Vorlesung Basiswissen WS 2013/14

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Vorlesung
Basiswissen WS 2013/14
6. Februar 2014
Gilles de la Tourette Syndrom
Dr. med. Elisabeth Mayer
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie
Universitätsklinikum Ulm
Gliederung
Gliederung
I.
Historie und Epidemiologie
II. Definition und Symptomatik
III. Pathophysiologie
IV. Diagnostik
V. Therapie
-
Psychoedukation (Familie, Umfeld)
-
psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe)
-
Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie)
-
Tiefenhirnstimulation
-
medikamentöse Therapie
Gliederung
Gliederung
I.
Historie und Epidemiologie
II. Definition und Symptomatik
III. Pathophysiologie
IV. Diagnostik
IV. Therapie
-
Psychoedukation (Familie, Umfeld)
-
psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe)
-
Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie)
-
Tiefenhirnstimulation
-
medikamentöse Therapie
Georges Albert Edouard Brutus
Gilles de la Tourette
1857-1904
Behandlungszimmer von Dr. Gilles de la Tourette
in der Rue l'Université 39 in Paris
Historischer Überblick
Wahrscheinlich aufgrund der Seltenheit,
vielleicht auch aufgrund seiner Rätselhaftigkeit,
findet sich eine ausführliche Beschreibung der
Erkrankung erst im 19. Jh.
Der französische Neurologe Jaques Itard
beschrieb 1825 eine Patientin adeliger Herkunft,
die Marquise de Dampierre, die
sowohl unter vokalen als auch motorischen Tics litt.
„Frau v. D…, derzeit 26 Jahre, war, im Alter von 7 Jahren, …
krampfhafte Kontraktionen der Hand- und Armmuskeln, die sich
vor allem in den Augenblicken einstellten, in denen das Kind versuchte zu schreiben…
Man sah in dem Ganzen zuerst noch eine Art Lebhaftigkeit oder
Übermut, die, als sie sich mehr und mehr wiederholten, zum Grund
für Tadel und Bestrafung wurden,
aber bald gewann man die Gewissheit, dass diese
Bewegungen unwillkürlich und krampfhaft waren und man sah daran
auch die Muskulatur der Schultern, des Halses und des Gesichtes
teilnehmen.
Die Erkrankung schritt weiter fort, die Spasmen breiteten
sich auf die Stimm- und Sprechorgane aus, diese junge Person hörte
man bizarre Schreie und Worte ausstoßen, die überhaupt keinen Sinn
ergaben, aber alles ohne dass ein Delirium vorgelegen hätte…,
Jaques Itard, Dt. Übersetzung von Rothenberger, 1992
….. ohne irgendeine geistig-seelische Störung.
So kann es vorkommen, dass mitten in einer Unterhaltung, die sie
besonders lebhaft interessiert, plötzlich und ohne dass sie sich davor
schützen kann, sie das unterbricht, was sie gerade sagt oder wobei
sie gerade zuhört und zwar durch bizarre Schreie und durch Worte,
die sehr außergewöhnlich sind und die einen beklagenswerten
Kontrast mit ihrem Erscheinungsbild und ihren vornehmen Manieren
darstellen;
die Worte sind meistens grobschlächtig, die Aussagen obszön
und, was für sie und die Zuhörer nicht minder lästig ist, die
Ausdrucksweisen sind sehr grob, ungeschliffen, oder beinhalten
wenig vorteilhafte Meinungen über einige der in der Gesellschaft
anwesenden Personen…“
Dt. Übersetzung von Rothenberger, 1992
Epidemiologie
- Jungen : Mädchen 4:1
- Früher allgemein akzeptierte Prävalenzzahlen: 0,5/1000 (Bruun, 1984)
- In allgemeiner Schulpopulation 0,7%
(1990,1999, 2003)
- Alle Ticstörungen zusammen bis zu 7%
(Banarjee 1998, Mason 1998, Khalifa 2003)
Schwedische schulbasierte Untersuchung:
- Schulkinder im Alter 7-15 Jahre
- 4.479 Kinder und ihre Eltern füllten Fragenbogen aus
- Interview und klinische Untersuchung nach Screening:
290 Kinder (190 Jungen, 107 Mädchen) hatten Tics
nach DMS-IV
0,6% TS
0,8% chron. motor. Ticstörung
0,5% chron. vokale Ticstörung
4,8% transiente Tics
Zusammen: 6,6% hatten Tic-Störung im letzten Jahr
Khalifa, Dev Med Child Neurol Mai 2003
Psychopathologie der Kinder mit Tic Störungen in
dieser schulbasierten Untersuchung
Von 4,479 Kindern
25
34
24
214
Tourette Syndrom (TD)
Chronisch motorische Tic-Störung (CMT)
Chronisch vokale Tic-Störung (CVT)
Vorübergehende (transiente) Tic-Störung (TT)
3 Stufen Protokoll:
Tic screening, Telefon-Interview, klinische Untersuchung
Die 25 Kinder mit TD wurden verglichen mit 25 Kindern aus
der TT-Gruppe und 25 gesunden Kontrollen.
Bei 92% der Kinder mit vollem Tourette Syndrom wurden
Psychiatrische Komorbiditäten gefunden:
Am häufigsten ADHS. Kinder mit CVT waren ähnlich
häufig betroffen wie Kinder mit TD.
Aggressive Verhaltensweisen am häufigsten bei TD.
Khalifa N, von Knorring AL, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2006
Gliederung
Gliederung
I.
Historie und Epidemiologie
II. Definition und Symptomatik
III. Pathophysiologie
IV. Diagnostik
V. Therapie
-
Psychoedukation (Familie, Umfeld)
-
psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe)
-
Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie)
-
Tiefenhirnstimulation
-
medikamentöse Therapie
DEFINITION nach ICD 10
Internationales Klassifikationssystem der WHO
Nach ICD 10 werden folgende primäre Tic-Störungen
unterschieden:
F95.0: vorübergehende Tic-Störung (Dauer < 12 Monate)
F95.1: chronische motorische oder vokale Tic-Störung
(Dauer > 1 Jahr, nur motorische oder nur vokale Tics)
F95.2: kombinierte vokale und multiple motorische Tics
(Gilles de la Tourette-Syndrom, TS)
F95.8: sonstige Tic-Störungen
F95.9: Tic-Störung, nicht näher bezeichnet
Eine vorübergehende Tic-Störung kommt praktisch nur bei Kindern
vor. Meist bestehen nur gering ausgeprägte einfache motorische Tics,
sodass in der Regel keine Behandlung notwendig ist.
DSM V (APA, 2013) (www.dsm5.org)
The work group is recommending that this disorder be classified
as a Neurodevelopmental Disorder or another similar grouping of disorders.
A: Both multiple motor tics and one or more vocal tics have
been present at some time during the illness, although not
necessarily concurrently. (A tic is a sudden, rapid, recurrent,
nonrhythmic motor movement or vocalization.)
B. The tics occur many times a day (usually in bouts) nearly every day or
intermittently throughout a period of more than one year, and during this
period there was never a tic-free period of more than 3 consecutive months.
The tics may wax and wane in frequency but have persisted
for more than 1 year since first tic onset.
C. The onset is before age 18
D. The disturbance is not due to direct physiological effects of a substance
(e.g. stimulants) or a general medical condition (e.g. Huntington’s disease or
postviral encephalitis)
The disturbance is not due to the direct physiological effects
of a substance (e.g., cocaine) or a general medical condition
(e.g., stroke, Huntington’s disease, postviral encephalitis)
SYMPTOMATIK
Das TS ist gekennzeichnet durch
- multiple motorische und mindestens einen
vokalen Tic
- Beginn vor dem 18. Lebensjahr,
- eine Erkrankungsdauer > 1 Jahr,
- Fluktuationen der Tics im Verlauf und
den Ausschluss anderer Erkrankungen.
Hingegen ist die Schwere der Tics irrelevant.
SYMPTOMATIK
Motorische Tics: Klinisches Erscheinungsbild
Einfache motorische Tics:
-
Augenblinzeln
Augenzwinkern
Gesichtsgrimassen
Mundöffnen
Augenrollen
Stirnrunzeln
Kopfschütteln
Kopfnicken
Schulterzucken
Zwerchfelltics
Bauchtics
Rumpftics
SYMPTOMATIK
Komplexe motorische Tics:
Hüpfen
Treten
Springen
Stampfen
Klopfen
Kreisen
Kratzen
Beißen
Schlagen
Echopraxie
Kopropraxie
SYMPTOMATIK
Einfache vokale Tics:
-
-
Räuspern
Hüsteln
Schnäuzen
Spucken
Grunzen
Bellen
In- und exspiratorische
Atemgeräusche
Komplexe vokale Tics:
-
Schreien
Summen
Pfeifen
Palilalie
Echolalie
Koprolalie
Was verbessert Tic Symptome?
- Schlaf (Tics verschwinden nahezu immer)
- Beschäftigung, die fokussierte Aufmerksamkeit erfordert oder auch
gezielte motorische Kontrolle, wie zum Beispiel Fahrrad fahren,
Tischtennis spielen, ein Musikinstrument spielen
- Entspannung (unterschiedlich)
- verbale Instruktion Tics zu unterdrücken, besonders wenn es mit
Belohnung einhergeht
- Während und nach sportlicher Aktivität (normalerweise
verschwinden die Tics oder sind zumindest deutlich weniger stark)
Was verstärkt Tics?
- Streß (50-90%)
- Schulbeginn nach den Ferien (60-70%)
- selbst ängstlich oder aufgeregt sein, oder sehen,
dass ein enger Angehöriger so empfindet (80-90%)
- Aufregung: das erste Mal ins Legoland, Geburtstage, Feiertage,
insbesondere Weihnachten (Aufregung vor Geschenken) (60-70%)
- aufregende, hochspannende Filme (Kino) oder Theater oder
Actionfilme im Fernsehen (fast immer)
- Erschöpfung (50-75%), Müdigkeit, aber noch nicht so müde
um einzuschlafen (fast immer)
- Allein sein, einsam fühlen (40-50%)
- Stillarbeit in der Schule, Leseaufgaben
- Über Tics sprechen, Tics sind suggestibel (fast immer)
- Menstruation (bei manchen Frauen)
- Essen
- Kaffee trinken (nur bei einigen Individuen mit Tics)
- sich heiß fühlen, heiße Außentemperaturen
Besonderheiten von Tics
 Schwankungen
in Intensität, Häufigkeit, Lokalisation
 Vorgefühle („premonitory urge“)
 Echophänomene
 „genau richtig“ Gefühle („just right phenomenon“)
 andere „Hypersensitäten“ (Berührungsempfindlichkeit,
Hyperakusis)
Intensität des Vorgefühls
Je dunkler die Farbgebung, desto intensiver und
häufiger wurden Vorgefühle angegeben.
N=135
From: Leckman JF, Walker DE, Cohen DJ: Premonitory urges in Tourette syndrome,
Am J Psychiatry 1993; 150:98-102.
From: Leckman JF, Cohen DJ: Tourette Syndrome: Tics, Obsessions, Compulsions
-Developmental Psychopathology and Clinical Care.
New York: John Wiley and Sons, 1998a.
Im natürlichen Verlauf des TS treten meist zuerst motorische Tics
im Alter von 3 bis 8 Jahren auf, d.h. oft mehrere Jahre bevor dann
vokale Tics hinzukommen (Jankovic, 2001).
Bei 96% der Kinder hat sich die Erkrankung bis zum
11. Lebensjahr manifestiert.
In der Mehrzahl der Fälle erreicht die Symptomatik ihren höchsten
Schweregrad in der ersten Hälfte der zweiten Lebensdekade, um
das 12. Lebensjahr, um dann in der Adoleszenz deutlich
abzunehmen.
Die Angaben, wie viele jugendliche TS Patienten die Symptomatik
tatsächlich verlieren, schwanken allerdings erheblich (50-80%).
TS: Nicht nur Tics
ADHS 35-90%, Ehrenberg 2005
Jancovic, N Engl J Med 2001
TS: Nicht nur Tics
ADHS 35-90%, Ehrenberg 2005
Jancovic, N Engl J Med 2001
Häufige Begleiterkrankungen
ADHS
Zwangsstörungen
Angststörungen
(generalisierte Angststörung, soziale Phobie,
Panikattacken)
Affektive Störungen (Depression)
Aggressive Verhaltensweisen (mangelnde Inhibition)
Selbstverletzendes Verhalten
Tourette – nicht nur Tics
Kinder mit Tourette leiden häufig unter
- Impulsivität, Ablenkbarkeit, Hyperaktivität
- Trotzverhalten, Argumentieren, Autoritäten
infrage stellen
- geringe Frustrationstoleranz, explosive
Ausbrüche
- Zwangsverhalten
- Angst und Depression
- Lernproblemen
Nicht-Wissen verzögert Diagnose !
„dem Kind einen Namen geben“
Je früher die Diagnose gestellt wird, desto bessere
Unterstützung kann erfolgen.
314 Kinder mit Tourette Syndrom
Systematische Interviews über den diagnostischen Prozess
Symptombeginn war im Durchschnitt mit 3 Jahren
Bei 40 % waren Tics der Vorstellungsanlass.
In den anderen Fällen ADHS, Zwang oder Verhaltensprobleme.
Durchschnittsalter des Beginns der Tic-Symptomatik 5,5 Jahre.
Wenn weitere Komorbiditäten bestanden, traten Tics im Durchschnitt
deutlich früher auf (0-3,5 Jahren).
Das Durchschnittsalter bei Diagnose lag bei 8,9 Jahren.
Durchschnittlich lagen von Beginn der Symptome bis zur Diagnose
5,3 Jahre.
Zwischen Auftreten der ersten Tics und Diagnose ~ 2,8 Jahre.
Mol Debes NM, Hjalgrim H, Skov L, Neuropediatrics 2008
Gliederung
Gliederung
I.
Historie und Epidemiologie
II. Definition und Symptomatik
III. Pathophysiologie
IV. Therapie
-
Psychoedukation (Familie, Umfeld)
-
psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe)
-
Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie)
-
Tiefenhirnstimulation
-
medikamentöse Therapie
Genetik, Epigenetik, Risikofaktoren
Familienanamnese:
Verwandte 1. Grades haben ein Risiko von 5-15%,
Irgendeine Form von Tic (transiente, milde) 10-20%
Prä- und perinatale Anamnese
Psychosozialer Stress in der Schwangerschaft, Nikotin,
Intrauterine Wachstumsretardierung
Frühgeburtlichkeit, Hypoxie perinatal (Apgar-Index)
Immunologische Dysregulation
Infektionen (PANDAS, beta-hämolysierende Streptokokken der
Gruppe A, GABHS)
PANDAS = pediatric autoimmune neuropsychiatric
disorder associated with strep)
Stress, Stresssensitivität
Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten
Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter
Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821
Neuner & Ludolph 2009
Neuner & Ludolph 2009
Folgen in der weiteren Entwicklung:
„Meine Lehrerin wollte mir nicht glauben, dass ich das
Kopf-Wackeln nicht absichtlich mache. Und dann
musste ich mich während der Unterrichtsstunde
mit einem Buch auf dem Kopf hinstellen und für
jedes Mal, dass das Buch herunterfiel, hat sie mir
eine Seite Strafarbeit gegeben…“
(Bericht eines 12jährigen Schülers mit
Tourette-Syndrom, 21. Jahrhundert)
„Das ist so schlimm, ich geh da nicht mehr hin…..“
(13jähriger Junge, Schulverweigerung
bei massiver Exazerbation seiner vokalen Tics
mit stark ausgeprägter Koprolalie)
„Ich dachte, ich bin das gestörteste Kind auf der ganzen Welt….“
(37jährige Mutter mit Tourette Syndrom bei der
Vorstellung ihrer beiden kleinen Mädchen, 6 und 8
Jahre alt, aufgewachsen in einem serbischen Dorf)
Angst und Scham als Folgen
Berechtigte Angst vor Spott aufgrund der Tics und
Schamgefühle sind sehr häufig bei Kindern mit
chronischen Tic-Störungen und TS zu finden. Personen
mit Tic-Störungen erfahren oft soziale Ausgrenzung,
da die Tic-Symptomatik von anderen Personen meist
als sehr fremd und bizarr wahrgenommen wird und
Betroffene demzufolge abgelehnt werden (Marcks 2007).
Daher kann es bei entsprechenden Umständen und
ungenügender Aufklärung der Umgebung sekundär
auch zu ausgeprägten Angststörungen reaktiv zur
Tic-Symptomatik kommen, für die möglicherweise auch
zusätzlich eine genetische Disposition besteht
(Coffey 2000).
Ludolph & Kassubek, Ticstörungen und Tourette Syndrom. In: Adoleszenzpsychiatrie:
Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters
von Jörg M. Fegert, Annette Streeck-Fischer, und Harald J. Freyberger. 2009
Gliederung
Gliederung
I.
Historie und Epidemiologie
II. Definition und Symptomatik
III. Pathophysiologie
IV. Diagnostik
V. Therapie
-
Psychoedukation (Familie, Umfeld)
-
psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe)
-
Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie)
-
Tiefenhirnstimulation
-
medikamentöse Therapie
DIAGNOSTIK I
Psychiatrische Anamnese des Kindes
Psychopathologischer Befund
Fremdanamnese der Bezugspersonen
Familiengespräch
Körperlich – neurologische Untersuchung
EEG, EKG, (MRT), Labor
Anamnese:
Familienanamnese: genetische Belastung
Risikofaktoren in der Schwangerschaft:
psychosozialer Stress (Cortisolausschüttung, epigenetische Beeinflussung
der embryonalen HPA Achse, veränderte Cortisol-Rezeptor-Expression)
Nikotin- oder Alkoholkonsum, Substanzkonsum
Medikamenteneinnahme
Geburtsanamnese: Frühgeburtlichkeit, Hypoxie, Apgar-Index, Nabelschnur-pH
DIAGNOSTIK II
Testpsychologische Untersuchungen:
- Leistungstests: Intelligenztests
(PSB, WISC, WIE)
– Aufmerksamkeitstests (d2, Ki-TAP)
Fragebögen:
– YSR / CBCL / TRF
– ADHS – Fragebogen (FBB, SBB, DYSIPS,
Döpfner, Köln)
PSB Prüfsystem für Schul- und Bildungsberatung,
WISC Wechsler Intelligence Scale for Children - Version IV, dt. Version Petermann & Petermann
WIE Wechsler Intelligenztest für Erwachsene, ab 16 Jahren
DIAGNOSTIK III
Standardisierte Interviews
-
Kiddie-SADS (Standardisiertes Interview)
-
YGTSS (Yale Global Tic Severity Scale)
-
CYBOCS (Children's Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale)
Spezifische Fragebögen:
- PUTS – Premonitory Urge for Tics Scale
- The Gilles de la Tourette Quality of Life Scale (GTS-QOL)
- Yale Tourette Syndrom Symptomliste
Weitere Fragebögen
- DIKJ, BDI, FAS (Depressions- und Angstfragebogen)
Gliederung
Gliederung
I.
Historie und Epidemiologie
II. Definition und Symptomatik
III. Pathophysiologie
IV. Diagnostik
V. Therapie
-
Psychoedukation (Familie, Umfeld)
-
psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe)
-
Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie)
-
Tiefenhirnstimulation
-
medikamentöse Therapie
Tourette – nicht nur Tics
Kinder mit Tourette leiden häufig unter
- Impulsivität, Ablenkbarkeit, Hyperaktivität
- Trotzverhalten, Argumentieren, Autoritäten
infrage stellen
- geringe Frustrationstoleranz, explosive
Ausbrüche
- Zwangsverhalten
- Angst und Depression
- Lernproblemen
Therapie
-
Psychoedukation (Familie, Umfeld)
psychosoziale Interventionen
(Schule, Jugendhilfe)
Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten
Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter
Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821
Warum Elterntraining bei Kindern mit Tourette
Syndrom?
Tics are unwillkürlich
Impulsivität, Aggression, Argumentieren, geringe Frustrationstoleranz
Non-Compliance sind nicht unwillkürlich
Bei Kindern/Jugendlichen mit unwillkürlichen Tics taucht die Frage auf
“Was kann das Kind kontrollieren?”
Je unsicherer die Eltern, desto inkonsistenter ihr Erziehungsverhalten!
Je stärker die elterliche Kompeten Sicherheit im Umgang mit den
Kindern/Jugendlichen
Jugendliche: “Was ist unter meiner Kontrolle und was nicht?”
offensive dezidierte Aufklärung über TS
Einstellung zu erkrankten Personen verändert sich
soziale Ausgrenzung wird minimiert
Folgeerscheinungen wie soziale Phobie der Patienten
treten nicht auf oder sind deutlich geringer.
Marcks et al. (2007)
Roessner et al., 2011
Verhaltenstherapie
Habit reversal training = Gewohnheitsumkehrtraining
(Azrin und Nunn, 1973, primär für Nägelkauen,
Daumenlutschen, Trichotillomanie)
- Wahrnehmungstraining
- Training im Umgang mit unvorhersehbaren Ereignissen
- Entspannungstraining
- Identifizieren und Erlernen eines Alternativverhaltens
- Automatisierung und Generalisierung dieses Alternativverhaltens
Verhaltenstherapie
Exposure and response prevention
(Verdellen et al., 2004)
Zielt darauf ab den Automatismus zu durchbrechen, dass einem
Vorgefühl („premonitory urge“) auch immer ein Tic folgen muss.
Comprehensive Behavioral Intervention for Tics (CBIT)
(Piacentini, Woods, Scahill,…. Walkup, JAMA 2010)
Leicht bis mittelgradig betroffene Kinder/Jugendliche,
Effektstärke 0,68
Frühere klinische Ratschläge
Aktuelle klinische Ratschläge
Tics ignorieren
Tics mehr gewahr werden
Tics können nicht kontrolliert werden
lernen mit Tics umzugehen
nicht bestrafen
Erfolgreiches Management belohnen
Verhaltenstherapie hilft nicht
Einsatz von verhaltenstherapeut. Strategien
Nicht versuchen Tics zu unterdrücken
Tics können durch fokussierte Aufmerksamkeit
kontrolliert werden, konkurrierende
Verhaltensantworten helfen dem Vorgefühl zu
widerstehen und so den negativen
Verstärkungskreislauf zu durchbrechen.
Unterdrückung verschlechtert die Tics bis sie
„explodieren“
Tics können erfolgreich durch
Verhaltensstrategien ohne Rebound Phänomen
kontrolliert werden
Ticunterdrückung verschlimmert das
Vorgefühl
Das Vorgefühl wird sich vermindern
Es entwickeln sich neue Tics, wenn Tics
unterdrückt werden
Tics entwickeln sich nicht aus Ticunterdrückung
oder Verhaltensstrategien
Tics haben keine psychische Bedeutung, es
handelt sich um eine neurologische Störung
Tics können kommen und gehen, in
Assoziation mit Stress, Aufregung,
Veränderungen von Umweltfaktoren und/oder
Aufmerksamkeit durch andere Personen.
Nach Bennett et al., 2013
Gliederung
Gliederung
I.
Historie und Epidemiologie
II. Definition und Symptomatik
III. Pathophysiologie
IV. Diagnostik
V. Therapie
-
Psychoedukation (Familie, Umfeld)
-
psychosoziale Interventionen (Schule, Jugendhilfe)
-
Psychotherapie (Verhaltens- vs. supportiver Therapie)
-
Tiefenhirnstimulation
-
medikamentöse Therapie
Gliederung
Gliederung
Medikamentöse Therapie:
- Neuroleptika und andere Optionen
- Psychostimulanzien und Tics
- Aripiprazol
- neue medikamentöse Therapieansätze
Medikamentöse Therapieoptionen bei
Tourette Syndrom
Die Pharmakotherapie des TS wird in verschiedenen Altersgruppen
und auch in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt.
Leitlininien KJP Deutschland (abgelaufen):
„Pharmakotherapie: (ein einziges offiziell zugelassenes Medikament
zur Behandlung von Ticstörungen ist Haloperidol. Wegen dessen
deutlicher unerwünschter Arzneimittelwirkung ist es schon lange nur
als Mittel dritter Wahl eingeordnet; d.h. aber, dass i.d.R. eine
medikamentöse Behandlung der Ticstörungen "off-label" im Sinne
eines individuellen Heilversuchs stattfinden muss.)…..
„Medikament der ersten Wahl ist Tiaprid (II)….“
Risperidon (0,5-4 mg/Tag) kann als Mittel zweiter Wahl gelten,
während Haloperidol (0,25-4 mg/Tag) und Pimozid (0,5-4 mg/Tag)
Medikamente dritter Wahl (II)
Leitlinien Neurologie 4. überarbeitete Auflage 10/2008
Medikament erster Wahl
Tiaprid (50-100 mg zu Beginn bis 600(-800) mg)
Sulpirid (3-6x 200 mg/d) oder Risperidon (2x 1mg/d, 4mg/d)
Leitlinien Psychiatrie
Leitlinien für Tic-Störungen liegen nicht vor.
Britisches National Institute for Health and Clinical Excellence
(NICE) hat bislang
keine Behandlungsempfehlung für TS ausgesprochen.
In den USA wird als Mittel der ersten Wahl niedrig dosiert
Clonidin auch im Kindesalter empfohlen.
Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der
Neurologie, Entwicklungsstufe S1, Stand 09/12
Pharmakotherapie
Die Studienlage zur medikamentösen Therapie von TicStörungen ist mangelhaft. So liegen fast nur Fallberichte, offene
unkontrollierte oder randomisierte Studien mit geringer
Patientenzahl vor. Direkte Vergleiche der einzelnen Substanzen
fehlen weitgehend. Eindeutige Therapieempfehlungen lassen
sich aus den verfügbaren Daten nicht ableiten. Daher richten
sich die Behandlungsempfehlungen in nicht geringem Maße
nach persönlichen Erfahrungen, regionaler Verfügbarkeit,
Behandlungskosten und Zulassungsstatus. Die medikamentöse
Behandlung führt oft zu einer Tic-Reduktion um etwa 50 %, nicht
aber zur vollständigen Symptomfreiheit.
We present a summary of the current consensus on pharmacological
treatment options for TS in Europe to guide the clinician in daily
practice. This summary is, however, rather a status quo of a
clinically helpful but merely low evidence guideline, mainly driven
by expert experience and opinion, since rigorous experimental
studies are scarce.
Medikamentöse Therapieoptionen bei
Tourette Syndrom
Dopamin modulierende Psychopharmaka:
Dopaminantagonisten
Tiaprid (Benzamid)
Pimozid
Risperidon
Olanzapin
Clozapin
Quetiapin
Ziprasidon
Andere Benzamide: Sulpirid, Amisulpirid, Metoclopramid, Remoxiprid
typische Neuroleptika: Haloperidol
Neuner & Ludolph, Nervenarzt 2009
Medikamentöse Therapieoptionen bei
Tourette Syndrom
Dopamin modulierende Psychopharmaka (Forts.):
Dopaminagonisten
Pergolid, Amantadin, Selegilin, Talipexol
Pramipexol in klin. Studie negativ (Kurlan et al., 2012))
Aripiprazol
Noradrenerg wirksame Substanzen:
Clonidin (alpha-2 Adrenorezeptoragonist)
Guanfacin (Intuniv®)
Weitere
Atomoxetin
Stimulanzien
Ludolph & Kassubek, Ticstörungen und Tourette Syndrom. In: Adoleszenzpsychiatrie:
Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters
von Jörg M. Fegert, Annette Streeck-Fischer, und Harald J. Freyberger. 2009
Ludolph, Andrea G.; Roessner, Veit; Münchau, Alexander; Müller-Vahl, Kirsten
Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter
Dtsch Arztebl Int 2012; 109(48): 821-8; DOI: 10.3238/arztebl.2012.0821
Aripiprazol
Aripiprazol
Rezeptorprofil
• Hohe Affinität für D2-, D3-, 5-HT1A, 5-HT2A-Rezeptoren
• Geringe Affinität zu Alpha1-adrenergen Rezeptoren
• Geringe Affinität zu H1-Rezeptoren
• Keine Affinität zu muskarinergen ACh-Rezeptoren
Aufgrund seines alpha1-adrenergen Rezeptorantagonismus
kann Aripiprazol die Wirkung
bestimmter antihypertensiver Wirkstoffe verstärken.
Pharmakokinetik Aripiprazol
Aripiprazol wird gut aus der Nahrung aufgenommen, wobei
maximale Plasmaspiegel innerhalb von 3 – 5 Stunden nach der
Einnahme erreicht werden.
Bioverfügbarkeit: 87% nach oraler Einnahme
Die mittlere Eliminationshalbwertszeit liegt bei annähernd 75
Stunden für Aripiprazol bei extensiven Metabolisierern über
CYP2D6 und bei annähernd 146 Stunden bei „schlechten“
(=„poor“) Metabolisierern über CYP2D6.
Steady State: 14 Tage nach Beginn der Erhaltungsdosis oder
Wechsel der Dosis
Gleichzeitige Nahrungsaufnahme hat keinen Einfluss
Cannabinoide
- Seit mehreren tausend Jahren im Orient medizinisch eingesetzt
- In Zentraleuropa erstmals im 11. Jahrhundert in Medizinischen
Büchern erwähnt
- im 16. und 17. Jahrhundert gg. Schmerz, Entzündung,
Gelenkbeschwerden eingesetzt
- 1839 Wiedereinführung aus Indien durch Dr. W. O´Shaughnessy
- in der 2. Hälfte d. 19. Jahrhunderts dann gg. Muskelspasmen,
Menstruationsbeschwerden, Rheumatismus, Tetanus, Epilepsie,
Wehenmittel, Sedativum
- 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts: Ersatz durch chemisch stabilere
Substanzen,
- in den 60er und 70er Jahren großer Anstieg des illegalen Konsums
- in den 90er Jahren wieder vermehrt medizinisches Interesse nach
Entdeckung des
endogenen cannabinoiden Rezeptorensystems und seiner Liganden
(Endorphine, Neuropeptide)
Cannabinoide
Applikation beeinflusst die Pharmakokinetik:
oral, Inhalation, rektal, sublingual
Heute Einsatz bei
- Chemotherapiepatienten
- AIDS-Patienten (Steigerung von Appetit,
Gewichtszunahme)
- Studien bei MS-Patienten, Verbesserung der
Blasenfunktion
- Schmerzsyndrome
- L-Dopa induzierte Dyskinesien bei Parkinson-Patienten
Zulassung ausschließlich für MS Patienten mit schmerzhaften
Muskelkrämpfen, die anderweitig nicht therapierbar sind
Delta 9-tetrahydrocannabinol (THC) (Dronabinol®)
is effective in the treatment of tics in
Tourette syndrome: a 6-week randomized trial.
- Randomisierte placebo-kontrollierte Doppelblindstudie mit
24 TS-Patienten
Behandlung über 6 Wochen mit 5-10 mg THC
(Initialdosis bei 2,5 mg, alle vier Tge Erhöhung um 2,5 mg)
- Wöchentliche Untersuchungen: auf verschiedenen Skalen
signifikante Verbesserung der Tic-Symptomatik aber auch
von Verhaltensproblemen (ADHS-Symptomatik)
Mueller-Vahl et al.,J Clin Psychiatry. 2003 Apr;64(4):459-65
Neue Studie mit Nabiximol (Sativex®) zurzeit beantragt.
Unterschied zu Cannabinol (Dronabinol®): Mundspray,
nicht synthetisch, Mischpräparat, THC und Cannabidiol
(CBO)
„Jedes Verständnis eines solchen Syndroms wird unser
Verständnis der allgemeinen menschlichen Natur
ungeheuer vertiefen…
Ich kenne kein anderes Syndrom, das ähnlich interessant
wäre.“
Alexander Romanowitsch Lurija
(1902 – 1977)
an Oliver Sacks (*1933)
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Andrea G. Ludolph
e-mail: [email protected]
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