Ethische Konflikte in der Berufsberatung – was tun?

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Ethische Konflikte in der
Berufsberatung – was tun?
Hans-Dieter Schneider
Konfliktsituationen. Wie sie sich in solchen Fällen verhalten? Regeln
haben keine prinzipielle Gültigkeit, sondern sollten – angepasst an
Situation und Individuum – formuliert werden. Diese Erkenntnis vermittelte unter anderem eine Weiterbildungstagung an der Uni Freiburg.
An der Weiterbildungstagung an der informieren, bevor sich die Klientin
Universität Freiburg/Schweiz referier- oder der Klient entscheidet («informten eine Ethikerin, zwei Ethiker und ed consent») und Wahrheit. Als Vorbilder bezeichnete er Personen, deren
ein Psychologe zu dieser Frage.
Handeln in ähnlichen
Professor Jean Clauoder gleichen Situatiode Wolf von der Univernen Hinweise liefern,
sität Freiburg führte in
wie wir uns verhalten
das Thema ein. Er
könnten. Das können
bezeichnete zunächst
Lehrer, Kollegen und
die Berufswahl selbst als
Akteure im öffentlichen
ein ethisches Problem.
Leben sein. Allerdings
Aber auch in der Berawürde man deren Hantung durch die Berufsdeln nicht ungefragt kowahlexperten können
pieren, sondern gründethische Konflikte auflich überprüfen, ob es
kommen. Wer gehofft
FOTO:URSULA FÄSSLER
wirklich für die eigene
hatte, Wolf würde feste
Lage richtig sein könnte.
Regeln liefern, nach Prof. Jean Claude Wolf
Mit diesem Beitrag
denen sich die Beraterinnen und Berater richten können, wurde allen klar, dass feste Regeln,
wurde enttäuscht. Denn nach Wolf Rezepte und allgemeingültige Emphandelt die Person gut, die alle Folgen fehlungen von der Ethik nicht zu
ihres Tuns voraussieht und bewertet – erwarten sind, wohl aber Argumentaeine Aufgabe, die schlichtweg eine tionshilfen für spezifische und einmaÜberforderung darstellt. Als Ausweg lige Problemsituationen.
könne man einerseits die nach den
verfügbaren Informationen beste
Lösung auswählen und andererseits Komplexität des Alltags
gewisse Regeln und Vorbilder zu Rate
ziehen.
Dr. Walter Lesch vom InterdiszipliRegeln sind moralische Gebote nären Institut für Ethik und Menund Verbote, wie sie jede Kultur ent- schenrechte an der Universität Freiwickelt hat: Nichtschädigen, selb- burg griff die Klage auf, dass die
ständiges Handeln ermöglichen, die konkrete Wirklichkeit zu komplex ist,
Privatsphäre achten, für alle auf glei- als dass sie mit Regeln zu bewältigen
che Bedingungen Wert legen, voll wäre. Eine Antwort lieferte der Exis-
Hans-Dieter Schneider ist Inhaber des Lehrstuhls Angewandte Psychologie an der Universität Freiburg/Schweiz. An diesem Lehrstuhl werden Studierende parallel zu ihrem Studium in Angewandter
Psychologie in der Berufsberatung ausgebildet. Adresse: Rue de Faucigny 2, 1701 Fribourg
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tentialismus mit dem Postulat, dass
Normen wegen dieser Komplexität in
jedem Augenblick neu zu erschaffen
sind. Daher befinden sich die Handelnden aus dieser Sicht in einer radikalen Freiheit, wenn auch meist in
voller Einsamkeit.
Berufsberaterinnen und Berufsberater stehen daher immer in einer
Spannung. Auf der einen Seite haben
sie diese absolute Freiheit, in die sie
ihre besondere und einzigartige Situation jeweils neu einbringen und die
Gesamtvoraussetzungen bedenken
können. Auf der anderen Seite steht
der Wunsch zu helfen und damit rasch
zu handeln.
Diese Spannung sei vielleicht
durch eine «Modellethik» zu entschärfen. Unter Modellen verstand
Lesch «Verdichtungen von Entscheidungssituationen». In ihnen sind die
komplexen Voraussetzungen und die
daraus verantwortlich abgeleiteten
Handlungsweisen zusammengefasst.
Für die konkrete Entscheidung der
Berufsberaterinnen und Berufsberater
sei es trotzdem nötig, sich die Hintergründe in voller Klarheit bewusst zu
machen, damit eventuelle Besonderheiten berücksichtigt werden.
Von den Anwesenden wurde als
besonders hilfreich eine eher beiläufige Empfehlung erlebt, immer an die
Möglichkeit des «tertium datur», des
dritten Wegs, zu denken. Wenn eine
Entscheidung schon fast getroffen ist,
kann die Suche nach einem solchen
Prof. Hans-Dieter Schneider
FOTO:URSULA FÄSSLER
Wer in der Berufsberatung arbeitet, steht täglich vor ethischen
weiteren Weg Blockierungen lösen
und vielleicht zu einer noch besseren
Lösung führen.
Fachprobleme
Diese prinzipiellen Überlegungen
wurden konkretisiert durch Probleme
in der Arbeit von Psychologinnen und
Psychologen, wie sie Prof. Dr. Udo
Eigene Werte
Rauchfleisch von der Universität Basel
und ethisches Handeln
beschrieb. Er ging davon aus, dass wir
Auch Frau Dr. Anna Kusser hatte sich im individuellen Fall oft hilflos sind,
vorgenommen, das Verhältnis zwi- denn die Gründe für oder gegen
schen ethischen Prinzipien und indivi- Handlungsmöglichkeiten sind nur selduellem Handeln zu diskutieren. Die ten eindeutig.
Besonders oft stehen Psychologinethischen Prinzipien sind als allgemein
gültige Sätze zu betrachten, die auch nen und Psychologen – wie auch die
unabhängig von individuellen Werten Berufsberaterinnen und Berufsberater
– vor einem Machtdilemma, wenn sie ihre
Klientinnen und Klienten frei entscheiden
lassen wollen, aber die
für diese Entscheidung
grundsätzlichen Informationen
vielleicht
unwissentlich filtern.
Sie stehen auch in
einem Validitätsdilemma, denn bei sehr
guten d. h. sehr valiFOTO:CLAUDE GIGER
FOTO:URSULA FÄSSLER
den) Testinstrumenten
Prof. Dr. Udo Rauchfleisch
Dr. Anna Kusser
ist die Entscheidungsfür alle Personen, für alle Situationen freiheit der Klienten und Klientinnen
und für das gesamte Feld der Ethik eingeschränkt, weil das «richtige»
Verhalten schon mit der Diagnose vorzutreffen.
So empfiehlt beispielsweise der gegeben ist.
Möglicherweise können sich PsyUtilitarismus, das Glück der Mehrheit
sicherzustellen. Wenn das geschieht, chologinnen und Psychologen durch
müssen gelegentlich die Interessen Argumente für eine Mehrzahl von
einzelner Personen hinter den An- Handlungsweisen etwas aus der ethisprüchen der Vielen zurückstehen. schen Verantwortung herauswinden.
Kant forderte dagegen mit seinem Durch vermehrte Weiterbildung sikategorischen Imperativ, das indivi- chern sie sich maximales Können und
duelle Handeln müsse Grundlage für Wissen, das den Klienten eine optidas Handeln aller, also der Gesamtge- male Information garantiert. Die insellschaft, sein. Nur wenn das bejaht formierte Einwilligung («informed
werden kann, liege ein ethisch gutes consent») hat sich als Standardforderung durchgesetzt, so dass kein Klient
Handeln vor.
Sobald es zu Konflikten zwischen und keine Klientin ohne ausreichendiesen und weiteren Prinzipien und de Aufklärung zu einer Entscheidung
den Werten einer Person kommt, sind gedrängt wird. Die benutzte Sprache
nach Anna Kusser mehrere Lösungen sollte ethisch begründet werden,
denkbar: So können die ethischen denn auch unverständliche oder als
Prinzipien Vorrang haben oder die bedrohend erlebte Begriffe schränWerte der handelnden Person sind ken die Freiheiten der Klientinnen
wichtiger als die allgemeinen Prinzipi- und Klienten in unverantwortlicher
Weise ein.
en.
So sei das Handeln der BerufsbeDrittens könne aber auch die
Frage gestellt werden, ob die ethi- raterinnen und der Berufsberater
schen Prinzipien und/oder die indivi- immer konfliktbehaftet. Ein wissentliduellen Werte weiterentwickelt wer- cher Umgang mit diesen Konflikten
den können. In solchen Disharmonien und ein ständiges Bemühen um ein
liege daher eine Chance zur Fort- Handeln im Interesse der Klienten
und Klientinnen sei notwendig.
entwicklung.
Reaktionen der Praktiker
An diese schwierigen Hilfestellungen der Ethik-Experten schlossen
sich Aussprachen in Arbeitsgruppen
an. Dort wurden immer wieder die
politisch-finanziellen Voraussetzungen angesprochen, deren Beachtung
ethisches Verhalten nicht erleichtern.
Berufsberaterische Arbeit sei daher
eine Gratwanderung zwischen dem
vom individuellen Fall Geforderten
und dem politisch Möglichen. Es sei
daher nötig, «ökonomisch zu argumentieren und sozial zu handeln»,
also eine Sprache zu finden, die von
den politischen Instanzen verstanden
werde.
Eine abschliessende Podiumsdiskussion unter Regula Bassetti, Fortbildungsleiterin vom SVB, mit Heinrich
Summermatter vom BBT, Dr. Werner
Inderbitzin als Experten der Berufsberatung, Frau Dr. Evelyne Reich, der
Stellenleiterin des Bezirks St. Gallen,
und Roland Kunz aus Pfäffikon/SZ
zeigte, dass bei konkreten Problemen
die ethischen Dimensionen des politischen, Management- und Beratungshandelns leicht in den Hintergrund
treten und stattdessen sehr rasch
direkte Lösungen gesucht werden.
Die Tagung machte deutlich, dass
die bewusste Umsetzung ethischer
Überlegungen und der Umgang mit
den eigenen Werten in der Berufsberatung trotz aller ethischen Richtlinien
und Berufskodices noch nicht immer
zum Alltag gehören. Es lohnt sich
daher, die ethische Begründung konkreten Handelns zu üben und ein Hintergrundwissen zu erwerben, das Unsicherheiten der berufsberaterischen
Arbeit auf dieser Ebene vermindert.■
F
Conflits éthiques
dans la consultation en orientation
Lors d’une journée de formation continue à l’Université de Fribourg, des professionnels en orientation ont discuté la
question de leur comportement face au
dilemme éthique dans leur activité
quotidienne. Quatre exposés ont introduit le fait que, dans la pensée éthique,
les principes et les règles n’ont pas de
valeur en soi, mais qu’il faut les repenser entièrement en fonction de la situation concrète et individuelle. HDS/RA
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