FamilienDynamik Dokumentenvorlage

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Gespiegelt
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Buchbesprechungen
Rudolf Klein (2014)
Lob des Zauderns. Navigationshilfe für die systemische Therapie
von Alkoholabhängigen
Heidelberg (Carl Auer Systeme),
229 S., € 29,95, ISBN 978-3-84970020-1
Rudolf Klein legt zwölf Jahre nach seinem beeindruckenden Buch „Berauschte
Sehnsucht“ erneut ein methodisch und
didaktisch schönes Werk vor. In seiner
systemischen Einführung in die Themen
Abhängigkeit und Selbstorganisation beschreibt er Alkoholabhängigkeit als eine
Form von Selbstregulationsmanagement
mit dem Ziel, unangenehme Einflüsse erträglicher zu machen oder/und angenehme Zustände noch angenehmer zu
gestalten: „Alkoholabhängigkeit ist das
Ensemble chronifizierter Lösungsversuche“ (S. 46). Was soll/muss gelöst werden? Mit der menschlichen Existenz sind
zwingend Krisen verbunden. Als
menschliche Individuen befinden wir
uns in einem permanenten Prozess von
Selbstschöpfung und Mündigwerden
und müssen uns immer wieder neuen Lebensphasen anpassen. „Die vorübergehende Berauschung in Krisen kann dann
ein probates Hilfsmittel darstellen, das
Erleben existenzieller Krisen abzumildern“ (S. 88). In der zugespitzten Form
werden die notwendigen Veränderungen
vermieden. Therapie heißt dann, diese
Prozesse wieder in den Blick zu nehmen
und anzugehen. Dies ist mit Angst und
Schmerz verbunden. Deshalb ist der Titel „Lob des Zauderns“ eine Aufforderung an die TherapeutInnenen, das Zaudern ihrer Klienten wertzuschätzen: „Ein
Reflexionsraum wird eröffnet, in dem
Menschen sich den Widernissen des bisherigen Lebens stellen und gleichzeitig
abwägen können, ob, und wenn ja, auf
welche Art der Mut zum Sprung riskiert
werden kann“ (S. 93).
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Klein hat ein Dreiphasenmodell des
Wandels entwickelt, in dem die Spezifik
des systemischen Ansatzes sehr deutlich
wird. Darin wird offensichtlich, dass sich
der Wandel nicht allein auf das Trinken
bezieht. Es geht darüber hinaus um Gewordensein, Selbstdefinition, Identität
und die soziale Einbindung (Familie
u.a.). In der jeweiligen Phase werden bestimmte Themen nacheinander abgearbeitet.
In der ersten Phase (Selbstregulation des
Trinkens) geht es um das Trinkverhalten,
die eigentliche Sucht-Therapie. Dabei ist
Abstinenz nicht als „festgesetztes“ Ziel,
sondern als eine von verschiedenen
Möglichkeiten im Diskurs, der vordringlich eine Problem-Lösungs-Balance
sucht und die Beziehung des Klienten zu
sich selbst thematisiert und fördert. Die
Herausforderung des Trinkverhaltens
wird zugespitzt mit der Frage: „Führen
Sie das Leben, das Sie führen wollen?“
Denn es gibt „gute Gründe“ zu trinken
und auch „gute Gründe“, das Nichttrinken zu vermeiden. Wichtig an der Tatsache, nicht ein bestimmtes Ziel vorzugeben, ist, dass durch Versuche die Erreichbarkeit unterschiedlicher Ziele (Reduktion, Abstinenz) praktisch ausprobiert
werden kann. So wird versucht, eine kooperative Beziehung zwischen KlientIn
und Therapeutin aufzubauen. Oft werden
erste Zielformulierungen im Prozess korrigiert. In dieser Phase kann es vorkommen, dass Klienten und Therapeuten gemeinsam zu der Einschätzung kommen,
dass es ohne eine stationäre Entwöhnungsbehandlung nicht möglich ist, Bewegung in das Trinkverhalten zu bekommen. Hilfsmittel sind da einerseits Trinktagebücher, aber auch das Ausprobieren
alternativer Verhaltensoptionen in
Drucksituationen wie kaltes Duschen,
Eiswürfel lutschen etc. (S. 129).
„Hat sich eine bessere Selbstregulation
des abhängigen Trinkens eingestellt, fokussiert die zweite Phase das Erleben
und damit die individuelle Geschichte
der Klienten“ (S. 99). Oft hat die Veränderung des Trinkverhaltens/der Wegfall
des Trinkens nicht nur positive Konsequenzen: „Klienten berichten von depressiven Verstimmungen, suizidalen
Ideen, sie fühlen sich überfordert, einsam, und gelegentlich mündet eine solche Phase in ein erneutes süchtiges Trinken“ (S. 161).
In diesem Therapieabschnitt geht es wie
in jeder Therapie um Brüche, Traumata,
Verluste und vermiedene Entwicklungsschritte. Dabei wird deutlich, dass es darauf ankommt, den passenden Zugang zu
den unterschiedlichen KlientInnen zu
finden. In Rudolf Kleins Praxis kommen
sowohl hypnotherapeutische, hypnosystemische, systemische wie auch narrative Ansätze zur Anwendung. Er passt
sie den individuellen Bedürfnis- und
Notlagen der KlientInnen an, so dass sie
einen Entwicklungssprung wagen können. Der Therapeut muss dabei das Zaudern respektieren und begleiten: „Ein gelingender Veränderungsprozess bedarf
immer der Zustimmung der Person, die
den Wandel vollziehen soll“ (S. 95). Am
Ende dieser Phase hat sich eine Stabilisierung in Bezug auf das Trinken ergeben. Bis dahin stand die individuelle Entwicklung des Klienten im Zentrum.
In der dritten Phase stehen dann systemisch-familientherapeutische Themen
im Vordergrund: Vertrauen, Misstrauen
und Beziehungsveränderungen. Es geht
um die Zukunft: (Wie) können die Klienten in ihren sozialen Systemen unter den
veränderten Bedingungen ihr Leben als
BeziehungspartnerInnen und Eltern
wahrnehmen? Nicht selten kommt es in
dieser Phase zu (schmerzhaften) Veränderungen: „Eine partielle, manchmal
auch radikale Umorganisation des sozialen Systems ist innerhalb oder als Folge
dieser Therapiephase zu erwarten“ (S.
183). Erst in dieser Phase scheint es sinnvoll, Angehörige in den Therapieprozess
miteinzubeziehen oder ihnen anzuraten,
sich selbst therapeutische Unterstützung
zu organisieren.
Tiefen Eindruck hinterlässt dieses Buch,
weil alle Prozesse anhand von vier Fall-
Gespiegelt
geschichten (ein arbeitsloser Hilfsarbeiter, ein Handwerksmeister, ein Manager
und eine Angestellte) in den unterschiedlichen Phasen und mit unterschiedlichen
Themen sehr verständlich und differenziert anschaulich gemacht werden. Am
Ende kommt es oft anders als am Anfang
gewünscht: KlientInnen, die kontrolliert
trinken lernen wollten, sind abstinent oder das Gegenteil ist der Fall. Im besten
systemischen Sinne haben sich die
Wahlmöglichkeiten erhöht. „So unterschiedlich die Ausgangsbedingungen der
vier Klienten auch waren, so interessant
sind die individuellen Entwicklungen.
Manche Impulse dazu gingen von den
therapeutischen Begegnungen aus. Manche kamen seitens der Familie oder des
erweiterten sozialen Systems. Manche
ergaben sich zufällig. Und manche bleiben unerklärlich und rätselhaft“ (S. 220).
Am Ende von zwölf Kapiteln hatte ich
den Eindruck: Rudolf Klein weiß über
systemische Therapie mit dem Thema
Sucht hervorragend Bescheid. Und dann:
„Gerade wenn man zu glauben beginnt,
einiges von der Dynamik der Alkoholabhängigkeit verstanden zu haben, ist eine
kritische Distanz den eigenen Konzepten
und Erfindungen gegenüber wünschenswert“ (S. 221). Eine solche zweifelnde
Einstellung ist eine modellhafte Selbstdefinition Systemischer Therapeutinnen.
Nicht nur wer mit Suchtthemen arbeitet,
findet in diesem Buch Anregungen und
Überraschungen. Eine kleine Verstörung
am Ende gehört ebenfalls dazu. Schade
ist, dass das Credo der Rehabilitationsund Suchtberatungseinrichtungen mit ihrem Postulat „ohne Abstinenz geht gar
nichts“ für diese systemische Herangehensweise nicht offen ist. Ein erster
Schritt in die richtige Richtung ist der
Beschuss des GBA, dass eine ambulante
Kurzzeitpsychotherapie auch ohne Abstinenz beginnen darf. Ihr Ziel muss jedoch laut Vorgabe sein, diese Abstinenz
in den ersten zehn Therapiesitzungen
herzustellen, ein Schritt in die richtige
Richtung, aber, wie dieses Buch eindrücklich zeigt, zu kurz gedacht.
Hans Schindler, Bremen
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