich zu Beginn der Luftoffensive noch ausschließlich auf militärische Ziele
beschränkt, änderte sich das ab Oktober. Nach der erfolgreichen Abwehr der deutschen Invasion
Englands, der „Operation Seelöwe“, während der „Battle of Britain“, begann das Bomber
Command wieder verstärkt Angriffe gegen Deutschland zu fliegen. Dabei kristallisierten sich zwei
Hauptziele heraus: Öl und Moral.21 Ein Beschluss vom 30. Oktober 1940 verwies zwar weiterhin
auf militärische Ziele, dazu kam aber nun der deutliche Hinweis, dass die Bomberangriffe der
deutschen Zivilbevölkerung aufzeigen sollten, mit welcher Schwere die Briten in Zukunft ihren
17 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 202.
18 Vgl. ebd. Vol. IV, App. 6, S. 100; App. 8 (i), S. 109f. ; Ralf Blank: Kriegsalltag und Luftkrieg an der „Heimatfront“.
In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 9/1: Politisierung, Vernichtung, Überleben. Die Deutsche
Kreigsgesellschaft 1939-1945, München 2004 (Im Folgenden: Blank: Heimatfront), S. 357-464 hier S. 362.
19 Vgl. Hans-Werner Nierhaus: Die Stadt Mülheim an der Ruhr und der Zweite Weltkrieg 1939-1945, Essen 2007 (Im
Folgenden: Nierhaus: Mülheim), S. 201.
20 Vgl. Horst Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg über Europa und die deutsche Luftverteidigung. In: Das
Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 6: Der Globale Krieg. Die Ausweitung zum Zweiten Weltkrieg und
der Wechsel der Initiative 1941-1943, Stuttgart 1990 (Im Folgenden: Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg), S.
429-566 hier S. 458; Verrier: Bomberoffensive S. 221.
21 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 157.
9
Luftkrieg führen würden. In der Direktive war auch nicht mehr ausdrücklich von militärischen
Objekten als Ziel die Rede, sondern nur noch von Objekten in großen Städten oder Industriezentren:
„As many heavy bombers as possible should be detailed for the attack, carrying high
explosive, incendiary and delay-action bombs with perhaps an occasional mine. The aim of the
first sorties should be to cause fires, either on or in the vicinity of the targets, so that they
should carry a high proportion of incendiary bombs. Successive sorties should then focus their
attacs to a large extend on the fires with a view to preventing the fire fighting services from
dealing with them and giving the fires every opportunity to spread.“ 22
So lautete die Beschreibung der anzuwendenden Angriffstaktik und ohne es direkt zu formulieren,
hatten die Briten den ersten Schritt in Richtung Flächenangriff („area bombing) gemacht.23 Angriffe
dieser Art erlebte Mülheim zum ersten Mal Ende 1940, als am 20. November das Gebiet rund um
die Rennbahn am Raffelberg von 6 Spreng- und 133 Brandbomben getroffen und sämtliche Häuser
in den anliegenden Straßen beschädigt wurden. Bereits einen Tag später erfolgte ein weiterer
Angriff auf dieses Gebiet, bei dem 3 Sprengbomben und 35 Brandbomben abgeworfen wurden. Am
27. November wurden weitere Häuser, diesmal am Blötterweg, von 5 Spreng- und 52 Brandbomben
getroffen. Die Folgen dieser Angriffe waren nicht mehr nur Straßen- und Gebäudeschäden, es gab
insgesamt 4 Verletzte und einen Toten.24
Das Ruhrgebiet als bevorzugtes Ziel der Luftoffensive erwies sich gleichzeitig als größte
Herausforderung. Die Entscheidung zum Nachtbombardement sollte zwar einen Vorteil gegenüber
der deutschen Luftwaffe darstellen, doch erschwerte sie auch die Zielfindung, die aufgrund des
ständigen Industriedunstes über dem Gebiet ohnehin schon nicht ganz einfach war.25 Dennoch
versprach man sich von den Nachtangriffen größere Erfolge, da es zu diesem Zeitpunkt noch keine
organisierte deutsche Nachtjagd gab und die Flak ebenfalls von Wetter- und Lichtverhältnissen
abhängig war. Die Briten hofften, so ihre eigenen Verluste gering zu halten. Neben dem Ausbau der
Luftflotte rückte auch die Entwicklung technischer Hilfsmittel sowie die Weiterentwicklung der
Brandbombe in den Vordergrund.26
3. Die Weiterentwicklung des britischen Bomber Command und die Auswirkungen auf die Stadt
Mülheim bis zum Ende des Jahres 1942
Die Entwicklung und Produktion der schweren Bomber vom Typ Sterling, Manchester und Halifax
liefen zwar erfolgreich, jedoch verging bis zu deren Einführung noch eine Menge Zeit. Die
Ausbildung der Besatzungen musste auf die neuen Maschinen angepasst und die neuen Bomber
22
23
24
25
26
Zit. n. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 8 (xi), S. 128ff.
Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 462.
Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 204.
Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 204.
Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 449ff., S. 474; Olaf Groehler: Bombenkrieg gegen Deutschland,
Berlin 1990 (Im Folgenden: Groehler: Bombenkrieg), S. 29ff.; Peter Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht 1939-1945,
Stuttgart 1998 (Im Folgenden: Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht), S. 21f.
10
unter Einsatzbedingungen getestet werden. Eine ungefähre Vorstellung davon, wie langwierig die
Einführung vonstatten ging, zeigt sich an zwei Einsätzen im Jahr 1941. Am 09./10. Januar flog das
Bomber Command einen Angriff auf eine Raffinerie in Gelsenkirchen mit insgesamt 135
Flugzeugen, darunter 60 Wellingtons, 36 Blenheims, 20 Hampdens und 19 Whitleys. Einen Angriff
auf Düsseldorf, am 28./29. Dezember 1941 flog eine Angriffsflotte von insgesamt 132 Flugzeugen,
darunter 66 Wellingtons, 30 Hampdens, 29 Whitleys und 7 Manchester. Das Bomber Command
bestand demnach auch Ende 1941 noch immer überwiegend aus Wellingtons, Whitleys und
Hampdens.27
Sieht man einmal von der schleppenden Einführung der neuen Flugzeuge ab, konnten die Engländer
1941 aber bereits wichtige Grundlagen für die Gewinnung der Luftherrschaft schaffen. Mit dem
erklärten Ziel, Deutschlands Kraftstoffproduktion derart zu schädigen, dass sich die Deutschen
bereits im Frühjahr 1941 darüber Sorge machen müssten, ging am 15. Januar 1941 eine Weisung
des Air Chief Marshal Sir Wilfried Freeman (V.C.A.S.) an Air Marshal Sir Richard Peirse
(A.O.C.-in-C.), in der die Zerstörung der deutschen Anlagen zur Treibstofferzeugung, als einziges
Hauptziel des Bomber Command erklärt wurde. Weiter hieß es, dass im Falle schlechter
Sichtverhältnisse, die Bomber ihre Angriffe gegen Industriestädte und Verkehrswege zu richten
hätten, da vor allem konzentrierte Angriffe auf Städte dazu beitragen würden, die Angst der
Bevölkerung vor weiteren Angriffen aufrechtzuerhalten. Mit dem Hinweis auf konzentrierte
Angriffe gegen Städte ließ die Weisung „eine großzügigere Auslegung der Richtlinien für
Flächenangriffe“ zu.28
Das Konzept der Flächenangriffe wurde bereits frühzeitig diskutiert, besonders als Mittel zur
Demoralisierung der deutschen Bevölkerung und insbesondere der deutschen Arbeiter.29 Das
begründete sich durch die Überzeugung, dass demoralisierte Arbeiter die Industrie ebenso zum
Erliegen bringen würden, wie durch Bomben zerstörte Fabrikhallen. Die Hoffnung lag auch darin,
dass ein demoralisiertes Volk sich gegen das eigene Regime stellen würde, was ebenfalls zur
deutschen Niederlage beitragen würde. Neben dieser Hoffnung stand aber die Überzeugung, dass
ein demoralisiertes Volk geringe, bis gar keine Gegenwehr leisten würde, wodurch eine spätere
Invasion um ein Vielfaches einfacher werden würde. In einer, am 09. Juli 1941 erlassenen
Direktive, wurde daher die Priorität in Sachen Angriffsziele neu formuliert und als Hauptziel die
„Zerschlagung der deutschen Verkehrsverbindungen und die Untergrabung der Moral der
27 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 49f.; Martin Middlebrook/Chris Everitt: The Bomber Command War
Diaries. An operational Reference Book: 1939-1945, London 1985 (Im Folgenden: Middlebrook/Everitt: War
Diaries), S. 241; Goulding/Moyes: Bomber Command aircraft, S. 08ff.
28 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensiv Vol. IV App. 8 (xiii), S. 132f.; zit. n. Hinchliffe: Luftkrieg, S. 48.
29 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV App. 10 (i), ( iii), (iv), S. 194ff.
11
Zivilbevölkerung“ vorgegeben.30 Der Kampf gegen die deutsche Moral wurde nun offiziell
thematisiert.
In Mülheim blieb die britische Lufttätigkeit zu diesem Zeitpunkt zwar nicht ohne Folgen, doch
waren die Auswirkungen noch überschaubar. Am 22. Januar 1941 wurden über der Zeche
Rosenblumendelle lediglich Flugblätter abgeworfen, bei dem Angriff am 15. Februar hingegen,
fielen 8 Sprengbomben auf die Zeche Wiesche und 5 Sprengbomben auf den Exerzierplatz am
Auberg. Bei diesem Angriff starb eine Frau und zwei weitere Personen wurden verletzt. Insgesamt
wurden 1941 drei indirekte Angriffe auf die Stadt verzeichnet, bei denen insgesamt vier Menschen
ums Leben kamen.31
Auf britischer Seite entschied man sich 1941 dazu, einige Bomber mit Kameras auszustatten, um
anhand von Luftbildern die Ausmaße der eigenen Angriffe besser überprüfen zu können. Die
Auswertungen des Bildmaterials wurden am 18. August 1941 im sogenannten „Butt-Report“
vorgestellt und lieferten ein Ergebnis, mit dem wohl niemand innerhalb des Bomber Command
zufrieden gewesen sein durfte. Über dem deutschen Gebiet schaffte es demnach, gerade eins von
vier Flugzeugen, bis zu fünf Meilen an das vorgegebene Ziel heranzukommen. Bezogen auf das
Ruhrgebiet schaffte das sogar nur eins von zehn Flugzeugen.32 Angewandt auf einen Angriff auf
Essen, in der Nacht vom 03./04. Juli 1941 bedeuteten Butts Erkenntnisse, dass von 90 angreifenden
Bombern, deren Ziele die Krupp-Fabriken waren, nur 5 Bomber überhaupt die Stadt und ihre
Umgebung trafen, aber nicht unbedingt das vorgegebene Ziel. Tatsächlich meldete Essen nach
diesem Angriff nur leichte Sach- und Personenschäden. Stattdessen fiel ein Großteil der Bomben
auf umliegende Städte.33 Für Churchill belegte der Bericht die Notwendigkeit zum Handeln. Es
wurden keine vollständig neuen Ideen und Konzepte aufgrund des Berichts ins Leben gerufen, er
beschleunigte aber die Einführung längst diskutierter Optionen. Im Grunde war der „Butt-Report“
ein weiteres Argument zu Gunsten des Flächenangriffs.34 Neben einer taktischen Veränderung galt
es nun, das Bomber Command auch auf technischer Ebene voranzubringen und mit Gee befand sich
zu diesem Zeitpunkt bereits eine wichtige Neuerung, im Bereich Navigation, in der Testphase.35
Erste Ideen zu einem solchen Gerät gab es bereits 1938, doch die eigentliche Entwicklung von Gee
begann erst 1940. Das Gerät, dessen offizielle Bezeichnung TR 1335 lautete, arbeitete mit
insgesamt drei Bodenstationen, die als A (Master), B (Slave) und C (Slave) bezeichnet wurden.
Diese drei Sender wurden im Abstand von ca. 200 Meilen voneinander in Form eines Dreiecks
30
31
32
33
34
35
Zit. n. Webster/Frankland: Air Offensiv Vol. I, S. 172ff.; ebd. Vol. IV, App. 8 (xvi), S. 135ff.
Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 204; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 231.
Ausführliche Darstellung des „Butt-Reports“ vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, S. 205ff.
Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 66f.
Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 252.
Ausführlich zu Gee vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, S. 03ff.; Werner Niehaus: Die Radarschlacht
1939-1945, Stuttgart 1977 (Im Folgenden: Niehaus: Radarschlacht), S. 174f.
12
aufgestellt und sendeten Impulssignale an einen Funkempfänger im Flugzeug. Anhand der
unterschiedlichen Laufzeiten der Signale war der Bordfunker in der Lage, die Position des eigenen
Flugzeugs zu bestimmen. Die Positionsbestimmung war im Grunde an jedem Punkt, innerhalb eines
Radius von 500 bis 800 Kilometern, möglich. Dabei galt jedoch: je größer die Entfernung, desto
größer die Ungenauigkeit.
Die ersten Testflüge mit Gee wurden bereits 1941 durchgeführt, doch erst ab 1942 kam es zum
Einsatz. Die Einführung des Geräts wurde von der Area Bombing Directive (Anweisung zum
Flächenangriff) begleitet, die am 14. Februar 1942 von Air Vice Marshal N.H. Bottomley
(D.C.A.S.), an Air Marshal J.E.A. Baldwin (Acting A.O.C.-in-C., Bomber Command), übermittelt
wurde. Ihr beigefügt war eine Liste mit Zielen, die innerhalb der Gee-Reichweite lagen und deren
Bestimmung, nach welcher Priorität diese Ziele angegriffen werden sollten. Als das Primärziel galt
das Ruhrgebiet, vorrangig die Stadt Essen.36
An Gee wurden sehr hohe Erwartungen gestellt, der Area Bombing Directive wurde daher eine
weitere Liste beigefügt, (Annex B) mit Zielen, die sich außerhalb der Gee-Reichweite befanden. Im
Falle von guten Ergebnissen mit Gee und guten Wetterbedingungen sollten diese Ziele ebenfalls
angegriffen werden:
„It is accordingly considered that the introduction of this equipment on operations should be
regarded as a revolutionary advance in bombing technique which, during the period of its
effective life as a target-finding device, will enable results to be obtained of a much more
effective nature […]. When experience in the employement of TR.1335 has proved that, under
favourable conditions, effective attacks on precise targets are possible, I am to request that
you will consider the practicability of attacking first, the precise targets within TR.1335 range
and, later, those beyond this range listed in Annex B.“37
Das Gee den hohen Erwartungen nicht gerecht wurde, zeigte sich bereits während der ersten
Angriffe, bei denen das Gerät zum Einsatz kam. In der Nacht vom 08./09. März flog das Bomber
Command den ersten Gee- unterstützten Angriff auf Essen und trotz der neuen Technik, erwies sich
dieser Angriff als eine Enttäuschung. Entgegen aller Hoffnung, eignete sich das Gerät nicht zur
Blindbombardierung und der übliche Industriedunst über der Stadt, machte die Zielerfassung kaum
möglich. Tatsächlich wurden die Krupp-Werke, die das Hauptziel dieses Angriffs waren, nicht
einmal getroffen.38
Die erhoffte Revolution auf dem Gebiet der Zielfindung wurde Gee also nicht, dennoch war es bei
den Flugzeugbesatzungen ein geschätztes Navigations-Hilfsmittel, das dafür sorgte, die Bomber,
inklusive ihrer Besatzungen, in den meisten Fällen sicher zurück nach England zu bringen. Ein
weiterer Schwachpunkt des Geräts, der bereits bei der Einführung angesprochen wurde, war dessen
36 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensiv Vol. IV, App. 8 (xxii), S. 143ff.
37 Zit. n. ebd. Vol. IV, S. 145.
38 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 246.
13
Störanfälligkeit und die Erwartung, dass die Deutschen innerhalb von 6 Monaten einen Weg finden
würden, Gee außer Kraft zu setzen. Tatsächlich setzten die Deutschen ab August 1942
Störmaßnahmen gegen das Gerät ein. In der Direktive wurde daher die Notwendigkeit
hervorgehoben, in kürzester Zeit, größtmöglichen Druck auszuüben, vor allem gegen die deutsche
Zivilbevölkerung.39 Damit wurde der Grundstein zum „moral bombing“ gelegt. Einen Tag nach
Erlass dieser Direktive machte C.A.S. Air Marshal Sir Charles Portal, in einem Schreiben an
D.C.A.S. Bottomley, dies noch einmal deutlich:
„Ref. The new bombing directive: I suppose it is clear that the aiming points are the built-up
areas, not for instance, the dockyards or aircraft factories where these are mentioned in
Appendix A. This must be made quite clear if it is not already understood.“ 40
Eine weitere bedeutende Veränderung erlebte das Bomber Command in dieser Zeit durch die
Kommandoübernahme von Sir Arthur Harris. Harris wurde am 22. Februar 1942, wenige Tage nach
Erlass der Area Bombing Directive, neuer Oberbefehlshaber des Bomber Command. Er hatte klare
Vorstellungen, über die Bedeutung des Luftkrieges und die Rolle des Bomber Command. In der
Bomberoffensive sah Harris den einzigen Weg, den Krieg gegen Deutschland zu gewinnen und er
war von Anfang an darauf bedacht, das Bomber Command in allen Bereichen zu verstärken, um
den entscheidenden Schlag gegen das Deutsche Reich ausführen zu können.41 Als klarer
Befürworter des Flächenangriffs kam ihm die Weisung vom 14. Februar wohl mehr als entgegen.
Auch für Harris war die Zerstörung der gegnerischen Kriegsindustrie, zusammen mit der
Demoralisierung der Zivilbevölkerung, bedeutend für den Gesamtsieg. Die Euphorie, die Gee bei
der RAF-Führung auslöste, konnte Harris hingegen nicht ganz teilen. Er erkannte die Vorteile der
neuen Technik zwar an, betrachtete aber das Gesamtbild etwas realistischer. Dazu gehörte auch,
dass die Stärke des Bomber Command bei seinem Amtsantritt lediglich bei 378 einsatzbereiten
Bombern, darunter 69 schwere, lag:
„Far more was expected from this extremely and useful device, one of the many really
brilliant things the scientists gave us, than it could in fact achieve. And, of course, far more
was expected of a very small bomber force than was at all reasonable, even if the new Gee
equipment should come to the most optimistic forecasts; si I had to prove, not only what an
adequate and adequately equipped force could not achieve. I had to dispose of all wishful
thinking, while at the same time making perfectly clear the grounds of my complete
confidence in a bomber offensive if this was given a real chance.“ 42
Gee war für Harris also kein Grund für überhastete Aktionen. Im Vordergrund standen bei ihm
durchdachte Entwicklungen, die ihren Abschluss in großen Aktionen fanden. Er bezeichnete
Angriffsflüge bei schlechtem Wetter als Kräfteverschwendung, weshalb er lieber ganz darauf
verzichtete. Tatsächlich war die Zahl der geflogenen Angriffe und die abgeworfene Bombenmenge
39
40
41
42
Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, S. 144.
Zit. n. ebd. Vol. I, S. 324.
Vgl. Arthur Harris: Bomber Offensive, London 1947 (Im Folgenden: Harris: Bomber Offensive), S. 31.
Vgl. ebd. S. 73ff.; Zitat S. 76.
14
in den ersten 3 Monaten von Harris' Amtszeit, geringer als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.43
Dennoch wurde die Aufgabe für das Bomber Command nicht leichter und die Angriffe gegen das
Ruhrgebiet blieben eine undankbare Aufgabe.
Für Blindbombardierungen war Gee, wie bereits erwähnt, nicht geeignet und über dem Ruhrgebiet
herrschte weiterhin der Industriedunst, der die visuelle Zielfindung fast unmöglich machte. Auf
britischer Seite hatte man also keine andere Wahl, außer auf die Einführung neuer Geräte zu warten,
die sich, mit Oboe und H2S, bereits in der Entwicklung befanden. Für Harris handelte es sich um
die wichtigsten aller neuen Geräte.44 An Gee wurde dennoch weiter festgehalten und bis Januar
1943 war die gesamte Flotte des Bomber Command mit damit ausgestattet. Eine weiterentwickelte
Version, Gee Mark II, wurde im Februar 1943 eingeführt und bis Ende März 1943 in ca. 60% der
Flugzeuge eingebaut. Besondere Verbesserungen gegenüber dem Vorgänger hatte Mark II nicht,
außer einer vereinfachten Bedienung und das für einen kurzen Zeitraum, die Störmaßnahmen der
Deutschen verringert werden konnten. Ein effektives und langfristiges Mittel gegen die deutschen
Störungen wurde zwar nie gefunden, trotzdem wurde Gee während der Gesamtdauer des
Luftkrieges eingesetzt.45
Bei der Einführung von Gee gab es auch bereits erste Überlegungen zur Bildung der Pathfinder
Force (PFF). Eine Sondereinheit, ausgerüstet mit verbesserter Navigationstechnik, die vor der
eigentlichen Angriffsflotte das Ziel anfliegen und mit speziellen Markierungsbomben ausleuchten
sollte. Den nachfolgenden Bombern sollte so die Zielfindung erleichtert werden. Die Idee an sich
war nicht neu, bereits die Deutschen flogen ihre Luftangriffe gegen England nach ähnlichem
Prinzip und auch das Bomber Command setzte bereits 3 Angriffswellen ein, von der die erste
mithilfe von Leuchtraketen die Zielmarkierung durchführte. Diese erste Angriffswelle bestand
meist aus Wellington-Maschinen, die mit Gee ausgerüstet waren. Durch die zunehmenden
Störmaßnahmen der Deutschen, dem sogenannten „jamming“, wurden Alternativen notwendig.
Nach einigem Hin und Her, innerhalb der Bomber Command-Führungsebene, wurde die PFF
schließlich im August 1942 gegründet. Kommandant wurde Group Captain D.C.T. Bennett und den
ersten Einsatz flogen die Pathfinder in der Nacht zum 18. August, bei einem Angriff auf Flensburg.
Entgegen der Grundidee waren die Flugzeuge der PFF anfangs noch nicht mit speziellen
Markierungsbomben ausgestattet und verfügten auch sonst über keine Gerätschaften, die nicht auch
der restlichen Bomberflotte zur Verfügung standen. Da nun aber die gesamte Bomberflotte den
Pathfindern folgte, ergab sich unter Umständen der große Nachteil, dass bei einer falschen
Zielmarkierung der gesamte Angriff fehlgeleitet wurde. Ohne geeignete Navigationsmittel machte
43 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 242.
44 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 96, S. 123.
45 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, S. 6.
15
die Einführung der PFF also keinen großen Unterschied, was sich jedoch 1942, mit der Einführung
von Oboe änderte.46
Bei Oboe handelte es sich um ein Fernlenkungs- und automatisches Abwurfverfahren, dessen
Prototyp bereits im Dezember 1941 zum Einsatz kam. Entgegen der Hoffnung, bereits im Juli 1942
über eine vollentwickelte Version des Systems zu verfügen, mussten sich die Briten letztlich bis
Dezember 1942 gedulden. Eingesetzt wurde Oboe schließlich überwiegend in den Maschinen der
PFF. Gelenkt wurde das Gerät von zwei Bodenstationen. Die Erste befand sich in Dover und bekam
den Codenamen CAT. Diese Station lenkte das Flugzeug über einen kreisförmigen Kurs mit Dover
als Mittelpunkt. Dieser Kurs führte genau über das jeweilige Ziel. Die zweite Station, Codename
MOUSE, befand sich rund 160km weiter südlich in Cromer. MOUSE arbeitete mit einem
Empfänger und einem Gegensender zusammen, die sich an Bord des Flugzeugs befanden, und
diente der Positionsbestimmung des eigenen Bombers. Radarfunker in Cromer stellten fest, wenn
sich der Bomber über dem Abwurfpunkt befand, und teilten dem Navigator per Morsezeichen den
Moment mit, an dem die Bomben ausgeklinkt werden mussten. Die größte Schwäche bei Oboe lag,
wie schon bei Gee, in der Reichweite, ein weiterer Schwachpunkt lag darin, dass ein Senderpaar nur
ein Flugzeug kontrollieren konnte. Durch die Aufstellung weiterer Sender, bis zum Dezember 1943,
gab es in England 14 Oboe-Stationen und nach und nach kamen noch mobile Stationen hinzu und
die Leistung konnte deutlich verbessert werden. Ab August 1943 begannen die Deutschen auch
Störmaßnahmen gegen Oboe einzusetzen, diese erreichten aber nicht das Ausmaß der GeeStöraktionen.47
Aber nicht nur technische Entwicklungen galt es voranzubringen, Harris, der sich seit seinem
Amtsantritt stark für den Ausbau des Bomber Command einsetzte, war auch darum bemüht, neue
Angriffstaktiken zu entwickeln, um die, für 1943 angestrebte Invasion realisieren zu können.48 Zwar
wurde die Gesamtzahl der Flugzeuge, im Laufe des Jahres 1942 nur geringfügig erhöht, doch
wurden jetzt nach und nach, die enttäuschende Manchester sowie die veralteten Hampden und
Whitley durch 4-motorige, insbesondere durch den Lancaster-Bomber, ersetzt.49 Die neuen
Flugzeugtypen verfügten über eine höhere Tragkraft, bezogen auf die Bombenlast, wodurch
natürlich die Auswirkungen der Angriffe verstärkt wurden. Auch die Bombenlast selbst wurde
weiterentwickelt und bei einem Angriff auf Essen, in der Nacht zum 11. April kam zum ersten Mal
eine 3600-kg-Sprengbombe zum Einsatz und die erste 1800-kg schwere Brandbombe fiel bei einem
Angriff am 11. September auf Düsseldorf. Auch Minenbomben, sogenannte „blockbuster“ wurden
46 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 131; Ausführliche Darstellung zur PFF-Gründung vgl. Webster/Frankland: Air
Offensive Vol. I, S. 418ff.
47 Ausführlich zu Oboe vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 07ff.; Niehaus: Radarschlacht, S. 192ff.
48 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 74.
49 Vgl. Goulding/Moyes: Bomber Command aircraft, S. 76ff.; Postan: British War Production, App. 4, S. 484f.
16
ab 1942 vermehrt eingesetzt. Durch den Abwurf der Minen sollten ganze Häuserzeilen von einer
ersten Angriffswelle abgedeckt und für eine weitere, mit Brandbomben beladene, Angriffswelle,
sozusagen geöffnet werden. Müller spricht vom „dehousing-Konzept“.50 Dieses Konzept wurde
offiziell von Lord Cherwell, Churchills wissenschaftlichem Berater, in einem Schreiben vom 30.
März 1942 zum ersten Mal angesprochen. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Effektivität des Bomber
Command stark in Frage gestellt, wodurch auch dessen Ausbau gefährdet war. Mit seinem
„dehousing paper“ wollte Cherwell Churchill die Bedeutung von Luftangriffen gegen den
deutschen Wohnraum verdeutlichen. Hinter dem Konzept verbargen sich keine inhaltlichen
Neuerungen im Bereich der Angriffstaktik, vielmehr sollte verdeutlicht werden, wozu eine
bestimmte Anzahl von Bombern in der Lage sei. Cherwell schaffte es auch tatsächlich, Churchill
mit seinem Schreiben zu beeinflussen und lieferte somit ein wichtiges Element zur Sicherung der
britischen Bomberoffensive.51 Das „dehousing“-Konzept kann ebenfalls als wesentlicher Schritt
zum späteren „moral bombing“ angesehen werden.
„Dehousing“ wurde aber keineswegs erst durch Cherwells Schreiben zu einer Option. Mülheim und
Oberhausen wurden das erste Mal am 25. März 1942 nach diesem Schema angegriffen, dabei
wurden insgesamt sieben Häuser schwer und 119 mittelschwer getroffen. Das
Reichsbahnausbesserungswerk, das sich im Mülheimer Stadtteil Speldorf befand, verzeichnete
einen zweitägigen Produktionsausfall von 50%. Weitere Angriffe nach diesem Muster erlebte die
Stadt am 13. April und am 13. Mai 1942. Bei Letzterem handelte es sich um den ersten, direkten
Angriff gegen die Stadt. Laut dem Bomber Command Campaign Diary, flogen 3 WellingtonBomber diesen Angriff und warfen eine Bombenlast von insgesamt 5 Tonnen über der Stadt ab. Für
diesen Angriff wurden von Seiten der Stadt jedoch keinerlei Schäden verzeichnet, was vermuten
lässt, dass die Bombenlast über unbesiedeltem Gebiet abgeworfen wurde.52
Die Stadt bemühte sich, auf die verschärften Luftangriffe angemessen zu reagieren und führte
Verbesserungen, vor allem in der Brandbekämpfung, durch. Während die Kommunikation
zwischen den verschiedenen Stellen, wie Luftraumbeobachter, Luftschutzpolizei und Feuerwehr
optimiert werden konnte, erwiesen sich Hydranten und Wasserleitungen als Problem, da sie nicht
den erforderlichen Druck aufbauen konnten, wenn mehrere Brände gleichzeitig gelöscht werden
mussten.53
In seinen Überlegungen, zu einer erfolgreichen Angriffstaktik, vollzog Harris auch einen weiteren
Schritt zum „moral bombing“. In der Nacht vom 28./29. März 1942 flog das Bomber Command
50 Vgl. Rolf-Dieter Müller: Der Bombenkrieg 1939-1945, Berlin 2004 (Im Folgenden: Müller: Der Bombenkrieg),
S. 114.
51 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 331ff.
52 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 266; Nierhaus: Mülheim, S. 206f.; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 233.
53 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 209f.
17
einen Flächenangriff gegen die Stadt Lübeck und bot einen Vorgeschmack darauf, was die
Deutschen von weiteren Luftangriffen zu erwarten hatten. Eine erste Angriffswelle griff die
Lübecker Altstadt an, die aufgrund ihrer Fachwerkhäuser leicht in Flammen aufging. Der dadurch
entfachte Großbrand diente, neben seiner eigenen Zerstörungskraft, einer zweiten Angriffswelle als
Zielmarkierung. Insgesamt warfen diese beiden Angriffswellen, 300 Tonnen Spreng- und
Brandbomben auf die Stadt. Obwohl Lübeck als Industriestandort eher zweitrangig war, wurde
dieser Angriff doch als Erfolg verbucht. Wie Harris später selbst bemerkte, konnte man den Angriff
auf Lübeck vielmehr als einen Test der neuen Technik ansehen. Ein geeignetes Ziel, da es aufgrund
seiner Lage leicht zu identifizieren war und weitaus weniger verteidigt, als das Ruhrgebiet:
„It was not a vital target, but it seemed to me better to destroy an industrial town of moderate
importance than to fail to destroy a large industrial city. However, the main object of the
attack was to learn to what extent a first wave of aircraft could guide a second wave to the
aiming point by starting a conflagration: […]. At least half of the town was destroyed, mainly
by fire. It was conclusively proved that even the small force I had then could destroy the
greater part of a town of secondary importance.“ 54
Im weiteren Kriegsverlauf wurden insgesamt 161 deutsche Städte nach diesem Prinzip angegriffen.
Der Angriff gegen Lübeck half Harris dabei, sich mit seiner Meinung durchzusetzen, dass der Krieg
allein durch Luftangriffe gewonnen werden könne. Der nächste Schritt zur Verschärfung des
Luftkrieges kam dann in Gestalt der 1000-Bomber-Angriffe.55 Ein erster Angriff dieser Art wurde in
der Nacht vom 30./31. Mai gegen Köln geflogen. Während dieser, als „Operation Millennium“
bezeichneter Angriff, als Erfolg eingestuft wurde, verlief ein Zweiter, 2 Nächte später gegen Essen,
enttäuschend. Wieder einmal war der Industriedunst über dem Zielgebiet das entscheidende
Hindernis und so kam es, dass sich die Angriffswelle, neben Essen, auf 11 weitere Städte, darunter
auch Mülheim, erstreckte. Betroffen waren vor allem die Stadtteile Heißen und Styrum. Im
gesamten Luftschutzort wurden bei diesem Angriff 169 Wohnungen völlig zerstört, 213
mittelschwer und 1954 Wohnungen wurden leicht beschädigt. Insgesamt mussten 6161 Personen
ausquartiert werden. In Mülheim kamen 15 Menschen ums Leben, Schäden an Industrieanlagen
waren dagegen sehr gering.56
Harris war sich durchaus darüber bewusst, dass das Deutsche Reich über zu große industrielle
Ressourcen verfügte, als das ein Angriff dieser Art ausreichen würde, um die deutsche Produktion
für längere Zeit lahmzulegen. Doch auch wenn der Angriff dahingehend kein Erfolg war, so hatte
man doch zumindest einen Weg gefunden, mit einer großen Anzahl von Flugzeugen, tief in
54 Zit. n. Harris: Bomber Offensive, S. 105.; Zum Angriff auf Lübeck vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S.
392f.; Groehler: Bombenkrieg, S. 40f. (Skizze).
55 Vgl. Stephan Burgdorf/Christian Habbe [Hrsg.]: Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg in Deutschland,
Hamburg 2003 (Im Folgenden: Burgdorf/Habbe: Als Feuer vom Himmel fiel), S. 70ff.
56 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 208; zu den 1000-Bomber-Angriffen vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 274;
Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 402ff.
18
deutsches Reichsgebiet vorzudringen. Für Harris eine Demonstration der Stärke, die, wie er hoffte,
Auswirkungen auf die Moral der deutschen Bevölkerung haben würde.57 Dennoch wurde die
Bedeutung des Bomber Command von einigen Stellen kritisch betrachtet und sah sich der Gefahr
ausgesetzt, als selbstständige Streitkraft aufgelöst und zur Unterstützung der Army und Navy
zugeteilt zu werden. Auf Anordnung Churchills verfasste Harris im Juni 1942 ein Schreiben an
Premierminister und Kriegskabinett, in dem er die Rolle des Bomber Command noch einmal
deutlich hervorhob:
„[...], Bomber Command provides our offensive action yet pressed home directly against
Germany. All our other efforts are defensive in their nature, and are not intended to do more,
and can never do more, than enable us to exist in the face of the enemy. […]. The only means
of physically weakening and nervously exhausting Germany to an extent which will make
subsequent invasion a possible proposition and (Bomber Command) is therefore the only
force which can, in fact, hurt our enemy in the present or in the future secure our victory.“ 58
Zusammenfassend lässt sich über das Jahr 1942 sagen, dass der Luftkrieg eine neue Qualität
erreichte. Das Bomber Command flog seine Angriffe nun konzentrierter und hatte dabei vor allem
die Gebiete der Deutschen Bucht, des Frankfurter Beckens, sowie das Ruhrgebiet im Fokus.
Angriffswellen bestanden kaum noch aus weniger als 100 Bombern, ausgerüstet mit einer höheren
Bombenlast und einem höheren Anteil an Brandbomben. Wie verheerend die Angriffe des Bomber
Command mittlerweile waren, zeigten die Angriffe auf Lübeck am 29. März und Rostock am 27.
April 1942. Das Bomber Command konnte Verbesserungen in allen Bereichen vorweisen und
schaffte somit die Grundlagen für die Großoffensive 1943.59 Der Schritt zum Flächenangriff wurde
endgültig vollzogen und mit Arthur Harris bekam das Bomber Command einen Kommandanten,
dem diese Entscheidung sehr entgegen kam und der diesen Weg zielstrebig weiterging. Harris
genoss Churchills Vertrauen und konnte das Bomber Command weitgehend nach seinen
Vorstellungen formen.60 Auch wenn die bereits durchaus verbesserten Nachtangriffe immer noch
nicht dazu ausreichten, die deutsche Wirtschaft und die Moral der Zivilbevölkerung ernsthaft zu
schädigen, zeichnete es sich doch ab, dass Deutschland immer stärker in die Defensive gedrängt
wurde.61
„Das war der Beginn der Niederlage ihrer Luftwaffe und der Wendepunkt unseres Kampfes
um die – 1944 errungene – Beherrschung des Luftraumes, ohne die wir den Krieg nicht hätten
gewinnen können.“62
Hinzu kam, dass die Amerikaner nun aktiv in den Luftkrieg einstiegen.
57
58
59
60
61
62
Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 109.
Zit. n. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 18, S. 239ff.
Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 541f.
Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 180.
Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 143.
Zit. n. Winston S. Churchill: Der Zweite Weltkrieg, Bern, München, Wien 1985 (Im Folgenden: Churchill: Der
Zweite Weltkrieg), S. 896.
19
Tabelle 2: Flugzeugbestand des Bomber Command 194263
Schwere: Manchester, Stirling, Halifax, Lancaster
Mittlere: Wellington, Hampden, Whitley
Leichte: Blenheim, Boston, Mosquito
Schwere Bomber
Mittlere Bomber
Leichte Bomber
Januar
62
357
50
Februar
54
319
67
März
68
301
52
April
86
247
56
Mai
136
210
70
Juni
141
181
80
Juli
153
198
76
August
174
152
62
September
178
109
44
Oktober
225
132
47
November
234
100
45
Dezember
262
78
46
4. Die amerikanische Air Force im Luftkrieg über Deutschland
Ein aktiver Eintritt Amerikas in das europäische Kriegsgeschehen galt bereits früh als
unvermeidbar. Schon bei Kriegsausbruch waren die Amerikaner so weit involviert, dass sie England
mit Materiallieferungen unterstützten und zwischen der United States Army Air Force (USAAF)
und der RAF ein intensiver Erfahrungsaustausch stattfand, der wiederum den USA bei ihren
technischen und taktischen Entwicklungen weiterhalf.64
Erste Pläne zu einer Kriegsführung gegen Deutschland wurden bereits im Juli 1941, fünf Monate
vor der deutschen Kriegserklärung an die USA, von der Air War Plans Division ausgearbeitet und
in dem AWPD-Plan 1 (AWPD-1) festgelegt. Die Air Force wurde darin in erster Linie als
Unterstützer der Landstreitkräfte betrachtet. Ebenso wie auf britischer Seite, strebten auch die
Amerikaner die Schwächung der deutschen Industrie an. AWPD-1 gab zu diesem Zweck 3
Primärziele vor: die Stromversorgung, das Transportsystem und die Öl-Industrie. Ein weiteres Ziel
war die Zerstörung der Flugzeugindustrie. Man spekulierte darauf, dass es innerhalb von sechs
Monaten möglich wäre, die deutsche Industrie maßgeblich zu schwächen. Dazu wäre eine
Kampfkraft von 4000 Bombern nötig, die innerhalb von 21 Monaten aufgebaut werden sollte und
63 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 30 und S. 65.
64 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 62; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 500.
20
den Krieg gegen Deutschland, von England aus führen sollte.65 Gleich zu Beginn des Jahres 1942
erging der Befehl zur „Errichtung eines Oberkommandos der in England stationierenden
amerikanischen Streitkräfte.“ Am 19. Januar wurde der Aufbau der 8. Army Air Force (8. USAAF)
befohlen und General Carl Spaatz unterstellt. Am 23. Juni begann schließlich die Verlagerung
amerikanischer Flugzeuge nach England und Ende August 1942 verfügte die 8. USAAF über 164
P-38 „Lightning“-Jäger, 119 B-17 Bomber und 103 C-47-Transportflugzeuge. Bis zum Ende des
Jahres stieg die Flotte insgesamt um weitere 700 Flugzeuge an.66 Bereits kurz nach Kriegseintritt
wurde es für die Amerikaner notwendig, ihre Kriegspläne dem Verlauf entsprechend zu ändern. Im
September 1942 wurde AWPD-42 vorgelegt, in dem eine Steigerung auf 7000 Bomber, davon 2000
schwere B-17 und B-24 Bomber, vorgesehen wurde. Aufgrund schwerer Verluste im U-Boot-Krieg
galt nun auch die Zerstörung der deutschen Seekräfte als Primärziel.67 Das Jahr 1942 war für die 8.
USAAF in erster Linie eine Zeit der Vorbereitung auf den europäischen Kriegsschauplatz, die mit
Luftangriffen auf Ziele in Holland und Frankreich startete.68 Nach erfolgreichen Angriffen auf
dortige Infrastruktur und Rüstungswerke fühlte man sich in der gewählten Taktik, der
Tagespräzisionsangriffe, bestätigt. Spaatz war davon überzeugt, durch eine britisch-amerikanische
Bomberoffensive „innerhalb eines Jahres die Luftherrschaft über Deutschland erringen […] zu
können“.69 Auch Churchill sah zu Beginn, in den amerikanischen Tagesangriffen eine gelungene
Ergänzung zu den britischen Nachtangriffen:
„If we can add continuity and precision to the attack by your bombers striking deep into the
heart of Germany by day the effect would be redoubled. […], together we might even deal a
blow at the enemy's air power from which he could never fully recover […]. I am sure we
should be missing a great opportunity if we did not concentrate every available Fortress and
long range escort fighter as quickly as possible for the attack on our primary enemy.“ 70
Portal hingegen vertrat von Anfang an die Meinung, dass auch die Amerikaner zu Nachtangriffen
übergehen sollten, was auf amerikanischer Seite aber abgelehnt wurde. Man war überzeugt,
Angriffswellen aus schnellen, schweren Bombern wären durchaus in der Lage, das gewünschte
Ergebnis zu liefern. Im Formationsflug von 8 Maschinen, verfügte die Gruppe über ca. 100
Maschinengewehre, genug, so glaubte man, um gegnerische Angriffe erfolgreich abzuwehren.
Zudem hätte eine Umstellung auf Nachtangriffe einen hohen Zeit- und Kostenaufwand bedeutet, da
die Piloten auf Präzisionsangriffe geschult und die Navigationsmittel der Bomber auf Tageseinsätze
65 Vgl. Roger A. Freeman: Mighty Eight War Diary, London 1981 (Im Folgenden: Freeman: Mighty Eight), S. 02;
Aufbau und Organisation der 8. USAAF in Großbritannien vgl. Wesley F. Craven/James L. Cate: The American Air
Forces in World War II. Volume I: Plans and Early Operations January 1939 to August 1942, Chicago 1948 (Im
Folgenden: Craven/Cate: Army Air Forces Vol. I), S. 557-591.
66 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. I, S. 639ff.
67 Vgl. Freeman: Mighty eight, S. 03; Craven/Cate: Army Air Forces Vol III, S. 288. und S. 295ff.
68 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 127.
69 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 83; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 530ff.; zit. n. Ebd. S. 533.
70 Zit. n. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. I, S. 355f.
21
eingestellt waren.71 Portal hatte da weniger Vertrauen in die US-Bomber, besonders wenn es darum
ging, Luftangriffe gegen das Ruhrgebiet zu fliegen:
„The Ruhr is 300 miles away and assumin, that the American fighters can go in 200 miles the
Fortress would have 200 miles to fly unescorted. […]. My own prophecy of what will actually
happen is this: The Americans will eventually be able to get as far as the Ruhr, suffering very
much heavier casualties than we now suffer by night, and going much more rarely. […]. If it
can be kept up in face of the losses (and I don't think it will be) this will of course be a
valuable contribution to the war, but it will certainly not result in the elemination of the enemy
fighter force and so open the way to the free bombing of the rest of Germany. I do not think,
that they will ever be able regulary to penetrate further than the Ruhr and perhaps Hamburg
without absolutely prohibitive losses resulting from being run out of ammunition by constant
attack or from gunnes being killed or wounded.“72
Portal lag mit seiner Einschätzung tatsächlich nicht ganz falsch. Tatsache war, dass die
amerikanischen, 4-motorigen Bomber zum einen langsamer waren, als die deutschen Jäger, zum
anderen waren die deutschen Maschinen zusätzlich mit Kanonen bewaffnet, die es ermöglichten,
außer Reichweite der gegnerischen Maschinengewehre anzugreifen. Auch die Formationsflüge
waren kein Allheilmittel, da diese häufig, bereits beim Einflug, vom deutschen Flakfeuer
auseinander gezwungen wurden und eventuelle Treffer durch die Flak, den Jägern einen
endgültigen Abschuss erleichterten.73 Schließlich ging auch Churchill dazu über, den Amerikanern
den Aufbau einer Nachtoffensive zu empfehlen und die angestrebte kombinierte Bomberoffensive
sah sich nun mit dem Problem konfrontiert, sich auf eine gemeinsame Taktik einigen zu müssen.
Wie schwierig sich dies gestaltete, zeigt sich daran, dass am 31. Dezember 1942 bereits das dritte
Memorandum, innerhalb von drei Monaten, zu dieser Thematik veröffentlicht wurde.74 Keine Seite
wollte von der bevorzugten Taktik abweichen und so entwickelte sich ein Gegensatz zwischen
britischen Flächenangriffen bei Nacht und amerikanischen Präzisionsangriffen am Tag.
5. Die Heimatluftverteidigung
a) Nachtjagd
Obwohl die Briten seit Dezember 1939 vermehrt Nachtangriffe flogen, wurde auf dem Gebiet der
Nachtjagd, anfangs nur wenig getan. Zu diesem Zeitpunkt waren lediglich 2 Versuchsstaffeln
(10./Jagdgeschwader 2 und 11./Lehrgeschwader 2), auf diesem Sektor aktiv. Die Hauptlast der
Luftabwehr trug die Flak, worauf an späterer Stelle noch eingegangen wird.
Bis zum Sommer 1940 hatte sich die Nachtjagd nicht wesentlich weiterentwickelt und beschränkte
sich auf einige Versuche der IV./Nachtjagdgeschwader 2 und der I./Zerstörergruppe 1, die jeweils
aus einmotorigen Me 109 und Me 110 bestanden. Am 22. Juni 1940 bekam Hauptmann Wolfgang
71 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 83; Craven/Cate: Army Air Forces Vol. I, S. 591ff.
72 Zit. n. Earl R. Beck: Under the bombs. The German Home Front 1942-1945, Lexington 1986 (Im Folgenden: Beck:
Under the bombs), S. 358f.
73 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 326ff.; Beck: Under the bombs, S. 84f.
74 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 21, S. 265f.; ebd. Vol. I, S. 379.
22
Falck, Kommandeur der I. Zerstörergeschwader 1, von Reichsmarschall Hermann Göring den
Befehl, in Düsseldorf das Nachjagdgeschwader 1 aufzubauen und mit dem
Flakscheinwerferregiment 1, das nordwestlich der Stadt stationiert war, zusammenzuarbeiten.
Geschwader und Scheinwerferregiment wurden jedoch weiterhin von 2 verschiedenen Stellen
geführt, das Geschwader von der Luftflotte 2 und das Scheinwerferregiment vom Luftgau VI
(Münster). Von einer organisierten Luftabwehr konnte also zu diesem Zeitpunkt noch nicht die
Rede sein.75
Am 17. Juli 1940 befahl Göring Oberst Josef Kammhuber schließlich den Aufbau eines
Nachtabwehrsystems. Eine entscheidende Änderung Kammhubers lag in der Trennung der Flakund Jägerzonen, bei denen es öfter geschah, dass sie sich in die Quere kamen und die deutschen
Jagdflieger ins eigene Flakfeuer gerieten. Kammhuber ordnete die Nachtjagdzonen zusammen mit
den Scheinwerfern so an, dass sie bereits die Einflugwege des Gegners erfassten. Die Flakzonen
verlagerte Kammhuber dahinter und die Jäger wurden in bestimmten Suchräumen positioniert, den
„Himmelbetten“. Dort warteten sie, bis die Horchgeräte und Scheinwerfer der Flak den feindlichen
Bomber erfassten, und stiegen daraufhin zum Abwehrkampf auf.
Im Oktober 1940 meldete Kammhuber, mittlerweile zum Generalmajor ernannt, die Bereitschaft
seines Abwehrsystems. Angefangen als schmaler Riegel von Münster ausgehend, hatte Kammhuber
seinen Abwehrgürtel nach Nord und Süd auf eine Breite von 35km ausgeweitet und bot dabei
besonders dem Ruhrgebiet Schutz. Mit dieser „hellen Nachtjagd“ (Henaja) ließen sich zwar Erfolge
erzielen, für einen vollkommenen Schutz reichte sie aber bei weitem nicht aus.76 Kammhuber
entwickelte daher eine weitere Variante der Nachtjagd, von der er sich besonders viel versprach: die
Fernnachtjagd. Dabei sollten verstärkt britische Flugplätze angegriffen werden, um die Bomber
bereits am Start zu hindern und die Maschinen am Boden zu zerstören:
„Wenn ich ein Wespennestausräuchern will, dann greife ich nicht die einzelnen, umherschwir
renden Insekten an, sondern die Schlupflöcher, während alle noch im Nest sind.“ 77
Für die Fernnachtjagd kamen aber nicht mehr als 20-30 Maschinen der I./Nachtjagdgruppe 2 zum
Einsatz, die bis zum 20. August 1941 immerhin 132 Abschüsse verzeichnete. Eine von Göring,
bereits im Dezember 1940 zugesagte Verstärkung, blieb aber aus und am 12. Oktober 1941 befahl
Hitler schließlich die Einstellung der Fernnachtjagd. Hitler, der von Anfang an skeptisch gegenüber
der Fernnachtjagd war, legte die anhaltenden Feindeinflüge als Versagen dieser Abwehrtaktik aus
und sah ohnehin größeren Nutzen darin, die feindlichen Maschinen direkt über dem Reichsgebiet
abzuschießen, da man auf diese Weise dem eigenen Volk die eigene Stärke demonstrieren konnte.
Ein weiterer Grund war schlichtweg der, dass dringend Kräfte für den Mittelmeerraum benötigt
75 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 481.
76 Vgl. ebd. S. 483.
77 Zit. n. Franz Kurowski: Der Luftkrieg über Deutschland, Düsseldorf, Wien 1977 (Im Folgenden: Kurowski:
Luftkrieg über Deutschland), S. 165 (leider ohne Quellenangabe).
23
wurden, wohin die Jäger letztlich beordert wurden. Diese Entscheidung bedeutete eine enorme
Schwächung der Nachtjagd, die es nun auszugleichen galt.78
Im Laufe des Jahres 1941 wurden, neben den bereits existierenden 4 Nachtjagdgruppen, zwar
weitere aufgebaut, der Aufbau eines Geschwaderverbands hingegen, dauerte noch eine ganze Zeit.
Die neu gebildeten Gruppen wurden immer wieder umgestellt, verlagert und wieder neu aufgestellt.
Es dauerte noch bis zum Frühjahr, bevor die Nachtjagdgruppen zumindest feste Standorte erhielten.
Im März 1941 bezog die I./Nachtjagdgruppe 1 in Venlo Stellung, von wo aus sie auch für den
Schutz des Ruhrgebiets verantwortlich war.
Insgesamt standen am Ende des Jahres 1941 6 Nachtjagdgruppen für die Heimatluftverteidigung zur
Verfügung, mit ca. 302 Flugzeugen und 358 Besatzungen, von denen knapp die Hälfte einsatzbereit
war.79
Kammhuber drängte ebenfalls auf Neuerungen im Bereich der Radartechnik. Die Entwicklungen
auf britischer Seite machten es nötig, dass auf deutscher Seite Geräte zum Einsatz kamen, mit der
die Abwehrkräfte den Gegner auch nachts „sehen“ konnten. In den Jagdflugzeugen selbst kam das
Bordfunkgerät Lichtenstein B/C zum Einsatz. Ab dem 09. August 1941 arbeiteten die Bordfunker in
den Jägern mit dem „Auge der Nacht“, eine Braunsche Röhre, auf der anhand von „Lichtzacken“
das Auftauchen feindlicher Flugzeuge angezeigt wurde. Der Auffassungswinkel der Antenne betrug
25° und die Reichweite 3,2 km.80
Bereits seit 1939 kamen Freya-Geräte, zur Früherkennung, zum Einsatz und bis Mai 1940 wurden 9
dieser Geräte zwischen Wangerooge und der Pfalz aufgestellt. Die Reichweite betrug anfangs noch
ca. 58 km und wurde bis zum Jahr 1942 auf 120 km erweitert. Feindflugzeuge wurden somit bereits
beim Einflug erfasst und konnten frühzeitig von Flak und Jägern abgefangen werden. Neben Freya
war das Würzburg-Gerät, in Kombination mit der Flak, ein effektives Hilfsmittel der Luftabwehr.
Anders als Freya konnte das Würzburg-Gerät nicht nur die Entfernung, sondern auch die Höhe des
feindlichen Bombers bestimmen. Ab 1940 wurde das Gerät in größerem Umfang eingesetzt, u.a.
auch im Ruhrgebiet und gehörte ab 1941 zur Standardausrüstung der Flak- und
Scheinwerferbatterien. Das Würzburg-Gerät verfügte anfangs über eine Reichweite von 35 km und
wurde bis 1942 auf 65 km erweitert und bekam den Namen Würzburg-Riese. Durch den Einsatz von
Würzburg wurde der Nachtjagd eine weitere Abwehrvariante ermöglicht, die „dunkle Nachtjagd“
(Dunaja).
Kammhuber nutzte die Geräte für sein Abwehrsystem, indem er sie in einer Art Schachtelsystem
anordnete, bei dem sie so weit ineinander übergriffen, dass keine Zwischenräume entstanden.
78 Vgl. Kurowski: Luftkrieg über Deutschland, S. 164f.
79 Vgl. ebd. S. 166f.; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 492.
80 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 56ff.
24
Ausgehend von der Reichweite der Geräte, wurde im Abstand von 70 km jeweils ein WürzburgGerät postiert. Nach diesem Konzept baute Kammhuber seinen Abwehrriegel von Kiel, entlang der
niederländischen, belgischen und französischen Küste, aus.81
Kammhuber nahm noch einige Veränderungen innerhalb des Systems vor, um es noch dichter zu
machen. Im Herbst 1942 jedoch sorgte Hitler selbst dafür, dass Kammhubers dichtes Abwehrnetz
auseinandergerissen wurde. Einige Gauleiter hatten immer wieder gefordert, dass die
Scheinwerferbatterien näher an die Städte verlagert werden sollten, um mit dortigen Flakbatterien
gemeinsam für den Städteschutz eingesetzt zu werden. Hitler gab diesem Drängen schließlich nach
und somit folgte ein weiterer Schritt, nach der Auflösung der Fernnachtjagd, der die Entwicklung
der Nachtjagd entscheidend hemmte.82
Das der Städteschutz am besten gewährleistet werden würde, indem man die feindlichen Bomber
bereits abwehrte, bevor sie die Städte überhaupt erreichen konnten, war für Hitler und so manchen
Gauleiter offenbar ein recht absurder Gedanke.83
b) Flak
Anders als die Jagdabwehr, genoss die Flak einen höheren Stellenwert bei Hitler und so wurde deren Ausbau, während des gesamten Kriegsverlaufs, von ihm selbst stetig weiter gefordert und gefördert. In seiner Vorstellung bestand das beste Abwehrsystem aus einer „gewaltige[n] Flakwaffe, mit
sehr viel Munition“.84 Ausgehend von guten Ergebnissen im Erdkampf, hielt Hitler die Flak auch
für die Luftverteidigung geeignet. Dabei lag die Priorität klar beim Schutz der Industrie. In Mülheim wurden dazu ab 1939 die ersten 2,2 cm und 3,7cm - Flakgeschütze auf dem Thyssen-Gelände
postiert und eine weitere Batterie mit drei 2 cm - Schnellfeuerkanonen in einem kleinen Park in der
Nähe der Dimbeck, der zum Privatbesitz der Familie Thyssen gehörte. Nachträglich konnten für das
Mülheimer Stadtgebiet noch folgende Flakstellungen erfasst werden:85
Speldorf: Kaiserberg; Hubertushöhe
Saarn: Auf der Boke (heute Kieler Straße); In der Aue; Am Kahlenberg
Styrum: Langekamp; Meidericher Straße
Dümpten: Am Bottenbruch
81 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 476ff.; Kurowski: Luftkrieg über Deutschland, S. 168ff.;
detailliert zu Freya, Würzburg und Lichtenstein vgl. Niehaus: Radarschlacht, S. 32ff. und S. 119ff.
82 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 136f.; von Lang: Krieg der Bomber, S. 72.
83 Vgl. Kurowski: Luftkrieg über Deutschland, S. 107f.
84 Zit. n. Percy Ernst Schramm [Hrsg.]: Kreigstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht
(Wehrmachtsführungsstab) 1940-1945. geführt von Helmuth Greiner und Percy Ernst Schramm. Bd. I: 01. August
1940-31. Dezember 1941, Erster Halbband I/1, München 1982 (Im Folgenden: Kreigstagebuch OKW), S. 276
(22. 01. 1941).
85 Vgl. Koch: Flak, S. 209; Nierhaus: Mülheim, S. 93; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 237.
25
Mellinghofen: Am Buchenberg
Heißen: Nansenweg / Greisenaustraße
Menden: Bergstraße
Organisatorisch unterstanden die Flakartillerien den Luftgauen bzw. dem
Luftverteidigungskommando, während die mitwirkenden Jagdstaffeln den Fliegerdivisionen
unterstanden. Das erschwerte natürlich eine gemeinsame Abwehrarbeit, was Generaloberst Hubert
Weise dazu veranlasste, am 31. Januar 1941 eine Neuordnung der Organisation der
Heimatluftverteidigung, durch die Errichtung einer zentralen Kommandobehörde vorzuschlagen.
Daraufhin wurde er am 24. März 1941 zum Luftwaffenbefehlshaber Mitte ernannt. Ihm
unterstanden daraufhin die Luftgaue III (Berlin), IV (Dresden), VI (Münster), und XI (Hamburg). 86
Die Aufgaben der Luftgaue beschränkten sich von da an auf die Bodenorganisation und den
Nachschub. Bis zu diesem Zeitpunkt war für den Schutz des Ruhrgebiets das
Luftverteidigungskommando 4 verantwortlich, das 5 Regimenter und 2 leichte Flakabteilungen
umfasste. Im Zuge der Umstrukturierungen fiel die Verantwortung dieses Gebiets, auf die
Flakdivisionen 22, 7 und 4. Der Gefechtsstand der 4. Flakdivision (Deckname „Drossel“), unter
dem Kommando von Generalmajor Johannes Hinz, befand sich ab Juni 1942 in der Mülheimer
Wolfsburg. Die Stärke dieser Division umfasste im Dezember 1941 78 schwere, 62 mittlere und
leichte Batterien sowie 24 Scheinwerferbatterien.87
Mit der Einführung des Luftwaffenbefehlshabers Mitte wurde auch die kombinierte Nachtjagd
(Konaja) verstärkt aufgebaut. Dabei wurden feindliche Bomber, die von den Scheinwerfern erfasst
wurden, erst durch die Flak beschossen und dann, an die höher fliegenden Nachtjäger übergeben.
Grundsätzlich sollte die Flak nach der Übergabe das Feuer einstellen, was aber nicht immer
geschah. Ein Risiko für die deutschen Jäger, ins eigene Flakfeuer zu geraten, bleib also weiterhin
bestehen.88
Im Endeffekt trug die Flak die Hauptlast der Luftverteidigung. Die Zahl der Jägerproduktion hatte
im Vergleich zur Flak seit Kriegsbeginn ein eher geringes Niveau. Da die Heimatfront gar nicht als
Front betrachtet wurde, sondern eher als Nebenschauplatz des Krieges, wurden dementsprechend
wenig Jäger für die Heimatluftverteidigung eingesetzt. Der gesamte Bereich der Luftverteidigung
wurde von Anfang an, sträflich vernachlässigt. Die gesamte Organisation der Luftwaffe war von
86 Vgl. Mülheim gehörte zum Luftgau VI, der mit rund 12 Mio. Menschen am dichtesten besiedelte Luftgau
Deutschlands. Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 90.
87 Vgl. Koch: Flak, S. 210f.; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 488; Ulrich: Dokumentation, S. 219;
Nierhaus: Mülheim, S. 93f.
88 Vgl. Koch: Flak, S. 220; Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 490.
26
Hitlers Offensivdenken geprägt.89 Durch die anfänglichen Erfolge seiner Feldzüge war er von der
Blitzkrieg-Taktik überzeugt und setzte somit vorrangig auf den Aufbau der Offensive. Das Heer
hatte bei der Verteilung aller Ressourcen absolute Priorität und die Flugzeugproduktion war
vorrangig auf Bomber ausgerichtet. Was im Heimatgebiet an Verteidigung geleistet werden musste,
konnten, nach Hitlers Ansicht, die vorhandenen Kräfte leisten. Bereits 1942 sollte sich zeigen,
welche fatalen Konsequenzen diese Denkweise für deutsche Städte haben sollte.90
6. Die Heimatluftverteidigung im Jahr 1942
Noch einmal zusammengefasst sah die britische Offensive des Jahres 1942 folgendermaßen aus:
Angriffe wurden fast ausschließlich bei Nacht geflogen, dabei kamen kaum noch weniger als 100
Bomber pro Angriff zum Einsatz. Die Bomber wiederum flogen mit erhöhter Bombenzuladung, bei
der vor allem der Anteil an Brandbomben erhöht wurde. Neue und verbesserte Flugzeuge, Bomben
und technische Hilfsmittel kamen zum Einsatz. Die erste 3600 kg - Sprengbombe, sowie die erste
1800 kg - Brandbombe wurden 1942 abgeworfen.
Die Zerstörungen von Lübeck und Rostock zeigten auf erschreckende Weise, welchen qualitativen
Sprung die britische Bomberoffensive gemacht hatte. Des Weiteren erlebten Köln und Essen die
bereits erwähnten 1000 - Bomber - Angriffe.
Die taktischen und technischen Fortschritte der Briten kamen nun immer deutlicher zum Vorschein
und die Frage lautete nun, in welcher Art und Weise die Luftverteidigung auf diese Entwicklungen
reagieren würde?
a) Nachtjagd
Zu Beginn des Jahres hatte man bereits damit begonnen, die 1., 2. und 3. Nachtjagddivision als
Jagddivisionen nach Holland, Stade und Metz zu verlagern und schaffte somit eine
Abwehrorganisation, durch die der Einflugweg nach Süddeutschland abgeriegelt wurde. Der
Reichsluftverteidigung fehlte es jedoch weiterhin an Jagdflugzeugen, aufgrund des Umstandes, dass
im Winter 1941/42 eine große Anzahl Me 110 an die Ostfront abgegeben wurde, die ursprünglich
für die Nachtjagd vorgesehen war, sowie der Abgabe weiterer Nachtjäger Ju-88 und Do 217, die zur
Auffüllung der Bomberverbände eingesetzt wurden. Die laufende Jägerproduktion kam ebenfalls in
erster Linie den Fronten zugute, sodass für die Luftverteidigung gerade genug Flugzeuge vorhanden
waren, um die eigenen Verluste auszugleichen, für den Aufbau neuer Jagdverbände aber nicht
ausreichten. Von Februar 1942 bis zum Jahresende stieg die Ist-Stärke der Nachtjäger lediglich von
89 Detailliert dazu: Horst Boog: Die deutsche Luftwaffenführung 1939-1945 Führungsprobleme – Spitzengliederung –
Generalstabsausbildung, Stuttgart 1982 (Im Folgenden: Boog: Luftwaffenführung), S. 124-150; Adolf Galland: Die
Ersten und die Letzten, München 1953 (Im Folgenden: Galland: Die Ersten...), S. 78.
90 Vgl. Boog: Luftwaffenführung, S. 137-150; Verrier: Bomberoffensive, S. 136.
27
260 auf 370. Immerhin war der Großteil der Maschinen bis dahin mit Lichtenstein B/C ausgerüstet,
wodurch die Nachtjagd zumindest eine gewisse, qualitative Verbesserung erfuhr.91
Die geringe Zahl der Jäger hinderte auch Kammhuber an weiteren Neuaufstellungen für seinen
Abwehrriegel. Dafür versuchte er, durch den Einsatz weiterer Würzburg-Geräte und den
verbesserten Würzburg-Riesen, noch existierende Lücken zwischen den Nachtjagdstellen zu
schließen. Zusätzlich forderte er den Einsatz des Y-Jägerführungsverfahrens auf UKW-Basis. Wenn
die Zahl der Jäger selbst schon nicht erhöht wurde, wie Kammhuber es regelmäßig forderte, so
sollten zumindest die vorhandenen, weiter verbessert werden. Der Vorteil des Y-Verfahrens lag
darin, dass sowohl die Position des Flugzeuges, als auch das Kommando zum Bombenabwurf von
Bodenstationen aus bestimmt wurde. Dadurch erhoffte man sich eine höhere Treffergenauigkeit.
Bei diesem Gerät wurde ein Funkstrahl von einem Bodensender aus gesandt. Der Funkstrahl
bestand aus 180 Richtungszeichen in der Minute, ein Tempo, das für gut ausgebildete Funker
hörbar war, von der Masse jedoch nicht. Aus diesem Grund wurden in den Flugzeugen spezielle
Analysatoren eingebaut. Gleichzeitig sendete die Bodenstelle weitere Richtungszeichen, die ein
Empfänger an Bord auffing und über einen Bodensender zurückstrahlte. Die Bodenfunkstelle
konnte so, anhand von Richtung und Entfernung den Standort des Flugzeugs bestimmen. Wenn sich
die Maschine schließlich über ihrem Ziel befand, kam von der Funkstelle der Befehl zum
Bombenwurf. Das Y-Gerät verfügte über eine größere Reichweite als andere Systeme und war
mobiler einsetzbar, da nur ein Sender verwendet wurde.92
Mit dem Ausbau der Nachtjagdorganisation stieg der Bedarf an Bodenpersonal immens an, was sich
bald als eine weitere Schwierigkeit herausstellen sollte. Ausgebildete Soldaten wurden während des
Kriegsverlaufs immer häufiger weg von der Flak, den Scheinwerfern, etc., an die Fronten beordert,
sodass für das Bodenpersonal der Luftverteidigung bald Frauen, Angehörige der SS und SA, sowie
des RAD und zuletzt auch der HJ eingesetzt wurden.93
b) Flak
Die Flak erwies sich bereits frühzeitig als äußerst material- und personalintensiv und hatte bald mit
Mängeln in beiden Bereichen zu kämpfen. Trotz dieses Umstandes blieb die Flak Hitlers
bevorzugte Abwehrwaffe. Um verbesserte Abschussleistungen zu erzielen, wurden ab April 1942,
mehrere Batterien auf ein Ortungsgerät zusammengeschaltet, wodurch weitere Ortungsgeräte
freigemacht wurden, die wiederum an anderen Stellen stationiert werden konnten. Zusätzlich
wurden die Geschützzahlen weiter erhöht und auf stärkere 10,5 cm und 12,8 cm Kaliber
91 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 542ff.
92 Vgl. ebd. S. 543; zum Y-Verfahren vgl. Niehaus: Radarschlacht, S. 69ff. und Fritz Trenkle: Die deutsche
Funkführungsverfahren bis 1945, Heidelberg 1987 (Im Folgenden: Trenkle: Funkführungsverfahren), S. 137ff.
93 Vgl. Koch: Flak, S. 223; zum Einsatz sogenannter „Flakhelfer“ vgl. ebd., S. 312ff.
28
umgerüstet. Der Flakbestand des Luftwaffenbefehlshaber Mitte, dem mittlerweile weitere Luftgaue
unterstanden, wuchs im Laufe des Jahres um 96 schwere Batterien auf 838, um 100 leichte und
mittlere auf 538 und um 103 Scheinwerferbatterien auf 277 an. Durch ihre Mobilität wurde die
Eisenbahnflak immer gefragter, sodass auch deren Zahl erhöht wurde. Auch in Mülheim kam dieses
Flakmodell zum Einsatz.94
Die Flak erreichte aber mittlerweile die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Während die Flughöhen und
-geschwindigkeiten der gegnerischen Bomber ständig verbessert wurden, hatte man es auf deutscher
Seite versäumt, die Flak dahingehend weiterzuentwickeln. Die Folge war, dass die
Trefferwahrscheinlichkeit der Flak immer weiter abnahm, dadurch ein höherer Munitionsverbrauch
zustande kam, der aufgrund der wachsenden Rohstoffengpässe, zu einer immer größeren
Herausforderung wurde. Besonders das für die Munition benötigte Aluminium hätte man evtl.
vorrangig der Flugzeugproduktion zugutekommen lassen.95
c) Tagjagd
Ein weiteres Versäumnis im Rahmen der Luftverteidigung betraf die Tagjagd, der insgesamt eine
sehr geringe Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
Geringe Lufttätigkeit der Briten und nicht ernst genommene Warnungen über die Beteiligung der
Amerikaner, bzw. über die Qualität ihrer Bomber hatten dazu geführt, dass der Aufbau der Tagjagd
sich besonders schleppend vollzog. Noch 1942 wurde dieser Bereich nur von Schul- und
Ergänzungseinheiten übernommen, deren veraltete Maschinen der britischen Spitfire und Mosquito
weit unterlegen waren.
Durch erste Umorganisationen in diesem Jahr wurde die Tagjagd mit der Nachtjagd
zusammengefasst und profitierte so von deren Funkmessorganisation. Zusätzlich wurde die Tagjagd
von 2 auf 4 aktive Gruppen, I.-IV./Jagdgeschwader 1 erhöht und verfügte ab dem Frühjahr 1942
über eine Ist-Stärke von 160 Flugzeugen.96 Die Jagdkräfte der Luftflotte 3 stiegen im gleichen
Zeitraum von 213 auf 471 Maschinen, die Einsatzbereitschaft von 154 auf 313. Kaum aufgestellt
mussten beide Geschwader je eine Staffel für Jagdbomberangriffe gegen England abgeben und 209
weitere Jäger wurden nach Südfrankreich verlagert. Im Laufe des Jahres wurde des Öfteren, u.a.
durch die Generäle Milch und Galland, eine Verstärkung der Tagjagd gefordert, bzw. eine
Erhöhung der Jägerproduktion. Diesen Forderungen schenkten aber weder Hitler noch Göring
Gehör. Noch immer wurden die amerikanischen Bomber und die gesamte amerikanische Rüstung
94 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 551; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 237.
95 Vgl. Boog: der angloamerikanische Luftkrieg, S. 553.
96 Vgl. ebd. S. 546f.; Galland: Die Ersten..., S. 206.
29
nicht ernst genommen. Die wachsende Gefahr wurde nicht oder wollte nicht erkannt werden und so
blieb eine wesentliche Verstärkung der Tagjagd für die Reichsluftverteidigung weiterhin aus.97
Das Jahr 1942 deutete also unverkennbar an, dass die Bemühungen der Alliierten sich langsam aber
sicher zu deren Gunsten auswirkten. Auch wenn die Bombardierungen der Amerikaner zu diesem
Zeitpunkt noch keine großen Auswirkungen hatten, so war doch allein ihre regelmäßige Präsenz
über dem deutschen Reichsgebiet eine deutliche Demonstration der Stärke und ein Zeichen dafür,
dass Deutschland im Grunde über kein Mittel verfügte, dem entgegenzuwirken.
Zusammen mit den britischen Nachtangriffen wurde die deutsche Luftverteidigung fortan rund um
die Uhr herausgefordert und dennoch wurde sie weiterhin, zugunsten des Offensivgedankens,
vernachlässigt. Zu diesem Zeitpunkt war die Reichsluftverteidigung bereits geprägt von
Improvisation und Überlastung, dabei hatte die alliierte Luftoffensive gegen Deutschland noch
längst nicht ihren Höhepunkt erreicht, tatsächlich stand sie erst noch am Anfang.
Tabelle 3: Deutsche Rüstungszahlen 1941/42: Jäger vs. Bomber98
1941
1942
Jäger
Bomber
Jäger
Bomber
Januar
136
255
274
444
Februar
255
326
303
343
März
424
392
456
598
April
476
355
427
552
Mai
446
269
384
577
Juni
376
325
371
587
Juli
320
446
487
555
August
285
454
475
590
September
258
416
492
520
Oktober
261
382
502
590
November
232
331
488
509
Dezember
263
399
554
674
3732
4350
5213
6539
Total
97 Vgl. Boog: Der angloamerikanische Luftkrieg, S. 549; Boog: Luftwaffenführung, S. 141ff.; David Irving: Die
Tragödie der Deutschen Luftwaffe. Aus den Akten und Erinnerungen von Feldmarschall Milch, Frankfurt/Main
1970 (Im Folgenden: Irving: Tragödie), S. 216f. und S. 244.
98 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 49 (xxii), S. 494f.
30
III. Das Jahr 1943
1. Die Konferenz von Casablanca
In der Zeit vom 14. bis zum 26. Januar 1943 trafen sich englische und amerikanische Stabschefs in
der marokkanischen Stadt, um aus ihren unterschiedlichen Auffassungen eine gemeinsame Taktik
gegen Deutschland zu formen. Dabei wurde auch die bedingungslose Kapitulation Deutschlands als
Kriegsziel festgelegt. So einig man sich auch bei dem Ziel war, so uneins war man sich über den
Weg dorthin. Das am 21. Januar vorgelegte „gemeinsame Konzept zur Intensivierung des
strategischen Luftkriegs gegen Deutschland“ brachte auch keine endgültige Lösung. Die sogenannte
„Casablanca-Direktive“ sprach lediglich von der „fortschreitenden Zerstörung und Paralysierung
des deutschen, militärischen, industriellen und wirtschaftlichen Systems und der Demoralisierung
des deutschen Volkes bis zur Unfähigkeit zu bewaffnetem Widerstand.“ Dies sollte durch die
Zerstörung folgender Ziele in vorgegebener Reihenfolge erreicht werden:99
deutsche U-Boot-Werften
deutsche Flugzeugindustrie
Transportsystem
Hydrierwerke
andere Objekte der deutschen Kriegsindustrie
Man war bemüht, bei der Erarbeitung der Direktive, sowohl den britischen, als auch den
amerikanischen Auffassungen in gewissem Maße gerecht zu werden und diese zu berücksichtigen.
Auf deutscher Seite schien man über den Ausgang der Konferenz wenig beeindruckt:
„Das Ergebnis ist, wenigstens soweit es im Kommuniqué sichtbar wird, denkbar mager. […].
Man glaubt uns schrecken zu können mit der Ankündigung von neuen Offensiven, die an
irgendwelchen Plätzen Europas stattfinden sollen. Das Jahr 1943 werde das Jahr des Sieges
werden. Man will uns angreifen, wo immer man kann. […]. Die Pläne zur Offensive, so
behaupten die Engländer und Amerikaner, seien fertig.“ 100
Tatsächlich aber gab es auch nach der Casablanca-Konferenz noch keine endgültigen Pläne.
Zumindest nicht, was die gemeinsame Taktik betraf. Immerhin wurden mit der Direktive zum
ersten Mal genaue Zielvorgaben gemacht. In ihrer Formulierung blieb sie jedoch soweit
interpretierbar, dass es für beide Seiten möglich war, sie zu ihren Gunsten auszulegen. Harris
verstand die Direktive als Möglichkeit, sein „unterschiedsloses Städtebombardement“ weiterführen
zu können:
„[...], and I was now required to proceed with the general 'disorganisation' of German industry,
giving priority to certain aspects of it such as U-boat building, aircraft production, oil
99 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 8 (xxviii), S. 153f.; zur Frage der Interpretation vgl. ebd., Vol.
II, S. 10ff.; Craven/Cate: The Army Air Forces Vol. II, S. 305ff.
100 Zit. n. Elke Fröhlich [Hrsg.]: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II: Diktate 1941-1945, Bd. 7, Jan. 1943März 1943, München, New Providence, London, Paris 1996 (Im Folgenden: Goebbels Tagebücher), S. 208f.
(28. 01. 1943).
31
production, transportaion and so forth, which gave me a very wide range of choice and
allowed me to attack pretty well any German industrial city of 100.00 inhabitants and
above.“101
Auch die Amerikaner sahen keinen Grund, ihre bisherige Vorgehensweise zu ändern. Basierend auf
dem Grundsatz,
„it is better to cause a high degree of destruction in a few really essential industries or services
than to cause a small degree of destruction in many industries“,
hielten sie an ihrer Taktik der selektiven Tagesangriffe fest und konzentrierten sich dabei weiterhin
auf militärische Ziele.102
Die Arbeit an einem gemeinsamen Konzept ging somit weiter. Damit verbunden war auch eine
Anpassung der Hauptziele nach deren Priorität, die schließlich im „Eaker-Plan“ folgendermaßen
festgelegt wurden:103
U-Boot-Werften und -Basen
deutsche Flugzeugindustrie
Kugellagerindustrie
Ölversorgung
synthetische Gummi- und Reifenindustrie
Produktion von Militärtransportfahrzeugen
Der Plan wurde am 29. April 1943 den Stabschefs vorgestellt und am 14. Mai von Roosevelt und
Churchill genehmigt. Weitere Änderungen und Anpassungen, bei denen der Grundsatz der
„Casablanca-Direktive“ jedoch stets beibehalten wurde, mündeten schließlich darin, dass der
„Eaker-Plan“ am 10. Juni 1943 als „Pointblank-Direktive“104 an beide Bomberverbände ging. Das
Ergebnis war schließlich in Harris' Sinne, konnte er seine Interessen soweit durchsetzen, dass die
genannten Ziele allein der 8. USAAF zugewiesen wurden. Boog beschreibt die „PointblankDirektive“ als
„eine Einladung an die Amerikaner, die Effektivität ihrer Tagespräzisionsangriffe, […], unter
Beweis zu stellen und ein Freibrief für Harris, mit den unterschiedslosen nächtlichen Flächen
angriffen auf deutsche Industriestädte fortzufahren.“ 105
Diesen Weg ging Harris schließlich auch bei der Großoffensive des Bomber Command gegen das
Ruhrgebiet.
101 Zit. n. Harris: Bomber Offensive, S. 144.
102 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 15; zit. n. ebd.
103 Vgl. ebd. S. 17ff.
104 Vgl. ebd. S. 22ff.; ebd. Vol. IV, App. 8 (xxxii), S. 158Ff; Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 665ff.
105 Zit. n. Horst Boog: Strategischer Luftkrieg über Europa und die deutsche Luftverteidigung. In: Das Deutsche Reich
und der Zweite Weltkrieg Bd. 7: Das Deutsche Reich in der Defensive. Strategischer Luftkrieg in Europa, Krieg im
Westen und Ostasien 1943-1944/45, München 2001 (Im Folgenden: Boog: Strategischer Luftkrieg), S. 1-415 hier S.
08.
32
Das Konzept zur kombinierten Bomberoffensive stand demnach zu Beginn des Jahres weitgehend
fest, von einer kombinierten Bomberoffensive selbst, konnte aber weiterhin nicht die Rede sein.
Abgesehen von den noch immer unterschiedlichen Auffassungen bezogen auf die Durchführung,
waren die Amerikaner noch gar nicht in der Lage, größere Aktionen, die über das deutsche
Küstengebiet hinausgingen, durchzuführen.106
2. Die 8. USAAF
In der 1. Jahreshälfte befand sich die 8. USAAF noch immer in einer Testphase. Es dauerte noch bis
März, bevor die 8. USAAF eine Stärke erreichte, die es erlaubte, Angriffe mit bis zu 100 Bombern
zu fliegen. Gemessen an den Produktionszahlen deutscher Jäger, wollte man auf amerikanischer
Seite eine Mindeststärke von 600 verfügbaren Bombern erreichen. Langsam baute man auch die
Stärke der Begleitjäger P-47 Thunderbolt aus, jedoch dauerte es noch bis zum Mai 1943, bevor die
US-Bomber regelmäßig Begleitschutz erhielten.107
Taktisch konzentrierten die Amerikaner ihre Angriffe somit weiterhin auf U-Boot-Bunker, Werften,
o.ä., vorrangig in Frankreich. In der Zeit vom 23. Januar bis zum 10. Juni 1943 warfen die USBomber ca. 3800 Tonnen Bomben ab, davon ungefähr 60% auf U-Boot-Ziele. Auch Motorenwerke
und weitere Produktionsstätten für Transportfahrzeuge in Frankreich und Belgien standen auf den
amerikanischen Ziellisten. Das deutsche Schienennetzwerk hingegen wurde zu diesem Zeitpunkt
noch nicht konsequent bombardiert.108 Erste nennenswerte Aktionen über deutschem Gebiet
konzentrierten sich vor allem auf die Küstenregionen; den ersten Angriff gegen eine Stadt im
Ruhrgebiet erlebte Hamm, am 04. März 1943.
Die US-Bomber stießen bei ihren Aktionen immer wieder auf eine starke deutsche Jagdabwehr, die
sie mit immer stärkeren Bomberformationen überwinden wollten. Ab März/April 1943 wurden
schließlich die P-47 nach und nach fester Bestandteil der amerikanischen Angriffsformationen.
Aufgrund noch bestehender technischer Mängel dauerte es aber noch bis Mai, bevor sie sich als
Langstrecken-Jäger eigneten. Mit einer Reichweite von ca. 281km begleiteten die Thunderbolts die
Bomber noch immer vorrangig bei Angriffen innerhalb Frankreichs und dem deutschen
Küstengebiet.109
Das 1. Halbjahr 1943 verbrachten die Amerikaner somit überwiegend damit, die Stärke der 8.
USAAF weiter auf- und auszubauen und flogen Tagesangriffe, die keine nennenswerten Schäden
anrichteten. Es kam vor, dass ihnen aufgrund dessen vorgeworfen wurde, dass sie eine effektive,
kombinierte Bomberoffensive gegen Deutschland nur unnötig verzögert hätten. Für die Amerikaner
106 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 161.
107 Vgl. ebd. S. 161; Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 309ff.
108 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 313ff.
109 Vgl. ebd. S. 327ff. und S. 336f.; Galland: Die Ersten..., S. 265.
33
hingegen bedeutete diese Phase, dass sie ihren Standpunkt beweisen konnten, nämlich, dass es
durchaus möglich sei, Deutschland am Tage zu bombardieren.110
Die Realität sah für die US-Bomber zu diesem Zeitpunkt aber noch ein wenig anders aus. Angriffe,
die über die Reichweite der P-47 hinaus gingen, wurden demnach weiterhin ohne Begleitschutz
geflogen, wodurch es den deutschen Tagjägern immer wieder gelang, den Amerikanern hohe
Verluste beizubringen. Als die verheerendsten galten die Angriffe auf Schweinfurt im August und
Oktober 1943. Das Ziel dieser Angriffe war die dortige Kugellagerindustrie. Besonders der Angriff
am 14. Oktober 1943, der später die Bezeichnung „Black Thursday“ erhielt, machte die
Schwachstelle der amerikanischen Offensive deutlich. Von insgesamt 291 B-17 wurden 60
abgeschossen und 138 beschädigt, davon 17 irreparabel. Zwar gelang es den US-Bombern, die Ziele
zu bombardieren und auch erheblich zu beschädigen, dennoch hatten die hohen Verluste große
Auswirkungen auf die Moral der Bomberbesatzungen und waren in dieser Höhe auf Dauer kaum zu
tragen.111
Diese verlustreichen Angriffe, von denen es neben Schweinfurt noch einige weitere gab, machten
deutlich, dass eine erfolgreiche Bomberoffensive nicht ohne Begleitschutz durch Langstreckenjäger
durchzuführen war. Daraufhin verzichtete die 8. USAAF auf weitere Angriffe gegen Ziele im
Landesinneren und nahm diese erst ab Januar 1944, mit der Einführung der P-51 „Mustang“
Langstreckenjäger, wieder auf.112
3. Das Bomber Command
Die Briten dagegen setzten ihre Flächenangriffe gegen deutsche Städte weiterhin fort und konnten
mittlerweile auf die Entwicklungen der letzten Jahre zurückgreifen. Die Flugzeugproduktion stieg
weiter an, mit Schwerpunkt auf die schweren Bomber, die nun mit Oboe und H2S technisch bestens
ausgerüstet waren. Mittlerweile flogen bei jedem Einsatz über Deutschland zwischen 500 und 800
Bomber. Zusätzlich wurden die Bomber bei ihren Angriffen durch die Bodenmarkierungen, den
sogenannten „Christbäumen“, der PFF unterstützt.113
Gerade die Einführung von H2S machte es dem Bomber Command möglich, Angriffe nun auch bei
Wetterverhältnissen zu fliegen, bei denen es den deutschen Jägern nicht einmal möglich war,
überhaupt zu starten. Die deutsche Luftverteidigung sah sich auch weiterhin mit immer neuen
Herausforderungen konfrontiert. Auch die Bomben wurden noch einmal weiterentwickelt.
Besonders die Brandbombe, da gerade ihr die höchste Wirkung aller eingesetzten Bomben
zugesprochen wurde. Da es den Deutschen jedoch relativ leicht fiel, die Brandbomben unschädlich
110 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces, S. 346; Harris: Bomber Offensive, S. 163; Verrier: Bomberoffensive, S. 109.
111 Zum Angriff auf Schweinfurt vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. III, S. 699ff.; Galland: Die Ersten..., S.
256ff.
112 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. III, S. 705f.
113 Vgl. Cooper: Air Battle, S. 21; Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 95ff.
34
zu machen, galt es nun einen Weg zu finden, die Brandbekämpfung erheblich zu erschweren. Die
Flüssigkeitsbrandbombe sollte den gewünschten Erfolg erzielen. Der Brandsatz bestand aus einem
Gemisch von Benzin, Gummi und Viskose oder Öl, flüssigen Asphalt und Magnesiumstaub. Häufig
wurde auch noch Phosphor beigemischt. Von dieser Bombe kamen auf britischer und
amerikanischer Seite 4 Typen zum Einsatz, deren Gewicht 27kg, 45kg, 225kg und 2,7kg betrugen.
Von den Letzteren wurden meist bis zu 38 Bomben in einem Streubehälter geladen.114
Mithilfe der Weiterentwicklungen waren die Briten nun einmal mehr in der Lage, den Luftkrieg
über Deutschland erneut zu verschärfen. Welche Ausmaße das mit sich brachte, wurde
eindrucksvoll durch die Großoffensive gegen das Ruhrgebiet demonstriert.
4. Reaktionen auf deutscher Seite
Die deutschen Städte hatten zu Beginn des Luftkrieges kaum Schwierigkeiten, eigenständig
Hilfsmaßnahmen für Bombengeschädigte durchzuführen. Mit der Verschärfung des Luftkriegs und
den größeren Auswirkungen der Bombenangriffe wurde es notwendig, Hilfsmaßnahmen auch durch
stadtexterne Stellen zu organisieren. Als zentrale Stellen für die Organisation und Durchführung der
Beseitigung der Kriegsschäden wurden 1943 der Interministerielle Luftkriegsschäden-Ausschuss
(ILA) und die Reichsinspektion für zivile Luftkriegsmaßnahmen gegründet. Hitler ernannte
Goebbels zum Leiter beider Einrichtungen. Der ILA wurde im Januar 1943 gegründet und
übernahm die Koordination verschiedener Einrichtungen um die Versorgung in den bombardierten
Städten zu sichern. In erster Linie handelte es sich dabei um motorisierte Hilfszüge mit Kleidung
und Lebensmitteln sowie mobile Werkstätten und Küchen. Auch über Einrichtungen der
Wehrmacht, des Roten Kreuz und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) konnte der
ILA verfügen. Es ist wohl eine durchaus gerechtfertigte Schlussfolgerung, dass die Gründung des
ILA in erster Linie die Bevölkerung davon überzeugen sollte, dass die Partei sich um das
Wohlergehen des Volkes kümmerte. Daher war die Ernennung Goebbels als Vorsitzender wohl
nicht zufällig. Bombenangriffe und die anschließende Versorgungssituation hatten auf die
Stimmung der Bevölkerung einen besonderen Einfluss und wie ließe sich besser Werbung in
eigener Sache machen, als durch schnelle Hilfe, organisiert von dem Mann, der sie vorher
versprochen hatte?
Die Reichsinspektion für zivile Luftkriegsmaßnahmen hatte die Aufgabe, gegen mögliche
Missstände im Luftschutz vorzugehen. Die Initiative zu ihrer Gründung ging von Goebbels selbst
aus und am 10. Dezember 1943 kam der Führerbefehl zur Bildung der Reichsinspektion, die am 25.
Dezember ihre Arbeit aufnahm, Goebbels Stellvertreter wurde Gauleiter Westfalen-Süd, Albert
114 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 203f.
35
Hoffman.115 Bis 1945 unternahm die Reichsinspektion Reisen durch das Reichsgebiet, um
Versäumnisse bei den Luftkriegsmaßnahmen aufzudecken. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Luftkrieg
seinen Höhepunkt jedoch bereits überschritten und für nennenswerte Verbesserungen war es längst
zu spät.116
Eine wirkliche Zentralisierung der Hilfsmaßnahmen wurde auch durch die beiden Einrichtungen
nicht geschaffen. Im Ganzen betrachtet wurden dadurch lediglich die Kompetenzen des
Luftschutzes neu verteilt und um einige Instanzen erweitert. Eine Entwicklung, die vor allem
Goebbels zugute kam, da sich dessen Einflussbereich immens ausweitete.
„Die Kombination seiner vielfältigen politischen und staatlichen Funktionen mit dem Vorsitz
des ILA und in der Reichsinspektion (…) machten ihn auf dem Höhepunkt des Bombenkriegs
an der Heimatfront zu einem der mächtigsten Politiker und Entscheidungsträger im Deutschen
Reich.“117
5. Mülheim und der Beginn der „Battle of the Ruhr“
Die frühen britischen Kriegsplanungen, die in Kapitel 2 kurz beschrieben wurden, bezogen bereits
das Ruhrgebiet mit ein. Ziel des 2. Ruhrplans“ (W.A.5) war es, die Produktion der Ruhrindustrie
gleichermaßen durch direkte wie indirekte Auswirkungen zu reduzieren.118 Für Harris und sein
Bomber Command schien nun der geeignete Augenblick, um den entscheidenden Schlag gegen das
Deutsche Reich auszuführen. Stärke und Technik waren vorhanden und wie bereits erwähnt, fand
Harris sich durch die neu erlassene Casablanca-Direktive in seiner Vorgehensweise bestätigt und
sah sich dazu berechtigt, jede beliebige Industriestadt zu bombardieren. Das Ruhrgebiet, als
wichtigstes Industriegebiet Deutschlands, blieb dabei das vorrangige Ziel. Dessen Zerstörung würde
nicht nur die deutsche Kriegsproduktion entscheidend schwächen, sondern ebenso ein
entscheidender Schlag gegen die Moral der Bevölkerung bedeuten.119
Die wichtigsten Neuerungen, die dem Bomber Command für die Großoffensive gegen das
Ruhrgebiet zur Verfügung standen waren, neben Oboe und Gee, verbesserte
Zielmarkierungsbomben und der Mosquito-Bomber. Neben Spitfire, Lancaster, Hurricane und
Wellington erwies sich dieser Bombertyp als einer der erfolgreichsten der RAF.120 Obwohl der
Mosquito selbst über keine Defensiv-Waffen verfügte, konnte er aufgrund seiner hohen
Geschwindigkeiten die deutsche Luftabwehr herausfordern. Zudem war er durch seine
115 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 391ff.; Goebbels Tagebücher: Bd. 10, S. 515 (20. 12. 1943) S. 523 (21. 12. 1943) und
S. 547 (25. 12. 1943).
116 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 393, Blank nennt als Beispiel Dresden, als noch wenige Tage vor der Angriffswelle im
Februar 1945 das Fehlen von ausreichend Schutzmöglichkeiten bemängelt wurde.
117 Zit. n. Blank: Heimatfront, S. 394.
118 Zu den direkten und indirekten Auswirkungen vgl. David McIsaac [Hrsg.]: The United States Strategic Bombing
Survey Vol. II: The economic effect of the air offensive against German cities. Area Studies Division Report
(European Report No. 31), New York, London 1976 (Im Folgenden: USSBS Vol. II: European Report No. 31), S. 6.
119 Vgl. Hinchliffe: Luftkrieg bei Nacht, S. 102; Harris: Bomber Offensive, S. 147.
120 Vgl. Goulding/Moyes: Bomber Command aircraft, S. 92ff.
36
Holzbauweise nur schwer durch die deutschen Radargeräte zu orten und für die Briten relativ
günstig zu produzieren. Eine Konstruktion, die selbst Göring neidisch werden ließ. Eingesetzt
wurden die Mosquitos überwiegend in der Pathfinder-Force.121
Während die Amerikaner ihre Angriffe weiterhin in erster Linie gegen deutsche Seestreitkräfte und
die deutsche Flugzeugindustrie richteten, begannen die Briten in der Nacht vom 5./6. März 1943
mit einem Angriff auf die Essener Krupp-Werke, die „Battle of the Ruhr“.122 Dabei wich das
Bomber Command aber nicht von seiner üblichen Taktik ab, wie es vielleicht den Anschein machte.
Beim Angriff auf Essen handelte es sich keinesfalls um einen Präzisionsangriff auf ein
Industrieobjekt, sondern wie bei allen Angriffen auch um einen Flächenangriff. Die Werke waren
lediglich im Zentrum der Stadt angesiedelt, und wie Harris später, in recht zynischer Weise, selbst
betonte, war während der gesamten „Battle of the Ruhr“ grundsätzlich das Stadtzentrum der
Zielpunkt. Die Zerstörungen von Industrieanlagen galten als Bonus.123
Mülheim war zu Beginn der Offensive noch kein direktes Ziel, dennoch fielen immer wieder
Bomben auf das Stadtgebiet. In der Nacht zum 10. März flogen bereits 2 Mosquitos über die Stadt
und warfen eine Mine und eine Stabbrandbombe auf den Stadtteil Dümpten. Dabei kamen zwei
Menschen ums Leben. Bei einem Angriff auf Duisburg, am 08. April, fielen zwischen 23:10 Uhr
und 23:50 Uhr, 6 Minen, 155 Phosphor- , 2750 Brand- und 123 14kg - Phosphorbrandbomben auf
Mülheim. Es gab 4 Tote und 13 Verletzte. Die Sachschäden beliefen sich auf 3 völlig zerstörte
Häuser, 14 schwer, 14 mittelschwer und 360 leicht beschädigte Häuser. Dazu kam noch ein
Großbrand auf dem Gelände der Zeche Wiesche.124
Ein Angriff auf die Nachbarstadt Oberhausen, am 27. April, hatte für Mülheim zur Folge, dass die
gesamte Wasserversorgung der Stadt ausfiel. Bis die Trinkwasserversorgung wieder vollständig
hergestellt wurde, dauerte es bis zum 30. Mai, solange wurde die Stadt zusätzlich mit Wasserwagen
der NSV versorgt. Auch die Straßenbahn stellte ihren Betrieb nach diesem Angriff ein und erhielt
lediglich einzelne Linien für den Notbetrieb. Ein weiteres Mal wurde Mülheim am 13. Mai
getroffen, bei einem Angriff, der eigentlich Bochum galt. Starke Bewölkung machte den vier
Wellington - Bombern, die diesen Angriff flogen, eine Zielerkennung unmöglich, wodurch die
Bombenlast von insgesamt 1055 Tonnen auf Mülheim und Umgebung niederging. Nennenswerte
Folgen hatte dieser Angriff für die Stadt nicht.
Der Angriff auf die Eder- und Möhnetalsperre am 16./17. Mai, bei dem insgesamt mehrere Tausend
Menschen den Tod fanden,125 hatte auf die Stadt ebenfalls kaum Auswirkungen. Die entstandene
121 Vgl. Postan: British War Production, S. 341; Irving: Tragödie, S. 282.
122 Ausführlich zur „Battle of the Ruhr“ vgl. Cooper: Air Battle; Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 108-137.
123 Vgl. Harris: Bomber Offensive, S. 147; Verrier: Bomberoffensive, S. 162f.
124 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 367; Nierhaus: Mülheim, S. 213.
125 Vgl. Für eine detaillierte Beschreibung dieses Angriffs vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 168Ff.;
Verrier: Bomberoffensive, S. 216ff.; Angaben über endgültige Opferzahlen variieren, vgl. dazu Blank: Heimatfront,
S. 367 Anmerkung 40.
37
Flutwelle trieb tote Tiere, Holz und Hausrat an der Stadt vorbei. Da aber früh genug die Brüstungen
an der Mülheimer Schlossbrücke entfernt wurden, stieß das Wasser auf wenig Widerstand, wodurch
in der Stadt nur geringe Schäden entstanden.126
In den ersten Monaten der „Battle of the Ruhr“, blieb Mülheim zwar nicht ganz von
Bombenangriffen verschont, doch konnten evtl. Auswirkungen von Seiten der Stadt schnell
beseitigt werden. Die größte Herausforderung stand der Stadt jedoch noch bevor.
6. Der Großangriff auf die Stadt Mülheim an der Ruhr
Am 23. Juni 1943 wurde Mülheim unter dem Codenamen „Steelhead“ direktes Ziel der britischen
Großoffensive. Während der Angriffsdauer von ca. 1 Stunde flogen insgesamt 557 Flugzeuge des
Bomber Command über die Stadt hinweg, 499 davon warfen eine Bombenlast von über 1600
Tonnen ab.127
Um 00:45 Uhr wurde der Fliegeralarm ausgelöst und von 01:10 Uhr bis 02:20 Uhr führten 242
Lancaster, 155 Halifaxes, 93 Sterlings, 55 Wellingtons und 12 Mosquitos den Großangriff auf
Mülheim durch. Den vorausfliegenden Pathfindern gelang eine effektive Zielmarkierung, da sich in
dieser Nacht lediglich dünne Stratuswolken am Himmel befanden. Im Abstand von 20 Minuten
flogen drei Angriffswellen über die Stadt und warfen insgesamt 793 Sprengbomben, 129
Luftminen, 22.000 Phosphorbrand- und 131.000 Stabbrandbomben ab. Schätzungsweise Zwei
Drittel dieser Ladung trafen das Mülheimer Stadtgebiet.128
Das Angriffszentrum war die Innenstadt, dort wurden in erster Linie Wohnhäuser zerstört aber auch
die Bahnhöfe Mülheim-Ruhr (heute Mülheim-West) und Eppinghofen (heute Mülheim-Hbf.),
wurden getroffen. Ein Teilangriff richtete sich gegen den Stadtteil Speldorf, bei dem die
Werksanlagen, sowie ein Lager holländischer „Fremdarbeiter“ der Firma Schmitz-Scholl, die neben
Schokolade, auch Proviant für die Wehrmacht herstellte, getroffen wurden. Auch der Werksbereich
der Firma Tengelmann und das Hafengebiet wurden bombardiert. Die zweite Angriffswelle
verlagerte sich nach Norden, über den gesamten Industriebereich zwischen Ruhr und Mellinghofer
Straße, wodurch besonders die Stadtteile Styrum und Mellinghofen betroffen waren. Während
dieses Angriffs fielen auch Bomben auf die Nachbarstadt Oberhausen, wodurch alle Verkehrs- und
Telefonverbindungen zwischen den beiden Städten zusammenbrachen. Die Feuerschutzpolizei,
deren Sitz sich in Oberhausen befand, konnte daher nur von Mülheimer Meldern auf den Fußweg
erreicht werden. Zusätzlich wurde versucht, über Essen und Duisburg die Zentrale zu erreichen. Die
zerstörten Straßen erschwerten es auch, Hilfsgruppen aus den Nachbarstädten nach Mülheim zu
126 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 214f.
127 Vgl. Cooper: Air Battle, S. 400.
128 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 215; Ullrich: Dokumentation, S. 214.
38
schicken.129 Wie bei allen Angriffen der Ruhrschlacht, war auch in Mülheim das Stadtzentrum
Angriffsschwerpunkt und wurde in bewährter Taktik bombardiert:
„Zunächst sollten schwere Luftminen und Sprengbomben Dachstühle abdecken und generell
die Öffnung von Gebäuden und Mauern erwirken. Sprengbomben mit überschwerem Kopf
und Leitflossen vervollständigten das Zerstörungswerk und rissen dazu noch tiefe Krater in
Straßen. Mit chemischen Verzögerungszündern versehen stellten sie eine beständige Gefahr
für die Löschmannschaften dar, die sich vor ihrer Splitterwirkung fürchteten. Durch die
offenen Kamine der zerstörten Häuser wurden dann die Brandbomben geworfen, die ihre
schreckliche Wirkung in einem Feuersturm entwickeln konnten. Man zielte deshalb auf das
Stadtzentrum, weil sich die Planer den dort vorhandenen Fachwerkbauten eine besondere Feu
ersbrunst versprachen. Und dieses Konzept ging voll auf.“ 130
Innerhalb weniger Minuten war die Stadt in Staub- und Rauchwolken gehüllt.
Tabelle 4: Entstandene Flächenbrände als Folge des Luftangriffs vom 23. Juni 1943 131
Straße
Hausnummer
Hingbergstraße
27 – 44; 61
Leibnitzstraße
2 – 10
Oberstraße
7 – 18
Hindenburgstraße (heute: Friedrich-Ebert-Straße
19 – 20; 36 – 46; 79 – 88
Teinerstraße
59 – 65
Adolf-Hitler-Straße (heute: Freidrcihstraße)
1 – 3; 19 – 24; 62; 95
Schlossstraße
31 – 33; 52 – 54; 71 – 73; 83
Leineweberstraße
4 – 5; 11 – 12; 16 – 20
Löhberg
22; 51
Löhstraße
8 – 16
Von-Bock-Straße
32; 34; 39
Mühlenberg
7 – 11
Bachstraße
23; 43; 45
Dickswall
32; 36
Eppinghofer Straße
52 – 56; 106; 116; 163
Kohlenkamp
1 – 10
Kaiserstraße
45 – 55
Muhrenkamp
105 - 111
Um eine erfolgreiche Brandbekämpfung zu verhindern, flog das britische Bomber Command bereits
um 00:33 Uhr, also 12 Minuten bevor Luftalarm gegeben wurde, einen gezielten Angriff auf das
129 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 249 und S. 258: Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 401.
130 Zit. n. Nierhaus: Mülheim, S. 215f.
131 Tabelle zu finden bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 258.
39
Gebiet der Hauptfeuerwache. Entstandene Bombentrichter auf den Straßen und eingestürzte Häuser
hinderten die Löschfahrzeuge daran auszurücken, als diese um 01:35 Uhr von der Brandstelle
Rathaus angefordert wurden. Hinzu kam, dass Menschen in den Trümmern eingeschlossen waren,
deren Rettung Priorität hatte. Wie bereits erwähnt, fand dieser Angriff 12 Minuten vor Auslösung
des Luftalarms statt. Den Anwohnern blieb daher keine Zeit, rechtzeitig die Luftschutzkeller
aufzusuchen und somit begaben sie sich erst auf den Weg dorthin, als die Bomben bereits fielen.
Insgesamt wurden bei dem Angriff im Bereich der Aktien-, Falk- und Sandstraße 90 Menschen
getötet.132
Das Signal zur Entwarnung ertönte um 02:40 Uhr. Der Angriff war vorbei und 64% der Stadt
zerstört. Gut 50% der gesamten Trefferzentren befanden sich im Bereich der Innenstadt, wo mit fast
300 auch die höchste Anzahl an Todesopfern zu beklagen war. Weitere stark betroffene Stadtteile
waren Mellinghofen, Styrum, Eppinghofen und Speldorf.133
In Zahlen ausgedrückt, hatte der Angriff folgende Auswirkungen:134
530 Tote.
1167 Verwundete.
Gebäudeschäden:
Wohnhäuser: 1135 total zerstört, 2088 schwer, 2560 mittel und 7989 leicht beschädigt.
Insgesamt mussten 48.550 Menschen dauerhaft aus ihren Wohnhäusern ausquartiert werden.
Von insgesamt 1600 total zerstörten Gebäuden, gehörten 17 zu Rüstungsbetrieben.
Behördengebäude: 6 total zerstört, 13 schwer, 6 mittel und 16 leicht beschädigt.
Krankenhäuser: 3 schwer und 3 leicht beschädigt.
Kirchen: 2 total zerstört, 3 schwer, 6 mittel und 6 leicht beschädigt.
Schulen: 2 total zerstört, 9 schwer, 6 mittel und 8 leicht beschädigt.
216 Großbrände und 966 Mittelbrände, sowie 3018 Kleinfeuer, galt es zu bekämpfen.
16 Stück Großvieh war verendet.
Unter der Überschrift „Britischer Terror über Mülheim“ schrieb die Mülheimer Zeitung, zwei Tage
nach dem Angriff:
„Das alte Mülheim ist nicht wiederzuerkennen! […]. Wohin wir auch in diesen Straßen
unsere Blicke richten, überall sehen wir Bilder des Grauens, öde Fensterhöhlen,
zusammengestürzte Häuser, die die Minen und Brandbomben hinter sich gelassen haben
[...]“.135
132 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 249; Nierhaus: Mülheim, S. 215.
133 Vgl. Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 400; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 252; Wiedeking hat Trefferzentren und
Anzahl der Todesopfer anahnd der Opferliste der Stadt detailliert nach Straßen aufgeschlüsselt. Eine Abschrift
dieser Auflistung ist im Anhang dieser Arbeit zu finden.
134 Zur folgenden Aufzählung vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 257-266; StAMH: Bestand 1471/2/2, S. 26f. und
Bestand 1615/2, S. 7.
135 Zit. n. StAMH: MZ vom 25. 06. 1943.
40
Vier größere Betriebe erlitten durch den Angriff einen langfristigen, d.h. einen 2-3-monatigen
Totalausfall, ebenso wie 19 Mittelbetriebe. Weitere beschädigte Großbetriebe konnten in nur
wenigen Tagen wieder repariert werden. Zu den zerstörten öffentlichen Gebäuden gehörte auch das
Schwesternhaus des Evangelischen Krankenhauses, ohne das es dabei Tote gab. Weniger Glück
hatten Patienten des Alters- und Versorgungshauses, indem zwei Bomben einschlugen, die auch den
Luftschutzkeller trafen. Es starben 23 Menschen. Nur unter großen Schwierigkeiten konnten
weitere Patienten aus dem brennenden Gebäude in Sicherheit gebracht werden. Nach diesem
Vorfall stiftete die Familie Stinnes dem Krankenhaus einen Stollen, mit Untersuchungs- und
Operationsraum, fließendem warmen und kaltem Wasser und einer vollständigen Kanalisation,
ausreichend für ca. 150 Patienten. Das Krankenhaus selbst blieb weitgehend verschont und nahm
am Tag des Großangriffs bereits Patienten auf und verteilte dazu auch Essen und Getränke an die
Bewohner in der Umgebung.136
Am Morgen des 23. 06. um 06:15 Uhr, sendete die Nachrichtenzentrale der 4. Flak-Division ein
Fernschreiben an das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und teilte mit, das Mülheim und
Oberhausen in der Nacht, Opfer britischer Terrorangriffe geworden sind.137 Sofort rückten die
Kriegsabteilungen 4/214 und 4/216 des Reichsarbeitsdienstes (RAD) aus, um erste Schäden zu
beseitigen und mit dem Bau von Notunterkünften zu beginnen. Die NSV versorgte die Bevölkerung
mit Essen und Trinken. Mit Unterstützung der Wehrmacht wurden in der Stadt insgesamt 25
Feldküchen errichtet. Aufgrund der zerstörten Telefonleitungen wurden Hitlerjungen als Melder
zwischen Rathaus, Polizeipräsidium und den Außenstellen der Stadtverwaltung eingesetzt. Von der
Stadtverwaltung mussten zwar einige Abteilungen, u.a. das Kriegsschäden- und Wirtschaftsamt,
vorübergehend in Schulen untergebracht werden, doch ihre Arbeit nahm die Stadtverwaltung bereits
am 25. 06. wieder auf.138 Die Mülheimer Feuerwehr bekämpfte in der Innenstadt 156 Brände. In
Mellinghofen 14, in Styrum 11 und in Dümpten 4 Brände. Eine weitere Anzahl wurde durch
Hilfskräfte von außerhalb bekämpft. Die Löscharbeiten dauerten Tage, an einzelnen Brandstellen
sogar bis zum 30. 06. 1943. Das lag vor allem auch daran, dass die Trümmer durch den Feuersturm
oft noch tagelang glühend heiß waren und mit Wasser hätten abgelöscht werden müssen. Dafür
reichte aber oft der Druck in den Hydranten nicht aus, denn auch Wasserleitungen wurden bei dem
Angriff zerstört. Das verzögerte neben den Aufräumarbeiten, auch die Rettungsmaßnahmen für
verschüttete Personen. Menschen in den Schutzräumen konnten daher oft erst Tage später geborgen
werden und viele nur noch tot. Von den 530 Menschen, die bei diesem Angriff ums Leben kamen,
starben über 450 in Luftschutzräumen.139 In den Berichten der Feuerlöschpolizei heißt es
136 Vgl. StAMH: Bestand 1480/1/1; Nierhaus: Mülheim, S. 217.
137 Vgl. Kriegstagebuch OKW Bd. III: 1. Jan. 1943-31. 12. 1943, Erster Halbband III/5, S. 217.
138 Vgl. StAMH: MZ vom 25. 06. 1943 und vom 26. 06. 1943.
139 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 258.
41
beispielsweise, dass am 24. 06. die Löscharbeiten an einem Wohngebäude an der Rheinischen
Straße, aufgrund von Wassermangel eingestellt werden mussten. Personen, die unter den Trümmern
verschüttet waren, konnten ebenfalls nicht an diesem Tag geborgen werden. Als es endlich gelang,
die Trümmer zu beseitigen, konnten die Hilfskräfte nur noch 18 Tote bergen. Auch in der
Leineweberstraße, die damals lediglich 16 Häuser umfasste, kamen 42 Menschen in ihren
Schutzkellern ums Leben.140
Laut den Berichten der Mülheimer Feuerwehr waren 2714 eigene Rettungskräfte im Einsatz, ebenso
die gesamte Ordnungspolizei sowie zwei Einheiten der Feuerlösch- und Entgiftungsabteilungen
(FuE) aus den Abschnitten Süd und Mitte. Zu den eigenen Hilfskräften kamen noch folgende Kräfte
von außerhalb dazu:141
2 Bereitschaften vom Flughafen Essen/Mülheim (FS Breslau-Kattowitz)
2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 19, Essen-Kray
2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 25, Duisburg
2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 26, Hilden
2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 39, Düsseldorf
2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 18, Köln-Dellbrück
2 Bereitschaften der LS-Abt. mot. 17, Gelsenkirchen-Flughafen
2 Bereitschaften der LS-Abt. F, Wuppertal
2 Bereitschaften der LS-Abt. F, Dortmund
2 Bereitschaften der LS-Abt. I, Köln
2 Bereitschaften der FuE-Abt. Münsterland
63 Mann der Feuerschutzpolizei-Abt. 3, Bochum
Neben der Brandbekämpfung machte das Sprengkommando Kalkum, das neben dem
Sprengkommando Münster und Köln, für den Luftgau IV verantwortlich war, mit der Beseitigung
der Blindgänger, einen weiteren Anfang bei den Aufräumarbeiten. Für einen solchen Einsatz
wurden u.a. auch KZ-Häftlinge eingesetzt, die eine Bombenentschärfung ggf. auch bei Dunkelheit
und bei Luftalarmen durchführen sollten. Kriegsgefangene wurden ebenfalls eingesetzt. In Mülheim
halfen holländische Maurer, Zimmerleute und Bauarbeiter bei den Reparaturarbeiten. Für die
Einteilung der überwiegend ausländischen Arbeitskräfte war das Dezernat „Arbeitseinsatz“
verantwortlich.142 Weitere 100 Männer der 3. Kompanie des Kriegsgefangenen-Glaser-Bataillons III
aus Berlin und einige Arbeiter des Kriegsgefangenen-Dachdecker-Bataillons XVI wurden
140 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 261.
141 Zur folgenden Aufzählung vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 218 und StAMH: Bestand 1471/2/2, S. 26f.
142 Vgl. StAMH: Bestand 1615/4, S. 177.
42
zusätzlich nach Mülheim geschickt. Alle zum Einsatz gekommenen Hilfskräfte musste Mülheim
sich mit der Nachbarstadt Oberhausen teilen.143 Priorität hatte in jedem Fall die Wiederherstellung
betroffener Industrieanlagen. Einige Großbetriebe konnten zwar innerhalb weniger Tage wieder
repariert werden, Auswirkungen hatte aber auch das Fernbleiben der Arbeiter, die selbst von dem
Angriff betroffen waren, oder aufgrund der zerstörten Verkehrswege, den Weg zur Arbeit einfach
nicht antreten konnten. Da der Betrieb jedoch schnellstmöglich wieder aufgenommen werden sollte,
hatten bei der Straßenräumung die Wege zu den Produktionsstätten Vorrang. So fuhren in der Stadt
bereits wenige Tage nach dem Angriff insgesamt 30 Autobusse, als Ersatz für den Schienenverkehr,
die in erster Linie für den Transport der Mülheimer Arbeiter vorgesehen waren. Im Allgemeinen
gestaltete sich die Fortbewegung in der Stadt weiterhin schwierig. Die zerstörten Straßen hatten
auch zur Folge, dass geborgene Tote nicht abgeholt werden konnten und so noch tagelang vor den
Häusern lagen.144 Für den Abtransport von Schutt wurden Ochsengespanne eingesetzt. Dafür bekam
der Werkluftschutz von Seiten der Stadtverwaltung eine finanzielle Entschädigung in Höhe von
38.000 RM. Auch die Feuerwehr bekam, mit 22.000 RM, eine finanzielle Unterstützung der Stadt,
für den Neuerwerb eines Löschfahrzeugs.145
Um die Quartierbeschaffung für die Ausgebombten kümmerte sich die Stadtverwaltung, zusammen
mit der NSV. Mehr als 35.000 Obdachlose galt es, nach dem Angriff unterzubringen.
Nichtgeschädigte wurden aufgefordert, ungenutzten Raum in den eigenen Häusern und
Wohnungen, den Geschädigten zur Verfügung zu stellen. Zusätzlich wurden Schulen für die
Unterbringung genutzt und mit der Errichtung von Behelfsheimen wurde ebenfalls so früh wie
möglich begonnen.
Innerhalb der Stadt wurden die Versorgungsmaßnahmen gewohnt bürokratisch organisiert. Es gab
Formulare für Vermisstenmeldungen, Entschädigungsansprüche und Verlustanzeigen. In Mülheim
stellte das Kriegsschädenamt den Bombenopfern einen Ausweis über den Grad der Schädigung –
total, schwer, mittel oder leicht – aus. Mit diesem Ausweis konnten verlorengegangene
Haushaltsausweise und Lebensmittelkarten beim Ernährungsamt ersetzt werden. Der Verlust der
Lebensmittelkarten musste jedoch zuvor in einer eidesstattlichen Erklärung versichert werden. Bis
zum Erhalt der neuen Karten, teilte das Amt Urlauberkarten an die Antragsteller aus, mit denen
bereits Sachen wie Schuhe, Berufskleidung und bestimmte Haushaltswaren erworben werden
konnten.146
Für die Bestattung der Toten wurde in einer Sitzung der Stadtverwaltung beschlossen, einen neuen
Teil für 420 Grabstellen auf dem Ehrenfriedhof am Uhlenhorst anzulegen. Für die Aufstellung von
Grabzeichen stellte die Stadtverwaltung noch am 26. September 1944, einen Zuschuss von 35.000
143 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 219ff.
144 Vgl. ebd. S. 217.
145 Vgl. StAMH: Bestand 1181/2/30; StAMH: MZ vom 28. 06. 1943.
146 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 221f.; Burgdorff/Habbe: s. 193ff.
43
RM zur Verfügung.147 Für die Planung und Durchführung der Bestattungen, deren Ablauf nach
genauen Anweisungen verlief, war die Partei verantwortlich.
Auch das Bomber Command blieb nicht ohne Verluste. Während des Angriffs meldeten die Piloten
starke Scheinwerfer- und Flakaktivität, insgesamt wurden 35 Maschinen abgeschossen; 12 Halifax,
11 Stirling, 8 Lancaster und 4 Wellington. Dabei starben insgesamt 198 Besatzungsmitglieder. Laut
Angaben wurden 14 Maschinen direkt von Nachtjägern abgeschossen, 3 direkt von der Flak und 2
durch eine Kombination von Flak und Nachtjägern. Die restlichen Maschinen wurden stark
beschädigt und stürzten auf ihrem Rückweg entweder auf holländischem Gebiet ab oder in die
Nordsee. Lediglich zwei Maschinen stürzten direkt über dem Mülheimer Stadtgebiet ab: ein
Lancaster-Bomber in Heißen und ein Halifax-Bomber auf den Hauptfriedhof.148
147 Vgl. StAMH: Bestand 1181/2/30; 1181/1/5.
148 Cgl. Cooper: Air Battle, S. 99ff.; W.R. Chorley: Royal Air Force Bomber Command Losses of the Second Worls
War. Vol. 4: Aircraft and crew losses 1943, Hinkley 1996 (Im Folgenden: Chorley: Bomber Command Losses), S.
198ff.
44
Abb. 1 und 2: Verteilung der Trefferzentren und Todesopfer in den Mülheimer Stadtteilen,
nach dem Angriff vom 23. Juni 1943149
Trefferzentren
5
4%
6
5%
45
35%
5
4%
23
18%
25
19%
20
15%
Innenstadt Süd
Innenstadt Nord (Sitz der
Hauptfeuerwache)
Mellinghofen
Styrum
Eppinghofen
Speldorf
Dümpten, Fulerum, Saarn,
Winkhausen
Todesopfer
6
1%
6
1%
13
3%
46
11%
200
46%
64
15%
97
23%
Innenstadt Süd
Innenstadt Nord (Sitz der
Hauptfeuerwache)
Mellinghofen
Styrum
Eppinghofen
Speldorf
Dümpten, Fulerum, Saarn,
Winkhausen
149 Zahlen entnommen bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 252.
45
Tabelle 5: Aufschlüsselung der Anzahl von Trefferzentren und Todesopfern nach Straßen 150
Stadtteil
Straße
Innenstadt Süd
Leineweberstraße
Eppinghoferstraße
Löhstraße
Teinerstraße
Trooststraße
Kalkstraße
Oberstraße
Althofstraße
Schulstraße
Kaiserstraße
Delle
Scharpenberg
Hingbergstraße
Rheinische Straße
Biesenbach
Kohlenkamp
Kirchberghöhe
Antoniusstraße
Adolfstraße
Friedrichstraße
Mühlenberg
Kämpchenstraße
Dickswall
Essener Straße
Steiler Weg
Gesamt
Innenstadt Nord
Sandstraße
Falkstraße
Aktienstraße
Schreinerstraße
Zinkhüttenstraße
Seilerstraße
Arndstraße
Gesamt
Styrum
Neustadtstraße
Rosenkamp
Goebenstraße
Schützenstraße
Moritzstraße
Marktplatz
Oberhausener Straße
Blumenstraße
Hohe Straße
Sedanstraße
Fröbelstraße
Steinkampstraße
Zastrowstraße
Alvenslebenstraße
Industriestraße
Gesamt
Trefferzentren
Todesopfer
7
5
4
3
2
2
2
2
2
2
2
2
2
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
42
22
18
38
10
6
6
4
4
3
3
2
2
18
10
3
1
1
1
1
1
1
1
1
1
45
200
7
4
3
2
1
1
1
26
33
22
5
8
1
1
19
96
3
3
2
2
2
2
1
1
1
1
1
1
1
1
1
5
3
10
10
5
2
1
1
1
1
1
1
1
1
1
23
46
150 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 252f.
46
Stadtteil
Straße
Eppinghofen
Bruchstraße
Schillerstraße
Harnstraße
Heinrichstraße
Gesamt
Dümpten
Oberheidstraße
Borbecker Straße
Gesamt
Winkhausen
Klaus-Groth-Straße
Theodor-Storm-Straße
Gesamt
Trefferzentren
Todesopfer
2
1
1
1
2
8
2
1
5
13
1
1
1
1
2
2
1
1
1
1
2
2
Fulerum
Kleiststraße
1
1
Saarn
Nachbarsweg
1
1
Nach dem Großangriff wurde Mülheim noch einige Male von Bomben getroffen. Bereits drei Tage
später, am 26. Juni wurden noch einmal 14 Häuser mittel- und 17 Häuser leicht beschädigt. Menschen kamen diesmal nicht zu Schaden. Der Angriff selbst galt eigentlich Gelsenkirchen. Bei einem
weiteren Angriff am 27. Juli setzten die Briten auch über Mülheim das erste Mal „Window“ ein.
Diese „einfache Waffe“ gegen das Abwehrsystem rief gleichwohl Erstaunen und Entsetzen hervor.
Ebenfalls im Juli flog eine britische Bomberformation noch einmal über die Stadt und warf dabei 50
Sprengbomben auf Mülheim und Oberhausen ab. Dabei wurde das Gebiet, rund um den
Styrumer Bahnhof beschädigt.151
Am 30./31 Juli endete die „Battle of the Ruhr“ mit einem Angriff auf Remscheidt. Während der gesamten Ruhrschlacht flogen 18.506 Bomber in 39 Nächten 43 Großangriffe. Bis auf wenige Ausnahmen waren bei jeder Aktion mindestens 300 Flugzeuge beteiligt. Das Bomber Command erlitt
während der Offensive einen Totalverlust von 872 Flugzeugen und 6000 Besatzungsmitgliedern.
Zusätzlich wurden noch 2126 Flugzeuge beschädigt. Die durchschnittliche Verlustquote betrug
4,7%, Berechnungen zufolge, wäre die Offensive bei einer Verlustquote von 5%, auf Dauer nicht
durchzuhalten gewesen.152
Dabei wurde das Ruhrgebiet in seiner Bedeutung von Anfang an überschätzt. Neben einigen synthetischen Treibstoffwerken befanden sich nur ca. 25% der gesamtdeutschen Rüstungsproduktion in
diesem Gebiet. Im Bereich der Panzerherstellung betrug der Anteil gerade 10% und nur ein Flug-
151 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 218 und S. 222.
152 Vgl. Webster/Frankland: Air Offensive Vol. II, S. 110f.; ebd. Vol. IV, App. 42, S. 445f.
47
zeugwerk befand sich im Ruhrgebiet.153 In Mülheim selbst gab es, neben den Röhrenwerken und der
FWH, kaum kriegswichtige Produktion, den Hauptteil der städtischen Industrie machte die Lederproduktion aus.
Harris Zielvorstellung von der Zerstörung der Industrie hatten sich nicht erfüllt, lediglich ein Produktionsverlust von 4-6 Wochen war die Folge der Großoffensive und auch die Demoralisierung
der Bevölkerung konnte nicht erreicht werden.154 Dennoch war die Ruhrschlacht eine enorme Demonstration der Stärke, worüber sich Goebbels bereits vor ihrem Ende völlig bewusst war. Einen
Tag, nach dem Angriff auf Mülheim, beurteilte er die Lage folgendermaßen:
„Wir werden wohl zum großen Teil das westdeutsche Gebiet in unserer Rechnung aufgeben
müssen, abgesehen von den Rüstungseinrichtungen, die wir nach Möglichkeit erhalten
müssen. […]. Ich habe manchmal den Eindruck, als verursache der englische Luftkrieg in den
deutschen Führungskreisen eine Art von geistiger oder seelischer Lähmung. Wir tun durchaus
nicht alles, was getan werden müsste und getan werden könnte. Wenn die Engländer heute in
der Lage sind, in einer Nacht praktisch eine westdeutsche Stadt zu vernichten, so kann man
sich vorstellen, welche Verheerungen sie im Laufe der nächsten drei oder vier Monate, […],
anrichten können. Die Luftkriegsfrage ist damit das Problem der Probleme. Hier liegt die
eigentliche Schwächung unserer Kriegführung.“155
Eine große Schwäche der deutschen Luftkriegsführung war mit Sicherheit die deutsche
Heimatluftverteidigung bzw. die frühen Versäumnisse in diesem Bereich. Die deutsche
Luftverteidigung befand sich nun endgültig in der Lage, dass sie nur noch auf die gegnerischen
Aktionen reagieren konnte. Die Frage war nun, wie würde sie das tun?
7. Die Heimatluftverteidigung 1943
Die Situation der deutschen Luftverteidigung verschlechterte sich zusehends, was besonders ab
1943 deutlich wurde. Mittlerweile war auch die amerikanische 8. USAAF soweit, dass sie
wirkungsvolle Schläge gegen das Reich richten konnte und dennoch wurde eine Aufrüstung der
Defensive nicht im notwendigen Maße vorangetrieben. Noch immer überwog der Offensivgedanke
und durch den Mehrfrontenkrieg schmolzen zudem die deutschen Ressourcen merklich dahin und
Material- und Personalmangel wurden eine immer größere Hürde im Rennen der Kriegsproduktion.
Die Jägerproduktion konnte zwar gesteigert werden, doch durch die Verteilung auf mehrere
Kriegsschauplätze, fehlten der Heimatluftverteidigung weiterhin dringend benötigte Jäger.156 Die
Verteidigung blieb auch weiterhin die vorrangige Aufgabe der Flak.
153 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 18.
154 Vgl. ebd. S. 21.
155 Zit. n. Goebbels Tagebücher Bd. 8, S. 517 (24. 06. 1943).
156 Vgl. Irving: Tragödie, S. 301ff.
48
a) Flak
Im November 1943 dienten mittlerweile über eine Million Soldaten bei der Flakartillerie,
unterstützt von bis zu 400.000 Männern und Frauen als Flakhelfer und -helferinnen. Von der
gesamten Munitionsproduktion fielen allein 12% auf die Flak, doppelt soviel wie für die
Feldartillerie des Heeres. Die Menge des benötigten Aluminiums, das während des gesamten
Krieges für die Herstellung der Flakmunition verbraucht wurde, entsprach der Menge, die für die
Herstellung von 40.000 Jagdflugzeugen ausgereicht hätte. Zudem benötigte die Flak für einen
Abschuss, weitaus mehr Munition, als ein Jäger und verzeichnete dabei jedoch geringere
Abschusszahlen. Ein 8,8cm - Geschütz vom Typ 36, das auch in Mülheim zum Einsatz kam,
benötigte eine Mannschaft von 9 Kanonieren und für den Abschuss eines Bombers, durchschnittlich
16.000 Schuss.157 Während das Ansehen der Flak, aufgrund dieser Zahlen, innerhalb der Luftwaffe
langsam verlor, behielt sie für Hitler ihren hohen Stellenwert. Er hob dabei besonders ihre Wirkung
auf die Moral der feindlichen Bomberbesatzungen hervor. Denn auch ohne direkte Treffer zwang
sie den Gegner häufig zu Ausweichmanövern und ungenauen Bombenabwürfen. Die
psychologischen Auswirkungen der Flak erkannte auch der Befehlshaber der 8. USAAF, General
Spaatz an. Seiner Meinung nach gingen 61% der Fehlwürfe auf die indirekten Auswirkungen der
Flak zurück, „davon zwei Drittel auf Nervenstress und Ausweichbewegungen und ein Drittel auf
das Ausweichen in größere Höhen. Auch das Zurückkriechen (creep back) des Bombenwurfs, durch
vorzeitigen Abwurf beim Angriff, war der Flak zuzuschreiben.“ Hitlers Meinung nach, würde es
sich der Gegner dreimal überlegen, durch einen verstärkten Flakgürtel zu fliegen. Einen Flakgürtel
in der notwendigen Größenordnung aufzubauen, wie Hitler es sich vorstellte, war aber überhaupt
nicht realisierbar.158
Mit dem Einsatz von „Window“, auf deutscher Seite „Düppel“ genannt, schaffte es das Bomber
Command schließlich, der Flak einen gewaltigen Schlag zu versetzen, von dem diese sich, bis
Kriegsende, nicht mehr vollständig erholen konnte. Beim Angriff auf Hamburg wandte das Bomber
Command diese Methode das erste Mal an. Dabei wurden dünne Aluminium-Streifen über dem
Zielgebiet abgeworfen, wodurch fast die gesamte technische Grundlage der Nachtabwehr,
ausgenommen der Freya- und Y-Geräte, vollständig lahmgelegt wurde.159 Hitler hielt trotzdem am
Flak-Ausbau fest und war davon überzeugt, dass deutsche Techniker in kürzester Zeit, Wege zur
„Entdüppelung“ entwickeln würden. Mit dem Einsatz, des sogenannten „Würzlaus“-Senders,
konnte man zwar die feindlichen Störfrequenzen aufheben, das galt jedoch nur für die WürzburgGeräte, auf andere Funkmessgeräte konnte „Würzlaus“ nicht angewandt werden. Eine schnelle
157 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 95; Rolf-Dieter Müller: Der letzte deutsche Krieg 1939-1945, Stuttgart 2005 (Im
Folgenden: Müller. Der letzte deutsche Krieg), S. 209.
158 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 198ff.; Zitat ebd., S. 202; Goebbels Tagebücher Bd. 8, S. 529 (25. 06. 1943).
159 Vgl. Georg W. Feuchter: Der Luftkrieg, Frankfurt am Main 1964 (Im Folgenden: Feuchter: Luftkrieg), S. 199ff.;
Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 178.
49
Lösung des Problems war also nicht zu erwarten, und während die Suche nach wirkungsvollen
Gegenmaßnahmen auf Hochtouren lief, stieg gleichzeitig die Bedeutung der anderen
Nachtjagdverfahren. Darüber hinaus rückte nun auch die Bedeutung der Flakrakete in den
Vordergrund, deren Entwicklung lange Zeit durch die V-Waffen blockiert wurde. Flakraketen
sollten dazu dienen, Bomber in großen Höhen von bis zu 18.000 Metern zu bekämpfen.160
Ein Abwehrsystem, was zu diesem Zeitpunkt geradezu utopisch war, denn weder befand sich die
Technik auf dem notwendigen Entwicklungsstand, noch war die Wirksamkeit der Flakrakete
überhaupt erprobt. Und wie in den anderen Bereichen der Luftabwehr, sah man sich auch hier dem
Materialmangel ausgesetzt. Zwar kamen mit „Schmetterling“ und „Wasserfall“ noch zwei Raketen
zum Einsatz, doch für die große Wende war es mittlerweile einfach schon zu spät. Boog beschreibt
die Situation der Flak, für das Jahr 1943, folgendermaßen:
„Die amerikanischen Tagbomber und die nächtlichen Mosquitos flogen jenseits ihrer
wirksamen Feuergrenze. Die „Erblindung“ der Flak-Ortungs- und Schießgeräte hielt an. Der
Übergang der Amerikaner zum „H2X“-gestützten Blindbombenabwurf durch Wolkendecken
und zum Abwurf von „chaff“ - der amerikanische Ausdruck für „Window“ bzw.
„Düppelstreifen“ - dehnte diese „Erblindung“ auch auf den Luftkrieg bei Tage aus. […].
Aber Hitler und die Hoffnung der Techniker, die „Düppelstörungen“ doch noch überwinden
zu können, ließen eine radikale Entscheidung zur Verlagerung von Flakrüstungskapazitäten
auf die Jägerrüstung noch nicht zustande kommen. […]. Bei fast schon 50 Prozent
Behelfspersonal bei der Flak bestand am Jahresende Klarheit, dass weitere Neuaufstellungen
von Flakverbänden personell ab Februar 1944 illusorisch waren, [...]“161
Mit anderen Worten, die Flak war bereits 1943 so gut wie am Ende und ihre Aussichten für den
weiteren Kriegsverlauf somit mehr als düster. Dennoch stieg der Bestand des
Luftwaffenbefehlshaber Mitte bis zum Januar 1944 weiter an.
b) Tagjagd
Der Luftkrieg am Tag wurde durch die Amerikaner vorangetrieben, worauf die deutsche Seite nun
endgültig reagieren musste. Das Grundproblem auf dem Gebiet der Tagjagd war, dass sie lange Zeit
komplett vernachlässigt wurde. Bis zum Januar 1943 wurde das gesamte Reichsgebiet lediglich von
einem Jagdgeschwader geschützt, dem Jagdgeschwader I, das mit zwei Gruppen von Holland aus
operierte. Göring und Hitler wurden zwar schon früh auf die zahlenmäßige Unterlegenheit der Jäger
hingewiesen, standen einem Ausbau jedoch stark ablehnend gegenüber. Hitlers Ablehnung beruhte
wohl darauf, dass ein Ausbau im Gegensatz zu seinem Offensivdenken stand. Göring sah weniger
fehlende Flugzeuge als Grund des schlechten Abschneidens der deutschen Tagjagd, sondern
vielmehr fehlende Kompetenz der Piloten. Die ablehnende Position des Oberbefehlshabers der
Luftwaffe sorgte im Laufe des Krieges noch für viel Missstimmung in den Reihen der
Jägermannschaften. Zu einem Ausbau kam es aber schließlich doch, wenn auch nur schleppend und
160 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 204ff.
161 Zit. n. ebd. S. 207.
50
im August 1943 standen für den Schutz des Ruhrgebiets fünf Gruppen zur Verfügung.162 In Deelen
befanden sich der Stab und die erste Gruppe des JG I, in Rheine die Zweite und die dritte Gruppe
lag in Leeuwarden. Daneben agierten noch zwei Gruppen des JG 26 „Schlageter“, mit den
Einsatzflughäfen Schiphol und Gilze-Rien bei Tilburg, denen der Flughafen Essen-Mülheim als
Ausweichplatz diente.163 Die Deutschen verfügten im August über eine Ist-Stärke von 588
Tagjägern und 103 Zerstörern, von denen 399, bzw. 63, einsatzbereit waren. Dieser Bestand wurde
von den Amerikanern jedoch um das Dreifache überboten. Zwar konnte die deutsche Tagjagd den
amerikanischen Bombern mitunter noch schwere Schläge versetzen, wie beispielsweise beim
Angriff auf Schweinfurt, doch im Gesamtbild zeichnete sich bereits ab, dass die deutsche Seite den
Amerikanern nicht gewachsen war. Die Verlustquote der Amerikaner betrug im Dezember 1943 ca.
4% und war damit viel zu gering, als dass die deutsche Luftwaffe sie dadurch zur Aufgabe hätte
zwingen können. Dafür wäre dauerhaft eine Quote von 15% notwendig gewesen.164
Neben der quantitativen Unterlegenheit waren die deutschen Tagjäger auch qualitativ unterlegen.
Die eingesetzten Flugzeugtypen Me 109 und Focke-Wulf FW 190, verfügten weder über
ausreichende Flughöhe noch über ausreichende Flugdauer. Die amerikanischen Bomber flogen in
Höhen von 7000 bis 8000 Metern, was ihnen erlaubte, über Schlechtwetterzonen zu fliegen. Neben
dem Fehlen technischer Hilfsmittel war auch die Ausbildung der deutschen Piloten ein
Schwachpunkt. Begründet durch die offensive Auslegung der Luftwaffe, wurde auch die
Ausbildung im Defensivbereich nur halbherzig betrieben. Mit dem steigenden Treibstoffmangel
wurde zusätzlich eine generelle Verkürzung der Flugausbildung notwendig, was sich ebenfalls
negativ auf die Qualität der Luftwaffe auswirkte.165
Dennoch wiesen die Tagjäger, im Vergleich zu Flak, höhere Abschusszahlen auf. Von August 1942
bis zum Jahresende 1943 konnte die Flak 239 Abschüsse für sich verzeichnen. Die Jäger dagegen
erzielten in diesem Zeitraum 702 Abschüsse. Eine bessere Bilanz erzielte die Flak bei den
Beschädigungen gegnerischer Flugzeuge. Während die Jäger hier, ebenfalls im genannten Zeitraum,
2056 Feindflugzeuge beschädigten, lag die Flak mit 4691 beschädigten Feindflugzeugen klar vorne.
Bis Mitte 1944 verbuchte die Flak weitere 15.767 Beschädigungen, die Jäger lediglich 1217. Bei
den Abschusszahlen sah das wiederum umgekehrt aus, hier erzielten die Jäger, von Ende 1943 bis
Mitte 1944, mit 1682 Abschüssen, fast doppelt so viele wie die Flak, die in diesem Zeitraum 904
Abschüsse erzielte.166
Bedenkt man dazu, dass die Flak nebenbei auch noch viel mehr Munition und Personal verbrauchte,
ist die Vernachlässigung der Jagdabwehr völlig unverständlich und das Festhalten am
162 Vgl. Galland: Die Ersten...S, 226.
163 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 143; Nierhaus: Mülheim, S. 92.
164 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 850ff.; Freeman: Mighty Eight, S. 147-161.
165 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 153f.; Galland: Die Ersten..., S. 244ff.
166 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 200; Koch: Flak, S. 654.
51
Offensivgedanken zeigt nur das fehlende Verständnis für die eigene Lage bzw. die Weigerung
Hitlers, sich der Realität zu stellen.
c) Nachtjagd
Die britischen Bomber brachten nun auch die Nachtjäger an ihre Grenzen und ließen die
Abschussquote sinken. Zudem stimmte bei der Luftwaffe das Verhältnis zwischen verlorenen und
neuproduzierten Jagdflugzeugen nicht, im Gegensatz zum Gegner, der eigene Verluste gut
ausgleichen konnte. Ebenso lag der technische Vorteil auf der gegnerischen Seite und durch die
Einführung von H2S, Oboe und „Window“ kam das starre Kammhuber-System endgültig an seine
Grenzen. Hitler hielt die eigenen Abschusszahlen jedoch für ausreichend, sodass er einen Ausbau
der Nachtjagd ablehnte, noch immer mit der Begründung, dass zuerst Russland besiegt werden
müsse, bevor man sich dem Ausbau der Nachtjagd widmen könne.167 Stattdessen wurden
Überlegungen angestrengt, neue Varianten einer hellen Nachtjagd zu entwickeln, die weniger
abhängig vom Kammhuber-System sein sollten, als das bisher angewandte „Himmelbett“Verfahren.
Am 27. Juni 1943 legte Major Hajo Hermann einen Plan über eine Nachtjagd mit einsitzigen
Tagjägern (Messerschmidt Bf 109, Focke-Wulf Fw 190) vor. Hermann hatte dieses Verfahren, das
später den Namen „Wilde Sau“ erhielt, inoffiziell bereits im April getestet und konnte Göring
davon überzeugen, dass die Kammhuber-Linie für die Abwehr von Bomberströmen nicht geeignet
sei. Es war ein starres System, das gegen einzelne Bomber noch ganz gut funktionierte, aber mit
einer großen Anzahl an Bombern überfordert war. Während der Angriffe auf das Ruhrgebiet hatte
man die Erfahrung gemacht, dass die Flakscheinwerfer jeweils bis zu 100 feindliche Bomber, über
drei Minuten lang erfasst halten konnten, was den einmotorigen Jägern die Zielerfassung in hohem
Maße erleichtern würde. Da das „Wilde Sau“-Verfahren, wie bereits erwähnt, von Tagjägern
geflogen wurde, verfügten diese Maschinen über keinerlei Ausrüstung für den Nachtflug. Darin lag
auch der größte Nachteil, zwar wurden, neben den Flakscheinwerfern auch Leuchtgranaten als
Wegweiser abgefeuert, doch die beste Orientierungshilfe waren die brennenden Städte selbst. Die
Bombardements an sich konnte „Wilde Sau“ also nicht verhindern, aber immerhin bot es eine
Möglichkeit, die Abschusszahlen zu erhöhen. Görings Interesse war geweckt und er befahl
Hermann die Aufstellung eines Jagdgeschwaders, dem später noch drei weitere folgen sollten.168
Zum ersten Mal wurde das Verfahren in der Nacht vom 03./04. Juli angewandt, Ziel der britischen
Bomber, war, neben Köln, auch Mülheim. Die Fw 190 konnte sich bei diesem Einsatz gegen die
Bomber bewähren und verzeichnete für sich 17 von insgesamt 30 Abschüssen.169
167 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 160ff.
168 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 175f.
169 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 93; Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 404f.
52
Die anfänglichen Erfolge konnte das Verfahren jedoch nicht über den Sommer hinaus weiterführen.
Das Bomber Command flog ab September vermehrt Täuschungsangriffe, um die Jäger vom
eigentlichen Ziel fernzuhalten und setzte zudem vermehrt auf Schlechtwetterlagen. Eine weitere
erfolgreiche Gegenmaßnahme wurde die sogenannte „combat box“, eine Variante, die sowohl die
englischen als auch die amerikanischen Bomber wählten. Dabei bildeten drei Bomber-Gruppen eine
Staffel, die für die Tagjäger unmöglich zu überwinden sein sollte.170 Die Vorteile durch den Einsatz
von Oboe, H2S und „Window“, wurden bereits erläutert, und da diese Entwicklungen ebenfalls
negative Auswirkungen auf die Erfolgschancen der „Wilden Sau“ hatten, wurde dieses Verfahren
im Frühjahr 1944 aufgegeben.171
Als geeignete Alternative zur „Wilden Sau“, erschien die von Oberst Victor von Lossberg
vorgeschlagene „Zahme Sau“-Taktik. Im Gegensatz zur „Wilden Sau“ verlief dieses Verfahren
weitgehend unabhängig von den Bodenleitstellen und war somit weniger anfällig für „Window“.
Stattdessen kamen zweimotorige Jäger zum Einsatz, die über bordeigene Radargeräte verfügten.
Bei registriertem Feindeinflug sammelten sich größere Jagdverbände, die gegen die „combat box“
erfolgreicher agierten, als die „Wilde Sau“. Ausgestattet mit der „schrägen Musik“ erzielte die
„Zahme Sau“ gute Ergebnisse. Dabei wurden die Maschinengewehre oder -kanonen schräg nach
oben am Rumpf des Jägers eingebaut. Dieser positionierte sich dann unter den gegnerischen
Bomber und eröffnete das Feuer. Noch bis zur ersten Jahreshälfte 1944 war die „schräge Musik“
äußerst effektiv und die „Zahme Sau“ galt sogar als erfolgreichstes Nachtjagdverfahren. Doch
aufgrund seiner späten Einführung fehlte es auch hier an Flugzeugen und vor allem an gut
ausgebildeten Piloten.
Tabelle 6: Flakbestand Luftwaffenbefehlshaber Mitte Januar 1943 - Januar 1944 172
Batterien
Januar 1943
Juni 1943
Januar 1944
Schwere
schwere (ortsfest)
692
0
933
142
1121
179
Mittlere und leichte
mittlere und leichte (ortsfest)
538
0
389
275
439
269
277,5
340
395
70
209
75
111
62
31
Scheinwerfer
LuftsperrSperrfeuerNebelkompanien
Total
6
19
46
1729,5
2284
2542
170 Vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol II, Abbildung auf S. 322.
171 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 178 und S. 182ff.; Irving: Tragödie, S. 295.
172 Tabelle zu finden bei Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 190.
53
Tabelle 7: Monatliche Flak-Produktion 1941 - Februar 1945173
1941
1942
1943
1944
1945
2 cm
695
1350
1817
2273
3,7 cm
100
176
387
636
8,8 cm
156
280
446
545
387
10,5 cm
43
60
101
88
35
8
24
49
49
Geschütz
12, 8 cm
Die Verlustquote des Gegners lag, gemessen an der jeweiligen Einflugstärke, 1943 durchschnittlich
bei 3,3% im März, bei 3,5% Ende Juli und bei 3,8% im November und war damit, für eine
ernsthafte Gefährdung der Überlegenheit, viel zu gering.174
Speziell für die Region um Mülheim lässt sich festlegen, dass die Verlustquote des Bomber
Command 1942 mit 4,9% ihren Höchststand erreicht hatte und in den darauffolgenden Jahren
wieder abnahm, während gleichzeitig die Zahl der Einflüge zunahm. Das die Verlustquote mehr
oder weniger gehalten werden konnte, war nicht nur darauf zurückzuführen, dass die deutsche
Abwehr weniger Abschüsse erzielte, sondern auch auf die britische Flugzeugproduktion, deren
Ausstoß so hoch war, dass die Verluste ausgeglichen und Angriffswellen mit einer erhöhten Anzahl
von Flugzeugen geflogen werden konnten.
Tabelle 8: Verluste des Bomber Command über Mülheimer Region175
Einflüge
Jahr
Verluste
Anzahl Flugzeuge
%
1940
725
16
2,2
1941
2128
20
3,2
1942
6831
12
4,9
1943
8892
23
3,9
1944
11940
20
1,8
1945
2800
3
0,9
173 Vgl. USSBS: Vol. II, European Report No. 101, S. 17.
174 Vgl. Verrier: Bomberoffensive, S. 175f.; Irving: Tragödie, S. 298ff.
175 Tabelle so zu finden bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 235. Die Zahl der Einflüge beinhaltet alle Einflüge über
Mülheim, sowie Einflüge im Umkreis von 5, 10 und 15 Kilometern.
54
Die Defizite in der Luftverteidigung blieben auch der Zivilbevölkerung nicht verborgen. Da die
Bomberangriffe aber den größten Einfluss auf die Stimmung der Bevölkerung hatten, wäre es
überaus wichtig gewesen, gerade im Bereich der Verteidigung aufzurüsten und nachzubessern.
Doch es fehlte weiterhin an Hitlers Einsicht, stattdessen versprach er immer wieder harte
Vergeltungsschläge gegen England.
8. Vergeltung statt Verteidigung
Obwohl der Verlauf des Luftkrieges früh andeutete, dass die Alliierten über eine große Schlagkraft
verfügten, wurde auf deutscher Seite die Heimatluftverteidigung eher stiefmütterlich behandelt. Seit
Beginn der Luftoffensive gegen Deutschland drohte Hitler den Gegnern mit Vergeltung. Im Zuge
dessen wurden bald die Fernwaffen ein wesentlicher Aspekt, deren Entwicklung bereits angefangen
hatte, bevor Hitlers Vergeltungswunsch überhaupt aufkam.176
Bereits in den 1930er Jahren gab es erste Forschungsansätze in dem Bereich der RaketenEntwicklung, denen Hitler jedoch skeptisch gegenüberstand und sie noch im März 1939 als
„Phantasterei“ bezeichnete. Er änderte aber langsam seine Haltung, als deutlich wurde, dass die
deutsche Luftwaffe, die in sie gesetzten Erwartungen im Kampf gegen England, nicht erfüllen
konnte. Daraufhin ordnete Hitler im März 1941 und später noch einmal im November desselben
Jahres, eine verstärkte Entwicklung und Produktion der A4 bzw. V2-Rakete an.
Nach dem verheerenden Angriff auf Lübeck, im März 1942, drohte Hitler erneut in energischer
Weise mit Vergeltung und in Flugbombe und Fernrakete, sah er die wirksamsten Mittel dazu.
Hitlers Forderung nach einer Jahresproduktion von 50.000 Raketen und einem Erstschlag gegen
England mit 5000 Raketen waren ohne Frage, völlig unrealistisch und als von Seiten der
Versuchsanstalt Peenemünde, ab 1937 unter der Leitung von Wernher von Braun, klar gemacht
wurde, dass diese Forderungen nicht zu erfüllen seien, verlor Hitler bald darauf wieder sein
Interesse an den Fernwaffen und konnte erst durch Speer wieder überzeugt werden, im Dezember
1942 den Befehl zur Serienfertigung der V2-Rakete zu geben.177
In direkter Konkurrenz zum Heer und dessen V2-Rakete, bemühte sich die Luftwaffe um die
Entwicklung einer eigenen Fernwaffe, der Flugbombe, die unter der Bezeichnung Kirschkern,
Fi 103 und später V1 bekannt wurde. Am 26. Mai 1943 fand auf dem Gelände der
Heeresversuchsanstalt Peenemünde ein Vergleichsschießen zwischen den V-Waffen statt, bei dem
lediglich ein Raketenschuss gelang. Ein zweiter, sowie Testschüsse der V1, missglückten völlig.
Dennoch konnte Hitler durch diese Vorstellung, vor allem für die Rakete begeistert werden und von
der Idee, nun eine Möglichkeit gefunden zu haben, London zu zerstören und England zur
176 Ausführlich zu den V-Waffen vgl. Hölsken: V-Waffen.
177 Vgl. ebd. S. 88ff.
55
Kapitulation zu zwingen. Die Versuchsreihen beider Fernwaffen sollten fortgeführt werden, der
Produktion der V2-Rakete wurde jedoch höchste Priorität zugesprochen.178
Technische Schwierigkeiten führten erneut dazu, dass Hitlers Begeisterung bald wieder in
Ablehnung umschlug, die sogar soweit ging, dass er im März 1944 offenbar mit dem Gedanken
spielte, die Raketenproduktion vollständig einstellen zu lassen. Von der Flugbombe hielt er zu
diesem Zeitpunkt bereits so gut wie gar nichts mehr, aufgrund ihrer mehr als deutlichen Defizite bei
der Treffergenauigkeit. Da sich aber mittlerweile auch die Unfähigkeit der deutschen Bomber nicht
mehr länger leugnen ließ, wenn es darum ging, London maßgeblich zu schädigen, ließ sich Hitler
schließlich von der Notwendigkeit der V-Waffen überzeugen.179
9. V-Waffen im Einsatz
a) V1
Die V1 war ein kleinflugzeugähnliches Geschoss, mit einer Länge von 7,90m, einer
Flügelspannweite von 5,30m und einem Rumpfdurchmesser von 80cm. Die Flugbombe verfügte
über einen Sprengsatz von ca. 830kg, erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 650km/h, eine
Einsatzhöhe von maximal 2600m und besaß dabei eine Reichweite von 238km. Gestartet wurde die
V1 von Katapulten und Flugzeugen.180
Am 16. Mai 1944 ordnete Hitler das Fernfeuer gegen England an, mit dem Hauptziel London und in
der Nacht vom 12. auf den 13. Juni fand der erste Einsatz der Flugbombe statt. Zu diesem Zeitpunkt
hatte die V1 noch immer technische Schwierigkeiten, die Treffergenauigkeit war dabei das größte
Problem. Im Endergebnis wurde dieser Einsatz ein deutlicher Misserfolg. Von 54 Abschussstellen
wurden insgesamt gerade einmal 10 Bomben abgefeuert, von denen lediglich 4 England überhaupt
erreichten. Zwei Tage später erfolgte eine weitere Angriffsreihe, bei der innerhalb eines Tages 244
Bomben auf England gefeuert wurden, von denen 45 kurz nach dem Start abstürzten. Die
Abschüsse wurden trotz aller Misserfolge weitergeführt und am 29. Juni 1944 wurde bereits die
1000. V1-Bombe abgeschossen. Mit dem Beginn der Ardennen-Offensive, am 16. Dezember 1945,
wurde neben London auch Antwerpen/Holland zum Ziel der Flugbomben. In 5 Tagen wurden 274
Bomben gestartet, von denen 54 vorzeitig abstürzten.181
Eine verbesserte Version der V1 kam ab März 1945 noch um Einsatz. Diese verfügte über eine
Höchstgeschwindigkeit von 770km/h und einer Reichweite von 375km. Das Problem der
Treffergenauigkeit blieb jedoch weiter bestehen und zu diesem späten Zeitpunkt, konnte auch eine
Verbesserte V1 die absehbare Niederlage Deutschlands nicht mehr abwenden.
178 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 89; Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 381.
179 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 87ff.; David Irving: Die Geheimwaffen des Dritten Reiches, Gütersloh 1965 (Im
Folgenden: Irving: Geheimwaffen), S. 224.
180 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 216.
181 Vgl. ebd. S. 216; Irving: Geheimwaffen, S. 259f.; Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 391ff.
56
Insgesamt wurden in der Zeit der V1-Offensive, vom 12. Juni 1944 bis zum 29. März 1945, 10.492
Flugbomben auf England gestartet, von denen nur ein Drittel tatsächlich in England einschlug,
während 3957 durch Englands Abwehr abgeschossen wurden und bereits 12% der gestarteten
Bomben vorzeitig abstürzten. Dennoch wurden in England 6860 Zivilisten durch die V1 getötet und
17.981 verletzt.182
b) V2
Die Sprengladung der A4, später als V2 bezeichnet, betrug 976kg, sie erreichte eine
Höchstgeschwindigkeit von 5470km/h, eine maximale Höhe von 97m und hatte eine Reichweite
von bis zu 380km. Ihre Länge betrug 14m und ihr Rumpfdurchmesser 1,65m. Die Schadenswirkung
der V2 war im Vergleich zur V1 geringer, doch die Fernrakete hatte aufgrund ihrer
Überschallgeschwindigkeit den Vorteil, dass sie so gut wie jeder Abwehr überlegen war. Gestartet
wurde die Rakete von einer Abschussplattform, die im Grunde überall platziert werden konnte: auf
Straßen, Sandböden, etc. Besonders geeignet waren Waldlichtungen, da sie, neben einer guten
Tarnung, auch guten Windschutz boten.
Hitler, der anfangs darauf bestand, die Raketen aus extra angelegten Bunkern abzufeuern, musste
diesen Plan im Juli 1944 jedoch aufgeben, da die Bunker regelmäßig das Ziel schwerer
Bombardierungen wurden.183
Am 29. August 1944 befahl Hitler den Beschuss von London und Paris, der am 06. September
begann und sich, aufgrund technischer Schwierigkeiten als Fehlschlag erwies. In der Folgezeit
wurden dennoch zwei Heeresgruppen mit dem Raketenbeschuss von insgesamt 14 Zielen in
England, Nordfrankreich, Belgien und Holland beauftragt. Erfolge stellten sich aber weiterhin nicht
ein. Bis zum 03. Oktober schossen diese beiden Gruppen gerade einmal 156 V2 ab.
„Ein unsinniges Unterfangen, wenn man die Ungenauigkeit der Rakete mit ihrer Streuung von
der durchschnittlich 18km und die Vielzahl der Ziele sowie die relativ geringe Sprengladung
und Schlussfolge von durchschnittlich vier, höchstens nur 15 Schuss täglich betrachtet.“ 184
Die Produktion weiterer Raketen gestaltete sich zu diesem Zeitpunkt bereits als extrem schwierig.
Bei der Versorgung sämtlicher Güter hatte von Kriegsbeginn das Heer Vorrang, hinzu kam nun,
dass sich die Ressourcen durch die regelmäßigen Bombardierungen immer weiter reduzierten. Ab
Oktober 1944 konnten nie mehr als 25 Raketen am Tag betankt werden, was zusätzliche
Testschüsse ausschloss und somit eine Weiterentwicklung der Rakete unmöglich machte. Bis Ende
Oktober waren noch immer rund zwei Drittel der Geschosse sogenannte Luftzerleger. Eine
großangelegte Offensive war unter solchen Umständen überhaupt nicht durchführbar. Die 14 Ziele
wurden daraufhin auf zwei reduziert: London und Antwerpen. Dadurch schuf man auch die
182 Vgl. Irving: Geheimwaffen, S. 341; Hölsken: V-Waffen, S. 162f.
183 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 398f.; Hölsken: V-Waffen, S. 217.
184 Vgl. Irving: Geheimwaffen, S. 322; Hölsken: V-Waffen, S. 142f.; Zitat bei Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 401.
57
Möglichkeit, wieder Tests für notwendige Verbesserungen durchführen zu können und ab Ende
November konnten neue Raketenmodelle produziert werden.185
Dennoch blieb die V2-Offensive in ihrem Wirken eher bedeutungslos. Von insgesamt 6000
gebauten Raketen kamen über 3170 zum Einsatz, 1403 davon gegen England. Von dieser Zahl
wurden 1359 auf London geschossen. Erreicht haben England 1115 Raketen und auf London selbst
gingen gerade 517 Raketen nieder.186
c) V3
Neben Bombe und Rakete weckte noch eine weitere Fernwaffe Hitlers Interesse: die
Hochdruckpumpe (HDP) wurde auch als „Tausendfüßler“, „Fleißiges Lieschen“ oder
„Englandbombe“ bezeichnet. Für das Granatengeschütz wurde ab August 1943 bei Mimoyecques,
in der Nähe von Calais, mit der Errichtung einer unterirdischen Abschussanlage begonnen. Laut
Oberingenieur August Coenders, sollte die V3 dazu in der Lage sein, innerhalb einer Stunde bis zu
600 Granaten auf London zu schießen. Die Geschützrohre hatten eine Länge von 130 Metern und
insgesamt 50 dieser Rohre, sollten in der Abschussanlage eingebaut werden. Im November 1943
wurde die Anlage jedoch bereits das erste Mal von den Briten angegriffen. Zwar handelte es sich
um einen relativ leichten Angriff, dennoch hatte er zur Folge, dass die Hälfte der Abschussanlage
aufgegeben werden musste. Statt der geplanten 50 konnten nur 25 Rohre produziert werden, die ab
März 1944 in die Abschussanlage eingebaut werden sollten. Während dieser Zeit stellten sich
jedoch die Projektile als fehlerhaft heraus, sowie die Tatsache, dass die V3 nicht über die
notwendige Reichweite nach London verfügte. Eine Offensive wurde somit illusorisch und fand ihr
Aus endgültig Ende August 1944, als die Abschussanlage von den Alliierten geradezu „überrannt“
wurde. Von der Anlage in Mimoyecques wurde kein einziges Geschütz abgefeuert.187
Die V3 wollte Hitler dennoch nicht ganz aufgeben und wollte sie, statt für den Beschuss auf
London, zur Unterstützung der Ardennen-Offensive einsetzen. Dazu wurden zwei Geschütze in der
Nähe von Trier aufgebaut und auf Luxemburg gerichtet. Die Geschütze waren jedoch erst ab dem
30. Dezember 1944 einsatzbereit, da war die Ardennen-Offensive bereits beendet.
Insgesamt verschossen die beiden Geschütze bis zum 22. Februar 1945 gerade einmal 187
Projektile, dabei war der Aufwand bei weitem größer, als die erzielte Wirkung.188
d) Die Bedeutung der V-Waffen-Offensive
Bei der Frage nach der Bedeutung der V-Waffen wird deutlich, dass sich dabei zwei Kategorien
auftun: der militärische Wert und der psychologische.189 Die Bilanzen machen deutlich, dass die
185 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 401.
186 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 163; Irving: Geheimwaffen, S. 354.
187 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 403; Irving: Geheimwaffen, S. 238ff.
188 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 403f.; Hölsken: V-Waffen, S. 152f.
189 Zur Bedeutung der V-Waffen-Offensive vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 205-212.
58
Waffen so gut wie keinen militärischen Wert hatten. Obwohl die Waffen als Bomber-Ersatz
dargestellt wurden, zeigte sich doch, anhand der abgeworfenen Bombenlast, dass sie dahingehend
völlig ungeeignet waren. Allein die technischen Schwierigkeiten, die nie ganz beseitigt werden
konnten, verhinderten, dass die Fernwaffen eine ernsthafte Bedrohung für die Gegner werden
konnten. Der späte Zeitpunkt der Einführung hat ebenfalls seinen Beitrag zum Scheitern der
Offensive geleistet.190 Darüber hinaus waren die V-Waffen grundsätzlich ungeeignet für den
Kriegsverlauf, da Deutschland die größten Schwierigkeiten während des Ostfeldzuges, also im
Erdkampf, hatte und die Fernwaffen an dieser Stelle keinerlei Nutzen hatten. Hölsken schließt sich
mit seiner Meinung, dass ein Stalingrad auch durch V-Waffen nicht hätte verhindert werden
können, der Meinung von Percy Ernst Schramm an, den er dazu folgendermaßen zitiert:
„Die Not hat uns zwar erfinderisch gemacht, aber hat sie uns nicht auf ein Mittel gebracht, das
die überall weichenden Fronten, das Ausbrennen des Heeres, das Schrumpfen der Industrie
und das Schwinden des Treibstoffes hätte aufhalten können.“ 191
Das Scheitern zeichnete sich früh ab, da fast alle Produktions- und Abschussstellen der V-Waffen
frühzeitig von den Kriegsgegnern identifiziert und angegriffen wurden, teilweise schon vor
Inbetriebnahme. Im Dezember 1943 wurde unter dem Namen „Crossbow“192 offiziell eine Aktion
der Alliierten Luftstreitkräfte gestartet, bei der die Stellungen aller Fernwaffen gezielt angegriffen
wurden. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 57% aller Abschussanlagen erkannt und 30% teilweise
schwer beschädigt. Die Operation „Crossbow“ endete erst mit dem Abschuss der letzten V-Waffe,
einige Tage vor der deutschen Kapitulation.
Der Sinn der V-Waffen, im Zuge der Vergeltung, lässt sich wohl rein damit erklären, dass Hitler in
erster Linie Gleiches mit Gleichem vergelten wollte. Seit Kriegsausbruch versprach Hitler, nach
jedem britischen Luftangriff, entsprechende Gegenschläge. Bereits 1942, nach dem verheerenden
Angriff auf Lübeck, befahl Hitler die sogenannten „Baedeker-Raids“, die Zerstörung englischer
Städte. Die daraufhin durchgeführten Angriffe richteten sich ausschließlich auf Städte, die vielmehr
kulturelle als militärische Bedeutung hatten. Nach dem Großangriff auf Essen, am 05./06. März
1943, trieb Hitler die Vergeltungspropaganda entschieden voran und sie wurde von da an ein
wesentlicher Teil der gesamten NS-Propaganda. Dabei wurde der Begriff Vergeltung weniger im
Sinne von Rache, sondern eher als Synonym für den Endsieg gebraucht. Intern wurde dagegen klar
gesagt, dass der Terror gegen die englische Bevölkerung gerichtet sein sollte, da man glaubte, die
Engländer auf diese Weise doch noch von weiteren Aktionen gegen Deutschland abbringen zu
190 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 413.
191 Vgl. Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 207f. Zit. n. Schramm, Percy E.: Hitler als militärischer Führer, Bonn 1962,
S. 38.
192 Ausführlich zur Operation „Crossbow“ vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. III, S. 84-106.
59
können.193 Hier spiegelte sich also eindeutig die britische Taktik gegen Deutschland und seine
Bevölkerung wider.
Die Briten, die bis zu diesem Zeitpunkt bereits eine weitaus größere Bombenlast, über einen
weitaus längeren Zeitraum, auf deutsche Städte abgeworfen hatten, war es nicht gelungen, ihr Ziel,
die Zerstörung der deutschen Moral, auf diese Weise zu erreichen. Zu glauben, dass ein solches
Vorhaben dann aber auf deutscher Seite Erfolg haben sollte, zu diesem Zeitpunkt und unter weitaus
schlechteren Voraussetzungen war, wie zumindest Speer später richtig erkannte, ein überaus
absurder Gedanke.194
Der psychologische Wert der V-Waffen war damit ebenfalls nicht besonders hoch.
Dagegen wurde, wie bereits erwähnt, die Propaganda der Waffen im eigenen Land zu einem
zentralen Aspekt der gesamten NS-Propaganda.
Ab Sommer 1943 nutzte Goebbels die Thematik der Vergeltung und der Wunderwaffen gezielt in
Großveranstaltungen, um das Volk vom Endsieg und somit vom NS-Regime zu überzeugen. Den
Höhepunkt dieser Reise, schrieb Goebbels später, erlebte er bei einem Auftritt in der Dortmunder
Westfalenhalle, am 19. Juni 1943, als ihm ca. 20.000 Menschen „Stürme von Beifall“ entgegen
brachten. Er selbst sah einen Gegenschlag „in großem Umfange“, nicht vor dem Frühjahr 1944 für
möglich.195
Sehr schnell wuchs aber auch die Kritik am Ausbleiben der versprochenen Vergeltung, während die
Bombenangriffe der Engländer ungehindert weitergingen. Auch in Mülheim und Oberhausen
wurde, nach dem Angriff vom 23. Juni, nur eine Woche nach Goebbels Rede in Dortmund, von
Seiten der Bevölkerung verstärkt Kritik geübt, die in den Akten der Partei notiert wurden:
„Die Spannungen auf die von der Pressepropaganda und in Reden maßgebender Männer
angekündigten Vergeltungsschläge auf England ist allgemein aufs äußerste gesteigert und
wird lebhaft diskutiert. Da und dort, besonders in Kreisen der Intelligenz und des
Mittelstandes, werden leise Zweifel geäußert, ob wir überhaupt in der Lage sind, den
Terrorangriffen zu begegnen.“196
Da die Vergeltung im Laufe der Zeit fast zum vorherrschenden Thema unter der Bevölkerung
wurde, sowohl durch steigende Kritik als auch durch steigende Erwartungshaltung, versuchte
Goebbels selbst, die Thematik ein wenig zu entschärfen und verbot der Presse schließlich den
Gebrauch des Wortes Vergeltung.
Auch wenn einem Teil der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt schon klar gewesen sein dürfte, dass
es sich bei der versprochenen Vergeltung wohl eher um leere Versprechungen handelte, hielten
193 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 208f.
194 Vgl. ebd. S. 212.
195 Vgl. Goebbels Tagebücher Bd. 8, S. 497 (19. 06.1943) und S. 286 (10. 04. 1943).
196 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 435; Zitat: Akten der NSDAP Bd. 2, Lagebericht vom 28. 06. 1943 zum Ablauf der
Sofortmaßnahmen zur Behebung der Bombenschäden nach dem 23. 06. 1943.
60
doch auch viele Menschen noch bis zum Kriegsende an dieser Hoffnung fest, wodurch sicherlich
auch die Lage an der Heimatfront beeinflusst und ein eventuelles Auflehnen der Bevölkerung gegen
das Regime mit verhindert wurde. Es war im Prinzip der letzte Strohhalm, an dem sie sich
festhielten, dass der Krieg doch noch zu Gunsten Deutschlands ausgehen könnte.
Der ganze Verlauf der V-Waffen-Offensive war insgesamt doch stark von Hitlers Unsicherheit,
Unverständnis und Ungeduld geprägt, was dem ganzen Vorhaben letztendlich den Charakter einer
Verzweiflungstat verlieh.197
Tabelle 9: Vergleich monatliche Jäger- und Bomberproduktion 1941-1944:
Bomber Command vs. Deutsche Luftwaffe 198
Jäger
1941
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
D
GB
D
313
535
609
543
580
556
572
645
747
676
653
644
136
255
424
476
446
376
320
285
258
261
232
263
284
437
431
402
417
406
400
386
398
402
375
330
255
326
392
355
269
325
446
454
416
382
331
399
Total
1942
7064
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
Total
Bomber
GB*
772
754
781
850
876
814
842
772
877
889
799
823
3732
274
303
456
427
384
371
487
475
492
502
488
554
9849
4668
411
394
441
480
528
528
570
510
609
651
579
552
5213
4350
444
343
598
552
577
587
555
590
520
590
509
674
6253
6539
197 Vgl. Hölsken: V-Waffen, S. 212ff.
198 Vgl. Postan: British War Production, App. 4, S. 484f. ; Webster/Frankland: Air Offensive Vol. IV, App. 49 (xxii),
S. 494f.
61
1943
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
852
832
961
829
956
878
793
950
973
926
929
848
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
September
Oktober
November
Dezember
852
959
1098
933
944
970
861
841
864
888
840
680
Total
1944
Total
512
858
962
936
1013
1134
1262
1135
1072
1181
985
687
10727
593
655
688
654
728
658
603
562
663
663
643
618
11737
1555
1104
1638
2021
2212
2449
2954
3020
3375
2973
2995
2630
10730
674
781
757
735
718
710
743
710
678
738
702
643
7728
688
666
746
675
699
705
590
680
698
650
613
493
28926
8589
522
567
605
680
648
703
767
548
428
326
412
262
7903
6468
*Für das Jahr 1944 wurden auch leichte Bomber zur Jägerproduktion gezählt.
62
IV. Die letzte Phase des Luftkrieges 1944/45
1. Die Verschärfung des Luftkrieges in seiner Endphase
Auch in seiner Endphase nahm die Intensität des Luftkrieges nicht ab. Im Gegenteil, gemessen an
der abgeworfenen Bombenlast, überstieg das Jahr 1944 das Vorjahr fast um das Vierfache. Das
Bomber Command verfügte durchschnittlich über eine tägliche Einsatzstärke von über 1000
Bombern und auch die 8. USAAF hatte die Zahl ihrer schweren Bomber seit Oktober 1943 auf über
1500 erhöht und wurde zusätzlich, seit Dezember 1943, von der 15. USAAF unterstützt.199
Da von den Tagjägern noch immer die größte Gefahr für die US-Bomber ausging, lag deren
Angriffsschwerpunkt weiterhin auf der deutschen Flugzeugindustrie. Während der „Big Week“
(20. - 25. Februar 1944) gelang es den US-Bombern zwar, einen Produktionsausfall herbeizuführen,
dieser konnte jedoch, in relativ kurzer Zeit, wieder aufgeholt werden.200 Darüber hinaus diente die
Luftoffensive Anfang des Jahres zur Invasionsvorbereitung der Normandie und konzentrierte sich
daher auch auf Ziele in Frankreich. Nach der erfolgreichen Invasion am 06. Juni mussten die
Unternehmen „Market“ und „Garden“, vom 17. bis zum 27. September 1944 im Raum Arnheim,
aufgrund starker deutscher Gegenwehr, als Rückschläge betrachtet werden. Der Zusammenbruch
des NS-Regimes, den man sich durch „Market“ und „Garden“ erhofft hatte, blieb aus.
Die Folge dieses Scheiterns war die sogenannte SHAEF-Direktive vom 25. September 1944, in der
eine Verschärfung der Luftangriffe gegen deutsche Industrie- und Bevölkerungszentren festgelegt
wurde. Die Eisenbahnanlagen im Rhein-Ruhr-Gebiet galten darin als zweites Hauptangriffsziel.
Durch die „Transportplans“ vom 07. November wurden sie schließlich zur ersten Angriffspriorität
ernannt.201
Auf britischer Seite hielt Harris weiter an seinen Flächenangriffen fest, obwohl der Anstieg der
deutschen Flugzeugproduktion 1944 ein Beweis dafür war, dass die Flächenangriffe nicht die
Zerstörung der deutschen Industrie herbeiführten. Obwohl das deutsche „Rüstungswunder“ gerade
einmal 50% der amerikanischen Produktion entsprach, war doch allein die Tatsache, dass
Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch in dieser Höhe produzieren konnte, ein klares Zeichen.202
Im Oktober 1944 startete eine „Zweite Battle of the Ruhr“, in deren Verlauf u.a. Dortmund und
Essen erneut verheerende Angriffe erlebten. Unter dem Namen „Hurricane“, flog das Bomber
Command am 14. und 15. Oktober noch einmal eine groß angelegte Aktion gegen Duisburgs
Verkehrsanlagen und das Stadtgebiet.
199 Vgl. Boog: Strategischer Luftkrieg, S. 88; Craven/Cate: Army Air Forces Vol. II, S. 546-574.
200 Ausführlich zur „Big Week“ vgl. Craven/Cate: Army Air Forces Vol. III, S. 30-66; Feuchter: Der Luftkrieg, S.
216.
201 Vgl. Feuchter: Der Luftkrieg, S. 606ff. und S. 649ff.
202 Vgl. USSBS Vol. II: European Report No. 4, S. 9f.
63
Die Amerikaner konzentrierten sich auch darauf, neben Bahnhöfen, gezielt Hydrierwerke
anzugreifen, um die ohnehin bereits stark beeinträchtigte Treibstoffversorgung endgültig zum
Erliegen zu bringen. Mülheim, das auf Treibstofflieferungen aus Gelsenkirchen angewiesen war,
schaffte es jedoch noch bis 1945 regelmäßig, Lieferungen aus der Anlage Scholven zu
transportieren.203
Die Luftoffensive ging auch 1945 uneingeschränkt weiter. Die tägliche Einsatzstärke des Bomber
Command steigerte sich noch einmal auf ca. 1400, meist 4-motorige Bomber, im Februar 1945 und
im April 1945 standen dem Bomber Command täglich ca. 1600 Bomber zur Verfügung. Ebenfalls
weiter gesteigert wurde auch die Bombentonnage, die im Februar 1945 abgeworfenen 5216 Tonnen
waren im Vergleich zum Februar 1942 eine 100-fache Steigerung:
„Dabei standen Städte mit über einem Drittel immer noch an erster Stelle und zogen
zusammen mit den meist in oder bei ihnen gelegenen Transportzielen über 50% der Bomben
auf sich, gefolgt von Treibstoffzielen mit etwa 26%.“ 204
Die Industrie des Ruhrgebiets blieb größtenteils weiterhin in Takt, ab März 1945 war die Region
vom Rest des Landes jedoch weitgehend isoliert. Kohle, Rohmaterialien oder andere
Produktionsgüter, konnten aufgrund der zerstörten Transportwege nicht mehr abtransportiert
werden. Die zerstörten Verbindungswege zwischen den Produktionsstätten und die Zerstörungen
der Treibstoffwerke waren letztlich ausschlaggebend für den „endgültigen Zusammenbruch
Deutschlands“.205
2. Die letzten Luftangriffe gegen die Stadt Mülheim
Seit 1944 herrschte über Mülheim zwar eine rege Lufttätigkeit der Gegner, dennoch erlebte die
Stadt in den Anfangsmonaten des Jahres keine größeren Angriffe. Das ließ die Menschen wieder
unvorsichtiger werden und so wurden Störflüge von Mosquitos oder Überflüge ganzer
Bomberformationen erneut zu einem Schauspiel für die Bevölkerung, anstatt zu einem Grund, die
Schutzräume aufzusuchen. Das blieb natürlich nicht ohne Folgen. Am 21. März flog eine einzelne
Maschine über die Stadt, sie warf zwei Luftminen ab, tötete 5 Menschen und verletzte weitere 42
Personen. Langfristig mussten 76 Menschen aus ihren Häusern ausquartiert werden. Nur drei Tage
später versammelte sich erneut eine Gruppe von Zuschauern, um zu sehen, wie eine
Bomberformation, bestehend aus 36 Bombern und 2 Begleitjägern, über die Stadt hinweg flog.
Durch den dadurch ausgelösten Flakbeschuss wurden 8 Zuschauer von Granatsplittern und einem
203 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 225.
204 Zit. n. Horst Boog: Die strategische Bomberoffensive der Alliierten gegen Deutschland und die
Reichsluftverteidigung in der Schlussphase des Krieges. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 10/1
Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 – Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht, München
2008 (Im Folgenden: Boog: Strategische Bomberoffensive), S.777-885 hier S. 782.
205 Vgl. ebd. S. 809.
64
Flakdetonierer getötet. Weitere 13 Menschen wurden verletzt. In den nächsten Monaten kamen
noch einmal 5 Menschen bei kleineren Angriffen ums Leben.206
Während es in Mülheim, außer den Röhrenwerken, keine bedeutende Kriegsindustrie gab, auf die
sich die Aufmerksamkeit der Alliierten richtete, wurde der Flughafen Essen-Mülheim zu einem
anvisierten Ziel. Am 13. Juni 1944 wurden im Bereich des Flughafens eine große Anzahl von
Luftminen und Sprengbomben abgeworfen. Zum ersten Mal wurde Mülheim bei diesem Angriff
mit Splitterbomben angegriffen. Schätzungsweise 495 9-kg-Splitterbomben rissen kleine Krater in
die Straßen. Da bei diesem Angriff keine Brandbomben eingesetzt wurden, kann wohl davon
ausgegangen werden, dass es bei diesem Angriff allein um den Flughafen als militärisches Ziel
ging. Dennoch kamen sechs Menschen ums Leben und vier weitere wurden verletzt. Ein weiterer
Angriff auf Mülheim, vier Tage später, richtete sich gegen die Verkehrswege. Ein Teil der
Autobahn wurde beschädigt und musste zwischen Kaiserberg und Sterkrade-Nord für einen
längeren Zeitraum gesperrt werden.
Mülheim war auch zu Beginn der „Zweiten Battle of the Ruhr“, noch kein direktes Ziel, musste
aber immer wieder Treffer hinnehmen. Bei Angriffen auf Mülheims Nachbarstädte, u.a. Essen,
Oberhausen und Duisburg, am 23. und 25. Oktober, am 29. November, am 04. und 12. Dezember
1944, wurde die Stadt ebenfalls, wenn auch nur gering, getroffen. Direkte Angriffe erlebte die Stadt
am 01. November und am 24. Dezember 1944. Den ersten dieser beiden Angriffe flogen 6
Mosquito-Bomber, die 6 Tonnen Bomben abwarfen, dabei aber keinen größeren Schaden
anrichteten. Bei dem Angriff am 24. Dezember hingegen handelte es sich um einen größer
angelegten Angriff, der erneut den Flughafen zum Ziel hatte. Anfangs nur als Ausweichflughafen
genutzt, starteten mittlerweile regelmäßig Flugzeuge, darunter auch 3 Düsenjäger vom Typ Me 262,
zur Unterstützung der Ardennen-Offensive von Mülheim aus. Zusammen mit einem Raketenjäger
Me 163 galt der Me 262 als weitere „Wunderwaffe“ und hätte bei einer frühzeitigeren Einführung
durchaus Auswirkungen auf den Kriegsverlauf haben können. Doch zum einen blockierten
technische Probleme eine schnellere Entwicklung und zum anderen entstand über den Me 262 eine
dauerhafte Kontroverse zwischen Hitler und der Luftwaffenführung, da Hitler den Düsenjäger als
Jagdbomber, anstatt als Jäger einsetzen wollte.207
Um 14:08 Uhr wurde in Mülheim Fliegeralarm ausgelöst und ab 14:21 Uhr griffen 169 britische
Bomber den Flughafen an. In den zehn Minuten, die der Angriff dauerte, fielen 760 Tonnen
Bomben, überwiegend Sprengbomben, auf das Flughafen-Gebiet. Eine 1000-kg-Sprengbombe traf
dabei direkt den Bunker an der Windmühlenstraße und tötete 74 Menschen. Weitere Bomben fielen
auf die Stadtteile Saarn, Broich, Styrum und Dümpten. Insgesamt starben an diesem Tag 200
206 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 223f.
207 Zur Kontroverse um den Düsenjäger Me 262 vgl. Galland: Die Ersten..., S. 33; Irving: Tragödie, S. 326ff.
65
Menschen, bei der Mehrzahl der Opfer handelte es sich um am Flughafen stationierte Soldaten. Die
Briten verloren bei dieser Aktion 3 Halifax-Bomber und mit ihnen 10 Besatzungsmitglieder.208
Ab Februar 1945 beherrschten alliierte Jäger und Jagdbomber permanent den Luftraum über der
Stadt und ab März häuften sich zudem die Tieffliegerangriffe. Im gleichen Monat, am 21. März,
erlebte Mülheim seinen letzten direkten Angriff, dessen Ziel erneut der Flughafen war. Dabei
handelte es sich gleichzeitig um den einzigen Angriff, der allein von der 8. USAAF und ohne
britische Beteiligung durchgeführt wurde. Dieser Angriff diente zudem der Vorbereitung des
Rheinübertritts bei Wesel, zwei Tage später. Zu diesem Einsatz starteten 92 B-24-Bomber, von
denen 90 das Ziel erreichten und eine Bombenlast von 195 Tonnen auf das Flughafengebiet
abwarfen. Dabei starben 22 Menschen in Mülheim, die Amerikaner verzeichneten 60 beschädigte
Maschinen und einen Verletzten.209
Am Ende konnten die Luftangriffe auch in Mülheim nicht den Zusammenbruch der Industrie
herbeiführen. Doch wie sah es mit der Zerschlagung der Moral der Zivilbevölkerung aus?
208 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 226; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 233; Middlebrook/Everitt: War Diaries, S. 637;
Chorley: Bomber Command Losses Vol. 5 (1944), S. 520.
209 Vgl. Freeman: Mighty Eight, S. 3; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 223.
66
V. Die Bevölkerung und der Bombenkrieg
1. Ziviler Luftschutz
Die Organisation des zivilen Luftschutzes wurde bereits vor Beginn des Zweiten Weltkrieges
festgelegt und die Verantwortung für die Durchführung und Entwicklung an den Reichskommissar
der Luftfahrt, später Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe
(RdLuObdL), übertragen. Ein Amt, das Hitler kurz nach der Machtergreifung eingerichtet und mit
Hermann Göring besetzt hatte. Wie bereits erwähnt, wurde in Mülheim der Polizeipräsident
Oberhausen/Mülheim mit den Aufgaben des örtlichen Luftschutzleiters beauftragt.210
Propagiert wurde der Zivile Luftschutz als ein wesentlicher Bestandteil der deutschen
Luftverteidigung und laut Luftschutzgesetz vom 26. Juni 1935, lag seine Aufgabe in erster Linie
darin,
„Volk und Heimat und damit auch die Wehrmacht und ihre Kraftquellen, Wirtschaft und
Verkehr gegen die Gefahren von Luftangriffen zu schützen, ihre Wirkung auf Leben, Verkehr
und Wirtschaft zu mildern und die erforderlichen Maßnahmen schon im Frieden
vorzubereiten.“211
Zu diesem Zweck wurden verschiedene Luftschutz-Abteilungen errichtet:212
Der Luftschutzwarndienst, dessen Hauptaufgabe vor allem darin bestand, rechtzeitig vor drohenden
Luftangriffen zu warnen, Verdunkelung anzuordnen und Entwarnung an weitere Warnstellen zu
melden. Der Sicherheits- und Hilfsdienst (SHD), der neben dem Katastrophenschutz ebenfalls der
Polizei unterstellt war und dafür verantwortlich war, „(...) im Ernstfall das öffentliche und
wirtschaftliche Leben nach einem Luftangriff schnellstens wieder in Gang zu bringen.“ das
bedeutete, dass der SHD vor allem vorbereitende Maßnahmen treffen musste, u.a. mögliche
Gefahrenquellen frühzeitig erkennen und beseitigen, sowie Auffang- und Sammelstellen für
obdachlos gewordene Personen vorzubereiten. Der SHD wiederum umfasste folgende
Organisationen: Sicherheitsdienst, Feuerlöschdienst, Luftschutz-Instandsetzungsdienst, LuftschutzEntgiftungsdienst, Luftschutz-Sanitätsdienst, Luftschutz-Veterinärdienst, Fachtrupps, Havarietrupps
und der Hafenluftschutz. Die Verantwortung für eine funktionierende Zusammenarbeit dieser
Bereiche trug jeweils der örtliche Luftschutzleiter (LS-Leiter).
Der Werkschutz war für die Sicherung der Industrien verantwortlich und dafür, Produktionsausfälle
infolge eines Luftangriffs so gering wie möglich zu halten. Der Werkschutz wurde von der Industrie
selbst verwaltet und finanziert, bekam jedoch Steuervorteile zugesprochen.
210 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 198; Erich Hampe: der Luftschutz im Zweiten Weltkrieg. Dokumentation und
Erfahrungsberichte über Aufbau und Einsatz, Frankfurt am Main 1963 (Im Folgenden: Hampe: Luftschutz), S. 49.
211 Zit. n. Hampe: Luftschutz, S. 49.
212 Zu den verschiedenen Abteilungen vgl. ebd. S. 58-81 und USSBS Vol. II: European Report No. 40, S. 17-27.
67
Des Weiteren gab es noch die Luftschutzmaßnahmen in den sogenannten besonderen
Verwaltungen. Dazu gehörten, u.a. die Wehrmacht, Waffen-SS, die Deutsche Reichspost und die
Deutsche Reichsbahn.
Ein weiterer Bereich war der Selbstschutz, der an späterer Stelle gesondert vorgestellt wird. Der
Grundsatz des Luftschutzgesetzes wurde während des Kriegsverlaufs der Lage entsprechend
angepasst und am 31. August 1943 neu formuliert. Die Aufgaben des Luftschutzes, hieß es nun,
lägen vorrangig darin, „organisatorische und technische Vorkehrungen zu treffen, um Kampfkraft,
die Arbeitskraft und den Widerstandswillen des deutschen Volkes gegen die Wirkungen von
Luftangriffen zu erhalten.“213
Diese Neuformulierung spiegelt den Ansporn wieder, die Moral der Bevölkerung
aufrechtzuerhalten, mit dem Ziel, die eigene Kriegsproduktion aufrechtzuerhalten. Eine der
wichtigsten Bestimmungen des Luftschutzgesetzes war wohl die Einführung der
Luftschutzdienstpflicht. Dadurch wurde jeder Deutsche, Frauen eingeschlossen, dazu verpflichtet,
sämtliche Handlungen, z.B. Dienst- und Sachleistungen, Duldungen oder Unterlassungen
nachzukommen, sobald diese zur Durchführung des Luftschutzes notwendig waren.214
2. Selbstschutz
Selbstschutz war von Beginn an ein wesentlicher Faktor des zivilen Luftschutzes, laut Hampe sogar
„das Fundament des zivilen Luftschutzes schlechthin“.215 In diesem Bereich wurde die
Zivilbevölkerung bereits ab 1935 geschult. Die Menschen sollten sämtliche Maßnahmen des
Luftschutzes als Routine wahrnehmen und in ihrem Alltag einbauen. Das bedeutete einen Eingriff
in fast alle Bereiche des menschlichen Lebens. Eine maßgebliche Rolle bei der Ausbildung und
Durchführung des Selbstschutzes spielte der Reichsluftschutzbund (RLB). Er hatte vor allem die
Aufgabe, dem deutschen Volk die Wichtigkeit des Luftschutzes zu vermitteln und den Willen zur
Mitarbeit zu wecken. Die I. Durchführungsverordnung des Luftschutzgesetzes von 1935 hob die
Stellung des RLB deutlich hervor, indem dessen Aufgaben darin gesetzlich verankert wurden.216 Die
Bewohner eines Hauses bildeten demnach eine Luftschutzgemeinschaft und sollten in der Lage
sein, kleinere Brände selbst zu löschen, Erste Hilfe zu leisten und Vorsorgemaßnahmen zum Schutz
des Hauses durchzuführen, z.B. Dachböden entrümpeln. Eine Luftschutzgemeinschaft bestand
grundsätzlich aus einem Luftschutzwart und dessen Stellvertreter, einer Hausfeuerwehr,
sogenannten Laienhelferinnen, zuständig für die Erste Hilfe und einem Melder. Später ging man
dazu über, Luftschutzgemeinschaften nach der Wohndichte einzuteilen, da sich erfahrungsgemäß,
nicht immer alle Hausbewohner während eines Luftangriffs auch tatsächlich im Haus befanden und
213 Zit. n. Hampe: Luftschutz, S. 34.
214 Vgl. ebd. S. 49 (Anmerkung 2).
215 Zit. n. ebd. S. 430.
216 Vgl. ebd. S. 441.
68
daher nicht genügend Kräfte vorhanden waren, um die Aufgaben der Luftschutzgemeinschaft
erfüllen zu können. So wurden auch ganze Siedlungen zu einer Luftschutzgemeinschaft
zusammengefasst.217 Neben dem Selbstschutz gab es noch den erweiterten Selbstschutz. Dieser
bezog sich auf Dienststellen, für die ein Werkschutz nicht notwendig, der Selbstschutz jedoch nicht
mehr ausreichend war. Darunter fielen, u.a. Behörden, Universitäten, Banken, Altersheime und
Kirchen. In den Unterlagen der Stadt Mülheim finden sich bereits für das Jahr 1938 Anordnungen
über Lehrgänge zur Luftschutzausbildung. Erste Anordnungen über Schulungen zum zivilen
Luftschutz liegen aus dem Jahr 1940 vor.218 In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung der
Verdunklung als Luftschutzmaßnahme genannt. Die Verdunklung galt als eine der maßgeblichen
Schutzmaßnahmen, neben Tarnung und Scheinanlagen, die dazu dienen sollte, den feindlichen
Flugzeugen die Zielfindung zu erschweren. Verdunklungsmaßnahmen hieß dabei nicht einfach,
dass das Licht ausgemacht wurde, vielmehr handelte es sich um Maßnahmen,
„nahezu alle Einrichtungen des öffentlichen Lebens wie die Wohnung in Stadt und Land, den
Verkehr auf Schiene, Straße und dem Wasser, die Industrien im weitesten Sinne, das Gewerbe
und den Handel, die Landwirtschaft, Versorgungsbetriebe, Krankenhäuser und nicht zuletzt
die Anlagen, Unterkünfte und Betriebe der Wehrmacht selbst, sie sämtlich im weitesten Um
fange Licht brauchten, so zu beleuchten, dass ihre Lichterscheinungen feindlicher Fliegersicht
entzogen blieben.“219
Es galt also darauf zu achten, dass die Verdunklung keinen Produktionsstopp zur Folge hatte. Die
Verdunklung war bereits im Luftschutzgesetz von 1935 verankert, eine endgültige
Verdunklungsverordnung wurde im Mai 1939 erlassen und beruhte auf der achten
Durchführungsverordnung zum Luftschutzgesetz. Die Dauer der Verdunklung wurde von der
Polizeibehörde festgelegt, allgemein galt jedoch der Zeitraum zwischen Einbruch der Dunkelheit
bis zum Morgengrauen. Es kam auch vor, dass der Verdunklungszeitraum in der Zeitung vermeldet
wurde. Bei Missachtung drohten Strafen, wie beispielsweise das Abstellen des Stroms.220
3. Bunkerbau
Der Bau von Schutzanlagen war ein wesentlicher Bestandteil des zivilen Luftschutzes. Sie sollten
der Bevölkerung Schutz bieten, vor Bombensplittern, Bautrümmern, Brandbomben und gegen das
Eindringen chemischer Kampfstoffe sicher sein. Bereits ab 1934 gehörten private Luftschutzräume
zu den Pflichtauflagen bei Neubauten und bestehende Kellerräume mussten dahingehend ausgebaut
werden. Zusätzlich zu den privaten wurden auch öffentliche Luftschutzräume errichtet, teilweise
handelte es sich dabei um neu errichtete Anlagen aber auch Kellerräume, Tiefgaragen und Stollen
wurden zu diesem Zweck verwendet.
217 Vgl. Hampe: Luftschutz, S. 430ff.; Burgdorff/Habbe: Als Feuer vom Himmel fiel, S. 190.
218 Vgl. StAMH: Bestand 1200/1228.
219 Zit. n. Hampe: Luftschutz, S. 460.
220 Vgl. ebd. S. 546ff.; StAMH: Bestand 1200/1228.
69
Nachdem im August 1940 die ersten Bomben auf Berlin fielen und die „Battle of Britain“ deutlich
machte, dass ein schneller Sieg über England nicht zu erwarten sei, reagierte Hitler darauf mit
einem Sondererlass zum Bau von bis zu 2000 Bunkern in der Hauptstadt. Diesen Sondererlass
folgte am 10. Oktober der Befehl zum sogenannten „Führer-Sofortprogramm“, ein auf das ganze
Reichsgebiet ausgerichtete Bauprogramm, das jedem Volksgenossen einen sicheren Bunkerplatz
versprach.221 Mit der Durchführung wurde die Organisation Todt (OT) beauftragt und erhielt dafür
folgende Anordnungen:222
Für Wohngebiete (städtische Gebiete, Siedlungen, Laubenkolonien), in denen bisher keine
oder unzureichende Luftschutzräume vorhanden sind, sind behelfsmäßige Luftschutzmaßnahmen zu treffen.
Vorhandene oder neu zu bauende Verkehrsstraßen oder Verkehrsanlagen (z.B. Untergrundbahnen und Tunnelbauten) sind für den Bau unterirdischer, bombensicherer Luftschutzräume auszunutzen.
Die in den Luftschutzräumen vorhandenen Öffnungen in den Außenwänden des Gebäudes
sind zu beseitigen unter gleichzeitiger beschleunigter Durchführung der gesetzlich angeordneten Brandmauerdurchbrüche.
Neu zu errichtende öffentliche Luftschutzräume sind bombensicher zu bauen, die vorhandenen öffentlichen Luftschutzräume sind – soweit möglich – auf Bombensicherheit zu verstärken.
Bei allen Neubauten, insbesondere bei den Bauten der Rüstungsindustrie, sind von
vornherein bombensichere Luftschutzräume auszuführen. Sie sind in die gleiche Dringlichkeitsstufe wie die Bauvorhaben selbst aufzunehmen.
In Berlin sowie anderen vom Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe zu bestimmenden Städten sind die Baulücken für die Errichtung bombensicherer Luftschutzräume als Untergeschoß[sic] der später zu errichtenden Neubauten auszunutzen.
Die Keller aller öffentlichen und privaten Gebäude sind sofort auf die Eignung als Luftschutzräume zu überprüfen und bei Geeignetheit für die Bevölkerung in Anspruch zu nehmen, es sei denn, daß [sic] sie für die Aufrechterhaltung des Betriebes lebenswichtig sind.
Für das Programm waren drei Bauwellen angesetzt, beginnend mit 61 Städten aus den
Luftschutzorten I. Ordnung. Diese Kategorie umfasste luftgefährdete Städte mit einer
Einwohnerzahl von mindestens 100.000, darunter auch Mülheim. Diese erste Bauphase sollte von
November 1940 bis Juli 1941 dauern, verzögerte sich letztlich jedoch bis Oktober 1941. Das
wiederum hatte zur Folge, dass sich die Zeitpläne der nachfolgenden Bauphasen ebenfalls
221 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 397.
222 Folgende Aufzählung vgl. Hampe: Luftschutz, S. 291.
70
verzögerten. Hauptgrund für diese Verzögerungen war vor allem der Material- und
Arbeitskräftemangel, der bereits im Winter 1941/42 so deutlich war, dass das Sofortprogramm zu
keinem Zeitpunkt die Erwartungen erfüllen konnte und 1942 endgültig als gescheitert betrachtet
werden musste. Trotzdem wurde es von den Kriegsgegnern als „the most tremendous constructional
program in civilian or passive defense for all time“ bezeichnet.223
Die ersten Schutzbunker in Mülheim entstanden in den nördlichen Stadtteilen Dümpten und
Styrum. Dort befanden sich mit den Stahlwerken Thyssen & Co (heute Mannesmann-Valourec) und
der Friedrich Wilhelms-Hütte (FWH) zwei Rüstungsbetriebe, sowie natürlich die Wohnstätten der
dort beschäftigten Arbeiter. Auf dem Gelände der FWH selbst wurden zwei Spitzbunker errichtet.
Diese Spitzbunker, auch Winkeltürme genannt, hatten ein Fassungsvermögen von bis zu 500
Personen. Im Laufe des Jahres 1941 entstanden in der Nähe der Betriebe zwei weitere Hochbunker
in der Hammer- und in der Meißelstraße, sowie ein Tiefbunker am Marienplatz. Zeitgleich wurden
Hochbunker an der Salierstraße, der Josefstraße, am Eisenbahnausbesserungswerk an der
Duisburger Straße sowie am Flughafen an der Windmühlenstraße errichtet. Am Schloss Broich
entstand ein weiterer Tiefbunker. Laut Hötger waren diese Bunker jeweils für 300 Personen
ausgelegt.224 Gebaut wurden die Anlagen nach der „Braunschweiger Bewehrung“, mit einer
Deckenstärke von mindestens 2 Metern, dadurch sollten die Bunker auch Schutz vor 1000kg
schweren Bomben bieten. Die vorgeschriebene Ausstattung sah mindestens zwei Zugänge (Vorbau,
Gasschleuse, Treppen oder Rampen), Wachräume und einen Dienstraum für den LS-Bunkerwart
vor sowie Einzel- und Aufenthaltsräume, Waschräume, Aborträume, ein Erste-Hilfe-Raum und
Räume für technische Anlagen.225
Im Bereich des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk war bis Dezember 1941 mit dem Bau von 235
Hochbunkern begonnen worden. Davon galten zwar 127 als „betonfertig“, d.h. die Bauten verfügten
weder über Gastüren noch über Lüftungsanlagen, tatsächlich fertiggestellt waren zu diesem
Zeitpunkt jedoch lediglich 15 Hochbunker. Durch auslaufende Arbeitsverträge mit italienischen
Arbeitern sank die Zahl der Arbeitskräfte von 12500 im Dezember 1941 auf rund 7100 im Juni
1942. Zudem verschlangen verschiedene Großprojekte, u.a. die Befestigung des Atlantikwalls und
der Bau von U-Boot-Bunkern, einen Großteil der Ressourcen an Arbeitsmaterial und -kräften. Für
das Ruhrgebiet wurde das Sofortprogramm daher weitgehend eingestellt und sich stattdessen nur
noch auf die „Fertigstellung der betonfertigen Bauten sowie auf ausgesuchte Baustellen“
223 Zit. n. USSBS Vol. II: European Report No. 40, S. 150.
224 Vgl. Hans-Georg Hötger: Eine Reise durch die Mülheimer Unterwelt – Planung und Bau von Bunkern unter dem
NS-Regime. In: Jahrbuch der Stadt Mülheim Nr. 62, 2007 (Im Folgenden: Hötger: Mülheimer Unterwelt), S. 205212 hier S. 207.
225 Vgl. Hampe: Luftschutz, S. 272ff.; zum Bauwesen der Anlagen vgl. ebd. S. 269-290 und USSBS Vol. II: European
Report No. 40, S. 150ff.
71
konzentriert.226 Die Möglichkeit, das Programm doch noch in seiner ursprünglich geplanten Form
umzusetzen, ergab sich zu keinem Zeitpunkt. Am 10. April 1943 notierte Goebbels:
„Der Bau von Bunkern und bombensicheren Unterständen ist das dringendste Problem. Die
Bevölkerung ist in einzelnen Städten dem englischen Luftkrieg vollkommen wehrlos
ausgeliefert. Es fehlt zum Bau von Bunkern an Arbeitskräften und Material. Hier muss das
übrige Reichsgebiet helfend eingreifen.“227
Und auch der Chef des Arbeitsstabes Ziviler Luftschutz hielt in einem Bericht vom 18. Mai 1943
fest, dass noch immer über 9 Mio. Menschen im gesamten Reichsgebiet völlig ungeschützt waren.
Das Reich war jedoch nicht mehr in der Lage, im notwendigen Maße Hilfe zu leisten. Die bis zu
diesem Zeitpunkt errichtete Zahl an Bunkern in Mülheim reichte zum Schutz für nur ca. 2,8% der
Bevölkerung.228 Tatsächlich entstanden in Mülheim viele Luftschutzanlagen durch Eigenleistung
der Bewohner. An der Oberhausener Straße, im Stadtteil Styrum, nutzten die Anwohner ihre
Verbindungen zur Firma Thyssen, um von dort Baumaterial und -maschinen zur Errichtung eines
Bunkers zu erhalten. Auch im Stadtteil Saarn entstanden nach dem Großangriff 1943 noch
mindestens 7 weitere Bunker durch Eigenleistung der Anwohner. Die OT sagte im Juli auch noch
die Lieferung großer Mengen Kies zu. Damit sollten im Zuge der Reparaturmaßnahmen bereits
angefangene Bunker und Stollen fertiggestellt sowie der Neubau von Großbunkern, durchgeführt
werden. Aber auch hier verhinderten Arbeitskräfte- und Materialmängel die Umsetzung.229 Ohnehin
war der Materialmangel bereits so gravierend, dass man seit Beginn des Jahres 1943 im gesamten
Reichsgebiet vermehrt dazu übergegangen war, Stollen- anstatt Bunkerbauten zu errichten. In
Mülheim entstanden Stollen an der Leybank, im Stadtteil Winkhausen und in Dümpten an der
Mellinghofer Straße. Letzterer war jedoch weniger zum Personenschutz gedacht, als vielmehr zur
sicheren Verwahrung von Werkzeugmaschinen der Firma Siemens, um so die Produktion zu
sichern. Neben der Organisation der Luftalarme stand auch hier der Werkluftschutz im
Vordergrund, was neben dem Materialmangel eine weitere Einschränkung des Schutzes der
Zivilbevölkerung bedeutete. Ein weiterer Stollen entstand unter dem Kaiser-Wilhelm-Institut (heute
Max-Planck-Institut), am Kaiser-Wilhelm-Platz. Dieser wurde als Alternative zur
Industrieverlagerung angelegt und hatte ein Fassungsvermögen für 40 Personen, sowohl Arbeiter
als auch Anwohner sollten dort Schutz finden. Weitere Räume dienten der Unterbringung der
Institutsbibliothek und wichtiger Apparaturen. Insgesamt entstanden in Mülheim während der Zeit
des NS-Regimes ca. 50 größere öffentliche Luftschutzanlagen und ca. 500 private Schutzräume.
Dem Propaganda-Versprechen, das jeder Bürger einen Platz im Bunker bekommen würde, konnte
das Bauprogramm aber auch hier nicht gerecht werden. Für die rund 140.000 Einwohner (Stand 01.
226 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 396ff.; zit. n. ebd. S. 398.
227 Zit. n. Goebbels Tagebücher Bd. 8, S. 85 (10. 04. 1943).
228 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 247.
229 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 221.
72
April 1940), deckte die erreichte Anzahl von Luftschutzbauten lediglich den Bedarf für 13% der
Mülheimer Bevölkerung.230
Das Fehlen, ausreichender Schutzmöglichkeiten, versuchte die Reichsführung anderweitig
wettzumachen. Evakuierungsmaßnahmen sollten Abhilfe schaffen, allen voran die schon zu
Kriegsbeginn eingerichtete (erweiterte) Kinderlandverschickung (KLV).
Wie bereits erwähnt, wurden auch Werksmaschinen in den errichteten Stollen verwahrt aber auch
kulturelle Güter, wie beispielsweise Bücher und Kunstgegenstände. Darüber hinaus lagerten Städte
auch ihre Verwaltungsdokumente in den Schutzanlagen, teilweise auch in denen anderer Regionen.
Zu den Mülheimer Unterlagen, die nicht in der Stadt untergebracht wurden, gehörten Personalakten
der Stadt, welche u.a. nach Eisenach, Apolda, Gotha, Erfurt, Naumburg und Weimar verschickt
wurden. Nach Thüringen wurden Flurbücher des Katasteramtes, Steuerkarten, Erbkarten des
Gesundheitsamtes, Karteikarten des Jugend- und Personalamtes sowie Hypotheken und
Versicherungsunterlagen der Stadtkämmerei geschickt. Weitere Akten der Stadtverwaltung,
Gerichtsakten des Amtsgerichts und Akten des Standesamtes wurden in einem Luftschutzbunker
der Essener Zeche Hagenbeck eingelagert. Ein großer Bestand der außerstädtisch gelagerten Akten
ist nach dem Ende des Krieges verloren gegangen, darunter auch die Aufzeichnungen des
Kriegstagebuchs ab Dezember 1944.231
4. Luftalarme
Auch die Errichtung eines Warnsystems, mit dem die Bevölkerung über feindliche Lufttätigkeiten
alarmiert werden sollte, begann schon früh. Da ein akustisches Warnsignal als wirksamste Methode
angesehen wurde, begann man Mitte der 1930er Jahre damit, Sirenen auf Dächer, öffentlicher und
privater Gebäude, zu montieren. Die Sirene sollte in einem Radius von 500 Metern die Bevölkerung
vor Luftangriffen warnen. Man schätzte, dass in Berlin eine Sirene 3000 Menschen erreichen
würde, für die ganze Stadt wurden somit insgesamt 12.000 Sirenen notwendig. Der
Flugmeldedienst informierte dann die Warnzentrale der betroffenen Gebiete über feindliche
Lufttätigkeit. Die Warnzentrale informierte die ihr unterstellten Warnstellen, die daraufhin den
Alarm auslösten. Das Alarmsystem bestand 1939 aus drei Signalen:232
1. die Luftgefahr (L). Dabei handelte es sich lediglich um eine Vorwarnung an die Warnzentrale.
Diese Vorwarnung sollte jedoch so früh wie möglich, mindestens 30 Minuten vor einem
eventuellen Angriff, herausgehen. Die Meldung Luftgefahr wurde aufgrund dessen in Verbindung
mit einer Zahl übermittelt, die als Zeitangabe diente, wann mit dem Angriff zu rechnen sei.
230 Vgl. Hötger: Mülheimer Unterwelt, S. 209; Wiedeking: Kriegsalltag, S. 242ff.
231 Vgl. StAMH: Bestand 1200/741: Anordnung vom 27. 09. 1944; Hötger: Mülheimer Unterwelt, S. 208; Nierhaus:
Mülheim, S. 224.
232 Vgl. USSBS Vol. II: European Report No. 40, S. 36; Zu den Signalen vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 231 und
Hampe: Luftschutz, S. 302.
73
2. Fliegeralarm (AL). Dieses Signal wurde 10 Minuten vor Eintreffen feindlicher Flugzeuge
ausgelöst. Diese Zeitspanne galt als ausreichend für die Bevölkerung, die Schutzräume
aufzusuchen.
3. Luftgefahr vorbei (Lz). Nach diesem Signal konnte Entwarnung gegeben werden.
Der Arbeits- und Alltagsrhythmus der Bevölkerung wurde zunehmend von der Lufttätigkeit der
Briten beeinflusst. Fast bei jedem Einflug wurde der Luftalarm ausgelöst, was bedeutete, dass die
Menschen alles stehen und liegen lassen und die Schutzräume aufsuchen sollten. Allein über
Mülheim und einem Umkreis von 5km wurden im Jahr 1940 insgesamt 194 Feindeinflüge gezählt,
wodurch innerhalb der Stadt 141 Mal Fliegeralarm ausgelöst wurde. Das wiederum bedeutete
Stillstand in fast allen Bereichen. In den Stahlwerken mussten jedes Mal die Öfen gelöscht werden
und dementsprechend dauerte es, bis der Betrieb anschließend wieder reibungslos lief. Aus diesem
Grund wurde für Rüstungsbetriebe am 23. August 1940 eine Anordnung erlassen, die dem
Werkluftschutzleiter die Verantwortung dafür übertrug, wann und ob überhaupt Alarm gegeben
werden sollte.233
Grundsätzlich lag die Entscheidung zur Alarmierung bei dem jeweiligen Luftgaukommandeur und
der jeweiligen Warnzentrale. Durch diese Alarmierung nach eigenem Ermessen stieg jedoch die
Gefahr von Fehlalarmen oder eines kompletten Verzichts der Alarmierung. Einem Bericht des
Überwachungsdienstes der SS zufolge stieg dadurch die Unruhe in der Bevölkerung und unter den
Arbeitern, worunter auch der Produktionsablauf litt. Daraufhin ließ Hitler, nach Besprechungen mit
Göring und einigen Gauleitern, am 22. Oktober 1940 wieder festlegen, dass generell, mindestens 10
Minuten vor dem möglichen Eintreffen des Gegners, Alarm ausgelöst werden sollte.234 Das
Alarmsystem wurde im Laufe des Krieges immer wieder verändert und angepasst, in erster Linie
mit dem Ziel, die negativen Auswirkungen auf die Produktion zu verringern. Dabei erwiesen sich
die Einflüge am Tag, die ab 1942 deutlich zunahmen, und mit ihnen die Alarme, als besonders
störend. Bei diesen Einflügen handelte es sich meist um Störaktionen, denen kein größerer Angriff
folgte. Das hatte bald zur Folge, dass die Menschen bei Luftalarm gar nicht mehr die
Luftschutzräume aufsuchten, da es ihnen mit der Zeit eher lästig wurde. Diese Entwicklung diente
einigen Industriellen, u.a. Krupp, als Argument dafür, dass eine Verbesserung des Alarmsystems
notwendig sei, um den Produktionsablauf so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Am 21. August
1942 wurde daraufhin das Signal „Öffentliche Luftwarnung“ (ÖLW) eingeführt. Die ÖLW wurde,
bei Bedarf, im Anschluss an den AL ausgelöst und galt von nun an als Signal an die Bevölkerung,
die Luftschutzräume aufzusuchen. Die Aufenthaltsdauer in den Schutzräumen und die
Produktionsunterbrechungen sollten dadurch reduziert werden. Außerdem sollten Arbeiter ihren
233 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 413; Hampe: Luftschutz, S. 305.
234 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 233; Hampe: Luftschutz, S. 305.
74
Schichtwechsel auch bei Alarm durchführen, „solange kein Flakbeschuss oder feindliches
Motorengeräusch zu hören ist.“ Gleiches galt für Lieferanten wichtiger Güter. Das oberste Gebot
lautete: „Dem vom Feinde angestrebten Produktions- und Wirtschaftsausfall darf während eines
Alarms kein Vorschub geleistet werden.“235
Ab Oktober 1944 wurde das Alarmsystem um eine zusätzliche Stufe erweitert, der „Akuten
Luftgefahr“ (AKL). Zusammen mit den Signalen zur Entwarnung, „Vorentwarnung“ und
„Endgültige Entwarnung“ wurde das System so komplex, dass diese durch die Presse und den
Rundfunk immer wieder erklärt werden mussten. Dazu erschien in der Mülheimer Zeitung
folgender Artikel:236
„Akute Luftgefahr“
Das zukünftige Zeichen zum sofortigen Aufsuchen der Schutzräume. In frontnahen Gebieten gibt es künftig
fünf Alarmsignale, die im Folgenden erläutert werden:
1. Bisheriges Signal „Oeffentliche [sic] Luftwarnung“ (kleiner Alarm, dreimal Dauerton in einer Minute).
Es zeigt an, dass nur wenige feindliche Flugzeuge im Anflug sind. Es besteht also eine verhältnismäßig geringe Gefahr. Das öffentliche Leben sowie Wirtschaft und Verkehr gehen ungehindert weiter. Es ist jedoch
erhöhte Wachsamkeit jedes Einzelnen geboten, da Einzelflugzeuge durch Flakartillerie bekämpft werden
und einzelne Bomben fallen können.
2. Bisheriges Signal „Fliegeralarm“ (an- und abschwellender Heulton von einer Minute). Es zeigt an, dass
es eine größere Anzahl feindlicher Flugzeuge eingeflogen ist. Eine unmittelbare Gefahr für den alarmierten
Ort besteht jedoch noch nicht, da die feindlichen Flugzeuge noch abdrehen oder vorbeifliegen können. - Das
Signal „Fliegeralarm“ soll eine dringende Mahnung sein, alle Vorbereitungen für ein rasches Aufsuchen der
Schutzräume zu treffen und auf der Straße und im öffentlichen Leben ganz besondere Vorsicht anzuwenden
und das Verhalten so einzurichten, dass Schutzräume jederzeit kurzfristig bezogen werden können.
3. Neu eingeführt wird das Signal „Akute Luftgefahr“. Es wird dann gegeben, wenn unmittelbare Bedrohung des alarmierten Luftschutzortes vorhanden ist. Es besteht aus einem kurzen Alarmstoß, bestehend aus
zwei Heulperioden der Sirenen von einer Gesamtdauer von acht Sekunden. Bei Ertönen dieses Signals besteht unmittelbare Gefahr. Sofortiges Aufsuchen der nächsten Schutzräume ist Pflicht. […].
4. Die Beendigung der „Akuten Luftgefahr“ wird mit dem Signal „Vorentwarnung“ (dreimal wiederholter
hoher Dauerton) angezeigt. Dann ist luftschutzmäßiges Verhalten nicht mehr erforderlich und Wirtschaft und
Verkehr nehmen sofort ihre Tätigkeit im vollen Umfang wieder auf.
5. Endgültige Entwarnung erfolgt durch das bisherige Entwarnungssignal (eine Minute langer hoher Dauerton).“
Bei der Unterscheidung der verschiedenen Signale galt, dass Öffentliche Luftwarnung grundsätzlich
beim Einflug von bis zu 12 Jagdflugzeugen oder leichten Bombern zu geben war, bei einer größeren
Anzahl von leichteren Kampfflugzeugen oder beim Einflug schwerer Bomberverbände wurde der
Fliegeralarm ausgelöst.237 Anders als in manch anderen Städten brach das Luftwarnsystem der Stadt
Mülheim auch gegen Kriegsende nicht zusammen. Mit Ausnahme des Signals „akute Luftgefahr“,
das ab Dezember 1944 nicht mehr gegeben werden konnte, heulten die Sirenen der Stadt weiter bei
jedem gesichteten Bomber. In Mülheim wurde zwischen 1943 und Februar 1945 651 Mal
Fliegeralarm ausgelöst, d.h., die Sirene heulte in dieser Zeit mehr als 530 Stunden. Zusammen mit
235 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 234; zit. n. StAMH: Bestand 1200/1228 (04. 08. 1942).
236 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 413F.; StAMH: MZ vom 29. 09. 1944; USSBS Vol. II: European Report No. 40, S.
31-39.
237 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 236.
75
den Warnsignalen AKL und ÖLW erlebte die Stadt während der gesamten Kriegsdauer 2950
Luftwarnungen, knapp über die Hälfte davon, wurden allein 1944 ausgelöst (Tab. 10 und 11). Vom
01. bis zum 20. März 1944 wurde täglich Alarm gegeben, teilweise heulte die Sirene bis zu fünfmal
am Tag oder mehr. Am 06. März wurde siebenmal Öffentliche Luftwarnung gegeben. Die
Bevölkerung lebte praktisch unter Daueralarm.238
Tabellen 10 und 11: Luftalarme in Mülheim an der Ruhr 1939-1945239
Tabelle 10: Summe der Luftalarme 1939 - 1945
Jahr
AKL
AL
ÖLW
Summe
1939
4
4
1940
141
141
1941
104
1942
157
1943
1944
199
242
191
433
96
315
1074
1485
161
413
574
96
1124
1720
2940
1945
Summe
104
42
Tabelle 11: Aufschlüsselung der Luftalarme 1939 - 1945
1939
1940
1941
AL
AL
AL
1942
AL
1943
ÖLW AL
1944
ÖLW AL
Januar
3
6
18
7 9
Februar
8
7
27
März
6
10
25
April
ÖLW
1945
AKL AL
40
125
20 4
60
60
150
25 14
88
61
138
5
9
16
12 26
107
Mai
9
5
3
14
11 17
77
Juni
20
15
13
17
17 12
51
Juli
24
18
28
22
24 22
67
23
18
45
24
16 17
53
6
7
15
21 16
10 30
104
Oktober
21
8
8
13 21
9 52
141
29
November
25
5
4
2 31
11 62
139
47
Dezember
13
6
9
6 11
29 50
141
20
August
September
4
ÖLW
46
238 Vgl. Ulrich: Dokumentation, S. 227ff.
239 Beide Tabellen so zu finden bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 242.
76
5. Die Versorgung der Bevölkerung
Gemessen an der Zahl der Kleiderkarten, lebten 1941 rund 130.015 Menschen in Mülheim, die es
mit Gütern aller Art zu versorgen galt. Die Versorgungsgüter militärischer Bereiche hatte aber
absolute Priorität, was bedeutete, dass Produktionen jeglicher Art dahingehend umgestellt wurden.
Für die Zivilbevölkerung wurden dadurch vor allem Verbrauchsgüter, insbesondere Textil- und
Haushaltswaren schnell zur Mangelware. Ein besonderer Mangel herrschte auch schon früh im
Bereich der Treibstoffe, Öle, Fette, Kautschuk und Asbest. In diesen Bereichen erhielt die
Wehrmacht ebenfalls den Vorzug. Die Anzahl der Fahrzeuge wurde daher in Mülheim zur
Jahreswende 1941/42 von 1364 auf 1125 Fahrzeuge reduziert. Zahlreiche Neuzulassungen wurden
nicht genehmigt, da den Fahrzeugen kein öffentliches Interesse nachgewiesen werden konnte. Die
Kohleversorgung dagegen deckte 1941 mit 142.000 Tonnen noch 84% des Bedarfs des Vorjahres.
Seife und Waschmittel wurden ebenfalls nur geringfügig und auf ein akzeptables Maß reduziert.240
Mit der Verschärfung des Bombenkriegs stieg auch der Bedarf an Wohnungseinrichtungen für
Ausgebombte. Bei der Ersatzbeschaffung griffen die Kriegsschädenämter der Städte auch auf das
Eigentum geflohener und deportierter Juden zurück. Dieses Vorgehen wurde von den Ämtern durch
die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 ermöglicht. Auch aus den
besetzten Gebieten wurden jüdische Besitztümer ins Reichsgebiet transportiert. Das Ruhrgebiet
wurde dabei vorwiegend mit Wohnungseinrichtungen aus den Niederlanden versorgt. Eine
Dienststelle Westen führte sogenannte „Möbel-Aktionen“ u.a. in den Niederlanden durch und
räumte zwischen 1942 und 1944 insgesamt 22.623 Wohnungen aus. Die Firma Thyssen erhielt
1944 von der Essener Gauleitung noch eine Weisung, die besagte, dass firmeneigene Arbeiter,
zusammen mit einer Gruppe russischer Fremdarbeiter, beschlagnahmte Wohnungseinrichtungen aus
Arnheim nach Mülheim transportieren sollten. Die sogenannten „Judenmöbel“ wurden in der Stadt,
u.a. in einem Möbellager der Firma von der Linden gelagert. Jede noch so drastische Maßnahme
konnte den steigenden Bedarf an Möbeln jedoch nicht ausreichend decken.241
Neben den Wohnungseinrichtungen stieg auch der Bedarf an Unterkünften selbst an. Freigewordene
Wohnungen durch die Deportation von Juden wurden ausgebombten Familien zugeteilt, was den
Bedarf auf Dauer jedoch nicht deckte. Ab 1942 wurde daher eine Aktion zur „Schaffung von
Behelfsunterkünften für Bombengeschädigte“ gestartet und sollte vor allem in den Ballungsräumen
Nord- und Westdeutschlands Abhilfe schaffen. Für den Gau Westfalen-Süd sah das Programm die
Errichtung von bis zu 320 Behelfs-Unterkünften vor, ein Vorhaben, das jedoch aufgrund der
Entwicklung des Luftkriegs nicht realisiert werden konnte. Am 09. September 1943 ordnete ein
Führererlass die Gründung eines Deutschen Wohnungshilfswerks (DWH) an und beauftragte es mit
240 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 105ff.; Zu den Maßnahmen und der Durchführung der Bevölkerungsversorgung in
Mülheim 1941/42 vgl. StAMH: Bestand 1181/2/26.
241 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 107; StAMH: Bestand 1181/2/26, S. 12; Allgemein zur Ersatzbeschaffung vgl. Blank:
Heimatfront, S. 425ff.
77
der Durchführung eines neuen Bauprogramms. Im Zuge dieses Programms entwickelte der
Architekt Hans Spiegel, den „Reichseinheitstyp 001“, Behelfsheime in Holzbauweise, die nicht
größer als gewöhnliche Gartenlauben waren. Das DWH plante den Serienbau von jährlich einer
Million Behelfsheimen in ganz Deutschland, was eine vollkommen unrealistische Zielsetzung war,
denn die Heftigkeit der Luftangriffe zerstörten Wohnraum in einem Umfang und in immer kürzeren
Abständen, dass es gar nicht möglich war, mit dem Bau neuer Unterkünfte nachzukommen.
Abgesehen davon waren weder Rohstoffe noch Arbeitskräfte im notwendigen Maß verfügbar.242
In einem Schreiben vom 01. Dezember 1943, berichtet der damalige Mülheimer Oberbürgermeister
Edwin Hasenjaeger von der Errichtung von 250 Behelfsheimen und den damit verbundenen
Problemen; u.a. seien nicht genügend Arbeitskräfte verfügbar oder Arbeitsmaterialien wurden bei
Luftangriffen zerstört. Auch für das Jahr 1944 sah die Stadt noch den Bau von 450 Behelfsheimen
vor. Wie viele letztendlich errichtet wurden, geht aus den Unterlagen leider nicht hervor.243
Auf dem Sektor der Nahrungsmittelversorgung war das Reich von Anfang an darum bemüht, diese
auf einem guten Niveau zu halten, allein schon aus politischen Gründen. Eine Hungersnot, wie sie
nach dem Ersten Weltkrieg herrschte, wollte man unbedingt vermeiden, denn besonders die
Versorgungssituation hatte einen starken Einfluss auf die Haltung der Bevölkerung gegenüber der
Reichsführung. Bei der Festlegung der Versorgungsrationen wurde die Bevölkerung unterteilt, u.a.
nach Alter und Leistung in: Normal-, Schwer- und Schwerstarbeiter und Zuschläge für Nacht- oder
Langarbeit und nach sozialen Komponenten: Kranke, Schwangere, stillende Mütter. Des Weiteren
wurde unterschieden, zwischen Vollselbst- und Selbstversorgern.244
Zuteilungspflichtig waren in erster Linie besondere Lebensmittel wie Fleisch, Fette, Mehl und
Kaffee. Später fielen auch Kartoffeln und weitere, als Mangelgemüse bezeichnete Sorten, sowie
Obst unter die Zuteilungspflicht. Laut den Unterlagen des Mülheimer Ernährungsamtes befanden
sich in den Jahren 1941/42, insgesamt 755 Lebensmittelgeschäfte, 178 Bäckereien, 105
Milchhandlungen, 87 Metzgereien, 188 Gemüse- und Obstverkaufsstellen, 220
Kartoffelverkaufsstellen und 636 Seifenverkaufsstellen in der Stadt. 10 landwirtschaftliche
Selbstversorger besaßen Genehmigungen, die ihnen das Rösten von Kaffee-Ersatz erlaubten und
7500 Geflügelhaltern, wurde ein Abgabesoll von 556.440 Eiern auferlegt. Dies zu kontrollieren
gestaltete sich jedoch äußerst schwierig.245
242 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 417ff.
243 Vgl. StAMH: Bestand 1615/2, S. 12 und Bestand 2006/22.
244 Diese Einteilung verursachte auch Probleme, z.B. die Frage nach welchen Kriterien Schwerstarbeit definiert
werden sollte. Vgl. dazu Rolf-Dieter Müller: Albert Speer und die Rüstungspolitik im Zweiten Weltkrieg. In: Das
Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 5/2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs.
Kriegsverwaltung, Wirtschaft und Personelle Ressourcen 1942-1944/45, Stuttgart 1999 (Im Folgenden: Müller:
Rüstungspolitik), S. 275-737 hier S. 396ff.
245 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 110f.
78
Zu diesem Zeitpunkt sah sich die deutsche Reichsführung bereits mit einer ausgeprägten
Ernährungskrise konfrontiert, die zu enormen Rationskürzungen führte. Der monatliche
Kalorienwert der Rationen für Normalverbraucher sank im Jahr 1942 auf 1750. Ein Jahr zuvor lag
der Wert noch bei 1990 Kalorien. Tatsächlich waren die eigenen, vor Kriegsbeginn angelegten
Vorräte bereits in den ersten zwei Jahren so gut wie aufgebraucht. Erste Engpässe hatte man zwar
frühzeitig versucht, durch Importe aus den neutralen und besetzten Gebieten, auszugleichen, doch
erfüllten diese Lieferungen nicht die Erwartungen. Um im Heimatgebiet die Versorgungslage
wieder in den Griff zu bekommen, ging man nun dazu über, die besetzten Gebiete regelrecht
auszubeuten und das auf Kosten der dortigen Bevölkerung. Doch wie Göring es 1943 gegenüber
den Reichskommissaren der besetzten Gebiete und den Militärbefehlshabern ausdrückte, stand man
nicht im Dienste dieser Völker, sondern man hatte in erster Linie dafür zu sorgen, dass das deutsche
Volk genug zum Leben hatte.246 Für die deutsche Bevölkerung eine durchaus profitable Einstellung.
So veranlasste das Mülheimer Ernährungsamt zum Weihnachtsfest 1943 eine Sonderzuteilung an
die Einwohner. Normalverbraucher und nichtlandwirtschaftliche Selbstversorger erhielten
zusätzlich 500g Weizenmehl, 125g Süßwaren oder 100g Zucker, 50g Bohnenkaffee und 0,35l
Spirituosen. Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre erhielten sogar Zucker und Süßwaren von jeweils
250g. Diese Sonderzuteilung galt nicht für Ausländer, Kriegsgefangene, Polen und Juden.247
Mülheim verfügte bereits vor Kriegsbeginn über große Reserven an Mehl, Fetten und weiteren
Bedarfsgütern, wodurch die Versorgungslage in der Stadt, während der gesamten Kriegsdauer, auf
einem guten Stand gehalten werden konnte. Zusätzlich erlaubte die gute Finanzlage der Stadt, auch
während des Krieges noch größere Einkäufe an Lebensmitteln und anderen Gütern. In einer
Ratsherrensitzung vom 22. Dezember 1942, beispielsweise, wurde für den Kauf von Lebensmitteln
eine außerplanmäßige Ausgabe in Höhe von 42.000 RM beschlossen.248
Neben den privaten Haushalten galt es aber auch, öffentliche Stellen mit Lebensmitteln zu
versorgen. 1942 gab es in Mülheim 26 Werksküchen, u.a. bei Thyssen, Siemens und dem
Eisenbahnausbesserungswerk, die durchschnittlich 2420 Personen am Tag versorgten.
Kochschulen, die u.a. vom Frauenwerk betrieben wurden, konnten ihren Betrieb noch bis 1942
uneingeschränkt fortsetzen und erhielten monatlich eine Lebensmittelmenge, die für 1380
Kochschülerinnen ausreichte.249 Die zwei städtischen Wasserwerke konnten ihren Betrieb während
der gesamten Kriegsdauer aufrechterhalten. Schäden an Wasserleitungen konnten, wenn auch nur
provisorisch, schnell repariert werden.
246 Ausführlich dazu vgl. Hans Umbreit: Die Deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten 1942-1945. In: Das
Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 5/2: Kriegsverwaltung, Wirtschaft und Personelle Ressourcen 19421944/45, Stuttgart 1999 (Im Folgenden: Umbreit: Die Deutsche Herrschaft), S. 03-272 hier S. 181 und S. 200;
Müller: Rüstungspolitik, S. 488.
247 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 112; StAMH: Bestand 1400/5, S. 498f.
248 Vgl. StAMH: Bestand 1181/1/3.
249 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 110f.
79
Die erwähnte Ernährungskrise wurde schließlich, vor allem durch die Ausbeutung der besetzten
Ostgebiete, zu einem gewissen Maß überwunden und der Kalorienwert der Rationen für
Normalverbraucher im Jahr 1943 wieder angehoben. Mit 1980 Kalorien erreichte man fast wieder
den Stand von 1941. Die Versorgung konnte daraufhin, bis zum Ende des Krieges im ganzen Land
weitgehend konstant gehalten werden. Der Kalorienwert sank im Jahr 1944 noch einmal leicht auf
1930 und die Fleischrationen sanken von monatlichen 2000g im Jahr 1939 auf 1200g in den Jahren
1942/43, stiegen aber 1944 noch einmal auf 1600g im Monat an.250
Allen Einschränkungen zum Trotz, lief die Lebensmittelversorgung in Mülheim bis Kriegsende
problemlos weiter, sogar eine weitere Sonderzuteilung im Januar 1945 war noch möglich.
Erwachsene bekamen weitere 50g Bohnenkaffee und 0,35l Branntwein, Jugendliche unter 18 Jahren
erhielten eine zusätzliche Dose Kondensmilch. Nachdem die alliierten Bodentruppen schließlich
den Rhein erreicht hatten und deren weiterer Vormarsch nicht zu stoppen war, hatte das für die
Mülheimer noch einmal einen gewissen positiven Effekt. Im März 1945, als die amerikanischen
Truppen bereits vor den Toren der Stadt standen, ließ die Stadtverwaltung mitteilen, dass auch die
letzten Lebensmittelvorräte an die Privathaushalte verteilt werden würden. Mit der Begründung,
dass man dem Gegner diese Reserven nicht überlassen wolle, erhielten die Menschen noch einmal
Kartoffeln für 5 Monate, 8 Pfund Zucker und mehrere Pfund Fleisch. Erst nach Kriegsende,
nachdem das deutsche Versorgungsniveau von den Alliierten auf den europäischen Durchschnitt
herabgesetzt wurde, verschlechterte sich auch in Mülheim die Versorgungslage beträchtlich:
„Gehungert haben wir nach dem Krieg. Vorher mussten wir uns zwar auch anstellen, an
Orangen und Bananen war gar nicht zu denken, aber gehungert haben wir nicht im Krieg.“ 251
6. Jugend im Luftkrieg
Die wichtigste Zielgruppe des Nationalsozialismus war die Jugend. Während manche Erwachsenen,
aufgrund vorhandener Lebenserfahrung, mitunter nicht so leicht der NS-Propaganda erlagen und
sich die Verbreitung der Parteiideologie bei dieser Bevölkerungsgruppe u.U. Schwieriger gestaltete,
waren die Möglichkeiten, in den Erziehungsprozess einzugreifen, weitaus besser. Verschiedene
Organisationen, wie die Hitlerjugend (HJ) und der Bund deutscher Mädel (BdM), waren darauf
ausgerichtet, gezielt das Werte- und Normensystem des Nationalsozialismus in die Köpfe der
nächsten Generation fest zu verankern. Neben erzieherischen Maßnahmen wurden die Mitglieder
beider Organisationen bereits im Krieg mit gewissen Aufgaben betreut, z.B. mit der Verpflegung
von Bombengeschädigten oder, wie auch nach dem Großangriff auf Mülheim, der Einsatz von
Hitlerjungen als Melder nach einem Bombenangriff. Speziell auf den Luftkrieg bezogen, sind
250 Allgemein zur Versorgungslage vgl. Müller: Rüstungspolitik, S. 478-493; Beck: Under the bombs, S. 12.
251 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 248f.; Zitat zu finden bei Barbara Kaufhold: Erinnerungen werden wach.
Zeitzeugenberichte aus Mülheim an der Ruhr 1933-1945, Essen 2001 (Im Folgenden. Kaufhold: Erinnerungen
werden wach), hier Egon Kunig, S. 175.
80
besonders zwei Maßnahmen in Verbindung mit der Jugend zu nennen, die zum einen den
erzieherischen Einfluss und zum anderen den praktischen Einsatz betreffen: die erweiterte
Kinderlandverschickung (KLV) und der Einsatz deutscher Schüler als Flakhelfer.
a) Erweiterte Kinderlandverschickung (KLV)
Als während der „Luftschlacht um England“ und durch die Angriffe auf Berlin klar wurde, dass
England nicht so leicht zu besiegen sein würde, kam der Stein für die KLV ins Rollen.
Am 27. September 1940 wurde Reichsleiter Baldur von Schirach mit der Organisation der KLV
beauftragt. Ziel sollte es sein, alle Jugendliche, gemeint waren alle deutschen Schüler bis 14 Jahre,
aus den luftgefährdeten Gebieten in friedlichere Regionen zu schicken. Für die Organisation der
Unterbringung und Betreuung der Schüler war die Reichsdienststelle KLV verantwortlich. Der
Beginn der Aktion wurde auf den 03. Oktober festgelegt und fand ihren Anfang in Berlin und
Hamburg.252 Kurz darauf wurde die Maßnahme auch auf die Industriestädte des Ruhrgebiets
ausgeweitet. In Mülheim wurden die ersten Verschickungen noch in einem eher kleinen Rahmen
durchgeführt, in dem die Kinder für maximal 6 Wochen in ruhigere Gebiete, z.B. in die Ostmark
(Österreich), geschickt wurden. Ab 1942 wurde die KLV ausgeweitet und die Verschickungen
gingen u.a. in den Schwarzwald oder nach Tschechien. Die Reise wurde in Zügen oder auch auf
Schiffen angetreten. Zu diesem Zeitpunkt hatte die KLV jedoch bereits ihren Höhepunkt erreicht,
denn tatsächlich stieß diese Maßnahme bei den Eltern nur auf begrenzte Zustimmung. Obwohl das
Wort Evakuierung nicht im Zusammenhang mit der KLV genannt werden durfte, hielten die Eltern
es genau dafür. Im Auge der Öffentlichkeit galt die KLV als eine Art Zugeständnis dafür, dass man
den britischen Luftangriffen nichts mehr entgegenzusetzen hatte. Damit erlitt die KLV sozusagen
einen klassischen Fehlstart. Dem versuchte, u.a. auch Goebbels entgegenzuwirken, indem er in der
Presse darauf hinwies, dass es sich bei der KLV keineswegs um eine Evakuierungsmaßnahme
handele, sondern vielmehr um ein „zwangloses Angebot an die Eltern, ihre Kinder in
luftgeschütztere Gebiete zu bringen. Gratis!“253 Viel ausrichten konnte aber auch Goebbels nicht.
Den Charakter einer Evakuierungsmaßnahme wurde die KLV nicht los.
Anders, als man es eventuell vermuten würde, führte auch die Verschärfung des Bombenkrieges
nicht zu einer erhöhten Bereitschaft der Eltern, ihre Kinder in die KLV zu geben. Vielmehr war das
Gegenteil der Fall. Viele Eltern entschlossen sich, gerade zu dieser Zeit, ihre Kinder bei sich zu
halten, u.a. aus dem Grund, dass man bei einer eventuellen Flucht aus der Heimatstadt, zumindest
mit der gesamten Familie fliehen könnte oder Mütter zumindest mit ihren Kindern
zusammenbleiben wollten, wenn sich der Mann bereits an der Front befand. In manchen Fällen
252 Vgl. Gerhard Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder...Die Kinderlandverschickung im Zweiten Weltkrieg,
Paderborn 1997 (Im Folgenden: Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder...), S. 69f.
253 Zit. n. ebd. S. 73.
81
dürfte auch das schwindende Vertrauen in die NS-Führung der Grund gewesen sein, so dass man
die eigenen Kinder nicht dem erzieherischen Einfluss der HJ aussetzen wollte.254
Die Reichsführung versuchte dennoch weiter die Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder in die
KLV zu geben. Teils durch Werbeveranstaltungen, die durch die HJ organisiert wurden und in
Schulen stattfanden. Dabei wurde stets die Freiwilligkeit der Maßnahme betont und dass man
lediglich darum bemüht sei, den Kindern eine geordnete Weiterführung ihrer Schulausbildung zu
sichern. Aber auch mit gezielter Propaganda konnte die Skepsis der Eltern nicht vollkommen
überwunden werden und so wurde immer stärkerer Druck auf die Eltern ausgeübt.255 Das geschah
häufig durch die Presse, so wurde auch in der Mülheimer Zeitung ein recht provokanter Artikel zur
„Egoistischen Elternliebe“ veröffentlicht:
„[...]. Dann aber müssen sich jene, Gott sei Dank, nur eine verschwindend geringe Anzahl von
Eltern, die sich aus falsch verstandener und rein egoistischer Elternliebe bisher noch nicht ent
schließen konnten, ihre Kinder einem KLV-Lager anzuvertrauen, die bittersten Vorwürfe
machen, weil ihre Lieblinge weit hinter denen zurück sind, die nicht den Gefahren eines
schweren Bombenangriffs ausgesetzt wurden. […]. Sie müssen jetzt schon einmal die volle
Verantwortung dafür übernommen haben, dass sie ihre Kinder den tödlichen Gefahren des
Bombenterrors aussetzen. Es werden denn diese Kinder als Opfer egoistischer Elternliebe
nicht nur an Leben und Gesundheit gefährdet, sondern auch später infolge mangelnden
Wissens weit hinter ihren gleichaltrigen Kameraden zurückbleiben und in ihrem beruflichen
Fortkommen behindert sein. Den Vorwürfen, die diesen Eltern dann gemacht werden, können
sie kein stichhaltiges Argument entgegenhalten. Denn sie, die unbelehrbaren, nur an sich
denkenden Eltern tragen die Schuld.“256
Der Grundsatz der Freiwilligkeit wurde offiziell zwar nicht aufgehoben, doch geriet er durch solche
Maßnahmen immer weiter in den Hintergrund. Bereits ein Erlass aus dem Juni 1943, indem die
Verlegung ganzer Schulen angeordnet wurde, widersprach dem Freiwilligkeits-Prinzip. Innerhalb
der Bevölkerung sprach man daher bald von der „freiwilligen Kinderlandverschleppung“.257
Ein weiterer Grund dafür, dass die KLV von Anfang an auf Ablehnung stieß, lag in den ungenauen
Angaben über die Dauer der Verschickung. Anfangs wurde überhaupt kein Zeitrahmen festgelegt,
da man noch von einem schnellen Kriegsende ausging. Am Ende wurde die Dauer auf 6 Monate
festgelegt, dabei galt jedoch, dass nur ganze Lager zurückgeführt werden sollten. Tatsächlich
erlebten einige Schüler, besonders ab 1943, eine KLV-Dauer von bis zu 2 Jahren und verblieben so
bis zum Kriegsende in den Lagern.258 Die Unsicherheit darüber, dass die Eltern weitgehend im
254 Vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 318-322.
255 Vgl. StAMH: MZ vom 14.07.1943; Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 187; Ralf Blank/Gerhard
Sollbach: Das Revier im Visier. Bombenkrieg und „Heimatfront“ im Ruhrgebiet 1939-1945, Hagen 2005 (Im
Folgenden: Blank/Sollbach: Das Revier im Visier), S. 13f.
256 Zit. n. StAMH: MZ vom 04.09.1943.
257 Vgl. Blank/Sollbach: Das Revier im Visier, S. 13; Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 220ff.
258 Vgl. Hans Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle im Inferno des Krieges. In: Mülheimer Jahrbuch 1989
(Im Folgenden: Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle...), S. 153-168 hier S. 168; Heinz-Wilhelm
Auberg: Kinderlandverschickung vor 50 Jahren. Mülheimer Jungen finden Zuflucht in Böhmen und Mähren. In:
Zeitschrift des Geschichtsvereins Mülheim a.d. Ruhr Nr. 66, 1993 (Im Folgenden: Auberg: Kinderlandverschickung
vor 50 Jahren), S. 589-614 hier S. 612.
82
Unklaren darüber gelassen wurden, für, wie lange sie ihre Kinder in die KLV-Lager schicken
würden, wurde noch verstärkt dadurch, dass ein generelles Verbot ausgesprochen wurde, die Kinder
frühzeitig aus den Lagern nach Hause zu holen. Anstatt die Maßnahme den Eltern näherzubringen,
steigerte man durch solche Anordnungen lediglich deren Misstrauen.259
Eine genaue Zahl darüber, wie viele Kinder letztlich, trotz aller Widerstände, durch die KLV aus
ihren Heimatorten evakuiert wurden, gibt es nicht. Schätzungen reichen von 850.000 bis 2,8
Millionen. In wenigen Fällen wird sogar von 5 Millionen Kindern gesprochen.260 Genaue Zahlen
lassen sich heute nicht mehr ermitteln, da die Akten der Reichsdienststelle KLV verloren sind und
eine Veröffentlichung von Zahlen bereits 1941 von Hitler selbst untersagt wurde. Dieses Verbot
begründete sich wahrscheinlich darauf, dass man die Reaktionen der Bevölkerung fürchtete. So
hätten hohe Zahlen evtl. Unruhe ausgelöst, da sie ein Zeichen für die Gefährdung des Reiches
hätten bedeuten können, während eine geringe Zahl an KLV-Teilnehmern auf die schlechte
Akzeptanz hingewiesen hätte, über die bereits berichtet wurde.261
Anhand von Leistungsberichten der KLV, die durch den NSLB, der HJ und auch durch allgemeine
Zeitungen veröffentlicht wurden, erstellte Gerhard Kock dennoch eine recht zuverlässige
Hochrechnung. Demnach wurden in Hamburg und Berlin, in den ersten beiden Monaten, rund
189.543 Kinder durch verschiedene Evakuierungsmaßnahmen aus den Städten gebracht, ungefähr
die Hälfte davon durch die KLV. Ende Februar, nachdem auch die Industriestädte aus dem Westen
in die KLV mit einbezogen wurden, befanden sich ca. 120.000 Kinder in KLV-Lagern und bis Ende
März 1941 waren es rund 136.061 Kinder. In einem Jahresbericht der KLV wurde für das Jahr 1941
festgehalten, dass in diesem Jahr insgesamt 125.040 Jungen und 79.915 Mädchen in 3855 Lagern
untergebracht wurden. Einem Bericht des Reichsschatzmeisters zufolge befanden sich im Februar
1942 insgesamt 261.000 Kinder in KLV-Lagern. Anhand weiterer Berichte kommt Kock letztlich
zu dem Schluss, dass eine Gesamtzahl von 800.000 bis 850.000 Kindern, die durch die KLV
evakuiert wurden, eine realistische Schätzung sei.
b) Das Lagerleben in der KLV
Der Schulunterricht sollte auch in den KLV-Lagern weitergeführt werden. Die Verantwortung dafür
lag beim NS-Lehrerbund (NSLB), während die Gestaltung des Lagerlebens in der Verantwortung
der Hitlerjugend (HJ) lag, gemäß dem Leitsatz: „Jugend muss durch Jugend geführt werden.“262
Hinter dem Motiv, Kinder aus gefährdeten Gebieten, die nötige Ruhe und Schulbildung zukommen
zu lassen, diente die KLV, ohne Frage, ebenso der Einflussnahme auf die Erziehung der Kinder,
259 Vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 171ff.
260 Zur Thematik der Gesamtzahlen vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 134-143.
261 Vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 134f.
262 Zit. n. Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle...,S. 159.
83
nach einem nationalsozialistischem Weltbild. Baldur von Schirach wollte, wie Kock schreibt: „auf
Kosten der alten Schule eine neue nationalsozialistische Form der Schulerziehung“ einführen.263
Dazu gehörte ebenfalls die Vorbereitung auf spätere militärische Aufgaben. Diese Bereiche gingen
für manchen Jugendlichen nahtlos ineinander über. So wurde ein Mülheimer Schüler, direkt nach
dem Ende seines KLV-Aufenthaltes, als Flakhelfer eingesetzt. Ein anderer Schüler berichtete
davon, wie sein Schulleiter, der ebenfalls als Lagerleiter fungierte, die Jungen der Jahrgänge
1928/29 dazu aufforderte, sich freiwillig zur Wehrmacht zu melden, dabei drohte er gleichzeitig
jedem, der sich weigerte, mit Nichtversetzung. Zudem wurden bestimmte Gruppen von vornherein
von der KLV ausgeschlossen, neben jüdischen, auch kranke und behinderte Kinder, sowie Kinder,
die als schwer erziehbar galten. Das macht deutlich, dass weniger der rein karitative Gedanke im
Vordergrund stand, sondern gezielt darauf geachtet wurde, dass die Teilnehmer dem völkischrasssischem Ideal entsprachen.
Die KLV stellt innerhalb der Mülheimer Geschichte einen der am intensivsten bearbeiteten Bereich
dar. Im Jahre 1965 brachten die Ruhrnachrichten eine längere Artikelserie zu diesem Thema heraus,
zudem existiert eine größere Anzahl Einzeldarstellungen, ehemaliger Mülheimer Schüler zu diesem
Thema. Eine allgemeingültige Darstellung eines Aufenthalts in einem KLV-Lager, kann natürlich
dennoch nicht geleistet werden, da es sich in jedem dieser Fälle, um das subjektive Erleben der
einzelnen Betroffenen handelt. Im Rahmen dieser Darstellung sollen anhand von 3
Einzeldarstellungen gewisse Grundzüge und eventuelle Unterschiede eines KLV-Aufenthalts
aufgezeigt werden.
Wie bereits erwähnt, wurde das Lagerleben durch die HJ organisiert und die militärischen
Strukturen lassen sich in dieser Organisation deutlich erkennen. Hans Fischer schildert in seinem
Aufsatz: „Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle im Inferno des Krieges“ den Aufenthalt in
einem KLV-Lager in Neustadt an der Mettau (Tschechien). Als Lager diente eine Pension, jedes
Stockwerk wurde in Abteilungen (Züge) unterteilt und von einem Unterführer geleitet. An der
Spitze standen der Lagermannschaftsführer (Lamafü oder Lama) und sein Stellvertreter. Im hier
genannten Lager wurden zwei Schüler der nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) zu
Lagerführern ernannt, die in erster Linie an der militärischen Erziehung interessiert waren.
Aufgrund zahlreicher Beschwerden wegen Schikane wurde die Lagerführung jedoch bald an einen
Lehrer übertragen. Die mitgereisten Lehrer waren oft weniger parteipolitisch als die HJ-Führung
der Lager und im Laufe der Zeit verringerte sich der Einfluss der HJ immer mehr.264
Der Tagesablauf in den KLV-Lagern wurde mithilfe eines Dienstplans genau festgelegt:
263 Zit. n. Kock: Der Führer sorgt für unsere Kinder, S. 339.
264 Vgl. Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle..., S. 159; Nierhaus: Mülheim, S. 192.
84
07:15 Uhr:
Aufstehen
07:45 Uhr:
Kaffee
08:00 Uhr:
Schulunterricht
13:05 Uhr:
Mittagessen
13:30 Uhr:
Bettruhe
14:00 Uhr:
Aufmarsch
15:00 Uhr:
Silentium
16:00 Uhr:
Kaffee
16:15 Uhr:
Silentium
18:30 Uhr:
Abendessen
19:15 Uhr:
Singstunde
20:30 Uhr:
Zapfenstreich
Die strenge Ordnung des Lagerlebens wurde von vielen Schülern als notwendig angesehen und
weniger als militärische Vorerziehung empfunden. Heinz Wilhelm Auberg, der seine KLV-Reise
am 28. August 1943, zusammen mit 176 Schülern und 76 Schülerinnen antrat, beschreibt seine
Erfahrungen im KLV-Lager Proßritz (ehem. Protektorat Böhmen und Mähren) als Internats-ähnlich,
für ihn bot sich eine Möglichkeit, in idyllischer Landschaft die eigene Jugend unbeschwert genießen
zu können.265 Die Freizeitgestaltung umfasste, u.a. Wanderungen und verschiedene Sportaktivitäten,
es fanden Weihnachtsfeste statt und Elternbesuche, über die dann in der Zeitung berichtet wurde,
um noch einmal den Nutzen dieser Maßnahme zu propagieren. Die ideologieorientierte Ausrichtung
des Lagerlebens wurde von den Schülern oft nicht als solche empfunden, zeigte sich jedoch schon
deutlich durch ein neues Notensystem auf den ausgestellten Schulzeugnissen: Verhalten in der
Schule wurde ersetzt durch Führung und Haltung in der Lagergemeinschaft und mit
Einsatzbereitschaft, kameradschaftliches Verhalten, Disziplin und Ordnung, kamen 4 vollkommen
neue Noten hinzu, die Leibeserziehung rückte an die erste Stelle, Religion dagegen verschwand
vom Zeugnis.266
Das Bild einer Idylle konnte besonders zum Ende des Krieges nicht mehr vollständig
aufrechterhalten werden. Ab 1945 wurden die Mülheimer Schüler auch in ihren KLV-Gebieten
immer öfter mit der Realität des Krieges konfrontiert. Durch angeordnete Lagerwechsel trafen die
Schüler, u.a. auf Verwundetenzüge an den Bahnhöfen und erlebten auch Tieffliegerangriffe durch
die Alliierten. Die Tatsache, dass der Luftkrieg nun auch in die KLV-Gebiete rückte, hatte auch
Auswirkungen auf die Rückreise der Schüler. Teilweise wurde die Rückführung viel zu spät
angeordnet, wodurch sie sehr überstürzt und unter erschwerten Bedingungen stattfand. Gernot
265 Vgl. Auberg: Kinderlandverschickung vor 50 Jahren, S. 590.
266 Vgl. ebd. S. 596ff.; Fischer: Kinderlandverschickung. Fast eine Idylle...,S. 161f.
85
Knigge nennt seine Rückführung eher eine Flucht und beschreibt, wie die KLV-Leitung das Lager
vorzeitig verlassen hatte, um sich selbst in Sicherheit zu bringen und die Lehrer und Schüler dabei
völlig mittellos zurückließen. Heinz-Wilhelm Auberg erlebte das Kriegsende schließlich in
Berchtesgaden. Der Weg zurück nach Mülheim war aufgrund der zerstörten Bahnwege unmöglich.
Auberg beschreibt, wie sich einige Schüler schließlich per Anhalter oder auf dem Fahrrad auf den
Weg machten. In Mülheim verständigten sie dann die Familien über den Verbleib der Schüler,
woraufhin sich einige Väter auf den Weg machten und die Kinder von Berchtesgaden zurück nach
Mülheim brachten.267
Neben diesen „geschlossenen“ KLV-Lagern der HJ organisierte auch die Nationalsozialistische
Volkswohlfahrt (NSV) Evakuierungsmaßnahmen für Kinder im Alter bis zu 10 Jahren, die
innerhalb von Gast- und Pflegefamilien untergebracht wurden und die örtlichen Schulen besuchten.
Kleinkinder wurden zusammen mit ihren Müttern im Rahmen der Mutter-Kind-Verschickung zu
Familien aufs Land geschickt. Darüber hinaus hatten Eltern noch die Möglichkeit, ihre Kinder
eigenständig zu Verwandten aufs Land zu bringen.
All diese Maßnahmen zusammengefasst führten dazu, dass immerhin rund 2 Millionen Kinder aus
den luftgefährdeten Gebieten, zumindest für einen gewissen Zeitraum, vor dem Luftkrieg in
Sicherheit gebracht wurden.268
c) Mülheimer Flakhelfer
Die Flak war eine personalintensive Waffe, diese Tatsache wurde bereits mehrfach erwähnt. Der
Verlauf an den Fronten führte dazu, dass immer wieder gut ausgebildete Flaksoldaten aus dem
Heimatgebiet an andere Fronten berufen wurden. Diese mussten dann wiederum an der Heimatflak
ersetzt werden. Neben Kriegsgefangenen, Männern vom RAD und Freiwilligen, wurde bereits 1942
die Grundlage dafür geschaffen, Schüler für den Dienst an der Flak zu verpflichten. Ein
Führerbefehl vom 20. September 1942 ordnete den Einsatz von Schülern der Jahrgänge 1927/28 als
Luftwaffenhelfer (Lwh) an. Die erste Durchführungsverordnung zu diesem Befehl, entworfen vom
Obdl Göring, sah die „völlige Loslösung der männlichen Jugend über 15 Jahre von der Schule und
dem Elternhaus zum Einsatz bei der Flakartillerie auch außerhalb des Heimatortes“ und die
„Dienstverpflichtung der weiblichen Jugend für die Luftwaffe“ vor. Diese Art der Durchführung
stieß jedoch bei verschiedenen Reichsministerien auf Ablehnung, sodass Göring zu einer
Überarbeitung gezwungen war und am 25. Januar 1943 die „Anordnung über den Kriegshilfsdienst
der Deutschen Jugend in der Luftwaffe“ vorlegte. Darin hieß es nun, dass die Schüler nur dann
267 Vgl. Knigge: Das KLV-Ende, S. 208f. Und S. 214.; Auberg: Kinderlandverschickung vor 50 Jahren, S. 612.
268 Vgl. Kock: Der Führer sorgt für unsere kinder, S. 70; USSBS: Vol.II, Final Report C.D.D., S. 180.
86
eingezogen werden, „wenn Schul- und Einsatzort zusammenfielen“. Ausgenommen waren Internate
und Klassen der Napola.269
Am 27. Juli 1943 wurde die Anordnung letztlich doch dahingehend geändert, dass Lwh auch
außerhalb des Wohn- und Schulortes eingesetzt werden konnten. Der erste Appell Mülheimer Lwh
fand am 08. Februar 1943 in der ehemaligen Knabenmittelschule an der Kaiserstraße statt.270 Die
Jungen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren, wurden bei verschiedenen Flak-Einheiten in Dümpten,
Saarn und Menden eingesetzt. Weitere Schüler der Langemarckschule (heute Otto-PankokGymnasium) folgten wenige Tage später und im Juli folgten die Jahrgänge 1926/27. Einige Schüler
der Langemarckschule wurden der 4. Batterie der Flakabteilung 394 in Oberhausen-Sterkrade
zugeteilt. Zusammen mit der 5. Batterie bildeten sie eine Großbatterie zum Schutz der Ruhrchemie
in Oberhausen-Holten, die Treibstoffe für das Militär herstellte.
Die Lwh, für die sich bald der Begriff Flakhelfer durchsetzte, erhielten eine Grundausbildung von 4
bis 6 Wochen und traten anschließend ihren Dienst entweder in der Geschützstaffel, der Messstaffel
oder der Kommandostaffel an. Neben der militärischen Grundausbildung wurden die Flakhelfer
auch in Flugzeugkennung, Flak-Schießlehre, Waffenkunde und Ballistik unterrichtet. Der reguläre
Schulunterricht wurde ebenfalls weiter fortgesetzt, dazu kamen die Lehrer zu den jeweiligen
Flakstellungen der Schüler. Dadurch, dass der Dienst an der Flak jedoch Vorrang hatte, fiel der
Schulunterricht bei Alarmen aus, was im Laufe des Krieges immer häufiger der Fall wurde. Ein
typischer Tagesablauf der Flakhelfer sah folgendermaßen aus: „Wecken, Waschen, Frühstück,
Morgenappell, Schulunterricht, Mittagessen, militärische Unterrichte, Waffen- und Gerätereinigen,
Putz- und Flickstunde, am Wochenende Stubenreinigen. Bei Alarmen wurden die Geschütze und
Geräte besetzt.“ An den Geschützen übernahmen die Flakhelfer als Kanoniere die verschiedensten
Aufgaben, z.B. als K1 oder K2 die Höhen- oder Seitenausrichtung, als K3 das Laden oder auch als
K6 das Einstellen des Zünders. Ausbildung und Aufgaben unterschieden sich somit nicht von denen
der übrigen Soldaten; sie verrichteten ihren Dienst, egal ob am Messgerät (MG) oder am
12,8cm - Geschütz. Sie bekamen Wehrsold (0,50 RM am Tag) und erhielten Kriegsauszeichnungen.
All das führte dazu, dass die Lwh sich auch wie reguläre Soldaten fühlten und auch als solche
angesehen werden wollten. Dazu passte es natürlich nicht, dass sie zu ihrer Uniform die Armbinde
der HJ tragen sollten, was viele dazu bewegte, dies bald nicht mehr zu tun.271
Gefallene Flakhelfer wurden zudem mit militärischen Ehren beerdigt, so wie der Mülheimer Günter
Dreeskamp. Ein gefallener Flakhelfer eignete sich aber auch für die NS-Propaganda. Im Fall von
Karl Lippe, der direkt von der KLV an die Flak beordert wurde, organisierte sein KLV-Lager eine
269 Vgl. Koch: Flak, S. 312ff.
270 Zu den folgenden Darstellungen vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 192-197. Nierhaus bezieht sich in seiner Darstellung,
u.a. auf private Aufzeichnungen ehemaliger Mülheimer Schüler, die anderweitig nicht veröffentlicht wurden.
271 Vgl. Koch: Flak, S. 310f. und S. 314ff.
87
Trauerfeier. Die Nationalzeitung berichtete ausgiebig in gewohntem nationalsozialistischem Pathos
bis hin zum Schlusswort:
„Er ist der erste aus unserem Lager, vielleicht der erste aus der ganzen KLV Böhmens
überhaupt, der zur Flak eilte und in der Stellung, wie das Gesetz es befahl, für Führer, Volk
und Heimat sein noch so junges Leben opferte.“ 272
Die bereits erwähnte Flakstellung in Holten wurde im Februar 1945 für den Erdkampf vorbereitet,
dazu mussten Schützengräben ausgehoben werden. Kurz darauf wurde die Flakdivision nach
Grafenmühle verlegt. Da die schweren Flakgeschütze gegen die Masseneinflüge der alliierten
Jagdbomber nicht eingesetzt werden konnten, verschoss man nach einem vorgegebenen Plan, die
restliche Munition auf bestimmte Erdziele und sprengte anschließend die Geschütze selbst. Die
Soldaten und Flakhelfer, darunter auch der Mülheimer Langemarck-Schüler Ernst-Gerd Fastrich,
setzten sich Richtung Essen-Schönebeck ab und machten sich von dort auf den Weg nach Velbert.
Fastrich erhielt kurz darauf noch einmal Heimaturlaub, und als er am 12. April wieder den
Rückweg zu seiner Einheit antreten wollte waren die Amerikaner bereits bis nach Mülheim
vorgerückt und für den Flakhelfer war der Krieg somit vorbei.273
272 Zit. n. StAMH Bestand 1430/17: Nationalzeitung vom 16.07.1944.
273 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 197.
88
VI. Schlussbetrachtung
1. Die Auswirkungen des Bombenkriegs auf die Stadt Mülheim an der Ruhr
In der Zeit von 1940 bis 1945 verzeichnete die Stadt Mülheim insgesamt 160 Luftangriffe, in nur 6
Fällen wurde die Stadt als direktes Ziel benannt. Innerhalb dieser 160 Angriffe fielen 8016
Sprengbomben, 269.091 Magnesium- und Stabbrandbomben, 21.390 Phosphorbrandbomben, 810
Bomben verschiedenster Art sowie 397 Luftminen auf die Stadt. Durch die Bomben starben 1305
Menschen, von denen 1094 Opfer namentlich bekannt sind.274
Die Hauptzerstörungen lagen im Bereich der Innenstadt, genauer im Bereich der Altstadt und damit
in reinen Wohngebieten, hier blieben nur 1176 von insgesamt 4648 Gebäuden unversehrt. Weiter
waren die Stadtteile Styrum und Dümpten stark betroffen, die wenigsten Schäden verzeichneten
Heißen und Speldorf. Insgesamt wurden in der ganzen Stadt 2968 Wohnhäuser total zerstört und
4528 beschädigt. 129 Geschäftslokale wurden zerstört, weitere 256 beschädigt. Die Zahl der
zerstörten öffentlichen Gebäude betrug 17, die der beschädigten 27. Es wurden 15 Industrieanlagen
zerstört und 17 weitere beschädigt. Die Gesamttrümmermenge umfasste 800.000m³ Schutt, von
denen bis 1949 knapp die Hälfte geräumt war.275
Tabelle 12: Direkte Angriffe auf die Stadt Mülheim276
Datum
Airforce
Angriffsstärke
Bombenlast (T)
Tote
13. 05. 1942
RAF
3 Wellington
5
10./11. 05. 1943
RAF
2 Mosquito
22. 23. 06. 1943
RAF
242 Lancaster
93 Stirling
55 Wellington
12 Mosquito
01./02. 11. 1944
RAF
4 Mosquito
6
24. 12. 1944
RAF
169 Bomber
(Halifax und
Lancaster)
760
21. 03. 1945
USAAF
92 B-24
195
22
Abschüsse
Mülheim
Alliierte
0
0
0
2
0
0
0
1600
530
198
35
0
0
0
200
10
3
0
0
274 Vgl. Wiedeking: Kriegsalltag, S. 230.
275 Die hier genannten Schadenszahlen schließen Zerstörungen und Beschädigungen durch Artilleriefeuer mit ein.;
Nierhaus: Mülheim, S. 226f.
276 Tabelle so zu finden bei Wiedeking: Kriegsalltag, S. 231 und 233.
89
Neben den Sachschäden und Verlusten von Wohnraum und Besitztümern, sowie allen
Einschränkungen, wie Rationierung der Versorgungsgüter, hatte der Luftkrieg aber auch
psychologische Auswirkungen auf die Menschen.
Die Luftangriffe wurden fast von der gesamten deutschen Bevölkerung als das Schwerwiegendste
am gesamten Krieg angesehen. Besonders negativ empfanden die Menschen dabei die
Nachtangriffe. Inwieweit sich das auf die Stimmung der Menschen auswirkte, wurde bereits
während des Krieges in den Stimmungsberichten des Sicherheitsdienstes (SD) der SS und nach
Kriegsende von dem United States Strategic Bombing Survey (USSBS) erfasst. Der darin
aufgezeigte Stimmungsverlauf spiegelt auch den der Mülheimer Bevölkerung wieder.277
Den ersten Bombardierungen begegneten die Menschen noch mit Neugier und einem, teilweise
sogar scherzhaftem Umgang. Nicht selten verabschiedeten sich Menschen voneinander, indem sie
sich „eine splitterfreie Nacht“ wünschten.278 Eine ernste Gefahr schien von den Bomben nicht
auszugehen. Dennoch zeigten die Angriffe erste Auswirkungen auf die Verfassung der
Bevölkerung, physisch und psychisch. Besonders die zunehmende Übermüdung, als Folge der
nächtlichen Luftalarme, wurde zum Thema und langsam stieg auch das Gefühl von Unruhe und
Nervosität. Allgemein wurde die Stimmung in der Bevölkerung dennoch als gut bezeichnet, ein
Zusammenbrechen der Moral wurde nicht befürchtet.279 Häufiger war von Verärgerung die Rede, in
Mülheim beschwerten sich die Menschen oft über die Flak, die bei jedem Einflug feindlicher
Flugzeuge abgefeuert wurde. Besonders die später eingesetzten schweren 8,8-cm- und 10,5-cmGeschütze wurden als störend empfunden. Neben der Lautstärke der Flak selbst gab es
Beschwerden über zitternde Fensterscheiben und sogenannte Erdkrepierer. Dabei handelte es sich
um Geschosse, die nicht in der Luft zündeten und stattdessen erst explodierten, wenn sie auf dem
Boden aufschlugen.280
Gerade mit der Zerstörung von Lübeck und den 1000-Bomber-Angriffen, im Jahr 1942, entwickelte
der Bombenkrieg eine Richtung, die den Menschen endgültig klar machte, dass ihnen eine reale
Gefahr aus der Luft drohte und jede Stadt, zu jeder Zeit, bedroht war. Der Begriff „Terrorangriffe“
machte in manchen Regionen die Runde und langsam wandelte sich die Stimmung Richtung Angst,
Unruhe, Besorgnis und Missstimmung.281 Inwieweit sich die Stimmung der Menschen veränderte,
hing vor allem auch damit zusammen, in welcher Intensität die jeweiligen Gebiete den
Bombenkrieg erlebten. Gerade im Westen Deutschlands, wo die Bombardierungen besonders
häufig waren, wurden im Laufe der Zeit auch immer wieder Stimmen der Genugtuung laut, wenn
277 Bei den SD-Berichten ist nicht auszuschließen, dass sie zu Gunsten des Regimes „verschönert“ wurden. Vgl.
Groehler: Bombenkrieg, S. 294.
278 Vgl. Heinz Boberach [Hrsg.]: Meldungen aus dem Reich 1938-1945: Die geheimen Lagerberichte der SS, Bd. 5
(Im Folgenden: Meldungen aus dem Reich), S. 1339 (Nr. 102 vom 04.07.1940).
279 Vgl. ebd.; Blank: Heimatfront, S. 362.
280 Vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 203f.
281 Vgl. Meldungen aus dem Reich Bd. 10, S. 3882 (Nr. 295 vom 29.06.1942); Neumann: Leben in Mülheim, S. 56f.
90
Berlin das Ziel eines Bombenangriffs wurde. Nach Meinung der Menschen, saßen die
Verantwortlichen in der Hauptstadt und in Anlehnung an Goebbels Rede zum „Totalen Krieg“,
kursierte bald folgendes Gedicht unter der Bevölkerung:
„Lieber Tommy, fliege weiter,
wir sind alle Ruhrarbeiter,
Fliege weiter nach Berlin,
die haben alle „ja“ geschrieen [sic].“282
Der Eindruck stieg, dass Berlin den Westen aufgegeben hatte und besonders durch die „Battle of the
Ruhr“, machte sich ein Gefühl der Ausweglosigkeit, Resignation und Ohnmacht breit. Der Ruf nach
der längst versprochenen Vergeltung wurde immer lauter, deren Ausbleiben als Zeichen der eigenen
Schwäche ausgelegt. Dadurch verloren die Menschen immer mehr den Glauben an einen möglichen
Endsieg. Je länger der Krieg dauerte, desto stärker wurden sich die Menschen der eigenen
Unterlegenheit bewusst. Mit jeder Verschärfung des Luftkrieges machte sich Fatalismus breit und
die Menschen nahmen die Bombardierungen fast lethargisch hin.283
Die Menschen zeigten sich auch zunehmend unbeeindruckt von der betriebenen NS-Propaganda,
dennoch wurde die Haltung des Volkes weiterhin als gut bezeichnet. Der Unterschied zwischen
Stimmung und Haltung findet sich bereits frühzeitig in den SD-Berichten. Auch nach dem
Großangriff auf Mülheim wird in einem Bericht des Kreisleiters an die Gauleitung in Essen
berichtet, dass die Haltung größtenteils „gut und stur“ sei, gerade aber bei Frauen eine gesteigerte
Nervosität und Ängstlichkeit in den Abend- und Nachtstunden zu erkennen sei.“284 Hinter der
aufrechten Haltung der deutschen Bevölkerung verbarg sich vorrangig wohl der eigene
Überlebenswille. Nach jedem Bombenangriff wurde der Versuch unternommen, wenigstens ein
Mindestmaß an Alltag wiederherzustellen. Ein geregelter Arbeitstag gehörte dazu und daran
scheiterte letztlich das britische Vorhaben, die deutsche Industrie durch den Zusammenbruch der
Moral deutscher Arbeiter völlig zum Erliegen zu bringen.
Laut Groehler waren die Menschen in ihrer Lethargie zudem viel zugänglicher für Vorschriften und
Anordnungen und nahmen vieles hin, besonders wenn Strafen drohten, agierten die Menschen eher
im Sinne des Regimes, was wiederum zu dessen Aufrechterhaltung beitrug.285
Auf der anderen Seite versuchte das NS-Regime, durch gezielte Propaganda, den Hass gegenüber
den Kriegsgegnern zu schüren. Begriffe wie „Terrorflieger“, „Luftpiraten“ oder „Mordclique“
282 Vgl. USSBS Vol. IV: European Report No. 64B, S. 18; Zitat in: Meldungen aus dem Reich Bd. 13, S. 5217 (Nr.
381 vom 06.05.1943).
283 Vgl. Meldungen aus dem Reich, Bd. 13, S. 4923f. (Nr. 366 vom 11.03.1943), S. 5021 (Nr. 371 vom 29.03. 1943),
S. 5187 (nr. 397 vom 29.04.1943), S. 5215 (nr. 381 vom 06.05.1943); USSBS Vol. IV:European Report No. 64B, S.
12 und S. 16.
284 Vgl. Meldungen aus dem Reich Bd. 14, S. 5426-5434 (vom 02.07.1943); Burgdorff/Habbe: Als Feuer vom
Himmel fiel, S. 117; Blank: Heimatfront, S. 433, zit. n. Akten der NSDAP Bd. 2, Lagebericht vom 28.06.1943 zum
Ablauf der Sofortmaßnahmen zur Behebung der Bombenschäden nach dem 23.06.1943.
285 Vgl. Groehler: Bombenkrieg, S. 294f.
91
tauchten immer wieder in der Presse auf.286 Doch auch das Regime war in seinem Vorhaben nicht
erfolgreich. Gewalttaten, bis hin zu Lynchmorden gegenüber britischen Piloten sind zwar durchaus
vorgekommen, für Mülheim ist dahingehend aber kein Fall bekannt und auch bei Kriegsende
stießen die Alliierten bei ihren Einmärschen kaum auf Widerstand. Der USSBS hat in seinem
Bericht dazu festgestellt, dass sich die Wut der Deutschen eher gegen das Nazi-Regime richtete und
nicht gegen die Kriegsgegner. In ihrer Kriegsmüdigkeit ergaben sich die Menschen leicht den
einmarschierenden Truppen.287
Die Problematik, dass die Produktion durch das Fernbleiben der Arbeiter ebenfalls litt, versuchte
man in Mülheim gezielt entgegenzuwirken. Generell bekamen Arbeiter i.d.R. zwei Wochen frei, um
sich, u.a. um Reparaturen ihrer Wohnungen oder Häuser zu kümmern. Notwendiges Material und
Werkzeug bekamen die Arbeiter ebenfalls von der Arbeitsstelle bereitgestellt und bei Thyssen
wurde zusätzlich ein kleiner Laden errichtet, in dem die Angestellten Gebrauchsgüter kaufen
konnten.288 Hinter diesen Hilfsmaßnahmen verbarg sich ohne Frage auch ein gewisser Eigennutz.
Durch die entgegengebrachte Unterstützung erhoffte man sich im Gegenzug die Loyalität der
Arbeiter. In Mülheim schien dieses Konzept aufzugehen. Erst zum Kriegsende und mit dem
Vormarsch der Alliierten brach auch langsam die Industrie in Mülheim zusammen. Während die
Schäden durch die Bombardierungen, überwiegend geringfügig waren, erlitten die Industriestätten
durch das Artilleriefeuer wirklich schwerwiegende Schäden und zusammen mit den zerstörten
Verkehrswegen brach schließlich auch in Mülheim die Industrie zusammen.289
2. Fazit
Während der Gesamtdauer der alliierten Bomberoffensive, vom 29./30. Oktober 1939 bis zum 25.
April 1945, warfen Bomber Command, 8. und 15. USAAF zusammen 1,206,022 Tonnen Bomben
auf Deutschland. Allein 72% der Gesamtmenge wurden erst nach dem 01. Juli 1944 abgeworfen,
d.h. zu einem Zeitpunkt, als es eigentlich keine Zweifel an der deutschen Niederlage mehr gegeben
haben dürfte. Auf Großstädte fielen ca. 24% der Gesamt-Bombenmenge, dabei wurden ca. 3,6 Mio.
Häuser zerstört und ca. 7,5 Mio. Menschen obdachlos. Die Zahl der Luftkriegstoten wird mit
410.000 angegeben, dazu kommen Vermisstenzahlen, die ebenfalls in die Hunderttausende gehen.
Die restliche Bombenlast verteilte sich folgendermaßen: Transportziele (32%), militärische Ziele,
286 Vgl. StAMH: MZ vom 30.04.1943 und vom 25.06.1943.
287 Vgl. USSBS Vol. IV: European Report No. 64B, S. 12; von Lang: Krieg der Bomber, S. 250; zur Thematik der
Lynchmorde vgl. Blank: Heimatfront, S. 448ff.; Groehler: Bombenkrieg, S. 366ff.: zur Einnahme Mülheims durch
die Amerikaner vgl. Nierhaus: Mülheim, S. 261ff.
288 Vgl. USSBS Vol. II: European Report No. 31, S. 6ff.; Nierhaus: Mülheim, S. 134f.
289 Vgl. Horst A. Wessel: Als der Krieg zu Ende war – Mülheim und sein Röhrenwerk vor 40 Jahren. In: Zeitschrift
des Geschichtsvereins Mülheim an der Ruhr, Heft 59, 1985, S. 7ff.
92
z.B. Flughäfen, Seewege, Marine-Ziele (30%), Gesamtindustrie (13,5%), Öl, Chemie, Gummi
(9%), restliche Industrie, z.B. Kraftfahrzeuge, Waffenlager (2,5%) und Flugzeugfabriken (2%).290
Gemessen an diesen Zahlen, können die Auswirkungen des Luftkrieges auf die Stadt Mülheim
tatsächlich als gering eingestuft werden. Auch wenn bei dem Großangriff vom Juni 1943, der
Hauptangriffspunkt das Stadtzentrum war und die Altstadt große Schäden erlitt, so war der Verlust
von Wohnraum im Bereich der gesamten Innenstadt nicht besonders hoch. Das lässt zum einen
darauf schließen, dass viele Häuser bei dem Großangriff von vornherein nicht völlig zerstört
wurden, und lässt sich zum anderen darauf zurückführen, dass es nach dem Angriff keine weiteren
Flächenangriffe auf die Stadt gab. Der Wiederaufbau ab Juni 1943 konnte somit ohne größere
Störungen erfolgen.
Da der Flächenangriff als militärischer Weg zum Kriegsgewinn auch in Mülheim versagte, und der
Zusammenbruch der Industrie vor allem auf die Zerstörung der Verkehrswege und der
Treibstoffindustrie zurückzuführen ist, stellt sich natürlich die Frage nach dem Wert dieser Taktik
bzw. nach ihrer moralischen Fragwürdigkeit, dennoch muss an dieser Stelle festgehalten werden,
dass sich die Stadt Mülheim für diese Diskussion nur bedingt eignet. Zwar erlebte die Stadt auch bis
ins Jahr 1945 noch einige Angriffe, bei denen es auch Todesopfer gab, doch richteten sich diese
direkten Angriffe in erster Linie gegen das Flughafengebiet und somit auf ein militärisches Ziel.
Angriffe, im Sinne des „moral bombing“, blieben der Stadt Mülheim erspart.
Anders als 39 anderen Großstädten, die noch im Februar 1945 das Ziel weiterer Flächenangriffe
wurden.291 Darunter auch Dresden, dessen Zerstörung, nur drei Monate vor Deutschlands
Kapitulation, praktisch zu einem Synonym für „moral bombing“ wurde. Trotz unterschiedlicher
Auswirkungen der physischen Schäden kann der Bombenkrieg als „kollektive Erfahrung“292
betrachtet werden, denn in den Erzählungen der Bevölkerung, egal welcher Stadt, finden sich kaum
Unterschiede in der Frage, wie die Menschen den Luftkrieg erlebt haben.
Der Bombenkrieg ist somit ohne Frage eines der nachhaltigsten Erlebnisse, des Zweiten
Weltkrieges und Überreste dieser Zeit, sind auch heute noch in vielen Städten, so auch in Mülheim,
präsent: Markierungen an Häuserwänden, die auf öffentliche Schutzräume hinweisen, noch
erhaltenen Bunker selbst, u.a. ein Spitzbunker auf dem Gelände der FWH, sowie Tiefbunker am
Schloss Broich und am Marienplatz. Gegenwärtig wird der Bombenkrieg auch von Zeit zu Zeit
durch Funde von Blindgängern, von denen es bundesweit noch immer eine große Anzahl gibt.293
Die bisher letzte Entschärfung eines solchen Blindgängers erlebte die Stadt Mülheim am 10.
Februar 2015.
290 Vgl. USSBS Vol. I: European Report No. 2, S. 9 und S. 71; USSBS Vol. II: European Report No. 31, S. 3.
291 Vgl. Kurowski: Luftkrieg über Deutschland, S. 355.
292 Vgl. Blank: Heimatfront, S. 377.
293 Vgl. Hötger: Mülheimer Unterwelt, S. 210; Genaue Zahlen zu noch verbliebenen Blindgängern gibt es nicht,
Schätzungen bewegen sich im Bereich um 100,000 (Stand 2012).
93
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Bestand 1181/1/3
Bestand 1181/2/26
Bestand 1181/2/30
Bestand 1200/654
Bestand 1200/741
Bestand 1200/1228
Bestand 1400/5
Bestand 1430/17
Bestand 1430/55
Bestand 1471/2/2
Bestand 1480/1/1
Bestand 1615/2
Bestand 1615/4
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3. Internetquellen
www.raf.mod.uk (Letzter Zugriff am 18.01.2015)
96
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1: Britische Flugzeugproduktion 1939
S. 7
Tabelle 2: Flugzeugbestand des Bomber Command 1942
S. 20
Tabelle 3: Deutsche Rüstungszahlen 1941/42: Jäger vs. Bomber
S. 30
Tabelle 4: Entstandene Flächenbrände als Folge des Luftangriffs
vom 23. Juni 1943
S. 39
Tabelle 5: Aufschlüsselung der Anzahl von Trefferzentren und Todesopfern
nach Strassen
S. 46
Tabelle 6: Flakbestand Luftwaffenbefehlshaber Mitte:
Januar 1943 - Januar 1944
S. 53
Tabelle 7: Monatliche Flakproduktion 1941 - Februar 1945
S. 54
Tabelle 8: Verluste des Bomber Command über Mülheimer Region
S. 54
Tabelle 9: Vergleich monatliche Jäger- und Bomberproduktion 1941 – 1944:
Bomber Command und Deutsche Luftwaffe
S. 61
Tabelle 10: Summe der Luftalarme 1939 - 1945
S. 75
Tabelle 11: Aufschlüsselung der Luftalarme 1939 - 1945
S. 75
Tabelle 12: Direkte Angriffe auf die Stadt Mülheim
S. 88
Abbildungen 1 und 2: Verteilung Trefferzentren und Todesopfer in den
Stadtteilen nach dem Angriff vom 23. Juni 1943
S. 45
97
Abkürzungsverzeichnis
Abb.
App.
ACAS
ACAS (I)
ACAS (O)
ACAS (T)
AKL
AL
AOC-in-C
AWPD
BBSU
BdM
bzw.
CAS
cm
COS
DCAS
Do
Dunaja
DWH
ebd.
FS
FuE
Fw
FWH
g
ggf.
Hbf
HDP
He
Henaja
HJ
Hrsg.
ILA
JG
Ju
K
KLV
km
km/h
Konaja
Lama/Lamafü
L
l
LS
LS Abt. mot.
Lwh
Lz
m
Abbildung
Appendix
Assistant Chief of the Air Staff
Assistant Chief of the Air Staff (Intelligence)
Assistant Cheif of the Air Staff (Operational)
Assistant Chief of the Air Staff (Technical)
Akute Luftgefahr
Fliegeralarm
Air Officer Commanding-in-Chief
Air Warfare Plans Division
British Bombing Survey Unit
Bund deutscher Mädel
beziehungsweise
Chief of the Air Staff
Zentimeter
Chief of Staff
Deputy Chief of the Air JStaff
Dornier
Dunkle Nachtjagd
Deutsches Wohnungshilfswerk
ebenda
Feuerschutz
Feuer- und EntgiftungsFocke-Wulf
Friedrich Wilhelms-Hütte
Gramm
gegebenenfalls
Hauptbahnhof
Hochdruckpumpe
Heinkel
Helle Nachtjagd
Hitlerjugend
Herausgeber
Interministerieller Luftkriegsschäden-Ausschuss
Jagdgeschwader/Jagdgruppe
Junker
Kanoniere
(Erweiterte) Kinderlandverschickung
Kilometer
Kilometer pro Stunde
Kombinierte Nachtjagd
Lagermannschaftsführer
Luftgefahr
Liter
Luftschutz
Luftschutz Abteilung motorisiert
Luftwaffenhelfer
Luftgefahr vorbei
Meter
98
Me
MG
MZ
Napola
NSLB
NSV
ÖLW
OKW
OT
PFF
RAD
RAF
RM
RmfdbO
RdLuObdL
RLB
S
SD
SHAEF
SHD
SS
StAMH
t
u.a.
USAAF
USSAAF
USSAF
USSBS
u.U.
VCAS
vgl.
V-Waffen
W.A. (Plan)
z.B.
zit. n.
Messerschmitt
Messgerät
Mülheimer Zeitung
nationalpolitische Erziehungsanstalt
Nationalsozialistischer Lehrerbund
Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
Öffentliche Luftwarnung
Oberkommando der Wehrmacht
Organisation Todt
Pathfinder Force
Reichsarbeitsdienst
Royl Air Force
Reichsmark
Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete
Reichsministerium der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe
Reichsluftschutzbund
Seite
Sicherheitsdienst
Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Forces
Sicherheits- und Hilfsdienst
Schutzstaffel
Stadtarchiv Mülheim
Tonne
unter anderem
United States Army Air Force
United States Strategic Army Air Force
United States Strategic Air Force
United States Strategic Bombing Survey
unter Umständen
Vice-Chief of the Air Staff
vergleiche
Vergeltungswaffen
Western Air (Plan)
zum Beispiel
zitiert nach
99
Autorin
Pamela Henstra, geboren 1980 in Mülheim an der Ruhr; Magisterstudium der
Geschichtswissenschaft und Germanistik, seit 2014 als freiberufliche Historikerin tätig und
Gründerin des Geschichtsblogs www.allesgeschichte.de
Bei der vorliegenden Darstellung handelt es sich um eine überarbeitete Fassung ihrer
Magisterarbeit.
100
ISBN: 978-1507745731
Pamela Henstra: Der Luftkrieg in Mülheim an der Ruhr
Verlag: Pamela Henstra, Dr.- Türk-Str. 25, 45476 Mülheim/Ruhr
1. Auflage 2015
Printed in Germany by Amazon Distribution GmbH, Leipzig
© Pamela Henstra
101
102
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