Das Modell der doppelten Handlungsregulation

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Der Zweck des Buches
7
Persönlichkeitsstörungen sind Beziehungsstörungen
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Persönlichkeitsstörungen sind nicht pathologisch
13
Wie sich Klienten mit einer Beziehungsstörung verhalten
17
Wann ist eine Störung eine Störung?
20
Wo Diagnosen hilfreich sind und wo ihre Grenzen liegen
23
Wie man Persönlichkeitsstörungen verstehen kann
26
Das Modell der doppelten Handlungsregulation
26
Die Befriedigung von Wünschen auf der Motivebene
27
Aus der Biografie abgeleitete Grundannahmen
auf der Ebene der Schemata
29
Manipulatives Verhalten auf der Spielebene
31
Selbstdarstellung durch Images und Appelle
33
Tests: Warum Klienten ihre Therapeuten testen
35
Charakteristika von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen
37
Ich-Syntonie: Wie Klienten ihre Erfahrungen verinnerlichen
37
Repräsentation: Warum Klienten sich nicht als Teil
des Problems sehen können
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Geringe Änderungsmotivation als logische Konsequenz verstehen
41
Die Klienten kommen meist nicht wegen der
Persönlichkeitsstörung in Therapie
42
Klienten mit Persönlichkeitsstörungen sind beziehungsmotiviert
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Verwicklung in Spiele
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Professionelle Helfer leisten therapeutische Arbeit
in Alltagssituationen
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Therapeutische Möglichkeiten und Strategien
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Komplementarität zur Motivebene: Wünsche erfüllen
und Defizite aufdecken
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Komplementarität zur Spielebene oder:
Das Problem von Nähe und Distanz
52
Konfrontation mit Spielen – ein therapeutisches Muss
53
Komplementarität und Konfrontation gehören zusammen
54
Bestehen von Tests
56
Aufbau und Verstärkung von Alternativverhalten
56
Die persönliche Haltung des Therapeuten
57
Besonderheiten der einzelnen Persönlichkeitsstörungen
58
Narzisstische Persönlichkeitsstörung
58
Histrionische Persönlichkeitsstörung
68
Dependente Persönlichkeitsstörung
77
Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
84
Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung
88
Schizoide Persönlichkeitsstörung
94
Paranoide Persönlichkeitsstörung
98
Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
104
Die Beratung von Angehörigen
112
Die Situation von Angehörigen
112
Was Angehörige verändern können
113
Wie Therapeuten Angehörige unterstützen können
114
Die Zusammenarbeit im Team
116
Literatur
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Wie man Persönlichkeitsstörungen
verstehen kann
In diesem Kapitel wird eine Rahmentheorie für Persönlichkeitsstörungen vorgestellt, eine Theorie, die spezifiziert, wie Persönlichkeitsstörungen psychologisch funktionieren.
Das Modell der doppelten
Handlungsregulation
Zum Verstehen der Funktionsweise von Persönlichkeitsstörungen
und zur Ableitung therapeutischer Strategien wird hier theoretisch
vom Modell der »doppelten Handlungsregulation« ausgegangen.
Dieses Modell stellt eine allgemeine Theorie darüber dar, wie Persönlichkeitsstörungen psychologisch funktionieren (zur Vertiefung siehe
Sachse 1999, 2001 a, 2001 b, 2004 a; Sachse & Sachse 2010).
Grundannahme dieses Modells ist, dass Persönlichkeitsstörungen als Beziehungs- oder Interaktionsstörungen aufgefasst werden
können. Persönlichkeitsstörungen sind komplexe Störungen, die
Handeln, Denken, Fühlen und spezifische Formen der Informationsverarbeitung einschließen. Dennoch kann man annehmen, dass
dysfunktionale Überzeugungen über Beziehungen, dysfunktionale
interaktionelle Intentionen und dysfunktionale Arten der Beziehungsgestaltung den Kern der Störung bilden.
Das Modell umfasst drei Ebenen:
Die Ebene der authentischen Handlungsregulation oder Motivebene: Auf
dieser Ebene handeln die Personen authentisch und transparent. Interaktionspartner können ihre Absichten erkennen. Die Personen
handeln so, dass zentrale Beziehungsmotive, z. B. das Motiv nach
Wichtigkeit oder das Motiv nach Anerkennung, befriedigt werden
können.
Die Ebene der Schemata: Auf dieser Ebene sind Selbstschemata der
Person lokalisiert, also Überzeugungen der Person von sich selbst
(z. B.: »Ich bin ein Versager!« oder »Ich bin kompetent!«), sowie
Beziehungsschemata, also Überzeugungen der Person darüber, wie
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Die Befriedigung von Wünschen auf der Motivebene
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Beziehungen funktionieren oder was sie in Beziehungen zu erwarten
hat (z. B.: »In Beziehungen wird man nicht respektiert!«).
Die Spielebene: Auf dieser Ebene sind die manipulativen Strategien der Person lokalisiert, die Strategien, die die Person zur Lösung
schwieriger Interaktionen entwickelt. Es handelt sich also um die
Ebene des nicht authentischen, manipulativen Verhaltens. Daher
wird diese Ebene auch »Spielebene« genannt, nach dem Begriff des
»Spiels« in der Transaktionsanalyse, der genau dieses unoffene, manipulative Verhalten definiert.
Die Befriedigung von Wünschen
auf der Motivebene
Die Motivebene beschreibt die »normale« Regulation interaktionellen Handelns. Es wird hier davon ausgegangen, dass eine Person
eine Reihe interaktioneller Grundbedürfnisse aufweist. Diese zentralen Beziehungsmotive sind:
• das Motiv nach Anerkennung, Wertschätzung, positiver Definition,
• das Motiv nach Wichtigkeit,
• das Motiv nach verlässlicher Beziehung,
• das Motiv nach solidarischer Beziehung,
• das Motiv nach Autonomie,
• das Motiv nach Unverletzlichkeit des eigenen Territoriums und der
eigenen Grenzen.
Die Person versucht nun, ein zentrales Beziehungsmotiv in einer
Beziehung zu befriedigen. Hat diese Person ein starkes Bedürfnis
nach Wichtigkeit, dann versucht sie, von einer anderen Person
Aufmerksamkeit zu bekommen, von ihr ernst genommen, von ihr
wahrgenommen zu werden. Sie versucht dann, ihr eigenes Handeln
so zu gestalten, dass ihr Gegenüber ihr all diese Aspekte gibt. Das
funktioniert in der Regel, wenn die Person authentisch handelt, also
dem Partner deutlich macht, was sie will und braucht, und wenn sie
kompetent handelt. Ein übergeordnetes Motiv enthält viele untergeordnete »interaktionelle Ziele«, die man ganz konkret im Handeln
anstreben kann. Zum Beispiel enthält das Motiv Wichtigkeit Ziele
wie:
Aufmerksamkeit erhalten; ernst genommen werden; zugehörig sein;
gehört werden; Rückmeldungen erhalten wie: Ich verbringe gerne
Zeit mit dir; du bereicherst mein Leben.
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ABBILDUNG
Das Modell der
doppelten
Handlungsregulation
Aufmerksamkeit erhalten; ernst genommen werden; zugehörig sein;
gehört
Rückmeldungen
erhalten
wie: Ich verbringe gerne
Wie manwerden;
Persönlichkeitsstörungen
verstehen
kann
Zeit mit dir; du bereicherst mein Leben.
MOTIVEBENE
EBENE DER SCHEMATA
ODER ANNAHMEN
Motive
Interaktionelle Ziele
Beziehungserwartungen
SPIELEBENE
Interaktionelle
Ziele
Verarbeitungskompetenzen
Selbstkonzept
Verarbeitungskompetenzen
Handlungskompetenzen
Diskrepanz
Handlungskompetenzen
Handlungen in
Situationen
Konsequenzen
Tests
Strategisches
Handeln
Kurzfristige
Konsequenzen
Langfristige
Konsequenzen
œ
Handeln auf der Motivebene ist authentisch.
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Zur Umsetzung von Intentionen in konkrete Handlungen sind Kompetenzen notwendig. Die Person weist dabei in mehr oder weniger
großem Ausmaß Verarbeitungs- und Handlungskompetenzen auf,
um konkrete Handlungen auszuführen, die der Erreichung solcher
Ziele dienlich sind. Handlungskompetenzen sind z. B. Kenntnisse
über geeignete Strategien des Handelns, also Wissen darüber, was
genau man in bestimmten Situationen tun kann, um ein Ziel zu erreichen. Verarbeitungskompetenzen sind Fähigkeiten, Situationen
schnell zu analysieren und zu verstehen, z. B. die Fähigkeit, aus dem
Verhalten einer anderen Person auf deren Ziele, Motive und Werte
zu schließen. Hat eine Person hohe Kompetenzen, dann kann sie
effektiv handeln, hat sie solche Kompetenzen nicht, kann sie »in alle
Fettnäpfchen treten«.
Auf dieser Ebene geht man immer davon aus, dass das Handeln Motive reflektiert, oder »diagnostisch« gesprochen, dass aus dem Handeln prinzipiell auf die Motive geschlossen werden kann. Es wird
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Aus der Biografie abgeleitete Grundannahmen
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damit angenommen, dass das Handeln authentisch ist: Die Person
hat nicht durchweg und prinzipiell die Intention, ihre Ziele zu verbergen oder sie zu tarnen, die Motive sind im Handeln transparent.
Die Handlungsregulation auf der Motivebene ist eine authentische
Handlungsregulation.
Aus der Biografie abgeleitete
Grundannahmen auf der Ebene
der Schemata
Um das komplexe Interaktionsverhalten von Personen mit Persönlichkeitsstörungen zu verstehen, muss man über die Betrachtung
des »normalen« Interaktionsverhaltens hinausgehen. Man muss
annehmen, dass es neben den normalen, transparenten und reziproken Interaktionsmustern noch andere Arten von Interaktionsverhalten gibt. Neben der normalen, authentischen Handlungsregulation, so wird hier angenommen, gibt es noch eine zweite
Handlungsregulationsebene, die nach anderen Prinzipien funktioniert. Grundlage dieser zweiten Ebene der Handlungsregulation sind bestimmte, aus der biografischen Erfahrung einer Person
stammende Grundannahmen oder Schemata. Als Schema bezeichnet man dabei eine Wissensstruktur, die sich durch Erfahrung bildet und durch bestimmte Situationen aktiviert wird. Wird sie aktiviert, dann steuert sie die weitere Verarbeitung der Situation: Hat
eine Person das Schema »Ich bin ein Versager« und erhält sie den
Auftrag, eine Rede zu halten, dann aktiviert dieser Auftrag dieses
Schema und erzeugt Gedanken wie: »Das wird schiefgehen. Ich
werde mich tödlich blamieren.« Dadurch entstehen Angst, Vermeidungsverhalten und Unsicherheit.
Schemata, die Personen mit Persönlichkeitsstörungen in ihrer Biografie ausbilden, beziehen sich vor allem auf zwei Bereiche:
Selbstschemata: Annahmen über das Selbst,
Beziehungsschemata: Annahmen über Beziehungen.
Selbstschemata sind Annahmen wie:
»Ich
bin ein Versager.«
•
• »Ich bin wertlos.«
• »Ich bin nicht wichtig.«
• »Ich kann meine Grenzen nicht schützen.«
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Wie man Persönlichkeitsstörungen verstehen kann
Beziehungsschemata sind Annahmen wie:
• »In Beziehungen wird man nicht respektiert.«
• »Man kann jederzeit verlassen werden.«
• »Niemand kümmert sich um mich.«
Macht eine Person in ihrem Leben immer wieder die Erfahrung,
nicht wichtig zu sein, durch Rückmeldungen wie »Du störst«, »Es
wäre besser, es gäbe dich gar nicht«, »Ohne dich hätte ich Karriere
gemacht«, dann hat diese Erfahrung verschiedene Konsequenzen:
Einerseits wird das Beziehungsmotiv »wichtig sein« frustriert, wenn
das Motiv über lange Zeit nicht befriedigt wird. Motivationstheoretisch muss man aber annehmen, dass frustrierte Motive noch in der
Motivhierarchie bleiben und damit das aktuelle Verhalten in hohem
Ausmaß determinieren. »Wichtigkeit« bleibt also ein zentrales Beziehungsmotiv dieser Person und führt zu einem starren Motivsystem, bei dem andere wesentliche Motive in der Realisation »zu kurz
kommen«, was zur Ausbildung allgemeiner, schwer identifizierbarer
Unzufriedenheit führt. Andererseits führt diese Erfahrung zur Ausbildung negativer Beziehungs- und Selbstschemata. Diese Person
schließt einmal aus der konsistent negativen Rückmeldung, dass sie
selbst nicht wertvoll für andere ist, anderen »nichts zu bieten« hat. Sie
schließt weiterhin, dass sie auch in anderen Beziehungen nicht wichtig
sein wird, nicht ernst genommen werden wird, keinen Einfluss haben
wird. Damit befindet sie sich in einem massiven Dilemma: Sie weist
ein starkes, konsistentes Motiv auf, wichtig zu sein, und gleichzeitig
eine Überzeugung, als Person nicht wichtig sein zu können.
Je negativer die Erfahrungen sind, die eine Person in ihrer Biografie
macht, desto negativer sind auch die Schemata. Macht eine Person
die Erfahrung, dass Eltern sich nicht kümmern, dann entwickelt sie
möglicherweise das Selbstschema »Ich bin nicht wichtig« oder das
Beziehungsschema »In Beziehungen wird man nicht gesehen«. Erhält
die Person jedoch Rückmeldungen der Art: »Du störst uns – seit du
da bist, bin ich krank« oder »Wir haben dich leider nicht rechtzeitig
abgetrieben«, dann entwickelt diese Person negative Schemata wie
»Ich habe Eigenschaften, die andere stark beeinträchtigen«, »Ich bin
toxisch« und »In Beziehungen wird man massiv abgewertet«.
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Manipulatives Verhalten auf der Spielebene
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Manipulatives Verhalten auf der Spielebene
Menschen sind jedoch nicht passiv, sie versuchen vielmehr, Probleme aktiv zu lösen. Und so versucht auch ein Kind, das wichtige Motive von wichtigen Bezugspersonen nicht befriedigt sieht, das diese
Befriedigung aber für sein Wohlbefinden braucht, dieses Dilemma
aktiv durch Handeln zu lösen, anstatt zu resignieren und in Depression zu verfallen.
Für dieses Dilemma bietet nun die Handlungsregulationsebene der
»Interaktionsspiele« die Lösung: Dieses Kind kann in seinem Bezugssystem die Erfahrung machen, dass es zwar als Person nicht wichtig
genommen wird, dass es jedoch für bestimmte Arten von Verhaltensweisen durchaus Aufmerksamkeit erhalten kann, wenn es vielleicht
besonders lustig, unterhaltsam oder schlau ist. Es kann so Bezugspersonen durch Handlungen veranlassen, ihm das (oder ein Teil dessen)
zu geben, was diese ihm als Person verweigern. Das Kind lernt, dass
bestimmte Arten von Handlungsstrategien helfen, bestimmte interaktionelle Ziele zu erreichen. So kann dieses Kind also in dem Interaktionssystem, in dem es als Person keine Wichtigkeit erlangen kann,
durch bestimmte Handlungen durchaus Aufmerksamkeit erzielen.
Zudem bekommt das Kind so auch ein Stück Kontrolle zurück. Das
Kind lernt also in seiner Biografie mehr oder weniger intransparente
und manipulative Strategien, um wichtige interaktionelle Ziele zu erreichen, obwohl die Interaktionspartner diese Ziele nicht »freiwillig«
befriedigen. Daher sind diese Strategien »Lösungen«.
Diese Lösungen führen aber zu Verhalten, das intransparent ist: Der
Interaktionspartner, der dem Kind ja von sich aus nicht das gibt,
was es braucht, muss durch ein strategisches Handeln des Kindes
(sozusagen gegen seine Intention) dazu veranlasst werden, etwas
Bestimmtes zu tun: Das Kind ist ihm eigentlich nicht wichtig, aber
er wird z. B. durch »Ängste« des Kindes dazu veranlasst, sich mit
ihm zu beschäftigen und ihm Aufmerksamkeit zu geben. Da er zu
etwas veranlasst wird, was er eigentlich nicht will, kann man das
Verhalten auch, aus psychologischer Sicht (und keineswegs wertend, sondern nur beschreibend!) als manipulativ bezeichnen. Solch
manipulatives Handeln wird in der Transaktionsanalyse als »Spiel«
bezeichnet, daher der Begriff »Spielebene«: Die Lösung der schwierigen Situation für das Kind ist die Entwicklung einer intransparenten Interaktionsstrategie. Dem Kind bleibt in dieser Situation keine
andere Wahl, als ein strategisches Handeln zu entwickeln, weil das
authentische Verhalten nicht funktioniert.
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Wie man Persönlichkeitsstörungen verstehen kann
Das strategische Verhalten allerdings funktioniert (und nur dann
wird es auch gelernt!): Das Kind erhält Aufmerksamkeit, es bekommt Anerkennung – allerdings nur für und durch sein strategisches Handeln.
Diese Lösungen funktionieren also, sie haben jedoch Kosten:
Die Person kann auch weiterhin trotz ihrer Strategien nicht erreichen, als Person wichtig zu sein. Denn dazu lässt sich kein Interaktionspartner zwingen. Das zentrale interaktionelle Motiv »Wichtigkeit« wird weiterhin nicht befriedigt. Es bleibt weiterhin hoch in der
Motivhierarchie und »blockiert« das Motivsystem.
Die Person erhält für ihr Handeln zwar Aufmerksamkeit, und das ist
angenehm, verstärkt jedoch immer wieder das Handeln und erhält
es so aufrecht. Der Befriedigungseffekt ist, da das zentrale Motiv
»Wichtigkeit« nicht befriedigt wird, nur partiell und nur von kurzer
Wirkung. Die Person muss das strategische Handeln immer wieder
ausführen, um einen Befriedigungseffekt zu erzielen, aber der Effekt
ist dennoch nie völlig befriedigend. Wie eine Klientin treffend sagte:
»Man ist durstig und bekommt etwas Leckeres zu trinken. Es löscht
auch kurze Zeit den Durst, aber man braucht schnell etwas Neues
zu trinken.«
Das Handeln von Menschen mit Persönlichkeitsstörung ist oft strategisch und manipulativ. Sie tun gezielt etwas, um etwas Bestimmtes
von ihrem Gegenüber zu bekommen. Sie haben dabei aber immer
(unterschwellig) den Eindruck, sie würden es ohne dieses spezielle
Handeln nicht bekommen, d. h. sie »erschleichen« sich etwas, was
ihnen eigentlich gar nicht zusteht. Damit werten diese Personen den
Effekt, den sie erzielen, immer wieder selbst ab. Durch das strategische, manipulative und meist nicht mehr reziproke Handeln verärgern sie Interaktionspartner und erzeugen so immer wieder massive
Interaktionsprobleme.
Im Kindes- und Jugendalter kann die Strategie, Aufmerksamkeit durch
spezielles Verhalten zu erlangen, eine wichtige, vielleicht sogar überlebenswichtige Strategie gewesen sein; den Erwachsenen bringt das Beibehalten dieser Strategien aber in Schwierigkeiten und es erzeugt hohe Kosten. Diese Personen produzieren ständig Effekte, die sie jedoch nicht ihrem
strategischen Handeln zuschreiben, sondern die sie als Bestätigung ihrer
Schemata auffassen. So erzeugen sie ständig selbsterfüllende Prophezeiungen, die ihr System stabilisieren. Dieses System ist damit abgeschottet
und nicht mehr lernfähig.
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Selbstdarstellung durch Images und Appelle
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Was hier für das Motiv »Wichtigkeit« und die Spiel-Lösung eines
histrionischen Interaktionsverhaltens exemplarisch aufgezeigt wurde, lässt sich ebenso für andere zentrale Beziehungsmotive und für
andere Interaktionsstrategien ableiten.
In jeder Persönlichkeitsstörung weisen Klienten spezifische Motive,
Schemata und Interaktionsstrategien auf. Im Fall einer narzisstischen Interaktionsstörung steht z. B. das Motiv »Anerkennung« im
Vordergrund. Hier ist ein zentrales Schema: »Ich bin nicht akzeptabel«. Die »Lösung« besteht meist darin, über Leistung Anerkennung
von den Interaktionspartnern zu bekommen. Die Kosten sind aber
prinzipiell die gleichen: Das Motiv wird nicht befriedigt – denn der
Betroffene erhält ja keine Anerkennung als Person. Die Schemata
werden auch in diesen Fall nicht revidiert. Anerkennung für Leistung macht nicht zufrieden und die betroffenen Personen glauben,
sie müssten ständig »mehr desselben« tun.
Dieses Verhalten führt zu Konflikten mit den Interaktionspartnern.
Auf diese Weise kann man die prinzipiell gleichen Schwierigkeiten
für alle Persönlichkeitsstörungen im engeren Sinne ableiten.
Ein wesentlicher Aspekt der Interaktionsstörung besteht demnach
darin, dass eine Person für einen Zustand eine »Not«-Lösung gefunden hat, die darin besteht, solche strategischen Handlungen auszuführen, die Interaktionspartner zu bestimmten Verhaltensweisen
veranlassen sollen. Denn: Die Person glaubt, dass ihre Interaktionspartner dieses Verhalten freiwillig nicht ausführen würden. Diesem
Handeln dienen im Wesentlichen zwei Strategien: »Images« und
»Appelle«.
Selbstdarstellung durch Images und Appelle
Damit Interaktionspartner etwas für eine Person mit Persönlichkeitsstörungen tun, was eigentlich gar nicht ihren eigenen Interessen
entspricht, ja möglicherweise sogar ihren Interessen widerspricht,
müssen sie von der Person vorbereitet werden: Der Partner muss in
einen Zustand versetzt werden, in dem er bereit ist, den interaktionellen Zielen der Person zu dienen. Eine solche Vorbereitung wird
durch die Vermittlung sogenannter Images geleistet. Ein Image ist
ein Bild, eine Interpretation, etwas, das die Person im Interaktionspartner entstehen lässt, aufbauen will. Der Interaktionspartner soll
sich ein ganz bestimmtes Bild von der Person machen. Dieses Bild
soll ganz bestimmte Komponenten enthalten bzw. andere nicht ent-
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Wie man Persönlichkeitsstörungen verstehen kann
halten. Der Partner soll also spezielle Glaubens- oder Überzeugungssysteme ausbilden. So kann eine Person das Image vermitteln: »Ich
bin schwach und hilflos.« Dieses Image ist eine gute Vorbereitung
dafür, dass der Partner Verantwortung für diese Person übernimmt.
Denn für jemanden, der schwach und hilflos ist, muss ein verantwortungsbewusster, hilfsbereiter (!) Interaktionspartner Verantwortung übernehmen. So kann eine Person sich also darum bemühen,
dass ihr Partner die Überzeugung entwickelt, sie komme allein nicht
klar, sie wisse sich selbst nicht mehr zu helfen und leide unter dem
hilflosen Zustand.
Der Transport von Images reicht für die Umsetzung interaktioneller Ziele aber noch nicht aus. Denn der Interaktionspartner soll ja
nicht nur etwas glauben, sondern er soll etwas tun (oder nicht tun).
Der Transport von Images ist daher eine Vorbereitung auf den Transport von Appellen: Der Interaktionspartner soll durch Images eine
bestimmte Überzeugung über die Person entwickeln und dann auf
der Grundlage dieser Überzeugung in bestimmter Weise handeln. Zur
Beeinflussung dieses Handelns dienen Appelle. Appelle haben also die
Funktion, das Verhalten des Interaktionspartners zu steuern.
Bei Appellen kann man positive und negative Appelle unterscheiden.
Bei positiven Appellen sollen Interaktionspartner etwas tun, was den
interaktionellen Zielen der Person dienlich ist. Hier gibt es sehr viele
unterschiedliche Möglichkeiten. Der Partner soll bestätigen, dass die
Person »normal« ist, dass sie ganz toll ist, ganz arm dran oder hilflos
ist. Er soll sich mit der Person gegen eine andere Person solidarisieren, für die Person (rund um die Uhr) verfügbar sein.
Bei negativen Appellen sollen die Interaktionspartner etwas unterlassen, das, wenn sie es täten, den interaktionellen Zielen der Person
abträglich wäre. Auch dies spielt in der Therapie eine große Rolle.
So versuchen Klienten oft das gesamte Team dazu zu veranlassen,
ihre Sichtweise nicht infrage zu stellen, unangenehme Themen nicht
zu berühren, keine vertiefenden Fragen zu stellen oder auf Distanz
zu bleiben.
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Tests: Warum Klienten ihre Therapeuten testen
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Tests: Warum Klienten ihre
Therapeuten testen
Aus dem dargestellten Modell kann man vorhersagen, dass Klienten mit Persönlichkeitsstörungen in der Psychotherapie sogenannte
Tests realisieren. Tests oder Interaktionstests dienen dem Klienten
dazu, für sich Klarheit zu schaffen. Vor allem dann, wenn er nicht
weiß, ob er eine Beziehung, z. B. die zu professionellen Helfern, als
vertrauensvoll einschätzen soll oder nicht, oder wenn er nicht weiß,
ob er sich auf eine Beziehung einlassen soll oder nicht. In diesem Fall
wird der Interaktionspartner daraufhin getestet, ob er auch wirklich
vertrauenswürdig ist und ob der Klient sich auch wirklich auf eine
Beziehung einlassen kann.
Trifft ein Klient mit sehr hohem Motiv und ausgeprägten Schemata
auf einen Therapeuten, der sich empathisch, akzeptierend und kongruent verhält, dann wird das Motiv aktiviert. Der Klient entwickelt
die Hoffnung, dass der Therapeut nun sein Motiv nach Anerkennung, Wichtigkeit, Solidarität erfüllen könnte. Daraus resultiert ein
starker Wunsch, sich auf eine Beziehung zum Therapeuten einzulassen, es entsteht eine »Annäherungstendenz«. Gleichzeitig aktiviert
die Situation aber auch die Schemata des Klienten, die besagen: »Ich
bin nicht akzeptabel!«, »Ich bin nicht wichtig!«, »Beziehungen sind
nicht solidarisch!«
Diese Schema-Aktivierung erzeugt beim Klienten die Angst, erneut in
einer Beziehung enttäuscht zu werden, und damit eine Tendenz, sich
nicht auf eine Beziehung zu den professionellen Helfern einzulassen.
Es entsteht eine »Vermeidungstendenz«. Jetzt gerät der Klient in
eine Diskrepanz zwischen Annäherungs- und Vermeidungstendenz.
Eine solche Diskrepanz ist unangenehm, und die Person muss etwas
tun, um die Diskrepanz wieder zu reduzieren. Die Diskrepanz kann
der Klient dadurch reduzieren, dass er die professionellen Helfer
testet. Er realisiert nun Handlungen, die, etwa in der Psychotherapie, den Therapeuten herausfordern, provozieren, zu einer Reaktion
zwingen. Er kritisiert den Therapeuten, greift ihn an oder diskutiert
mit ihm Regeln. Diese Provokationen können nun nach der Logik
des Tests zwei Ausgänge haben: Der Therapeut kann akzeptierend,
zugewandt, empathisch bleiben, dann »besteht« er den Test – in
diesem Fall verstärkt er die Annäherungstendenz des Klienten. Oder
der Therapeut kann abwertend, aggressiv, ablehnend reagieren,
dann »versiebt« er den Test – in diesem Fall verstärkt er die Vermei-
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Wie man Persönlichkeitsstörungen verstehen kann
dungstendenz des Klienten. Der Klient folgert dann: Ich werde mich
nun unangemessen, aufsässig, kritisch verhalten. Bleibt der Therapeut jedoch zugewandt, akzeptierend, kann der Klient sich ein Stück
weit mehr auf die Beziehung einlassen.
Zum Testen verwendet der Klient meist das Spielverhalten, das er
gelernt hat:
• den Therapeuten kritisieren,
• den Therapeuten angreifen,
• vom Therapeuten Aktionen fordern,
• mit dem Therapeuten Regeln diskutieren.
Alle Tests dienen ausschließlich dem Zweck, dem Klienten Klarheit
darüber zu verschaffen, ob er der Annäherungs- oder der Vermeidungstendenz folgen soll. Und daher ist jeder Ausgang des Tests für
den Klienten ein Gewinn: Wenn der Therapeut aggressiv reagiert,
hat der Klient zumindest Klarheit. Tests dienen also nicht dazu, einen Therapeuten zu kritisieren oder abzuwerten, sondern nur dazu,
zu sehen, wie der Therapeut auf solche Provokationen reagiert. Tests
sind demnach kein Angriff auf den Therapeuten, sondern nur eine
Methode, den Therapeuten auf Zuverlässigkeit zu prüfen.
Für den Therapeuten ist wichtig, dass er das Klienten-Verhalten als
Test durchschaut. Der Therapeut kann zugewandt bleiben und den
Test bestehen, wenn er sich klar macht, dass er nicht als Person
gemeint ist. Denn wer immer an seiner Stelle wäre, würde genauso
getestet!
Wichtig ist also, dass der Therapeut erkennt:
• Der Test dient nicht dazu, den Therapeuten zu ärgern oder zu beleidigen.
• Der Therapeut ist nicht persönlich gemeint. Jeder, der die Rolle ausfüllt,
muss vom Klienten getestet werden.
• Der Test hat ausschließlich mit den Motiven und Schemata des Klienten zu
tun.
Dieses Wissen erleichtert es Therapeuten und professionellen Helfern, zugewandt zu bleiben, den Klienten zu verstehen und sich professionell mit ihm auseinanderzusetzen.
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Charakteristika von Klienten
mit Persönlichkeitsstörungen
Ich-Syntonie: Wie Klienten ihre Erfahrungen
verinnerlichen
Persönlichkeitsstörungen sind »ich-synton«. Ich-synton bedeutet,
dass Personen die Lösungen, die sie für die ungünstigen Interaktionssituationen in ihrer Biografie gefunden haben, also die Schemata
und Strategien, als Teil ihrer Person ansehen, als »zu-sich-gehörig«
und nicht als »ich-fremd« (ich-dyston). Das ist auch nachvollziehbar: Weil die Schemata Schlussfolgerungen aus Erfahrungen sind,
werden sie von den Personen als zutreffend, richtig, korrekt wahrgenommen. Hat eine Person aus den Erfahrungen mit wichtigen Interaktionspartnern z. B. den Schluss gezogen »Ich bin nicht wichtig«,
dann erscheint ihr diese Schlussfolgerung zwingend, plausibel und
»wahr«. Sie wird nicht im Mindesten in Zweifel gezogen (vgl. Fiedler 2007).
Die (manipulativen) Strategien, die der Klient (gezwungenermaßen)
gelernt hat, haben sich »organisch« aus der Situation abgeleitet,
sind der Person plausibel erschienen und werden daher ebenfalls
als geradezu »zwingend« notwendig erachtet. Möglicherweise waren sie das in der Biografie auch tatsächlich. Diese Person sieht ihre
Strategien als eine natürliche Reaktion an. Sie erkennt die Strategien
auch nicht als manipulativ. Die Strategie ist notwendig – denn ohne
sie geht es für diese Person nicht. Die Aspekte der Persönlichkeitsstörung selbst erzeugen deshalb aber bei dieser Person auch keinerlei
»Störgefühle«.
Klienten mit Persönlichkeitsstörungen haben keinen Anlass, die
Schemata oder Strategien als nicht zu sich gehörig zu empfinden,
anders als z. B. Klienten, die Ängste oder Zwänge aufweisen. Diese
empfinden die Ängste als störend, behindernd und die Zwänge als
fremd, unverständlich, nicht nachvollziehbar. Klienten mit Persönlichkeitsstörungen empfinden aber sowohl ihre Schemata als auch
ihre Strategien als in hohem Maße nachvollziehbar. Selbst wenn sie
die Schemata als negativ wahrnehmen, sehen sie diese doch als gültig
und zutreffend an. Ein Schema von »Ich bin nicht wichtig« ist kei-
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Charakteristika von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen
neswegs angenehm und fühlt sich auch nicht gut an, aber es ist, nach
Ansicht der Person, zutreffend. »Nicht wichtig« zu sein ist ein Teil
der eigenen Identität.
Repräsentation: Warum Klienten sich
nicht als Teil des Problems sehen können
Natürlich haben die Handlungen der Person Kosten: Interaktionspartner reagieren langfristig genervt und wenden sich ab; die Person
ruiniert durch ihr Verhalten ihre Gesundheit; es bilden sich (weitere) psychische Probleme wie Ängste oder Depressionen aus. Diese
Kosten nimmt die Person zwar wahr, aber sie nimmt nicht wahr,
dass sie selbst diese Kosten erzeugt. Sie nimmt nicht wahr, dass die
Kosten Folgen ihrer Schemata und Strategien sind. Sie geht nicht davon aus, dass ihr Verhalten Probleme erzeugen könnte. Das ist nicht
verwunderlich, weil ihr Verhalten zuerst meist positive Konsequenzen hat. Die Interaktionspartner lassen sich zunächst manipulieren
und reagieren komplementär. Die Person muss also extreme Schwierigkeiten haben, um zu erkennen, dass ihr Verhalten (langfristig)
Probleme erzeugt. Eine Person mit Persönlichkeitsstörungen kann
ihr eigenes Verhalten so gut wie gar nicht als problemdeterminierend wahrnehmen. Sie geht vielmehr konsequenterweise davon aus,
dass die Kosten andere Ursachen haben, auf die Partner zurückgehen oder auf die Lebensumstände. Somit veranlassen nicht einmal
(hohe) Kosten die Person dazu wahrzunehmen, dass ihr System ungünstig sein oder dass sie selbst ein Teil des Problems sein könnte.
Trotz hoher Kosten bleibt das System ich-synton!
Da immer erst positive Effekte eintreten, fühlen die Personen sich
zuerst einmal in ihrem Verhalten bestätigt. Eine Person mit ausgeprägtem Persönlichkeitsstil oder mit einer Persönlichkeitsstörung
gewinnt zwangsläufig zunächst den Eindruck, sich richtig zu verhalten, denn sie bekommt auf ihr Verhalten ja zuerst positive und verstärkende Rückmeldungen. Treten dann unangenehme Konsequenzen ein, ist es völlig naheliegend, diese den Interaktionspartnern
zuzuschreiben. Oder, je nach Persönlichkeitsstörung, die Person
nimmt an, dass die negativen Schemata stimmen, weil die negativen
Reaktionen der Partner das Schema bestätigen. Die logische Schlussfolgerung ist dann: »Dass ich jetzt vom Partner abgelehnt werde,
liegt daran, dass ich nicht wichtig bin und dass man in Beziehungen
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Repräsentation: Warum Klienten sich nicht als Teil des Problems sehen
ohnehin nicht respektiert wird.« Keinesfalls ist es naheliegend, die
»späten« Kosten jetzt noch auf das eigene Handeln zurückzuführen:
Das Verhalten war ja offensichtlich richtig, wie könnte es nun falsch
sein? Es ist daher ganz unwahrscheinlich, dass eine Person mit einem solchen Schema die späten negativen Folgen auf ihr Verhalten
zurückführt und denkt: »Ich mache wohl etwas falsch. Ich müsste
mal darüber nachdenken, ob ich etwas getan habe, um den anderen
zu verärgern.«
Diese Konstruktion hat noch eine sehr unangenehme Konsequenz:
Die Person lernt nicht aus Kosten oder aus negativem Feedback.
Sie macht ständig negative Erfahrungen, aber diese führen nicht
dazu, dass sie ihre Schemata oder Strategien revidiert, ja sie führen
nicht einmal dazu, die Person dazu zu veranlassen, über Schemata
oder Strategien nachzudenken. Was immer auch passiert und was
immer auch schiefgeht, die Person wird sich nie veranlasst fühlen,
ihr System zu revidieren. Weil das System »ich-synton« ist, haben
diese Personen bezüglich ihrer Schemata und Strategien kein »Störgefühl«.
Personen mit Persönlichkeitsstörungen haben entweder gar keine
oder nur eine geringe Repräsentation davon, dass sie ein Teil des
Problems sind.
»Keine Repräsentation« von einem Problem zu haben bedeutet,
das Problem nicht als Problem erkennen zu können. Damit ist das
System immunisiert. Auch diese hohe Resistenz gegenüber Erkenntnissen aus Erfahrungen hat früher dazu geführt, das Problem als
»Persönlichkeits«-Störung zu definieren.
Es ist sehr wichtig, dass Therapeuten die Konsequenzen, die sich
daraus ergeben, verstehen: So kann ein Klient mit einer histrionischen Störung ù immer wieder jammern und klagen (weil er das als
Strategie gelernt hat). Er tut dies auch dann, wenn seine Strategie gar
keine positiven Konsequenzen hat, weil er nämlich keine Alternative
dazu hat. Deshalb kann er auch nicht sehen, dass er sein System verändern, dass er seine Strategien kritisch hinterfragen muss. Und er
nimmt vom Therapeuten auch (zunächst) keine Ratschläge an (weil
er gar keine will und auch keine zu brauchen scheint) und weigert
sich, seine Anteile an dem Problem zu sehen. Der Klient sendet eine
Doppelbotschaft: Zum einen jammert er und macht deutlich, dass
er Hilfe braucht. Gleichzeitig nimmt er aber die vom Therapeuten
angebotene Hilfe nicht an.
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Personen mit
Persönlichkeitsstörungen
haben keinen Anlass, zu
denken, dass sie etwas
falsch machen könnten,
ihre Annahmen ungünstig
oder ihre Strategien
unangemessen sind.
û Histrionische Störung S. 68 ff.
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Charakteristika von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen
Therapeuten sollten wissen, dass Personen mit Persönlichkeitsstörungen
Doppelbotschaften senden, weil ihnen dies zwingend erscheint und sie
sich keine Alternative vorstellen können. Dieses Verhalten ist ein Teil der
Störung und muss vom Therapeuten verstanden und durch andere, neue
Strategien aufgelöst werden.
Eine Person mit Persönlichkeitsstörungen führt immer und immer
wieder ihre dysfunktionalen interaktionellen Strategien aus, die immer wieder dazu führen, dass sich Interaktionspartner zunächst einmal komplementär verhalten. Interaktionspartner reagieren z. B. auf
Ängste und Schmerzen zugewandt und geben der Person Aufmerksamkeit. Mit der Zeit aber haben die Partner das Gefühl, zu kurz zu
kommen, ausgebeutet zu werden, selbst von der Beziehung zu wenig
zu bekommen. Dann reagieren sie ärgerlich, mit Druck, oder ziehen
sich zurück – die Beziehung scheitert. Statt das sich immer wiederholende Scheitern als Signal zu sehen, dass sie etwas falsch macht,
interpretiert die Person das Scheitern hartnäckig als Fehler des Partners. Sie nimmt die Signale nicht zum Anlass zu prüfen, ob sie selbst
vielleicht etwas ändern sollte. Weil sie dies hartnäckig ablehnt, lernt
sie auch nicht aus Erfahrungen, macht dieselben Fehler immer und
immer wieder. Gewissermaßen sitzt sie in einer Falle, aus der sie in
der Regel nicht ohne Hilfe herauskommt!
Therapeuten müssen deshalb Geduld haben und Nachsicht üben.
Sie sollten versuchen, den Klienten zu verstehen, und ihm langsam
die Möglichkeit geben, sein Problem zu sehen, damit dieser dann
selbst die Entscheidung treffen kann, etwas zu ändern. Druck auf
den Klienten auszuüben bewirkt nur Gegendruck, Reaktanz: Der
Klient reagiert darauf lediglich »bockig«.
Eine Psychotherapie ist für diese Klienten besonders wichtig, weil
ihre Umwelt und Alltagserfahrungen nicht dazu führen, dass sie ihr
Verhalten revidieren. Die einzige Möglichkeit, die Störung zu verändern, besteht darin, dass Therapeuten und therapeutische Bezugspersonen diesen Klienten besondere Erfahrungen vermitteln, mit
deren Hilfe sie langsam ihre Strukturen modifizieren können. Die
vermittelten Erfahrungen müssen jedoch sehr gezielt, sehr spezifisch
sein, um die Klienten überhaupt zu erreichen. Sie müssen von Personen realisiert werden, die besonders geschult sind und eine spezielle
Art von Beziehung zu dem Klienten aufnehmen können.
Die erste Aufgabe des Therapeuten ist also, zusammen mit seinem
Klienten ein Problembewusstsein zu schaffen und eine Problemdefinition zu erarbeiten. Und dies ist eine wesentliche Aufgabe für alle,
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Geringe Änderungsmotivation als logische Konsequenz verstehen
die mit diesem Klienten zu tun haben. Therapeuten müssen – vorsichtig und abhängig davon, wie gut ihre Beziehung zum Klienten
ist – immer wieder auf die Kosten des Klienten aufmerksam machen.
Dem Klienten also immer wieder deutlich machen, dass er diese Kosten eigentlich nicht will, dass sie unangenehm und störend sind. Vor
allem aber müssen sie dem Klienten immer wieder deutlich machen,
dass er diese Kosten selbst erzeugt und dass seine Überzeugungen,
Ziele und Handlungen letztlich zu diesen Kosten führen. Das bedeutet aber, Therapeuten müssen Klienten mit Kosten und damit,
dass sie ihre Kosten selbst erzeugen, konfrontieren. Einen Klienten
zu konfrontieren heißt, ihn auf etwas aufmerksam machen, was er
selbst (noch) nicht erkennt oder was er nicht erkennen möchte.
Konfrontative Interventionen sind für den Klienten unangenehm
und belasten die Beziehung zum Therapeuten. Aus diesem Grunde
darf ein Therapeut solche konfrontativen Interventionen immer erst
dann realisieren, wenn er eine entsprechend tragfähige Beziehung
zum Klienten aufgebaut hat, wenn er also genügend »Beziehungskredit« hat.
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œ
Ohne tragfähige
Beziehung zum Klienten
keine konfrontativen
Interventionen!
Geringe Änderungsmotivation
als logische Konsequenz verstehen
Wenn Klienten kein Problembewusstsein haben und alle Kosten
äußeren Faktoren zuschreiben, also external attribuieren, dann bedeutet das auch, dass sie im Hinblick auf ihr System keinerlei Änderungsmotivation aufweisen (Sachse & Sachse 2010).
Wer nicht wahrnimmt, dass er selbst ein Teil des Problems ist, dass
er Kosten selbst verursacht, dass das eigene Handeln Ursache von
Problemen ist, der sieht auch keinen Grund, das eigene Handeln zu
ändern. Es fehlt die Motivation, darüber nachzudenken, was der
eigene Anteil an den Interaktionsproblemen ist, welche Aspekte des
eigenen Systems (der eigenen Schemata und Strategien) zu den Problemen beitragen und was geändert werden müsste und könnte, um
das Problem zu lösen und die Kosten zu reduzieren. Aus diesem
Grund sind Klienten mit Persönlichkeitsstörungen zu Therapiebeginn oft kaum änderungsmotiviert. Deshalb können sie dem Therapeuten zu Therapiebeginn auch keinen Arbeitsauftrag geben. Sie
definieren nicht, dass sie an Schemata, Strategien oder eigenem Verhalten etwas ändern wollen, dass sie diese Aspekte als problematisch
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Änderungsmotivation
und Arbeitsauftrag sind
keine Voraussetzungen,
sondern erste Ziele der
therapeutischen Arbeit.
Charakteristika von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen
wahrnehmen oder dass sie Ziele im Hinblick auf Veränderungen
haben. Diese Tatsache irritiert viele Therapeuten, die naiverweise
annehmen, Klienten, die in eine Therapie oder eine Klinik kommen,
müssten auch selbst einen Grund dafür sehen, etwas in ihrem Leben
oder an ihrem Verhalten ändern zu wollen. Genau das trifft aber für
persönlichkeitsgestörte Klienten im Hinblick auf ihre dysfunktionalen Schemata und Strategien nicht zu. Die Änderungsmotivation,
die Motivation, sich therapeutisch mit ungünstigen Schemata und
Strategien auseinanderzusetzen, muss durch die Therapie erst hergestellt werden.
Das bedeutet für alle Therapeuten, die mit persönlichkeitsgestörten
Klienten umgehen, dass sie sich überlegen müssen, wie sie dem Klienten langsam, Schritt für Schritt, deutlich machen können, dass er
ein Problem hat und dass es sich für ihn lohnen könnte, an einer Veränderung eigener Schemata und Strategien zu arbeiten. Therapeuten
sollten von diesem Klienten zu Therapiebeginn nicht erwarten, dass
er änderungsmotiviert ist, sondern müssen damit rechnen, dass der
Klient – im Gegenteil – motiviert ist, sein System zu stabilisieren.
Als Therapeut sollte man sich immer klarmachen: Wenn man von
einem Klienten erwartet, dass er zu Therapiebeginn sein Verhalten
ändert, dann erwartet man, dass er »vor der Therapie sein Problem
an der Garderobe abgibt«. Nicht der Klient muss sich auf den Therapeuten einstellen, sondern der Therapeut auf den Klienten!
Die Klienten kommen meist nicht wegen
der Persönlichkeitsstörung in Therapie
Da Klienten ihre Persönlichkeitsstörung als ich-synton erleben und
auch im Hinblick auf die Persönlichkeitsstörung nicht änderungsmotiviert sind, kommen sie nicht wegen der Persönlichkeitsstörung
in Therapie.
Die Gründe, aus denen sie kommen, sind die Kosten, die sie haben. Das können Ängste sein, die sie entwickelt haben und die sich
nun verselbstständigen, Depressionen, Interaktionskosten – wenn
Beziehungen zerbrechen – oder auch Somatisierungsstörungen, die
bedrohliche Ausmaße annehmen können. Diese Kosten veranlassen
die Klienten dann, in Therapie zu gehen. Der Auftrag für den Therapeuten lautet: »Reduzieren Sie meine Kosten, aber lassen Sie mich
ansonsten so, wie ich bin!« Was dem Auftrag entspricht: »Wasch
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Die Klienten kommen meist nicht wegen der Persönlichkeitsstörung
mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.« Ein anderer Grund, in
Therapie zu kommen, kann darin liegen, dass die Interaktionspartner der Klienten die Schwierigkeiten nicht mehr aushalten können
oder wollen und den Klienten »in Therapie treiben«, nach dem
Motto: »Entweder du tust was, um dich zu ändern, oder ich verlasse dich.« Diese Klienten gehen dann nicht in Therapie, um sich
zu ändern (denn das sehen sie ja gar nicht ein), sondern, damit der
Partner sie nicht verlässt – also, um dem Partner ein »Entgegenkommen« zu zeigen.
Diese Klienten sind zwar bereit, an der Reduktion der Kosten zu
arbeiten, aber nicht bereit, ihr »eigentliches« Problem zu bearbeiten – weil sie ihr Problem ja noch gar nicht erkennen. Und wiederum
muss ein Therapeut die Klienten »dort abholen, wo sie sind«, also
zunächst die Kosten analysieren und dem Klienten langsam deutlich
machen, dass es nicht möglich ist, die Kosten zu verändern, wenn
man nicht an grundlegenden Schemata und Strategien arbeitet. Klienten, die nur aus den angegebenen Gründen in Therapie kommen,
sind zwar motiviert, eine Therapie zu machen, sie sind aber deshalb
noch keineswegs änderungsmotiviert!
Diese Motivation stellt für Therapeuten ein schwieriges Problem
dar. Denn die Störungen, deretwegen die Klienten nun tatsächlich in
die Therapie kommen, sind meist funktional so eng mit den Aspekten der Persönlichkeitsstörung verbunden, dass sie ohne eine Bearbeitung der grundlegenden Schemata und Strategien nicht sinnvoll
therapeutisch bearbeitet werden können. Therapeuten können also
diese Symptome und Kosten gar nicht »wegmachen«, ohne dass sie
die grundlegende Persönlichkeitsstörung therapeutisch bearbeiten
(man kann eben niemanden waschen, ohne ihm den Pelz nass zu
machen). Wenn sie es dennoch versuchen, scheitern sie meist am
Widerstand des Klienten. Für die »eigentlich relevante« Störung erteilen die Klienten ihren Therapeuten meist keinen Arbeitsauftrag.
Der Therapeut sollte hier versuchen, zunächst durch komplementäres Handeln ù eine Beziehung zum Klienten aufzubauen, und dann
versuchen, über gezielte Konfrontationen ù langsam ein Problembewusstsein beim Klienten zu schaffen. Die Aufgabe des Therapeuten
ist in der Psychotherapie also, zusammen mit dem Klienten einen
Arbeitsauftrag im Hinblick auf die Aspekte der Persönlichkeitsstörung zu erarbeiten.
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û Komplementäres Handeln S. 50
û Konfrontatives Handeln S. 53
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