Wissen Interdisziplinäre Forschung Ohne Zähne kein Biss Kaum eine medizinische Disziplin weist so viele Berührungspunkte mit anderen Wissenschaften auf wie die Zahnmedizin. Kaum eine macht so viele spektakuläre Entdeckungen und unterliegt gleichzeitig einem so raschen Wandel. Dabei könnte der moderne Mensch auch ohne Kauleiste überleben – allerdings nicht, ohne seinen sozialen Status zu riskieren … Zähne sind ein Statussymbol. Sie stehen für Jugendlichkeit, Fitness, Leistungsfähigkeit und eine positive Lebenseinstellung. Diese Zusammenhänge sind tief in unserer Evolution verwurzelt. Anfänglich diente das Kauorgan einzig der Nahrungsaufnahme. Doch dann entdeckten unsere Vorfahren einen weiteren, nützlichen Aspekt: Das Gebiss eignet sich hervorragend als Waffe zur Klanverteidigung. Wer „genug Biss hat“, seinen Feinden und rivalisierenden Artgenossen überzeugend die Zähne zeigen kann, der ist der Boss. Das gilt bis heute. Ohne Zähne sehen wir alt aus, wirken sprach- und gesichtslos. In einer Zahnlücke glauben wir einen niedrigen sozialen Status zu erkennen, für einen „zahnlosen Tiger“ haben wir nur ein mildes Lächeln übrig. ZAHNMEDIZIN EIN LEBEN LANG Anders als viele andere medizinische Disziplinen zieht sich die Zahnmedizin durch alle Altersgruppen, Geschlechter und sozialen Schichten. Durch richtiges Stillen werden Säuglinge vor Kieferdeformationen bewahrt, im Kindesalter kümmern sich Zahnmediziner um den Erhalt der Milchzähne. Voll bezahnte Jugendliche und Erwachsene gehören ebenso selbstverständlich zur Klientel wie Senioren, die unter Zahnverlust leiden. Und so prägt der demographische Wandel auch zunehmend die Forschungsschwerpunkte. „Die Menschen werden immer älter, unsere Zähne sind dafür aber gar nicht konzipiert“, erklärt Prof. Jürgen Willer, Leiter des Departments für Interdisziplinäre Zahnmedizin an der Donau-Universität Krems. „Im Vergleich zu früheren Jahren verzeichnen wir bei Kindern und Jugendlichen einen deutlichen Rückgang des Kariesbefalls. Trotzdem erwarten wir für die nächsten 20 bis 30 Jahre einen steigenden Bedarf an Zahnersatz.“ Und so bilden „die Dritten“ einen klaren Schwerpunkt der Forschungsarbeit. Die Bedeutung von Füllungen und Kronen im Vergleich zu Prophylaxe und Implantologie tritt demgegenüber in den Hintergrund. ÄSTHETISCH UND ERSCHWINGLICH In den USA spricht man bereits von den sogenannten „Young Olds“ und den „Old Olds“. Senioren der ersteren Gruppe sind vermögend und fit. Sie fahren Cabrio, spielen Golf, nehmen aktiv am sozialen Leben teil. Prothesen passen nicht in dieses Selbstverständnis. Diese Klientel will einen hochwertigen, festsitzenden und häufig implantatgetragenen Zahnersatz, der sich laut Jürgen Willer wie folgt definiert: „Ästhetik und Verträglichkeit müssen beim Zahnersatz stimmen, gleichzeitig muss er hoch funktionell und gut zu reinigen sein. Um eine größere Patientengruppe zu erreichen, sind zudem auch die Kosten von Bedeutung. Je günstiger die Herstellung, desto mehr Betroffene können darauf zurückgreifen.“ All diese Anforderungen machen deutlich, wie viele interdisziplinäre Schnittstellen die Zahnmedizin aufweist. Sie besitzt, wie schon der Name sagt, sowohl ein technisches als auch ein medizinisches Standbein. Werkstoffkunde, Verfahrenstechnik und Bioverträglichkeit sind nicht nur für den Zahnersatz relevant. Auch Füllungen, Kronen und Brücken müssen beständig, biokompatibel und wirtschaftlich herzustellen sein. In diesem Schnittpunkt berühren sich Metallogie, Mineralogie, Biologie, Biochemie, das Ingenieurwesen und die Informationstechnologie. Jürgen Willer Vizerektor und Leiter Department Interdisziplinäre Zahnmedizin und Technologie, Donau-Universität Krems Text Hans-Peter Bayerl Foto Donau-Universität Krems/Andrea Müller, KaVo Dental GmbH upgrade 17 Wissen Jürgen Willer Univ.-Prof. Dr. Jürgen Willer leitet seit Oktober 2005 das Department für Interdisziplinäre Zahnmedizin und Technologie an der DUK. Vor seiner Berufung zum Gastprofessor im Jahr 2003 lehrte und forschte Jürgen Willer an der Medizinischen Hochschule Hannover im Bereich CAD/CAMTechnologie und Biomaterialien. Seine Forschungsarbeit mit der Steinbeis-Stiftung des Landes Baden-Württemberg und der Technischen Universität Stuttgart brachte zahlreiche Patente hervor, darunter Verfahren zur Herstellung von Zahnersatz. Neben der Lehre engagiert sich Jürgen Willer in zahlreichen Gremien. Er ist unter anderem Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (ÖGZMK) in Niederösterreich. Zwischen den Zeilen Die Donau-Universität Krems unterhält im Bereich der Zahnmedizin zahlreiche internationale Partnerschaften. Hierzu zählen deutsche, italienische, französische, japanische und US-amerikanische sowie zunehmend osteuropäische Universitäten. Darüber hinaus bestehen auch Kooperationsprojekte mit Firmen aus der Dentalindustrie. Diese Unternehmen leisten wichtige werkstoffkundliche und verfahrenstechnische Grundlagenforschung. Im Gegenzug profitieren sie vom Zugang der Donau-Universität Krems zu einer von bisher keiner Institution erreichten Anzahl klinischer Fälle, die von praktizierenden und spezifisch fortgebildeten Medizinern und deren thematisch und wissenschaftlich passenden Masterarbeiten herrühren. Aktuell gibt es 16 Master of ScienceStudiengänge im Bereich Zahnmedizin mit knapp 800 Teilnehmern und 1.090 erfolgreichen Abschlüssen. 18 upgrade NACHGEZÜCHTET … Auf der medizinisch-chirurgischen Seite bilden insbesondere die Implantologie und die Gewebezüchtung aktuelle Forschungsschwerpunkte. „Feste Implantate werden aufgrund des höheren Tragekomforts immer beliebter“, berichtet Willer und verweist auf die fachübergreifende Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Prof. Stefan Nehrer, Leiter des Zentrums für Regenerative Medizin an der Donau-Universität Krems. Im Rahmen des „Tissue Engineering“ werden dort körpereigene Gewebezellen gezüchtet. Dieses Gewebe lässt sich hochverträglich und dauerhaft implantieren. Gemeinsam mit dem Zentrum für Biomedizinische Technologie von Prof. Dieter Falkenhagen untersucht Willer auch neue Materialien und Verfahrenstechniken. Mit Prof. Michael Brainin vom Department für Klinische Medizin und Präventionsmedizin gibt es gemeinsame Projekte im Rahmen epidemiologischer Untersuchungen. „Kariesbildung und entzündliche Parodontalerkrankungen wirken sich negativ auf die allgemeine Gesundheit und Fitness aus. Wie die Raucher zählen auch die Parodontosepatienten zu den Risikogruppen.“ Je mehr Krankheitserreger im Mund auftreten, desto höher ist das Risiko einer Entzündung des Herzmuskels (Myokarditis) oder der Herzinnenhaut (Endokarditis). Berührungspunkte zur Komplementärmedizin gibt es bei der Akupunktur. … UND ZERKNIRSCHT Auch mit dem Department für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie von Prof. Anton Leitner finden sich disziplinübergreifende Projekte, zum Beispiel ein alter Feind der Zahnmediziner: das Zähneknirschen. „Diesem psychosomatischen Phänomen ist selbst der härteste Werkstoff nicht gewachsen, obgleich wir dank computerunterstützter Verarbeitungsverfahren heute extrem harte Keramiken verwenden können. Füllungen, Kronen und Brücken aus Zirkonoxid zum Beispiel. Solche hochfesten Keramikwerkstoffe lassen sich manuell gar nicht mehr bearbeiten“, erklärt Willer. Auch deshalb stellen automatisierte, abrasiv arbeitende Verfahrenstechniken einen wesentlichen Trend in der Zahnmedizin dar. „Durch diese technischen Hilfen können wir hohe Folgekosten vermeiden, die durch winzige Spalte und anschließende Kariesschäden entstehen und in der Regel erst nach etwa drei Jahren zu erkennen sind.“ Ebenfalls zukunftsweisend: das Roboting. Dabei ermitteln Computerprogramme die Idealpositionen von Implantaten, Navigationshilfen erleichtern das passgenaue Einsetzen. GENAUER UND SCHNELLER Auch die Diagnostik trägt in großem Umfang zur Verbesserung der Behandlungsqualität bei. „Vor allem die Bildgebung macht große Fortschritte. Wir werden in Zukunft dreidimensionale Bilder generieren, die wir auf rein elektronischer Basis und damit bei minimaler Strahlenbelastung erzeugen können. Die Vernetzung über das Internet gestattet uns ferner, innerhalb kurzer Zeit eine zweite Meinung von Topspezialisten weltweit einzuholen.“ Auch die Ästhetik macht Fortschritte: Die Materialien werden immer farbbeständiger, aufgrund der neuen Verarbeitungsmöglichkeiten und der damit verbundenen höheren Haltbarkeit aber auch kostengünstiger. Solch gravierende Veränderungen werden natürlich auch Auswirkungen auf die Leistungen der Krankenkassen haben. Willer ist davon überzeugt, dass die Kassen ohne entsprechenden Qualifikationsnachweis bald keine Zuschüsse für bestimmte Maßnahmen mehr gewähren werden. „Das Auffrischen des Wissens durch Masterlehrgänge und Fortbildungen wird absolut zwingend sein. Auch die Spezialisierungen werden zunehmen, weil die Zahnärzte das komplette Portfolio nicht mehr abdecken können.“ HOCHQUALIFIZIERT Früher reichte das Grundstudium viele Jahre aus, bis schließlich der Kassensitz abgegeben und die berufliche Tätigkeit eingestellt wurde. „Das läuft heute so nicht mehr“, betont Willer. „Für Zahnmediziner ist die Weiterbildung eine ethischmoralische Pflicht. Sie sollte sogar gesetzlich verankert sein, denn speziell in der Zahn-, Mundund Kieferheilkunde vollzieht sich ein kontinuierlicher und rasanter Wandel. Es kann nicht sein, dass Verfahren angeboten werden, die längst überholt sind, oder neue Methoden nicht angeboten werden, die das Leben für alle Beteiligten angenehmer machen würden.“ LITERATUR UND LINKS Zeitschrift Stomatologie, Springer Verlag KG Österreichische Gesellschaft für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde ÖGZMK www.oegzmk.at Zeitschrift Forschung und Lehre www.forschung-und-lehre.de Die Zahnarzt Woche (DZW) www.dzw.de