Vorlesung Basiswissen WS 2013/14 6. Februar 2014 Gilles de la Tourette Syndrom Dr. med. Elisabeth Mayer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Diagnostik V. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - Tiefenhirnstimulation - medikamentöse Therapie Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Diagnostik IV. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - Tiefenhirnstimulation - medikamentöse Therapie Georges Albert Edouard Brutus Gilles de la Tourette 1857-1904 Behandlungszimmer von Dr. Gilles de la Tourette in der Rue l'Université 39 in Paris Historischer Überblick Wahrscheinlich aufgrund der Seltenheit, vielleicht auch aufgrund seiner Rätselhaftigkeit, findet sich eine ausführliche Beschreibung der Erkrankung erst im 19. Jh. Der französische Neurologe Jaques Itard beschrieb 1825 eine Patientin adeliger Herkunft, die Marquise de Dampierre, die sowohl unter vokalen als auch motorischen Tics litt. „Frau v. D…, derzeit 26 Jahre, war, im Alter von 7 Jahren, … krampfhafte Kontraktionen der Hand- und Armmuskeln, die sich vor allem in den Augenblicken einstellten, in denen das Kind versuchte zu schreiben… Man sah in dem Ganzen zuerst noch eine Art Lebhaftigkeit oder Übermut, die, als sie sich mehr und mehr wiederholten, zum Grund für Tadel und Bestrafung wurden, aber bald gewann man die Gewissheit, dass diese Bewegungen unwillkürlich und krampfhaft waren und man sah daran auch die Muskulatur der Schultern, des Halses und des Gesichtes teilnehmen. Die Erkrankung schritt weiter fort, die Spasmen breiteten sich auf die Stimm- und Sprechorgane aus, diese junge Person hörte man bizarre Schreie und Worte ausstoßen, die überhaupt keinen Sinn ergaben, aber alles ohne dass ein Delirium vorgelegen hätte…, Jaques Itard, Dt. Übersetzung von Rothenberger, 1992 ….. ohne irgendeine geistig-seelische Störung. So kann es vorkommen, dass mitten in einer Unterhaltung, die sie besonders lebhaft interessiert, plötzlich und ohne dass sie sich davor schützen kann, sie das unterbricht, was sie gerade sagt oder wobei sie gerade zuhört und zwar durch bizarre Schreie und durch Worte, die sehr außergewöhnlich sind und die einen beklagenswerten Kontrast mit ihrem Erscheinungsbild und ihren vornehmen Manieren darstellen; die Worte sind meistens grobschlächtig, die Aussagen obszön und, was für sie und die Zuhörer nicht minder lästig ist, die Ausdrucksweisen sind sehr grob, ungeschliffen, oder beinhalten wenig vorteilhafte Meinungen über einige der in der Gesellschaft anwesenden Personen…“ Dt. Übersetzung von Rothenberger, 1992 Epidemiologie - Jungen : Mädchen 4:1 - Früher allgemein akzeptierte Prävalenzzahlen: 0,5/1000 (Bruun, 1984) - In allgemeiner Schulpopulation 0,7% (1990,1999, 2003) - Alle Ticstörungen zusammen bis zu 7% (Banarjee 1998, Mason 1998, Khalifa 2003) Schwedische schulbasierte Untersuchung: - Schulkinder im Alter 7-15 Jahre - 4.479 Kinder und ihre Eltern füllten Fragenbogen aus - Interview und klinische Untersuchung nach Screening: 290 Kinder (190 Jungen, 107 Mädchen) hatten Tics nach DMS-IV 0,6% TS 0,8% chron. motor. Ticstörung 0,5% chron. vokale Ticstörung 4,8% transiente Tics Zusammen: 6,6% hatten Tic-Störung im letzten Jahr Khalifa, Dev Med Child Neurol Mai 2003 Psychopathologie der Kinder mit Tic Störungen in dieser schulbasierten Untersuchung Von 4,479 Kindern 25 34 24 214 Tourette Syndrom (TD) Chronisch motorische Tic-Störung (CMT) Chronisch vokale Tic-Störung (CVT) Vorübergehende (transiente) Tic-Störung (TT) 3 Stufen Protokoll: Tic screening, Telefon-Interview, klinische Untersuchung Die 25 Kinder mit TD wurden verglichen mit 25 Kindern aus der TT-Gruppe und 25 gesunden Kontrollen. Bei 92% der Kinder mit vollem Tourette Syndrom wurden Psychiatrische Komorbiditäten gefunden: Am häufigsten ADHS. Kinder mit CVT waren ähnlich häufig betroffen wie Kinder mit TD. Aggressive Verhaltensweisen am häufigsten bei TD. Khalifa N, von Knorring AL, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2006 Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Diagnostik V. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - Tiefenhirnstimulation - medikamentöse Therapie DEFINITION nach ICD 10 Internationales Klassifikationssystem der WHO Nach ICD 10 werden folgende primäre Tic-Störungen unterschieden: F95.0: vorübergehende Tic-Störung (Dauer < 12 Monate) F95.1: chronische motorische oder vokale Tic-Störung (Dauer > 1 Jahr, nur motorische oder nur vokale Tics) F95.2: kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Gilles de la Tourette-Syndrom, TS) F95.8: sonstige Tic-Störungen F95.9: Tic-Störung, nicht näher bezeichnet Eine vorübergehende Tic-Störung kommt praktisch nur bei Kindern vor. Meist bestehen nur gering ausgeprägte einfache motorische Tics, sodass in der Regel keine Behandlung notwendig ist. DSM V (APA, 2013) (www.dsm5.org) The work group is recommending that this disorder be classified as a Neurodevelopmental Disorder or another similar grouping of disorders. A: Both multiple motor tics and one or more vocal tics have been present at some time during the illness, although not necessarily concurrently. (A tic is a sudden, rapid, recurrent, nonrhythmic motor movement or vocalization.) B. The tics occur many times a day (usually in bouts) nearly every day or intermittently throughout a period of more than one year, and during this period there was never a tic-free period of more than 3 consecutive months. The tics may wax and wane in frequency but have persisted for more than 1 year since first tic onset. C. The onset is before age 18 D. The disturbance is not due to direct physiological effects of a substance (e.g. stimulants) or a general medical condition (e.g. Huntington’s disease or postviral encephalitis) The disturbance is not due to the direct physiological effects of a substance (e.g., cocaine) or a general medical condition (e.g., stroke, Huntington’s disease, postviral encephalitis) SYMPTOMATIK Das TS ist gekennzeichnet durch - multiple motorische und mindestens einen vokalen Tic - Beginn vor dem 18. Lebensjahr, - eine Erkrankungsdauer > 1 Jahr, - Fluktuationen der Tics im Verlauf und den Ausschluss anderer Erkrankungen. Hingegen ist die Schwere der Tics irrelevant. SYMPTOMATIK Motorische Tics: Klinisches Erscheinungsbild Einfache motorische Tics: - Augenblinzeln Augenzwinkern Gesichtsgrimassen Mundöffnen Augenrollen Stirnrunzeln Kopfschütteln Kopfnicken Schulterzucken Zwerchfelltics Bauchtics Rumpftics SYMPTOMATIK Komplexe motorische Tics: Hüpfen Treten Springen Stampfen Klopfen Kreisen Kratzen Beißen Schlagen Echopraxie Kopropraxie SYMPTOMATIK Einfache vokale Tics: - - Räuspern Hüsteln Schnäuzen Spucken Grunzen Bellen In- und exspiratorische Atemgeräusche Komplexe vokale Tics: - Schreien Summen Pfeifen Palilalie Echolalie Koprolalie Was verbessert Tic Symptome? - Schlaf (Tics verschwinden nahezu immer) - Beschäftigung, die fokussierte Aufmerksamkeit erfordert oder auch gezielte motorische Kontrolle, wie zum Beispiel Fahrrad fahren, Tischtennis spielen, ein Musikinstrument spielen - Entspannung (unterschiedlich) - verbale Instruktion Tics zu unterdrücken, besonders wenn es mit Belohnung einhergeht - Während und nach sportlicher Aktivität (normalerweise verschwinden die Tics oder sind zumindest deutlich weniger stark) Was verstärkt Tics? - Streß (50-90%) - Schulbeginn nach den Ferien (60-70%) - selbst ängstlich oder aufgeregt sein, oder sehen, dass ein enger Angehöriger so empfindet (80-90%) - Aufregung: das erste Mal ins Legoland, Geburtstage, Feiertage, insbesondere Weihnachten (Aufregung vor Geschenken) (60-70%) - aufregende, hochspannende Filme (Kino) oder Theater oder Actionfilme im Fernsehen (fast immer) - Erschöpfung (50-75%), Müdigkeit, aber noch nicht so müde um einzuschlafen (fast immer) - Allein sein, einsam fühlen (40-50%) - Stillarbeit in der Schule, Leseaufgaben - Über Tics sprechen, Tics sind suggestibel (fast immer) - Menstruation (bei manchen Frauen) - Essen - Kaffee trinken (nur bei einigen Individuen mit Tics) - sich heiß fühlen, heiße Außentemperaturen Besonderheiten von Tics Schwankungen in Intensität, Häufigkeit, Lokalisation Vorgefühle („premonitory urge“) Echophänomene „genau richtig“ Gefühle („just right phenomenon“) andere „Hypersensitäten“ (Berührungsempfindlichkeit, Hyperakusis) Intensität des Vorgefühls Je dunkler die Farbgebung, desto intensiver und häufiger wurden Vorgefühle angegeben. N=135 From: Leckman JF, Walker DE, Cohen DJ: Premonitory urges in Tourette syndrome, Am J Psychiatry 1993; 150:98-102. From: Leckman JF, Cohen DJ: Tourette Syndrome: Tics, Obsessions, Compulsions -Developmental Psychopathology and Clinical Care. New York: John Wiley and Sons, 1998a. Im natürlichen Verlauf des TS treten meist zuerst motorische Tics im Alter von 3 bis 8 Jahren auf, d.h. oft mehrere Jahre bevor dann vokale Tics hinzukommen (Jankovic, 2001). Bei 96% der Kinder hat sich die Erkrankung bis zum 11. Lebensjahr manifestiert. In der Mehrzahl der Fälle erreicht die Symptomatik ihren höchsten Schweregrad in der ersten Hälfte der zweiten Lebensdekade, um das 12. Lebensjahr, um dann in der Adoleszenz deutlich abzunehmen. Die Angaben, wie viele jugendliche TS Patienten die Symptomatik tatsächlich verlieren, schwanken allerdings erheblich (50-80%). TS: Nicht nur Tics ADHS 35-90%, Ehrenberg 2005 Jancovic, N Engl J Med 2001 TS: Nicht nur Tics ADHS 35-90%, Ehrenberg 2005 Jancovic, N Engl J Med 2001 Häufige Begleiterkrankungen ADHS Zwangsstörungen Angststörungen (generalisierte Angststörung, soziale Phobie, Panikattacken) Affektive Störungen (Depression) Aggressive Verhaltensweisen (mangelnde Inhibition) Selbstverletzendes Verhalten Tourette – nicht nur Tics Kinder mit Tourette leiden häufig unter - Impulsivität, Ablenkbarkeit, Hyperaktivität - Trotzverhalten, Argumentieren, Autoritäten infrage stellen - geringe Frustrationstoleranz, explosive Ausbrüche - Zwangsverhalten - Angst und Depression - Lernproblemen Nicht-Wissen verzögert Diagnose ! „dem Kind einen Namen geben“ Je früher die Diagnose gestellt wird, desto bessere Unterstützung kann erfolgen. 314 Kinder mit Tourette Syndrom Systematische Interviews über den diagnostischen Prozess Symptombeginn war im Durchschnitt mit 3 Jahren Bei 40 % waren Tics der Vorstellungsanlass. In den anderen Fällen ADHS, Zwang oder Verhaltensprobleme. Durchschnittsalter des Beginns der Tic-Symptomatik 5,5 Jahre. Wenn weitere Komorbiditäten bestanden, traten Tics im Durchschnitt deutlich früher auf (0-3,5 Jahren). Das Durchschnittsalter bei Diagnose lag bei 8,9 Jahren. Durchschnittlich lagen von Beginn der Symptome bis zur Diagnose 5,3 Jahre. Zwischen Auftreten der ersten Tics und Diagnose ~ 2,8 Jahre. Mol Debes NM, Hjalgrim H, Skov L, Neuropediatrics 2008 Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - Tiefenhirnstimulation - medikamentöse Therapie Genetik, Epigenetik, Risikofaktoren Familienanamnese: Verwandte 1. Grades haben ein Risiko von 5-15%, Irgendeine Form von Tic (transiente, milde) 10-20% Prä- und perinatale Anamnese Psychosozialer Stress in der Schwangerschaft, Nikotin, Intrauterine Wachstumsretardierung Frühgeburtlichkeit, Hypoxie perinatal (Apgar-Index) Immunologische Dysregulation Infektionen (PANDAS, beta-hämolysierende Streptokokken der Gruppe A, GABHS) PANDAS = pediatric autoimmune neuropsychiatric disorder associated with strep) Stress, Stresssensitivität Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821 Neuner & Ludolph 2009 Neuner & Ludolph 2009 Folgen in der weiteren Entwicklung: „Meine Lehrerin wollte mir nicht glauben, dass ich das Kopf-Wackeln nicht absichtlich mache. Und dann musste ich mich während der Unterrichtsstunde mit einem Buch auf dem Kopf hinstellen und für jedes Mal, dass das Buch herunterfiel, hat sie mir eine Seite Strafarbeit gegeben…“ (Bericht eines 12jährigen Schülers mit Tourette-Syndrom, 21. Jahrhundert) „Das ist so schlimm, ich geh da nicht mehr hin…..“ (13jähriger Junge, Schulverweigerung bei massiver Exazerbation seiner vokalen Tics mit stark ausgeprägter Koprolalie) „Ich dachte, ich bin das gestörteste Kind auf der ganzen Welt….“ (37jährige Mutter mit Tourette Syndrom bei der Vorstellung ihrer beiden kleinen Mädchen, 6 und 8 Jahre alt, aufgewachsen in einem serbischen Dorf) Angst und Scham als Folgen Berechtigte Angst vor Spott aufgrund der Tics und Schamgefühle sind sehr häufig bei Kindern mit chronischen Tic-Störungen und TS zu finden. Personen mit Tic-Störungen erfahren oft soziale Ausgrenzung, da die Tic-Symptomatik von anderen Personen meist als sehr fremd und bizarr wahrgenommen wird und Betroffene demzufolge abgelehnt werden (Marcks 2007). Daher kann es bei entsprechenden Umständen und ungenügender Aufklärung der Umgebung sekundär auch zu ausgeprägten Angststörungen reaktiv zur Tic-Symptomatik kommen, für die möglicherweise auch zusätzlich eine genetische Disposition besteht (Coffey 2000). Ludolph & Kassubek, Ticstörungen und Tourette Syndrom. In: Adoleszenzpsychiatrie: Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters von Jörg M. Fegert, Annette Streeck-Fischer, und Harald J. Freyberger. 2009 Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Diagnostik V. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - Tiefenhirnstimulation - medikamentöse Therapie DIAGNOSTIK I Psychiatrische Anamnese des Kindes Psychopathologischer Befund Fremdanamnese der Bezugspersonen Familiengespräch Körperlich – neurologische Untersuchung EEG, EKG, (MRT), Labor Anamnese: Familienanamnese: genetische Belastung Risikofaktoren in der Schwangerschaft: psychosozialer Stress (Cortisolausschüttung, epigenetische Beeinflussung der embryonalen HPA Achse, veränderte Cortisol-Rezeptor-Expression) Nikotin- oder Alkoholkonsum, Substanzkonsum Medikamenteneinnahme Geburtsanamnese: Frühgeburtlichkeit, Hypoxie, Apgar-Index, Nabelschnur-pH DIAGNOSTIK II Testpsychologische Untersuchungen: - Leistungstests: Intelligenztests (PSB, WISC, WIE) – Aufmerksamkeitstests (d2, Ki-TAP) Fragebögen: – YSR / CBCL / TRF – ADHS – Fragebogen (FBB, SBB, DYSIPS, Döpfner, Köln) PSB Prüfsystem für Schul- und Bildungsberatung, WISC Wechsler Intelligence Scale for Children - Version IV, dt. Version Petermann & Petermann WIE Wechsler Intelligenztest für Erwachsene, ab 16 Jahren DIAGNOSTIK III Standardisierte Interviews - Kiddie-SADS (Standardisiertes Interview) - YGTSS (Yale Global Tic Severity Scale) - CYBOCS (Children's Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale) Spezifische Fragebögen: - PUTS – Premonitory Urge for Tics Scale - The Gilles de la Tourette Quality of Life Scale (GTS-QOL) - Yale Tourette Syndrom Symptomliste Weitere Fragebögen - DIKJ, BDI, FAS (Depressions- und Angstfragebogen) Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Diagnostik V. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - Tiefenhirnstimulation - medikamentöse Therapie Tourette – nicht nur Tics Kinder mit Tourette leiden häufig unter - Impulsivität, Ablenkbarkeit, Hyperaktivität - Trotzverhalten, Argumentieren, Autoritäten infrage stellen - geringe Frustrationstoleranz, explosive Ausbrüche - Zwangsverhalten - Angst und Depression - Lernproblemen Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821 Warum Elterntraining bei Kindern mit Tourette Syndrom? Tics are unwillkürlich Impulsivität, Aggression, Argumentieren, geringe Frustrationstoleranz Non-Compliance sind nicht unwillkürlich Bei Kindern/Jugendlichen mit unwillkürlichen Tics taucht die Frage auf “Was kann das Kind kontrollieren?” Je unsicherer die Eltern, desto inkonsistenter ihr Erziehungsverhalten! Je stärker die elterliche Kompeten Sicherheit im Umgang mit den Kindern/Jugendlichen Jugendliche: “Was ist unter meiner Kontrolle und was nicht?” offensive dezidierte Aufklärung über TS Einstellung zu erkrankten Personen verändert sich soziale Ausgrenzung wird minimiert Folgeerscheinungen wie soziale Phobie der Patienten treten nicht auf oder sind deutlich geringer. Marcks et al. (2007) Roessner et al., 2011 Verhaltenstherapie Habit reversal training = Gewohnheitsumkehrtraining (Azrin und Nunn, 1973, primär für Nägelkauen, Daumenlutschen, Trichotillomanie) - Wahrnehmungstraining - Training im Umgang mit unvorhersehbaren Ereignissen - Entspannungstraining - Identifizieren und Erlernen eines Alternativverhaltens - Automatisierung und Generalisierung dieses Alternativverhaltens Verhaltenstherapie Exposure and response prevention (Verdellen et al., 2004) Zielt darauf ab den Automatismus zu durchbrechen, dass einem Vorgefühl („premonitory urge“) auch immer ein Tic folgen muss. Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT) (Piacentini, Woods, Scahill,…. Walkup, JAMA 2010) Leicht bis mittelgradig betroffene Kinder/Jugendliche, Effektstärke 0,68 Frühere klinische Ratschläge Aktuelle klinische Ratschläge Tics ignorieren Tics mehr gewahr werden Tics können nicht kontrolliert werden lernen mit Tics umzugehen nicht bestrafen Erfolgreiches Management belohnen Verhaltenstherapie hilft nicht Einsatz von verhaltenstherapeut. Strategien Nicht versuchen Tics zu unterdrücken Tics können durch fokussierte Aufmerksamkeit kontrolliert werden, konkurrierende Verhaltensantworten helfen dem Vorgefühl zu widerstehen und so den negativen Verstärkungskreislauf zu durchbrechen. Unterdrückung verschlechtert die Tics bis sie „explodieren“ Tics können erfolgreich durch Verhaltensstrategien ohne Rebound Phänomen kontrolliert werden Ticunterdrückung verschlimmert das Vorgefühl Das Vorgefühl wird sich vermindern Es entwickeln sich neue Tics, wenn Tics unterdrückt werden Tics entwickeln sich nicht aus Ticunterdrückung oder Verhaltensstrategien Tics haben keine psychische Bedeutung, es handelt sich um eine neurologische Störung Tics können kommen und gehen, in Assoziation mit Stress, Aufregung, Veränderungen von Umweltfaktoren und/oder Aufmerksamkeit durch andere Personen. Nach Bennett et al., 2013 Gliederung Gliederung I. Historie und Epidemiologie II. Definition und Symptomatik III. Pathophysiologie IV. Diagnostik V. Therapie - Psychoedukation (Familie, Umfeld) - psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe) - Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie) - Tiefenhirnstimulation - medikamentöse Therapie Gliederung Gliederung Medikamentöse Therapie: - Neuroleptika und andere Optionen - Psychostimulanzien und Tics - Aripiprazol - neue medikamentöse Therapieansätze Medikamentöse Therapieoptionen bei Tourette Syndrom Die Pharmakotherapie des TS wird in verschiedenen Altersgruppen und auch in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt. Leitlininien KJP Deutschland (abgelaufen): „Pharmakotherapie: (ein einziges offiziell zugelassenes Medikament zur Behandlung von Ticstörungen ist Haloperidol. Wegen dessen deutlicher unerwünschter Arzneimittelwirkung ist es schon lange nur als Mittel dritter Wahl eingeordnet; d.h. aber, dass i.d.R. eine medikamentöse Behandlung der Ticstörungen "off-label" im Sinne eines individuellen Heilversuchs stattfinden muss.)….. „Medikament der ersten Wahl ist Tiaprid (II)….“ Risperidon (0,5-4 mg/Tag) kann als Mittel zweiter Wahl gelten, während Haloperidol (0,25-4 mg/Tag) und Pimozid (0,5-4 mg/Tag) Medikamente dritter Wahl (II) Leitlinien Neurologie 4. überarbeitete Auflage 10/2008 Medikament erster Wahl Tiaprid (50-100 mg zu Beginn bis 600(-800) mg) Sulpirid (3-6x 200 mg/d) oder Risperidon (2x 1mg/d, 4mg/d) Leitlinien Psychiatrie Leitlinien für Tic-Störungen liegen nicht vor. Britisches National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) hat bislang keine Behandlungsempfehlung für TS ausgesprochen. In den USA wird als Mittel der ersten Wahl niedrig dosiert Clonidin auch im Kindesalter empfohlen. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, Entwicklungsstufe S1, Stand 09/12 Pharmakotherapie Die Studienlage zur medikamentösen Therapie von TicStörungen ist mangelhaft. So liegen fast nur Fallberichte, offene unkontrollierte oder randomisierte Studien mit geringer Patientenzahl vor. Direkte Vergleiche der einzelnen Substanzen fehlen weitgehend. Eindeutige Therapieempfehlungen lassen sich aus den verfügbaren Daten nicht ableiten. Daher richten sich die Behandlungsempfehlungen in nicht geringem Maße nach persönlichen Erfahrungen, regionaler Verfügbarkeit, Behandlungskosten und Zulassungsstatus. Die medikamentöse Behandlung führt oft zu einer Tic-Reduktion um etwa 50 %, nicht aber zur vollständigen Symptomfreiheit. We present a summary of the current consensus on pharmacological treatment options for TS in Europe to guide the clinician in daily practice. This summary is, however, rather a status quo of a clinically helpful but merely low evidence guideline, mainly driven by expert experience and opinion, since rigorous experimental studies are scarce. Medikamentöse Therapieoptionen bei Tourette Syndrom Dopamin modulierende Psychopharmaka: Dopaminantagonisten Tiaprid (Benzamid) Pimozid Risperidon Olanzapin Clozapin Quetiapin Ziprasidon Andere Benzamide: Sulpirid, Amisulpirid, Metoclopramid, Remoxiprid typische Neuroleptika: Haloperidol Neuner & Ludolph, Nervenarzt 2009 Medikamentöse Therapieoptionen bei Tourette Syndrom Dopamin modulierende Psychopharmaka (Forts.): Dopaminagonisten Pergolid, Amantadin, Selegilin, Talipexol Pramipexol in klin. Studie negativ (Kurlan et al., 2012)) Aripiprazol Noradrenerg wirksame Substanzen: Clonidin (alpha-2 Adrenorezeptoragonist) Guanfacin (Intuniv®) Weitere Atomoxetin Stimulanzien Ludolph & Kassubek, Ticstörungen und Tourette Syndrom. In: Adoleszenzpsychiatrie: Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters von Jörg M. Fegert, Annette Streeck-Fischer, und Harald J. Freyberger. 2009 Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821 Aripiprazol Aripiprazol Rezeptorprofil • Hohe Affinität für D2-, D3-, 5-HT1A, 5-HT2A-Rezeptoren • Geringe Affinität zu Alpha1-adrenergen Rezeptoren • Geringe Affinität zu H1-Rezeptoren • Keine Affinität zu muskarinergen ACh-Rezeptoren Aufgrund seines alpha1-adrenergen Rezeptorantagonismus kann Aripiprazol die Wirkung bestimmter antihypertensiver Wirkstoffe verstärken. Pharmakokinetik Aripiprazol Aripiprazol wird gut aus der Nahrung aufgenommen, wobei maximale Plasmaspiegel innerhalb von 3 – 5 Stunden nach der Einnahme erreicht werden. Bioverfügbarkeit: 87% nach oraler Einnahme Die mittlere Eliminationshalbwertszeit liegt bei annähernd 75 Stunden für Aripiprazol bei extensiven Metabolisierern über CYP2D6 und bei annähernd 146 Stunden bei „schlechten“ (=„poor“) Metabolisierern über CYP2D6. Steady State: 14 Tage nach Beginn der Erhaltungsdosis oder Wechsel der Dosis Gleichzeitige Nahrungsaufnahme hat keinen Einfluss Cannabinoide - Seit mehreren tausend Jahren im Orient medizinisch eingesetzt - In Zentraleuropa erstmals im 11. Jahrhundert in Medizinischen Büchern erwähnt - im 16. und 17. Jahrhundert gg. Schmerz, Entzündung, Gelenkbeschwerden eingesetzt - 1839 Wiedereinführung aus Indien durch Dr. W. O´Shaughnessy - in der 2. Hälfte d. 19. Jahrhunderts dann gg. Muskelspasmen, Menstruationsbeschwerden, Rheumatismus, Tetanus, Epilepsie, Wehenmittel, Sedativum - 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Ersatz durch chemisch stabilere Substanzen, - in den 60er und 70er Jahren großer Anstieg des illegalen Konsums - in den 90er Jahren wieder vermehrt medizinisches Interesse nach Entdeckung des endogenen cannabinoiden Rezeptorensystems und seiner Liganden (Endorphine, Neuropeptide) Cannabinoide Applikation beeinflusst die Pharmakokinetik: oral, Inhalation, rektal, sublingual Heute Einsatz bei - Chemotherapiepatienten - AIDS-Patienten (Steigerung von Appetit, Gewichtszunahme) - Studien bei MS-Patienten, Verbesserung der Blasenfunktion - Schmerzsyndrome - L-Dopa induzierte Dyskinesien bei Parkinson-Patienten Zulassung ausschließlich für MS Patienten mit schmerzhaften Muskelkrämpfen, die anderweitig nicht therapierbar sind Delta 9-tetrahydrocannabinol (THC) (Dronabinol®) is effective in the treatment of tics in Tourette syndrome: a 6-week randomized trial. - Randomisierte placebo-kontrollierte Doppelblindstudie mit 24 TS-Patienten Behandlung über 6 Wochen mit 5-10 mg THC (Initialdosis bei 2,5 mg, alle vier Tge Erhöhung um 2,5 mg) - Wöchentliche Untersuchungen: auf verschiedenen Skalen signifikante Verbesserung der Tic-Symptomatik aber auch von Verhaltensproblemen (ADHS-Symptomatik) Mueller-Vahl et al.,J Clin Psychiatry. 2003 Apr;64(4):459-65 Neue Studie mit Nabiximol (Sativex®) zurzeit beantragt. Unterschied zu Cannabinol (Dronabinol®): Mundspray, nicht synthetisch, Mischpräparat, THC und Cannabidiol (CBO) „Jedes Verständnis eines solchen Syndroms wird unser Verständnis der allgemeinen menschlichen Natur ungeheuer vertiefen… Ich kenne kein anderes Syndrom, das ähnlich interessant wäre.“ Alexander Romanowitsch Lurija (1902 – 1977) an Oliver Sacks (*1933) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Andrea G. Ludolph e-mail: [email protected]