Apostolat der Dialektik - FreiDok plus - Albert-Ludwigs

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Daniel Esch
Apostolat der Dialektik
Leben und Werk des Freiburger Theologen
und Philosophen Carl Braig (1853-1923)
FREIBURGER DISSERTATIONSREIHE
Band 1
THEOLOGIE
Daniel Esch
Apostolat der Dialektik
Leben und Werk des Freiburger Theologen
und Philosophen Carl Braig (1853-1923)
Tag des Promotionsbeschlusses:
5. Februar 2004
Gutachter:
Prof. Dr. Peter Walter
Prof. Dr. Albert Raffelt
Dekan:
Prof. Dr. Hubert Irsigler
D 25
© 2004. Freiburger Dissertationsreihe, Freiburg i.Br.
1. Auflage. Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG,
Unterwerkstr. 5, 79115 Freiburg
[email protected]
Printed in Germany
ISBN 3-7930-5001-7
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
9
Einleitung
11
Erster Hauptteil: Leben und Werk Carl Braigs
15
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14
Kindheit und Jugend
Studium in Tübingen
Als Repetent in Tübingen
Als Stadtpfarrer in Wildbad
Der Professor für theologische Propädeutik
Die Dogmatikprofessur in Freiburg
Carl Braig und Franz Xaver Kraus
Carl Braig in der Auseinandersetzung um Reformkatholizismus und
Modernismus
Carl Braig in der Modernismus-Krise
Vortragstätigkeit und andere Aktivitäten
Das hochschulpolitische Wirken
Braig im Urteil seiner Zeitgenossen
Die letzten Jahre
Das Werk Carl Braigs im Überblick
Zweiter Hauptteil: Glaube und Wissen –
Carl Braigs Konzeption seiner Apologie
56
61
64
69
73
76
77
79
1
Apologetik
1.1 Hinführung - Grundsätzliches zum Verhältnis von Glauben und Wissen
1.1.1 Fides et ratio
1.1.2 Aeterni Patris
1.1.3 Dei Filius
1.1.4 Natur und Gnade
1.1.5 Der Glaube und die Analysis fidei
1.1.6 Zur Stellung der Apologetik im Gefüge der Wissenschaften
1.2 Warum Apologetik?
1.2.1 Die Motivation zur Apologetik
1.2.2 Die Möglichkeit von Apologetik
1.3 Die Methode der Apologetik
1.4 Die Gestalt der aktuellen Apologetik
1.5 Das Ziel der Apologetik
1.6 Zusammenfassung: Die Konzeption der braigschen Apologetik
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81
81
83
84
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89
95
100
100
101
106
109
115
116
2
Der Kampf gegen den „Modernismus“
2.1 Einleitung
118
118
5
2.2 Die Diskussion um den Modernismus-Begriff
2.3 Carl Braigs Kampf gegen den „Modernismus“
2.3.1 Avant la lettre
2.3.1.1 Gegen Eduard von Hartmann
2.3.1.2 Gegen Schleiermacher
2.3.1.3 Gegen Harnack
2.3.1.4 Gegen ein „modernes Christentum“
2.3.2 Der Modernismus - Sammelbecken aller Häresien
2.3.3 Braigs Reaktion auf die Modernismus-Erlasse
2.3.3.1 Braigs Kommentare zu den Modernismus-Erlassen
2.3.3.2 Christologie im Zeichen des Modernismus
2.4 Die Freiheit der Wissenschaft
2.4.1 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
2.4.2 Kant und die Freiheit der Wissenschaft
2.4.3 Das Vatikanische Konzil und die Freiheit der Wissenschaft
2.4.4 Der Modernismus und die Freiheit der Wissenschaft
2.4.5 Zusammenfassung
2.5 Konsequenzen der Modernismus-Krise für die Apologie Carl Braigs
122
128
128
128
134
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144
150
151
164
173
173
182
185
189
195
195
Dritter Hauptteil: Die Philosophie Carl Braigs
199
1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
1.7
Vom Erkennen - Die philosophische Erkenntnislehre Carl Braigs
(Logik und Noetik)
Hinführung - Die Bedeutung einer philosophischen Erkenntnislehre
für die Theologie
Die Erkenntnistheorie im Gefüge der Wissenschaften
Vom Denken oder die Logik
Vom Wahren und Falschen
1.4.1 Wahrheit
1.4.2 Die Stufen der Wahrheit
Vom Wahren und seinen Quellen
1.5.1 Das Selbstbewusstsein
1.5.2 Der Sinn
1.5.3 Der Verstand
1.5.4 Die Vernunft
1.5.5 Die äußere Wahrheitsquelle: die Autorität
Der Irrtum und die Grenzen der Erkenntnis
Zusammenfassung: Erkenntnistheorie als apologetische
Hilfswissenschaft
2
Vom Sein
2.1 Carl Braig und die Theologie seiner Zeit
2.1.1 Die Neuscholastik
2.1.2 Carl Braig und die Neuscholastik
2.1.3 Michael Glossners Kritik an Carl Braig
2.2 Die Bedeutung der empirischen Wissenschaften für die Philosophie
6
201
202
206
208
215
215
216
217
218
221
226
229
234
236
238
240
240
240
242
244
245
2.3 Vom Sein
2.3.1 Hinführung
2.3.2 Die Frage nach dem Sein
2.3.3 „Ist Sein gleich Thun?“
2.3.4 Von der Wesenheit
2.3.4.1 Vom Wesensding
2.3.4.2 Von der Wesenseigenschaft
2.3.5 Vom Wirken des Seienden
2.3.6 Vom Zweck des Seienden
2.4 Zusammenfassung der Grundzüge der braigschen Ontologie
252
252
254
259
266
267
269
273
280
283
3
Gottesbeweis oder Gottesbeweise?
3.1 Die angeborene Gottesidee
3.2 Der Gottesbeweis bei Carl Braig
3.2.1 Gottesbeweis oder Gottesbeweise?
3.2.2 Das „ontologische“ Argument
3.2.3 Das nomologische Argument
3.2.4 Das teleologische Argument
285
285
294
294
298
299
301
Schluss
305
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Unveröffentlichte Quellen
Bibliographie Carl Braigs
Sekundärliteratur
311
313
313
314
326
7
8
Vorwort
Diese Arbeit wurde im Juni 2003 als Inaugural-Dissertation im Fachbereich Dogmatik der Theologischen Fakultät an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im
Breisgau eingereicht. Für die Veröffentlichung wurde sie nur geringfügig überarbeitet.
Nach Abschluss des Verfahrens möchte ich Dank sagen allen, die mich in den drei
Jahren des Promotionsstudiums begleitet und es mir ermöglicht haben.
An erster Stelle gilt mein Dank meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Peter
Walter, der mich mit stetem Interesse und großer Aufmerksamkeit begleitet hat,
der meiner Arbeit jeden Freiraum gegeben und doch immer zu wissenschaftlicher
Nüchternheit gemahnt hat. Auch Herrn Prof. Dr. Albert Raffelt, der sich der Mühe
des Zweitgutachtens unterzogen hat, gilt mein Dank, auch für sein Engagement
hinsichtlich der Veröffentlichung der Arbeit. Den Damen und Herren des Doktorandenkolloquiums möchte ich danken für die Gespräche und vielfältigen Anregungen,
die ich erfahren durfte, besonders Herrn PD Dr. Karlheinz Ruhstorfer für sein
freundschaftliches Ermuntern und Ermutigen und die Durchsicht des Werkes.
Das Land Baden-Württemberg hat mir eine sorglose Studienzeit durch die Gewährung eines Stipendiums ermöglicht.
Meinen Eltern möchte ich für vieles danken, jetzt vor allem für ihre Unterstützung
und die Großzügigkeit, mit der sie mein Studium begleitet haben.
Mein letzter Dank gilt meiner lieben Frau, der ich das Werk widmen möchte.
Illertissen, im März 2004
Daniel Esch
9
Einleitung
Als der Freiburger Theologe und Nachfolger Carl Borromäus Braigs auf dem Lehrstuhl für Dogmatik Engelbert Krebs1 am Abend des 2. Mai 1923 sich der am Morgen stattgefundenen Gedächtnisfeier für den im März desselben Jahres verstorbenen Vorgänger erinnert, schreibt er in sein Tagebuch: „Als ich das schwarze Tuch
mit den 4 Kerzen inmitten des Chores sah, dachte ich an die Zeit, da Braig zwischen 40 und 50 Jahren stand, und wie nahe die zurückliegt, und wie schnell er
geistig vertrocknete und nun von den gegenwärtigen Studenten kaum mehr gekannt war, und wie schnell auch meine Lehrtätigkeit vorbei sein wird und das Requiem über meiner vergessenen Vergangenheit als letzter fast unpersönlicher amtlicher Gruß der Fakultät verklingen wird“2.
In der Tat hielt sich das Interesse an Braig und seinem Werk zunächst deutlich in
Grenzen. Dafür kann nicht allein das manchmal distanzierte oder gar unfreundliche
Wesen Braigs verantwortlich sein; vielmehr schien die Zeit nach der ModernismusKrise und dem ersten Weltkrieg eine andere Theologie zu fordern, als sie Braig
noch aus seinem Selbstverständnis heraus ins Werk gesetzt hatte. Nach den
Gründen der fehlenden Rezeption braigscher Theologie wird noch im Laufe der
Arbeit zu fragen sein.
Gleichwohl blieb Braigs Leben und Wirken nicht ohne Resonanz. Er erhielt im Necrologium Friburgense einen Nachruf,3 auch wurden ihm in allen Auflagen des Lexikons für Theologie und Kirche Artikel reserviert.4 Aus Anlass seines 100. Geburts- und 30. Todesjahres dedizierte ihm 1953 Friedrich Stegmüller5 im Oberrheinischen Pastoralblatt einen Artikel, der Vita und Werk des Freiburger Theologen
würdigen sollte.6 Erst etwa in den letzten dreißig Jahren hat sich das Interesse an
Braig wieder belebt, ausgehend wohl von den Äußerungen Martin Heideggers7
über seinen zeitweiligen Lehrer und den Forschungen Bernhard Weltes8 zur Freiburger Fakultätsgeschichte. Aber auch schon bald nach dem Tod Braigs haben einige Gelehrte versucht, ihn dem Vergessen zu entreißen. Voraussetzung für eine
eingehendere Untersuchung wäre eine Begutachtung des Nachlasses gewesen,
der allem Anschein nach zunächst in das Pfarrhaus nach Reute bei Freiburg gelangte, wo der Bruder Carl Braigs, Johann Baptist9, bis 1928 lebte. Dort aber ver1
2
3
4
5
6
7
8
9
Zu Engelbert Krebs (1881-1950) vgl. LThK3 6, 434f.; Albert Junghanns: Der Freiburger
Dogmatiker Engelbert Krebs, Freiburg 1979.
Tagebücher Engelbert Krebs, Eintrag vom Mittwoch, 2. Mai 1923 (UAF C 126, Nr. 11);
vgl. dazu Junghanns: Krebs 138; Junghanns nimmt als Todeszeitpunkt Braigs irrtümlich
Ende April (statt 24. März) 1923 an.
Julius Mayer: Necrologium Friburgense 1921-1925, in: FDA 54 (1926) 9-54, hier 28f.
Jakob Bilz: Art. Braig, Karl, in: LThK1 2, 513f.; Friedrich Stegmüller: Art. Braig, Karl, in:
LThK2 2, 624; Albert Raffelt: Art. Braig, Carl, in: LThK3 2, 629.
Zu Friedrich Stegmüller (1902-1981) vgl. LThK3 9, 943f.
Friedrich Stegmüller: Karl Braig, in: Oberrheinisches Pastoralblatt 54 (1953) 120-128.
Zu Heidegger (1889-1976) vgl. LThK3 4, 1246-1249
Zu Bernhard Joseph Welte (1906-1983) vgl. LThK3 10, 1072f.
Zu Johann Baptist Braig (1867-1928) vgl. Adolf Rösch: Necrologium Friburgense 19261930, in: FDA 59 (1931) 5-46, hier 13.
11
liert sich die Spur der schriftlichen Hinterlassenschaft. In einem Brief vom April
1942 schreibt der Tübinger Kirchenhistoriker Stefan Lösch10 an Jakob Bilz11, einen
Schüler Braigs, dass er auf der Suche nach dem Nachlass den Neffen Braigs konsultiert habe, der sich erinnere, dass bei der Beerdigung von Johann Baptist „in einem grossen Koffer der literarische Nachlass des Prof. Braig“ noch vorhanden gewesen sei. Nun wisse aber weder dieser noch die hochbetagte Schwester der Brüder Braig noch etwas von dem Verbleib besagten Koffers.12 Auch die weiteren
Nachforschungen Bilz’ beim Pfarrer von Reute13 und Löschs, der im Zuge seines
Projekts einer Tübinger Fakultätsgeschichte „fast bis zu seinem Todestag fleißig
und umsichtig biographische und bibliographische Daten zu Leben und Wirken der
einzelnen Professoren und Repetenten“14 der Tübinger Fakultät sammelte, blieben
ohne Erfolg. Auch meiner abermaligen Anfrage bei den Erben Braigs blieb erwartetermaßen der Erfolg versagt. Aber auch ohne für eine im engeren Sinne historische Arbeit nötig gewesene literarische Grundlage in Form von Korrespondenz
oder persönlichen Aufzeichnungen bietet das Werk Braigs gleichwohl genügend
Anlass, sich mit ihm auseinanderzusetzen, was auch, wie erwähnt, in den letzten
Jahren vermehrt geschah. Martin Heidegger hat bereits 1969 von seiner Lehrzeit
bei Carl Braig berichtet und mit Hochachtung von dem Dogmatiker und eindringlichen Denker gesprochen.15 Daran anschließend beschäftigt sich eine ganze Reihe
von Forschungsbeiträgen mit dem Verhältnis zwischen Braig und Heidegger.16
Bernhard Welte hat aus Anlass der Eröffnung des zweiten Kollegiengebäudes der
Freiburger Universität und anlässlich des 150jährigen Jubiläums der Erzdiözese
jeweils Aufsätze verfasst, die das Werk Braigs in der Fakultätsgeschichte verorten
und würdigen.17
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13
14
15
16
17
12
Zu Stefan Lösch (1881-1966) vgl. BBKL 15, 877ff.
Zu Jakob Bilz (1872-1951) vgl. LThK3 2, 461f.
Vgl. Brief Löschs an Bilz vom 14. April 1942 (EAF Na 95, Vol 105).
Vgl. den Nachlass Bilz’ in EAF Na 95.
Rudolf Reinhardt: Quellen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen. Ein unerwarteter Fund im Nachlaß von Prof. DDr. Stefan Lösch († 1966), in:
ThQ 149 (1969) 369-388, hier 379.
Vgl. Martin Heidegger: Mein Weg in die Phänomenologie, in: Zur Sache des Denkens,
Tübingen 1969, 81-90, hier 82f.; vgl. ders.: Vorwort zur ersten Ausgabe der „Frühen
Schriften“, Frankfurt a.M. 1972, IX-XI.
Vgl. etwa Franco Volpi: Alle origini della concezione Heideggeriana dell’Essere. Il
trattato Vom Sein di Carl Braig, in: Rivista Critica di Storia della filosofia 2 (1980) 183194; Thomas F. O’Meara: Church and culture, Notre Dame 1991, 127-140.
Vgl. Bernhard Welte: Die Theologie zwischen Erbe und Neubeginn. Ein geistesgeschichtlicher Querschnitt durch die wissenschaftliche Arbeit der Freiburger Theologischen Fakultät im 20. Jahrhundert, in: Johannes Vincke (Hg.): Festschrift der Universität Freiburg zur Eröffnung des zweiten Kollegiengebäudes, Freiburg 1961, 9-30, bes.
13f.; ders.: 150 Jahre Theologische Fakultät Freiburg als Exempelfall theologischer
Entwicklung, in: Zwischen Zeit und Ewigkeit. Abhandlungen und Versuche, Freiburg
u.a. 1982, 135-157, bes. 149f.
Auch einige Einzelstudien über Aspekte des Werks von Carl Braig wurden in den
letzten 25 Jahren erstellt, so über seine Philosophie und seinen Antimodernismus.18
Dass angesichts der so gearteten Forschungslage, in der eine umfassende Darstellung und Würdigung des braigschen Opus noch fehlt, eine Arbeit wie die vorliegende ihre Berechtigung hat, liegt auf der Hand. Der Mangel an biographischem
Material soll dabei nicht als ein Nachteil bei der Behandlung der Person Braigs und
ihres Wirkens begriffen werden, sondern vielmehr als Ansporn, sicher auch im
Sinne Braigs selbst, sich auf sein schriftlich hinterlassenes und gedrucktes Werk
zu konzentrieren. Leben und Werk Braigs bieten gerade aus der Perspektive des
Betrachters, der sich nicht auf viele biographische Zeugnisse zu stützen vermag,
eine Einheit, die unter dem in der Überschrift genannten Begriff des „Apostolats
der Dialektik“ subsumiert werden kann.19
Das Apostolat der Dialektik ist das Formalobjekt, unter dem Leben und Werk
Braigs betrachtet werden können. Dabei muss dieser Begriff selbst noch mit Inhalt
gefüllt werden. Wenn Braig selbst sich als zu diesem Apostolat berufen weiß, dann
ist darunter die auf die Philosophie und vor allem die Logik und Erkenntnislehre
gestützte Apologetik gemeint.
Dass und wie sehr Braig von diesem Apostolat in Anspruch genommen ist, mit
welcher Leidenschaft er es verfolgt, zeigt schon der erste Teil dieser Arbeit, der
den äußeren Rahmen für das Schaffen Braigs umreißt, indem er das Leben des
aus Oberschwaben stammenden Theologen mit Hilfe der zur Verfügung stehenden
Quellen nachzeichnet. Eine Aufzählung der wichtigsten Werke soll dabei schon
zeigen, dass die Apologetik das eigentliche Zentrum von Braigs Arbeit darstellt.
Diese Apologetik soll in einem zweiten Teil genauer untersucht werden. Was sind
die Voraussetzungen, wie versteht Braig seine apologetische Wissenschaft? Während der erste Abschnitt dieses Teils die mehr allgemeinen Fragen der Apologetik
zum Gegenstand hat, will der zweite Abschnitt auf das konkrete Konfliktfeld des
„Modernismus“ eingehen. Hier muss allerdings berücksichtigt werden, dass Braig
sein gesamtes Wirken als ein gegen den „Modernismus“ gerichtetes ansieht, also
auch das vor der eigentlichen Modernismus-Krise der katholischen Kirche, die in
den bekannten Maßnahmen des römischen Lehramtes einmündete. Sein Modernismus-Verständnis erweist sich daher als weiter, so dass der „Modernismus“
gleichsam als heuristischer Begriff verwendet werden kann, um die konkreten Felder apologetischer Auseinandersetzung aufzusuchen.
In einem dritten Teil soll das Verhältnis der Philosophie Braigs zu seiner Apologetik
beleuchtet werden. Schon bei der Darstellung der apologetischen Bemühungen
18
19
Vgl. etwa Franz Träger: Das empirische Denken Carl Braigs, in: Perspektiven der Philosophie 5 (1979) 341-356; Karl Leidlmair: Carl Braig (1853-1923), in: Emerich Coreth
u.a. (Hgg.): Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1: Neue Ansätze im 19. Jahrhundert, Graz u.a. 1987, 409-419; Elmar Fastenrath: Christologie im Zeitalter des Modernismus. Die Analyse der Problematik in den
Schriften des Freiburger Dogmatikers Carl Braig, in: Münchener theologische Zeitschrift
34 (1983) 81-117.
Ich entnehme den Begriff des Apostolats der Dialektik einer frühen Rezension (Braig
1879b, 678).
13
Braigs fällt auf, wie sehr diese von der Philosophie bestimmt sind, entsprechend
dem Wort vom Apostolat der Dialektik. Dieses Wort erweist sich hier allerdings
noch einmal tiefer, als es nicht nur die Verpflichtung zur streng logischen Gedankenform beinhaltet, sondern auch das Moment des dialegesthai, des Unterscheidens, als das erste Merkmal von Sein und Erkennen in sich trägt. Höhepunkt und
Abschluss der braigschen Philosophie ist der Gottesbeweis, der am Ende dieses
Teils Berücksichtigung finden wird.
Ein Schlusswort soll noch einmal den Zusammenhang des braigschen Gedankens
aufzeigen und auch danach fragen, welche Relevanz ein Denken, wie es Braig uns
bietet, für die heutige Theologie haben kann. Dass eine Studie wie diese nicht um
dieser Relevanz willen verfasst wird, versteht sich von selbst.
14
Erster Hauptteil: Leben und Werk Carl Braigs
1
Kindheit und Jugend
Carl Borromäus20 Braig wurde am 10. Februar21 1853 geboren. Er war das erste
Kind der Eheleute Anton und Anna Maria Braig, geborene Widmann. Innerhalb von
15 Jahren wuchs die Familie stark heran, so dass Carl noch sieben Geschwister
folgten, sechs Schwestern und zuletzt noch ein Bruder. Der Hof der Eltern, die als
Bauern ihren Lebensunterhalt verdienten, befand sich direkt gegenüber der Kirche
in Kanzach, einem kleinen Dorf in der Nähe von Bad Buchau am Federsee.
Schon früh soll der Pfarrer des Ortes auf die besondere Begabung des kleinen
Carl aufmerksam geworden sein. Er gab ihm Lateinunterricht, und Braig besuchte
ab 1859 die Volksschule, ab 1866 die Lateinschule in Bad Buchau und ab 1869
das Gymnasium in Ehingen22. Die fromme Gesinnung des Elternhauses scheint
Eindruck auf die Kinder gemacht zu haben: Nicht nur Carl entschied sich für einen
geistlichen Beruf, sondern auch zwei seiner Schwestern, die in Sießen als Franziskanerinnen eintraten,23 und der Bruder Johann Baptist24, der später Priester der
20
21
22
23
24
Er selbst schreibt seinen Namen meist Carl, später auch Karl. Der Beiname Borromäus
taucht nur in frühen Dokumenten, etwa bis 1883, auf.
Die Personalakte im Diözesanarchiv Rottenburg (DAR G 1.7.1 Nr. 286) nennt als Geburtsdatum den 11. Februar 1853, Braig selbst aber immer den 10. Februar (vgl. etwa
seinen eigenhändigen, lateinisch abgefassten Lebenslauf [UAT 131/27b Nr. 11]).
Braig hat sicherlich im angegliederten Konvikt gewohnt. Gymnasialdirektor war damals
August Bomback (1814-1873); vgl. Georg Wieland: „Gymnasium für Oberschwaben“.
Geschichte des Gymnasiums und des Konviktes in Ehingen (Donau), in: Gymnasium
Ehingen (Hg.): 150 Jahre Gymnasium und Konvikt Ehingen (Donau), Ehingen 1975.
Nur einmal spricht Braig über seine Schulzeit: „Schon in meiner Gymnasiastenzeit hat
mich ein leidiger Ehrgeiz geplagt. Wenn es mir gelungen war, einen mathematischen
Satz zu beweisen, eine geometrische Konstruktion zu vollenden, da sagt’ ich mir wohl:
Nun siehst du zwar die Sache ein; du siehst, daß der Satz richtig ist und daß er richtiger
als richtig, bewiesener als bewiesen nicht wohl wird sein können – aber könnte man
das Ding nicht noch besser darstellen? Das Verlangen, das Richtige in der besten Form
zu erreichen, konnte und kann mir selbst heute noch zur Pein werden“ (Braig 1908e,
149).
Hubert Schiel: Briefe Freiburger Theologen an Franz Xaver Kraus. Ein Beitrag zur Geschichte der Freiburger Theologischen Fakultät, in: FDA 97 (1977) 279-379 (I); FDA 99
(1979) 376-498 (II); FDA 101 (1981) 140-230 (III); hier I 318, und Johannes Schaber:
Art. Braig, Carl, in: BBKL 14, 820-829, hier 820, sprechen von drei Schwestern, die ins
Kloster gingen. Nach Auskunft von Herrn Melchior Seiler, Kanzach, dem Urenkel von
Braigs Schwester Katharina, waren es nur zwei.
Johann Baptist Braig (Kanzach 1867 - Reute 1928), vgl. FDA 59 (1931), 13: „Braig, Johann Baptist * Kanzach 2. März 1867, Bruder des Univ.-Prof. Dr. Braig, ord. 5. Juli
1892, 1894 Pfrv. in Allmannsdorf, 1897 Kplv. in Waldkirch i.B., 1898 in Ostrach, 1901
Pfr. von Reute, 1919 Dekan des Landkapitels Waldkirch, † 23. Sept. B[raig] war ein
ebenso kenntnisreicher wie bescheidener Priester von tiefer Frömmigkeit u. erleuchte15
Erzdiözese Freiburg wurde. Zwei Schwestern waren als Haushälterinnen Carls, eine weitere im Haushalt des Bruders beschäftigt, so dass nur eine, Katharina, geheiratet hat und mit ihrem Mann den Hof der Eltern weiterführen konnte. Aus dieser Ehe ging ein Sohn hervor, der mit seinem Onkel in Freiburg später sehr
freundschaftlich verbunden gewesen sein soll.
Dass der Zusammenhalt innerhalb der Familie Braig ein sehr enger war, und auch
der Erstgeborene viel Familiensinn besaß, verrät nicht allein die Tatsache, dass
zwei seiner Schwestern in seinem Haushalt unterkamen. Die enge Beziehung namentlich zu seinem Bruder wird zum Beispiel deutlich, wenn Carl Braig als Stadtpfarrer von Wildbad an das Bischöfliche Ordinariat in Rottenburg die Bitte richtet,
man möge ihm doch diesen, der im Juni 1892 geweiht werden sollte, als Hilfsgeistlichen zuweisen. Man würde ihm damit einen „Herzenswunsch erfüllen“.25
2
Studium in Tübingen
Carl Braig trat im Herbst 1873 in das Wilhelmsstift in Tübingen ein und begann das
Studium an der Eberhard-Karls-Universität.26 Mit dem Wilhelmsstift bezog er das
für die Ausbildung der Priesteramtskandidaten in der Diözese Rottenburg zuständige Konvikt, das bereits 1817/18 gegründet worden war.27 Direktor und damit Leiter des Stiftes war in der Zeit von 1869 bis 1879 der spätere Bischof Wilhelm Reiser28, der damit Emil Ruckgaber29 beerbt hatte. Dieser hatte in Folge der sogenannten „Rottenburger Wirren“30 von 1868 seinen Abschied von Tübingen nehmen
müssen. Ruckgaber war ein gewisser Laxismus und Liberalismus in der Erziehung
der Konviktoren vorgeworfen worden, namentlich von seinem Denunzianten, dem
Regens des Priesterseminars Joseph Mast31. Diese Gegnerschaft muss im Zusammenhang mit dessen Bestrebungen gesehen werden, ein „tridentinisches Se-
25
26
27
28
29
30
31
tem, zu jedem Opfer fähigen Seeleneifer, welcher das religiöse Leben in seiner Pfarrei
zu hoher Blüte brachte; deren schöne gotische Pfarrkirche ist sein Werk“.
Vgl. Brief Braigs vom 20. Mai 1892 an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg (DAR G
1.7.1 Nr. 286 [Personalakte Braig]).
Vgl. die Aufnahmeakten im Tübinger Stiftsarchiv (AWT D 13.3a -d-/-6-); Braig wird mit
41 anderen Zöglingen am 19. September 1873 in das Stift aufgenommen.
Vgl. zum Wilhelmsstift Werner Groß: Das Wilhelmsstift Tübingen 1817-1869. Theologenausbildung im Spannungsfeld von Staat und Kirche, Tübingen 1978.
Zu Wilhelm Reiser (1835-1898), den späteren Bischof von Rottenburg (1893-1898), vgl.
August Hagen: Gestalten aus dem schwäbischen Katholizismus, Bd. 4, Stuttgart 1963,
7-34.
Zu Emil Ruckgaber (1828-1905) vgl. Groß: Wilhelmsstift 210-249.
Zu diesen Wirren, ausgelöst durch den Konflikt zwischen der Leitung des Priesterseminars in Rottenburg auf der einen und der Führung des Wilhelmsstiftes und der Theologischen Fakultät in Tübingen auf der anderen Seite vgl. Groß: Wilhelmsstift 232-249;
Hubert Wolf: Ketzer oder Kirchenlehrer? Der Tübinger Theologie Johannes von Kuhn
(1806-1887) in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit, Mainz 1992,
288-309.
Zu Joseph Mast (1818-1893) vgl. Werner Groß: Das Priesterseminar Rottenburg. Anfänge – Regenten – Ereignisse, Rottenburg 1986, 32-36.
16
minar“ zu errichten, in dem wissenschaftliche und pastorale Bildung in einer Hand
und stärker im Einflussbereich des Bischofs sein sollten. Manchem Ultramontanen
war die Trennung von universitärer und aszetischer Bildung in der Diözese ein
Dorn im Auge. Der neue Direktor Reiser, auch wenn er keineswegs zu den streng
Ultramontanen gerechnet werden konnte, musste sich dennoch bemühen, allen
Verdächtigungen hinsichtlich einer etwa zu lockeren Handhabung der Priestererziehung zuvorzukommen. Obwohl er also die Zügel strenger anzog, ist Carl Braig
in disziplinarischer Hinsicht nie unangenehm aufgefallen, im Gegenteil, die Semesterberichte, die der Direktor jeweils am Ende eines Halbjahres mit einer Beurteilung der einzelnen Zöglinge zu verfassen hatte, versichern stets, dass Braig sich
immer „ganz geordnet und brav“ und sittlich unbeanstandet verhalten habe.32
Mit der Tübinger katholisch-theologischen Fakultät bezog Braig eine noch nicht alte, aber auch schon damals sehr angesehene Einrichtung,33 die gerade zu Beginn
der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine schwere Krise durchgemacht hatte,
aus der sie sich auch zur Zeit, als Braig sie bezog, längst nicht erholt hatte. Anlass
war das Vatikanische Konzil und seine Verkündung des Unfehlbarkeitsdogmas
gewesen. Der seit 1869 amtierende Rottenburger Bischof und frühere Tübinger
Professor für Kirchengeschichte Carl Joseph Hefele34 war auf dem Konzil einer der
profiliertesten und engagiertesten Führer der Minorität gewesen, die gegen dieses
Dogma opponiert hatte. Rückhalt für diese Auffassung bekam Hefele von seiner
Tübinger Fakultät. Nach seiner Rückkehr aus Rom hat Hefele als letzter deutscher
Bischof sich schließlich doch noch zur Verkündung des Dogmas durchgerungen,
auch aus Rücksichtnahme auf die Tübinger Fakultät und seine ehemaligen Kollegen.35 Dadurch waren die Theologieprofessoren nämlich davon befreit, sich zu
dem Dogma öffentlich äußern zu müssen, welches die meisten von ihnen wohl
auch weiterhin ablehnten. Aber auch von Seiten der Fakultät wurde versucht, die
Wogen zu glätten. In Bezug auf das große Aufsehen, das nach dem Konzil überall
in Deutschland entstanden war, hielt man sich an der Tübinger Fakultät auffallend
zurück. „Ein Grund dafür war die Rücksicht auf Bischof Hefele, dem man nicht
noch mehr Schwierigkeiten bereiten wollte“36. Die Taktik des Bischofs und der Fakultät, ihre gegenseitige Rücksichtnahme, ging auf. Eine Spaltung wie die der Fakultäten in Bonn, Breslau und München blieb den Tübingern erspart. Johann
Evangelist von Kuhn, dessen Lehre in den sechziger Jahren aufgrund einer Denunziation in Rom in Verdacht und wohl nur knapp der Verurteilung entgangen
war, musste sich äußerst vorsichtig bewegen, um keine weitere Angriffsfläche zu
bieten. Als maßgebliche Autorität an der Fakultät zwang er diese zur Disziplin und
32
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35
36
Vgl. AWT D 13.2a -8- und -9- (Semesterberichte).
Vgl. Rudolf Reinhardt: Die katholisch-theologische Fakultät Tübingen im ersten Jahrhundert ihres Bestehens. Faktoren und Phasen der Entwicklung, in: ders. (Hg.): Tübinger Theologen und ihre Theologie. Quellen und Forschungen zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät Tübingen, Tübingen 1977, 1-42.
Vgl. zu Hefele (1809-1893) vgl. LThK3 4, 1239f.
Vgl. zur Rezeption der Beschlüsse des Konzils in Deutschland Klaus Schatz: Vaticanum I: 1869-1870, Bd. 3. Unfehlbarkeitsdiskussion und Rezeption, Paderborn u.a.
1994, 220-255, zu Hefele bes. 237f.
Reinhardt: Fakultät 38.
17
verordnete „in Sachen Unfehlbarkeit einen ‘Maulkorb’“37. Sich selbst hatte Kuhn ein
so weitgehendes Schweigen verordnet, dass er ab 1869 bis zu seinem Tod 1887
gar nichts mehr veröffentlichte. Seine Vorlesungen hielt er weiterhin, wenn auch
das Vatikanum in ihnen keine Erwähnung fand.38
In den ersten beiden Semestern mussten die Studenten, die sich aufs Priesteramt
vorbereiteten, zunächst philosophische Studien betreiben. Die Konviktoren nutzten
im Allgemeinen die breiten Bildungsmöglichkeiten der Universität, indem sie auch
über das Lehrangebot der Philosophen und Theologen hinaus allgemeingeschichtliche, mathematisch-naturwissenschaftliche oder philologische Lehrveranstaltungen besuchten, im Hinblick auf die spätere Pfarrseelsorge sogar solche in der
Landwirtschaftslehre.39 Braig zeigte nach Auskunft des Verzeichnisses der von ihm
zu hören gewünschten Vorlesungen40 neben seinem Interesse für die Philosophie
eine starke Neigung zu naturwissenschaftlichen Fächern, namentlich den mathematischen und physikalischen.41 Er betrieb „Physikalische Übungen im Seminar“
und „Elementarmechanik“, sowie Geometrie, Trigonometrie und Algebra. Daneben
belegte er eine fünfstündige Vorlesung „Universalgeschichte“ bei Professor Joseph
Fehr42. Von dem damaligen Repetenten Johann Storz43 wurde Braig in die Logik
und Noetik im Wintersemester 1873/74 und die Psychologie im Sommersemester
1874 eingeführt, von dem anderen Repetenten Matthias Hamma44 in die Metaphysik. Die Repetenten des Wilhelmsstiftes hatten das Privileg, selbst Vorlesungen
halten zu können, was wohl auch schon deswegen erwünscht war, weil an der Universität keine katholischen Professoren für Philosophie angestellt waren. Der seit
1848 in Tübingen lehrende, ursprünglich aus Wien kommende und der Schule
Anton Günthers entstammende Apologet Jakob Zukrigl45 war gerade 1873 in den
Ruhestand versetzt worden.
Obwohl also darauf geachtet wurde, dass die Tübinger Theologiestudenten ihre
Lehrveranstaltungen möglichst bei katholischen Dozenten besuchten, waren sie
gerade in der Philosophie lange gezwungen, diese an der philosophischen Fakultät
zu hören, die stets von protestantischen Professoren beherrscht war. Rudolf Rein37
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41
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43
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45
18
Wolf: Ketzer 351.
Vgl. ebd. 356.
Vgl. Groß: Wilhelmsstift 275-284.
Vgl. zum Folgenden Universitätsarchiv Tübingen (UAT) 41/4 Nr. 5.
Später wollte Braig sich zeitweise auf das Lehramt an der Schule für das Fach Mathematik vorbereiten; vgl. Brief Braigs vom 30. August 1889 an das Bischöfliche Ordinariat
in Rottenburg (DAG G 1.7.1 Nr. 286, [Personalakte Braig]).
Zu Joseph Fehr (1822-1891) vgl. Georg May: Mit Katholiken zu besetzende Professuren an der Universität Tübingen von 1817 bis 1945, Amsterdam 1975, 317-329; 399;
467-470; 511-517.
Zu Johann Nepomuk Storz (1839-1895) vgl. Alfons Neher: Personal-Katalog der seit
1845 ordinierten und z. Zt. in der Seelsorge verwendeten geistlichen Kurse des Bistums
Rottenburg nebst einer Sozialstatistik der Landesgeistlichkeit, Stuttgart 41909, 78. Storz
wurde neben Braig auch für die Nachfolge Kuhns ins Auge gefasst (vgl. unten).
Zu Matthias Hamma (1845-1874) vgl. Neher: Personal-Katalog 107f. Hamma war ein
früh verstorbener, wohl von Kuhn als sein Nachfolger ausersehener Repetent am Wilhelmsstift, dem Braig viel für seine Philosophie verdankte.
Zu Jakob Zukrigl (1807-1876), dem Nachfolger Johann Sebastian Dreys in Tübingen,
vgl. May: Professuren 277-281.
hardt nennt gerade diese Tatsache einen wichtigen Faktor für die Entwicklung der
Theologischen Fakultät im 19. Jahrhundert: „Es war zwar oft der Anlaß von Querelen, zwang aber die Studenten, sich mit dem zeitgenössischen System auseinanderzusetzen. Man lebte in permanenter Konfrontation mit dem ‘Zeitgeist’ und konnte sich nicht ins bequeme Getto einer ‘philosophia perennis’ zurückziehen“46. Eine
der genannten Querelen betraf den Philosophen Jacob Friedrich Reiff47, der als
Anhänger der hegelschen Philosophie galt. Da man darauf achtete, die Studenten
nicht allzusehr mit widerchristlichem oder auch nichtkatholischem Gedankengut zu
konfrontieren, verbot man Anfang der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts einigen
Kursen des Wilhelmsstiftes, sich für philosophische Vorlesungen einzuschreiben.48
Möglicherweise hatte sich die Auffassung der Konviktsdirektion geändert; Carl
Braig besuchte jedenfalls die vierstündige Vorlesung „Geschichte der griechischen
Philosophie“ bei dem genannten Professor Reiff. Daneben standen die „Grundprobleme der Philosophie“ bei Christoph Sigwart49 auf seinem Stundenplan. Prägend
für die philosophische Erziehung Braigs war wohl auch der Ästhetiker Karl Reinhold Köstlin50, der Braig im Wintersemester 1874/75 in die Praktische Philosophie
und im Wintersemester 1875/76 in die Poetik einführte. Das Interesse für Literatur
macht sich auch in der Belegung des vierten Semesters (Sommersemester 1875)
bemerkbar, in dem Braig ausschließlich philologische Studien betrieb. Dass Braig
die offene und freie, nicht auf eine bestimmte Schule festgelegte Studiensituation
in Tübingen auch später noch sehr zu schätzen wusste, wird deutlich, wenn er beispielsweise gegenüber dem Neuscholastiker Michael Glossner51 anmahnt, die Folgen der Enttäuschung zu bedenken, „die begabte, strebsame jugendliche Geister
erfahren, wenn sie den in seiner Schule [sc. der Neuscholastik] vielleicht gemachten Erkenntnissgewinn vergleichen mit dem Gewinn, den sie hätten machen sollen
und anderwärts vielleicht hätten machen können“52. Es ist offensichtlich, dass der
Grund für das „Selbstdenkertum“, das nach Bernhard Welte die große Theologie
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,53 aber namentlich auch noch den Geist
Carl Braigs kennzeichnete,54 in dessen frühen Studienjahren grundgelegt wurde.
Die theologische Lehre in Tübingen war während der vierjährigen Studienzeit
Braigs von so hochkarätigen Wissenschaftlern wie dem schon genannten Johann
Evangelist von Kuhn55, Franz Xaver Linsenmann56 und Franz Xaver Funk57 vertre-
46
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55
Reinhardt: Fakultät Tübingen 11.
Zu Jakob Friedrich Reiff (1810-1879) vgl. May: Professuren 262-266, 269f., 341, 423f.
Vgl. Groß: Wilhelmsstift 277.
Zu Christoph Eberhard Philipp Sigwart (1830-1904) vgl. Rudolf Eisler: PhilosophenLexikon. Leben, Werk und Lehre der Denker, Berlin 1912, 677-679.
Zu Karl Reinhold Köstlin (1819-1894) vgl. ADB 51, 343f.
Zu Michael Glossner (1837-1909) vgl. LThK3 4, 754.
Carl Braig: Eine Frage, in: Philosophisches Jahrbuch 12 (1899) 92-95, hier 95.
Vgl. Bernhard Welte: Zum Strukturwandel der katholischen Theologie im 19. Jahrhundert, in: Ders.: Auf der Spur des Ewigen. Philosophische Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Religion und der Theologie, Freiburg u.a. 1965, 380-409, hier
besonders 386f.
Vgl. Welte: 150 Jahre 149f.
Zu Johann Evangelist (von) Kuhn vgl. LThK3 6, 501f.; Wolf: Ketzer.
19
ten. Bei letzterem hörte Braig im Wintersemester 1874/75 Kunstgeschichte und Archäologie, im Sommersemester 1876 Kirchengeschichte. Von Funk wird gesagt,
dass er ein unbestechlicher Wissenschaftler mit einer unerbittlich kritischen Haltung gewesen sei, der immer zunächst die Fakten sprechen lassen wollte, statt sie
mit einer dogmatischen oder apologetischen Sicht tendenziös zu verunklaren.58
Franz Xaver Linsenmann lehrte Moral, Pastoraltheologie und Liturgik, welche Fächer Braig in den letzten beiden Semestern seines Studiums zu hören hatte
(1876/77). Aus den Memoiren Linsenmanns und seiner Bemerkungen zur Wiederbesetzung des kuhnschen Lehrstuhls wissen wir um sein gestörtes Verhältnis zu
Braig. Die Frage, ob sich dies aber schon während Braigs Studienzeit so verhielt,
ist eher zu verneinen. Alfons Auer vermutet, dass „die angeborene psychische Labilität [Linsenmanns] sich erst im Alter bei ihm stärker durchsetzen konnte“59, so
dass der schwermütige und mitunter ätzende Ton seiner Lebenserinnerungen,
dem auch Braig zum Opfer gefallen ist, sich von daher erklären könnte. Die Tendenz zum „Abrechnen“, die den Lebenserinnerungen deutlich anzumerken ist,
räumt Linsenmann selbst ein, wenn er zugibt, dass die Urteile, die er zu vielen
Personen, die ihm begegnet waren, seiner subjektiven Stimmung entflossen seien.
Eine andere Tendenz, zu der Linsenmann neigt, benennt Reinhardt als die der „Interpretation des eigenen Lebens“60. Er nennt als Beispiel die Opposition Linsenmanns gegen das Vatikanum und seine Sympathie für die altkatholische Bewegung, wovon in den Erinnerungen jeweils nichts übrig bleibe. In seiner akademischen Lehre wollte Linsenmann seine Schüler zur Eigenverantwortlichkeit für
Wahrheit und Geist erziehen, sie herausreißen aus einer Mentalität des einfachen
Nachbetens.
Die siebenstündige Dogmatikvorlesung bei Johann Evangelist von Kuhn hörte
Braig im Studienjahr 1875/76. Vom viel kommentierten Schweigen Kuhns ab 1869
war schon die Rede. Nach seiner letzten Veröffentlichung in der Tübinger Theologischen Quartalschrift über ein Thema der Gnadenlehre publizierte Kuhn bis zu
seinem Tod 1887 keine wissenschaftliche Arbeit mehr. Auch sonst hielt Kuhn sich
mit öffentlichen Auftritten deutlich zurück. So ist auch sein Verzicht auf eine „solemne Feier“ zu seinem 40jährigen Dienstjubiläums zu erklären. „Man war – im Interesse der Kirchenpolitik – zum Leisetreten verurteilt. Und dieser Taktik mußte
Kuhn auch seine Jubelfeiern ‘opfern’“61. Es wird noch Gelegenheit sein, das Verhältnis Braigs zu einigen Inhalten der Lehre Kuhns zu beleuchten, dem er trotz zu56
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Zu Franz Xaver von (seit 1882) Linsenmann (1835-1898) vgl. LThK3 6, 945f.; Rudolf
Reinhardt (Hg.): Franz Xaver Linsenmann. Sein Leben, Bd. 1: Lebenserinnerungen,
Sigmaringen 1987.
Zu Franz Xaver Funk (1840-1907) vgl. LThK3 4, 238f.
Vgl. Hermann Tüchle: Franz Xaver von Funk (1840-1907), in: KThD 3, 276-299; Rudolf
Reinhardt: Wie „liberal“ war Franz Xaver Kraus?, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte
105 (1994) 229-233.
Alfons Auer: Franz Xaver Linsenmann (1835-1898), in: KThD 3, 215-240, hier 221.
Reinhardt: Linsenmann 16.
Dominik Burkard: Geschmäht, bescheiden oder taktisch klug? Oder: Warum verzichtete
Johann Evangelist Kuhn 1877 auf eine „solemne Feier“ seiner 40jährigen Lehrtätigkeit
in Tübingen? Ein Beitrag zum „Kulturkampf“ in Württemberg, in: Rottenburger Jahrbuch
für Kirchengeschichte 15 (1996) 159-172, hier 162.
nehmender Differenzen in einigen Punkten immer ein ehrendes Andenken bewahrt
hat.
Weiters hörte er Vorlesungen zum Alten Testament bei Felix von Himpel62, der eine leidenschaftliche Abneigung gegen die Definition des Unfehlbarkeitsdogmas
hegte und dies auch gern öffentlich gemacht hätte. Die Zurückhaltung Kuhns in
dieser Frage hielt er für grundfalsch, war aber klug genug, es nicht zum Eklat
kommen zu lassen.63 Ob Himpel seine kirchenpolitischen Ansichten auch seinen
Schülern gegenüber offen äußerte, wissen wir nicht. Braig jedenfalls muss dem
Alttestamentler in guter Erinnerung geblieben sein, denn er empfahl ihn uneingeschränkt dem Freiburger Franz Xaver Kraus auf dessen Nachfrage für eine Dozentur in Philosophie oder Dogmatik.64 Braig besuchte auch die Vorlesungen für Neues Testament bei Moritz von Aberle65, dessen „entschiedene Kirchlichkeit und unnachgiebige Wahrhaftigkeit [..] die treibenden Impulse seiner vielseitigen
Interessen und seiner weitgespannten Tätigkeit“66 waren. Von ihm konnte Braig die
Wichtigkeit eines sauberen historischen Denkens für die Eruierung der Wahrheit
lernen. Aberle vertrat seine Ansichten freimütig und machte wie Himpel keinen
Hehl aus seiner Ablehnung des Infallibilitätsdogmas. Nach dem frühen Tod, der
den 56jährigen am 3. November 1875 ereilte, übernahm Paul Schanz67 den neutestamentlichen Lehrstuhl. Von Schanz wird im Folgenden noch die Rede sein müssen, weil er 1882 als Nachfolger Kuhns auf den dogmatischen Lehrstuhl gelangte,
den Braig für sich erhofft hatte. Schanz war ähnlich wie Braig darum bemüht, das
naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit mit dem Glauben ins Gespräch zu bringen. Für Heinrich Fries war Schanz „neben Herman Schell der bedeutendste Apologet des modernen Katholizismus“68. In der Exegese bemühte sich Schanz, was
Braig später auch ein wichtiges Anliegen wurde, um die Klärung und Abgrenzung
der Zuständigkeitsbereiche von Theologie, von Bibel und von Naturwissenschaft.
Von Schanz wurde freilich die Exegese, die Braig bei ihm hörte, „höchstens als
Hilfswissenschaft für die als theologische Hauptsache angesehene Systematik
gewertet“69. Für die praktischen Fächer Kirchenrecht, Pädagogik und Didaktik war
Franz Quirin Kober70 zuständig. Dieser war ein kirchenpolitisch gemäßigter Gelehrter, dem vor allem die Wahrung des konfessionellen Friedens im protestantisch
dominierten Württemberg am Herzen lag.
Aufgrund einer gewissen, nicht näher spezifizierten Kränklichkeit, „die auf ein tiefliegendes Lungenübel zurückgeführt“71 wurde, war es Braig bald nach Eintritt ins
Konvikt gestattet, außerhalb des Stiftes zu wohnen. Dieses Privileg bekamen nur
wenige Konviktoren, vor allem aus gesundheitlichen Gründen, weil man so dem
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71
Zu Felix von Himpel (1821-1890) vgl. BBKL 16, 718-726.
Vgl. Wolf: Ketzer 358.
Vgl. Brief Himpels an Kraus vom 14. Mai 1884 (Hubert Schiel: Franz Xaver Kraus und
die katholische Tübinger Schule, Ellwangen 1958, 71f.).
Zu Moritz (von) Aberle (1819-1875) vgl. LThK3 1, 47.
Herbert Haag: Moriz Aberle 1819-1875, in: ThQ 150 (1970) 67-70, hier 67.
Zu Paul von Schanz (1841-1905) vgl. LThK3 9, 108f.
Heinrich Fries: Paul von Schanz 1841-1905, in: KThD 3, 190-214, hier 212.
Heinrich Fries: Paul Schanz 1841-1905, in: ThQ 150 (1970) 75ff., hier 75.
Zu Franz Quirin Kober (1821-1897) vgl. LThK2 6, 363; BBKL 4, 193-196.
Abschlussbericht des Konviktsdirektors (DAR G 1.1, Nr. 288).
21
strengen Tagesablauf, der innerhalb der Stiftsmauern Geltung hatte, enthoben
war. Im Verzeichnis der Universitätsangehörigen wird Braig als wohnhaft bei
Schuhmacher Müller in der Haaggasse (Nummer 196) verzeichnet, wo er bis zum
Ende seines Studiums in Tübingen wohnen bleibt.72
Möchte man etwas über die Studienzeit Braigs erfahren, so muss man neben den
Abschlussberichten des Konviktsdirektors das nicht gerade schmeichelhafte Zeugnis zu Rate ziehen, das uns die Memoiren F.X. Linsenmanns vor Augen stellen.
Linsenmann schildert Braig als einen Studenten, der sich zeit seines Studiums
„durch zwei Dinge bemerklich gemacht hatte, erstens dadurch, daß er sich [...] um
seiner Gesundheit willen vom Studium der Theologie zu einem großen Teil hatte
dispensieren lassen, und zweitens dadurch, daß er als Philosoph und Bearbeiter
philosophischer Preisfragen eine hohe Meinung von sich hatte und auch in anderen zu erwecken bestrebt war. Und da in der Philosophie meist dasjenige als das
Gründlichste und Bedeutendste gilt, was kein Mensch verstehen kann, so war es
dem Mann, der sein Licht nicht unter den Scheffel stellte, nicht schwer, bald als
Philosoph zu gelten“73. Noch einmal sei betont, dass man das Zeugnis Linsenmanns, der in seinen Erinnerungen wirklich kein Blatt vor den Mund genommen
hat, wenn nicht korrigieren, so doch relativieren muss. Hubert Wolf zeigt in seiner
Monographie über Johann Evangelist Kuhn überzeugend, dass das „einseitig negative Charakterbild, das Linsenmann in seinen Lebenserinnerungen [sc. von
Kuhn] zeichnet, [..] nicht haltbar“ sei. Bei Linsenmann gelte es zu bedenken, dass
„er aus einer Perspektive des ständig Benachteiligten und Skrupulanten schreibt,
der neben dem starken Kuhn Minderwertigkeitskomplexe bekam“74, und vielleicht
nicht nur gegenüber Kuhn.75
Wenn Linsenmann von den Preisarbeiten spricht, so sind damit jene akademischen Preisfragen gemeint, die man als Kinder der Aufklärung bezeichnet hat, die
auch an den Fakultäten der Tübinger Universität für die Studenten ausgeschrieben
wurden und für die vom württembergischen König Anfang des 19. Jahrhunderts je
ein Preis gestiftet worden war. Die Studenten, die sich an der Lösung der jährlich
gestellten Preisaufgaben der theologischen, philosophischen, rechtswissenschaftlichen und medizinischen Fakultät versuchten, hatten auf diese Weise Gelegenheit, ihren wissenschaftlichen Eifer unter Beweis zu stellen, und dies nutzten auch
die Konviktoren des Wilhelmsstiftes nicht nur in ihrem eigenen Fachbereich unter
reger Beteiligung.76 Zweimal versuchte sich auch Carl Braig mit Erfolg an der Lösung der von der Philosophischen Fakultät gestellten Preisaufgaben. In der „Bekanntmachung der Ergebnisse der akademischen Preisbewerbung vom Jahre
1875 bis 1876 und der neuen für das Jahr 1876 bis 1877 bestimmten Preisaufgaben“77 wird die Aufgabe der Philosophischen Fakultät wie folgt beschrieben: „Un72
73
74
75
76
77
22
Vgl. Verzeichnis der Beamten, Lehrer und Studirenden der königl. württemb. Universität
Tübingen in dem Winter-Halbjahr 1874-75.
Reinhardt: Linsenmann 250.
Wolf: Ketzer 383f.; vgl. ebd. 359f.
Vgl. auch die Betonung der Einseitigkeit der Aufzeichnungen Linsenmanns durch Reinhardt: Linsenmann 15ff.
Vgl. Groß: Wilhelmsstift 284f.
Tübingen 1876.
tersuchung der ästhetischen Bedeutung des Reims nach ihren verschiedenen Seiten, mit Rücksicht theils auf die verwandten Klangfiguren in Rede- und Dichtkunst,
theils auf den Unterschied der antiken von der mittelalterlichen und modernen
Poesie“78. Die Fakultät hatte zwei Arbeiten erhalten. Das Motto der braigschen, leider nicht erhaltenen, Arbeit lautet: „῾`Εν διάφερον ἑαυτῷ Heraklit“. In der Beurteilung heißt es: „Die [..] Arbeit setzt sich das Ziel, den Gegenstand möglichst umfassend zu behandeln auf dem Wege einer ausführlichen sprachwissenschaftlichen,
literarhistorischen, philosophisch-ästhetischen, ja selbst bis zum metaphysischen
Gebiete vorgehenden Untersuchung. Sie zeichnet sich aus durch reiche Belesenheit, durch gründliches, tief eindringendes, methodisches und selbstständiges
Denken, durch großen Ernst, Umsicht und Besonnenheit. Die Darstellung ist zwar
nicht überall durchsichtig genug, die Ausführung vielfach zu breit, der deutsche
Ausdruck nicht immer gehörig gefeilt, und einzelne Aufstellungen über Geist und
Dichtung des klassischen Alterthums sind von der Art, daß man ihnen nicht zustimmen kann. Deß ungeachtet aber erklärte die Facultät die durch ihre vielseitige
wissenschaftliche Tüchtigkeit ausgezeichnete Arbeit unbedenklich für würdig, den
Preis zu erhalten“79.
Auch im darauf folgenden Jahr versuchte sich Braig wieder an der Preisaufgabe
der Philosophen. Die im Jahr 1877 von der philosophischen Fakultät gestellte Aufgabe war übertitelt: „Durch den Tübinger Professor Georg Bernhard Bilfinger[80] ist
die Leibniz’sche Philosophie in Tübingen eingeführt worden. Es soll eine Übersicht
über seine philosophischen Schriften gegeben und untersucht werden, inwieweit
dieselben eine selbstständige Fortbildung der Leibniz’schen Lehre enthalten“81.
Insgesamt wurden drei Arbeiten eingereicht, von denen die ebenfalls nicht erhalten
gebliebene Braigs so begutachtet wird: „Die [..] Arbeit mit dem Motto: Σύμπνοια
πάντα enthält zuerst eine sehr fleißige, sorgfältige und gut durchgearbeitete, nur
theilweise breite und schwerfällige, auch nicht immer genau zutreffende Analyse
der Hauptschriften Bilfingers, der der Inhalt der übrigen Schriften nicht ungeschickt
eingereiht ist; der zweite Theil aber bringt in einer für den Gegenstand wenig geeigneten dialogischen Einkleidung statt einer präcisen Antwort auf die gestellte
Frage vielmehr eine oft schwülstige und unklare mit manchen Wiederholungen beschwerte Ausführung über den Werth der Leibniz’schen und Bilfinger’schen Metaphysik auf Grund der eigenen, zwar von Talent und Interesse zeugenden, aber
noch nicht genügend abgeklärten Gedanken des Verfassers. Die Facultät [...] wollte Strebsamkeit und Fleiß ihres Verfassers durch Zutheilung eines Accessits anerkennen, welchem Antrag das Königl. Ministerium seine Genehmigung ertheilt
hat“82.
78
79
80
81
82
Ebd. 8.
Ebd. 9.
Zu Georg Bernhard Bilfinger (Bilffinger) (1693-1750) vgl. Werner Ziegenfuß: Philosophen-Lexikon, Bd. 1, Berlin 1949, 119.
Bekanntmachung der Ergebnisse der akademischen Preisbewerbung vom Jahre 1876
bis 1877 und der neuen für das Jahr 1877 bis 1878 bestimmten Preisaufgaben, Tübingen 1877, 7f., in: Tübinger Universitätsschriften aus dem Jahre 1877, Tübingen 1877.
Ebd. 8f.
23
Sowohl Braigs starkes Interesse an ästhetischen Fragen, das auch an späteren
Veröffentlichungen immer wieder deutlich wird, wie auch seine LeibnizKennerschaft scheinen hier grundgelegt worden sein.
1877 schloss Braig sein Studium mit dem Examen pro seminario83 ab. Gleichzeitig
konnte er unter Heranziehung seiner ersten Preisschrift zum Doktor der Philosophie84 promoviert werden. Von Konviktsdirektor Reiser wurde Braig für die Aufnahme ins Priesterseminar in Rottenburg beurteilt und charakterisiert: „Braig, Karl,
[...] geb. 11. [sic!] Feb. 1853, zählt zu den primis des Kurses. Carl Braig besitzt ein
schönes Wissen, rechten Charakter, Streben nach clericaler Vollkommenheit, lobenswerten Eifer, aufrichtige Frömmigkeit. Sein Talent darf als ein eigentlich productives zu selbständiger Thätigkeit Geeigenschaftetes prädiziert werden. Namentlich verräth B. Anlage und Vorliebe für philosophische Dinge u. hat aus diesem
Gebiete – gegen den Willen seiner Vorgesetzten – 2 Preisaufgaben gelöst [...].
Leider steht diesem regen und strebsamen Geiste nur ein schwächliches Leibsorgan zur Verfügung. Wegen andauernder Kränklichkeit, die auf ein tiefgreifendes
Lungenübel zurückgeführt wird, hatte Braig durch alle 4 Jahre die Ermächtigung, in
der Stadt zu wohnen. Mehrmals mußte er deshalb sein Studium auf längere Zeit
vollständig unterbrechen und wird im Seminar und im späteren Berufsleben der
Schonung bedürfen, wenn anders die nächsten Jahre für den hoffnungsvollen
Candidaten nicht geradezu kritisch werden sollen. Es ist dies um so mehr zu bedauern, als Braig mit einem für alles Gute und Schöne begeisterten Gemüt, zarte
Gewissenhaftigkeit, unverdorbenen Herz, aufrichtiger Frömmigkeit ausgestattet
ist“85.
Zweierlei gilt es festzuhalten. Zum einen macht sich in der Betonung der Selbstständigkeit des Denkens von Carl Braig schon jenes „Selbstdenkertum“ bemerkbar, das auch später seine Unabhängigkeit und kritische Haltung gegenüber jedweder Schule kennzeichnen sollte. Unabhängigkeit bewies Braig auch, indem er
gegen den Willen der Konviktsleitung an die Lösung der Preisaufgaben ging. Vielleicht macht sich hier ein Charakterzug bemerkbar, der in der Beurteilung positiv
als Eifer und Strebsamkeit aufgenommen ist, der aber auch als eine gewisse Sturheit und Unnachgiebigkeit im Hinblick auf die Dinge, die er sich fest zu erreichen
83
84
85
24
AWT D 14.2i -8- (Examen pro seminario) führt die Noten der Abschlussprüfungen an (1
ist die schlechteste, 6 die beste Note): Altes Testament: 5; Neues Testament: 5; Kirchengeschichte schriftlich: 3, mündlich: 5; Dogmatik schriftlich: 6, mündlich: 4; Moral
schriftlich: 4, mündlich: 6; Kirchenrecht schriftlich: 5, mündlich: 5; Pastoral: 5; Pädagogik: 6; Summe: 59; (6=r[echt] g[ut]; 5=g[ut]; 4=z[iemlich] g[ut bis] g[ut]; 3=z[iemlich]
g[ut]; 2=m[äßig]). Alle 25 Kandidaten haben bestanden (Braig als einer der Erfolgreichsten); ebenfalls hier die Beurteilung Braigs gemäß der Testimonien-Tabelle des IV.
Kurses im Sommer-Semester 1877: Sitten: rg; Talent: g; Fleiß im Berufsstudium: rg;
Fortgang im Berufsstudium: grg; Location: Ib; Bemerkungen: ganz geordnet.
Vgl. UAT 132/61 – 1877,16 (Doktordiplom; Beurteilung: bene comprobatum); das „Verzeichnis der Doctoren welche die Philosophische Fakultät der Königlich Württembergischen Eberhard-Karls-Universität in Tübingen im Dekanatsjahre 1877-1878 ernannt
hat“, Tübingen 1878, führt Braig an zehnter Stelle auf: „Karl Borromäus Braig, aus Kanzach, Theol. Cand., 2. August (Ästhetik)“.
DAR G 1.1 Nr. 288.
vorgenommen hat, interpretiert werden kann, und die ihm dann auch später eine
so schwere Enttäuschung beibringen sollte.
Carl Braig trat also nach Beendigung der Studien in Tübingen in das Priesterseminar in Rottenburg am Neckar ein.86 1817 war das Priesterseminar der Diözese von
Ellwangen in die Bischofsstadt verlegt worden, wobei aber die Aufgabe und die
Einrichtung des Instituts dieselbe geblieben waren. Regens, Subregens und ein
Repetent sorgten für die Ausbildung der Alumnen in den Fächern Pastoraltheologie im weiteren Sinn, das heißt die Kenntnisse des Religionslehrers betreffend,
Homiletik, Katechetik, Liturgik und Pastorallehre im engeren Sinn, nämlich in Bezug auf die Ausübung der übrigen Amtsgeschäfte. Daneben gab es praktische Anleitung zur Führung der Kirchenbücher und einen Überblick über die kirchlichen
Verordnungen, ferner Predigtübungen, Ritusübungen und Lehrproben.87 Dazu
wurden die Kandidaten zu einem intensiven geistigen Leben angeregt.88 Regens
war nach dem unseligen Ausgang der „Rottenburger Wirren“ und der Absetzung
des schwierigen Joseph Mast seit 1868 Valentin Beron89. Braig erinnert sich später
an die Schönheiten seiner Seminarszeit: „Genau vor fünfundzwanzig Jahren ist es
gewesen, an dem Ufer eines vielbesungenen deutschen Flusses. Unter den Bäumen eines weltentrückten Gartens, aus deren blätterlosen Kronen ein Atemhauch
des Frühlings niederwehte, wandelten die jugendlichen Kandidaten des heiligen
Priesterstandes [...]“90.
Nach der einjährigen Zeit im Seminar wurde Braig am 2. August 1878 vom Rottenburger Bischof Karl Joseph Hefele91 zum Priester geweiht. Sein Primizamt feierte
Braig am 15. August 1877, am Fest Mariä Himmelfahrt, wohl in seiner Heimatpfarrei.
3
Als Repetent in Tübingen
In der nur kurzen einjährigen Vikarszeit in Horb am Neckar zog Braig sich „ein gefährliches Übel – hernia inguinalis –“92 zu, das ihn erkennen ließ, dass er für den
praktischen Kirchendienst nicht geeignet sei. Auf der ersten Liste der Konviktskommission, die einen Nachfolger für den am 12. April 1879 verstorbenen Repetenten Karl Knittel93 vorschlagen sollte, war der Name Braigs noch nicht zu finden.
Erst als der Erstplatzierte krankheitshalber seinen Verzicht erklärte und der Zweite
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89
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91
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93
Zum Priesterseminar in Rottenburg vgl. Groß: Priesterseminar.
Vgl. Groß: Priesterseminar 12f.
Vgl. ebd. 13f.
Zu Valentin Beron (1830-1891) vgl. Groß: Priesterseminar 26; Neher: Personal-Katalog
40.
Braig 1903b, 1.
Zu Carl (Karl) Joseph (von) Hefele (1809-1893) vgl. LThK3 4, 1239f; Erwin Gatz (Hg.):
Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches
Lexikon, Berlin 1983, 295ff.
Brief Braigs vom 21. Juni 1893 an den königlich katholischen Kirchenrat (DAR F IV, Nr.
150). Die Hernie ist ein Eingeweidebruch.
Zu Karl Knittel (1846-1879) vgl. Neher: Personal-Katalog 99.
25
anderweitig Aufgaben übernehmen sollte, kam es zu einer zweiten Liste mit Carl
Braig an zweiter Stelle. Warum der Erstplatzierte das Angebot nicht annehmen
konnte oder wollte, ist nicht zu ermitteln. Braig jedenfalls wurde von seinem Bischof nach Tübingen gerufen,94 so dass er wieder in seine Studienstadt wechselte,
um am dortigen Wilhelmsstift als Repetent zu wirken. Eingetreten ist er dort am 18.
August 1879.95 Als Repetent hatte Braig generell die Aufgabe, den Konviktsdirektor
bei seinen Aufgaben zu unterstützen. Das hieß konkret, für die Ausbildung der
Zöglinge sowohl in wissenschaftlicher wie auch in sittlich-religiöser Hinsicht Sorge
zu tragen. Letzteres geschah vor allem dadurch, dass die Repetenten als Beichtväter für die Studenten eingesetzt waren, daneben aber auch Predigten, Exhortationen und Meditationen zu halten hatten. Neben seiner seelsorglichen Verpflichtung innerhalb des Stiftes war Braig als Repetent zugleich Vikar in der Pfarrgemeinde Tübingen, der bis 1896 stets der Konviktsdirektor als Stadtpfarrer
vorstand.96
Die wissenschaftliche Seite des Repetentendaseins bestand neben der Studienberatung darin, Repetitionen über die ihnen zugewiesenen Fächer zu halten.97 Braig
war dem Fachbereich Dogmatik und Apologetik zugeordnet.
In seine frühe Zeit als Repetent fielen auch erste Veröffentlichungen in der Theologischen Quartalschrift. Braig rezensierte mehrere Bücher, vornehmlich philosophischen und religionsphilosophischen Inhalts.98 In seiner breit angelegten apologetischen Schrift „Die Zukunftsreligion des Unbewußten und das Princip des Subjektivismus“99, die er ebenfalls während seiner Repetentenzeit verfasste, setzte sich
Braig intensiv mit der Philosophie des Berliner Privatgelehrten Eduard von Hartmann auseinander. Wenn Braig selbst diese Schrift später auch als eine „mit mehr
Eifer als Methode geschrieben[e]“100 ansieht,101 klingen in ihr doch all die Themen
an, die Braig während seines weiteren Gelehrtenlebens beschäftigen sollten; die
Auseinandersetzung mit einem zeitgenössischen Denken, die apologetische Ausrichtung gegen den „Modernismus“, der hier zum ersten Mal als Thema einer Apologie zur Sprache kommt, wenn auch noch nicht ganz in der später von Pius X.
gemeinten Bedeutung.
Professor Kuhn, der aufgrund seiner politischen Tätigkeit als Abgeordneter der
Kammer der Standesherren im Württembergischen Landtag immer wieder an seinen Lehrverpflichtungen gehindert war, beauftragte die für seinen Bereich zuständigen Repetenten mehrmals damit, an seiner Stelle und nach seinen Heften die
94
95
96
97
98
99
100
101
26
Brief Hefeles an das Direktorium des Wilhelmstiftes vom 29. Juli 1879 (AWT D13.1b-5).
Vgl. AWT D 13.1b -5- (Repetentenakten).
Vgl. Groß: Wilhelmsstift 255; 270; am 10. August 1880 erteilt der Bischof von Rottenburg Braig „die Vollmacht zur Ausübung der Seelsorge unter Nachlassung der sonst
geforderten schriftlichen Arbeiten auf weitere 5 Jahre“ (AWT D 13.1b -5-).
Vgl. Groß: Wilhelmsstift 265-274.
Vgl. Braig 1879a; 1879b; 1880a; 1881a; 1881c.
Freiburg 1882.
Karl Braig: Der Papst und der Modernismus, in: Allgemeine Rundschau 4 (1904) 551.
Auch Linsenmann äußerte sich nicht positiv. Er monierte, dass diese Schrift zu wenig
überzeugend, zu unverständlich und zu anspruchsvoll geschrieben worden sei (vgl.
Reinhardt: Linsenmann 252).
Dogmatikvorlesungen an der Universität zu halten.102 Die Kosten für diese Vertretungen wurden seit 1855 aus dem Konviktsfond übernommen.103 So gelangte
Braig schon im Wintersemester 1880/81 in die Situation, seinen Lehrer am Katheder vertreten zu müssen, ebenso im Winter 1881/82 und in den beiden darauffolgenden Semestern.104
Nach der Emeritierung Kuhns am 14. November 1882 machte sich Braig große
Hoffnungen, auf dessen Lehrstuhl berufen zu werden.105 Seiner Wahrnehmung
nach war er in diesen Hoffnungen während seiner Jahre als Repetent stets bestärkt worden. So schreibt er, einige Jahre später und noch immer nicht recht versöhnt mit seinem Schicksal, im Vorwort zu seiner Neubearbeitung der „Philosophischen Propädeutik“ von Joseph Beck über sich: „Einem jungen Manne hatte man
seine Lebenshoffnung nach einem bestimmten Ziele gelenkt, auf den Wegen des
‘Gehorsams’; seine Vorliebe für die philosophischen Studien, hieß es, wäre für die
Zukunft ausschlaggebend. Man spannte die Kräfte des Gehorchenden und Vertrauenden über menschliches Vermögen an, nicht ohne Versprechungen und nicht
ohne schmeichelnde Lobsprüche“106.
So war die Enttäuschung groß, als ihm ein anderer vorgezogen wurde. Linsenmann führt in seinen Erinnerungen als Gründe für die Nichtberufung Braigs an,
dass dieser nicht die Leistungen erbracht habe, die man von ihm zu erhoffen gedacht hatte, dass er zudem vor seiner Repetentenzeit „als Philosoph sich möglichst exklusiv gegen die Theologie, die doch jetzt seine Aufgabe war, verhalten
hatte“107. Außerdem hatte er bis dahin noch sehr wenig veröffentlicht, sowohl generell, als auch was die Dogmatik im engeren Sinne betraf, das Fach, das zu vertreten gewesen wäre. Man hatte sich hinsichtlich der Berufungen immer auch gegenüber den anderen Fakultäten zu rechtfertigen und meinte so, von dem jungen
Dozenten absehen zu müssen. Also wurde der schon früher als Repetent für die
Dogmatik tätig gewesene Professor für Neues Testament, Paul Schanz, berufen.
Tief getroffen von seinem Unglück, polemisierte Braig in den ersten Jahren nach
dieser Enttäuschung immer wieder gegen Schanz in einer Weise, die ein ungünstiges Licht auf den Charakter Braigs wirft.
102
103
104
105
106
107
Vgl. Wolf: Ketzer 367.
Kuhn hatte sich dies ausbedungen, wenn er einem Ruf aus Freiburg nicht Folge leisten
würde; vgl. Wolf: Ketzer 133.
Vgl. UAT 184/222; UAT 126/60; UAT 51/51.
Linsenmann schildert die missliche Angelegenheit aus seiner Sicht; vgl. Reinhardt: Linsenmann 250-55.
Braig-Beck: Propädeutik XI. Weiter heißt es dort: „Als die Entscheidung kam, ward der
Jünger der Philosophie bei Seite gestellt; seine Leistungen, hieß es jetzt, sind unklar
und unpraktisch, und Philosophie, das illusorische Ding, ist überhaupt entbehrlich. Noch
ein Achselzucken, und die Lebenshoffnungen dessen, der die schönsten Jahre zwecklos, aber selbstlos geopfert hatte, lagen wie empfindungslose Scherben zerbrochen.
Dem Beseitigten blieb der Trost, er sei für sein ‘Opfer’ gut ‘bezahlt’ gewesen“. Fast
wörtlich wiederholt Braig diese Darstellung in einem Brief vom 30. August 1889 an das
Bischöfliche Ordinariat in Rottenburg, in dem er um die Übernahme der Kosten für einen ihm unentbehrlich gewordenen Hilfsgeistlichen bittet (vgl. DAR G 1.7.1 Nr. 286; s.u.
Anm. 114).
Reinhardt: Linsenmann 251.
27
In den Ausführungen der Theologischen Fakultät, in denen es um die Wiederbesetzung des Kuhnschen Lehrstuhles geht, kommt das Kollegium hinsichtlich Braig
zu folgender Beurteilung: „[...] Sofort mußten wir den bisherigen und gegenwärtigen Stellvertreter unsres ausgeschiedenen Herrn Seniors [Kuhns], Repetent Dr
Braig und den frühern mehrjährigen Repetenten der philosophischen Fächer Dr
Storz[108], seit Herbst 1875 Pfarrer, bald hernach auch Schulinspektor zu Neuburg
a. d. Donau, ins Auge fassen. Beide haben unlängst literarische Proben ihrer Studien und philosophischen Begabung abgelegt. Ersterer veröffentlichte „Die Zukunftsreligion des Unbewußten und das Prinzip des Subjektivismus“ als apologetischen Versuch. [... W]ir [dürfen] in ersterer Schrift genauere Bekanntschaft mit den
Problemen spekulativer Philosophie der neuern und neusten Zeit und angestrengtes Ringen nach selbständiger Auseinandersetzung mit denselben keineswegs
verkennen [...]. Einer nähern Darlegung der Mängel, welche die genannte Jugendarbeit [...] bietet [...], welcher theologische, öfters in ungehöriger Weise gehandelte
Materien ohne streng sachlichen Zusammenhang nur so angeflikt sind, überhob
uns indessen zu unserer Befriedigung und beseitigte damit auch jede weitere Ungewißheit in Rücksicht auf etwaige Berufung von auswärts die Bereitwilligkeit unseres Collegen Professor Dr Paul Schanz, den Lehrstuhl [...] zu übernehmen“109.
Linsenmann kommt in diesem Zusammenhang zu einem harten Urteil über seinen
ehemaligen Schüler Braig. Keiner der vielen, die für das akademische Lehramt
ausersehen waren und es dann doch nicht erlangen konnten, „hat das schwerer
genommen und sich bitterer zu rächen gesucht als Braig“. Dabei habe er sich aber
so ungeschickt verhalten, „nach allen Seiten auszufallen und aus denen, die zuvor
nicht seine Freunde waren, durch seine groben Invektiven sich Feinde zu machen,
ohne zu bedenken, daß Männer, deren Einfluß ihm früher, wie er meinte, geschadet hatte, ihm noch viel schlimmer schaden konnten, wenn er vor ihnen seine ganze innere rachsüchtige und gereizte Natur enthüllte“110.
Ähnlich, aber etwas milder, äußerte sich 1893 der inzwischen zum Bischof ernannte Wilhelm Reiser, als er von seinem Münsteraner Kollegen Hermann Dingelstad
um ein Gutachten über Braig gebeten wurde. Nach einem großen Lob für die Begabung, das Wissen und die Unantastbarkeit der kirchlichen Gesinnung und des
priesterlichen Lebenswandels Braigs fährt der Bischof fort: „Dabei erachte ich es
als Pflicht, darauf hinzuweisen, daß Dr. Braig seit längerer Zeit mit einem Teil[111]
der Professoren der kath. Theol. Facultät in Tübingen in einem weniger freundlichen Verhältnisse steht. Als Repetent des Wilhelmsstiftes daselbst hatte Dr. Braig
durch mehrere Semester hindurch in Stellvertretung des Prof. Dr. v. Kuhn den Vortrag der Dogmatik zu besorgen. Er lebte sich in die Hoffnung hinein, dessen Nachfolger auf dem Lehrstuhle zu werden. Als diese Hoffnung fehlschlug, u. Prof. Dr.
Schanz den Lehrauftrag für Dogmatik erhielt, ließ sich Braig im Unmut über die
Vereitlung seines Herzenswunsches zu einer recht unerquicklichen Polemik gegen
einige Mitglieder der Facultät hinreissen. Ähnlich unfreundlich gestaltete sich des108
109
110
111
28
Gemeint ist der schon oben erwähnte Johann Storz, von dem Braig in die Philosophie
und Psychologie eingeführt worden war (vgl. oben Anm. 43).
UAT 184/222.
Reinhardt: Linsenmann 255.
„Teil“ ist nachträglich von gleicher Handschrift am Rand ergänzt.
sen Verhältnis zu dem verstorbenen Bischof Dr. C. J. v. Hefele, den er auf seinem
Rat in Verdacht hatte, daß er an seiner Uebergehung mitschuldig sei“. Weiter gibt
Bischof Reiser aber seiner Hoffnung und Zuversicht Ausdruck, dass Braig sich,
wenn er am Ziel seiner Wünsche sei, erträglich und umgänglich verhalten werde.112
Aus Sicht Braigs hatte sein Unmut durchaus einen Grund, was auch Linsenmann
in gewisser Weise konzediert.113 Nach Braigs eigener Darstellung glaubte er als
frisch nach Tübingen gekommener Repetent, „sich dem Lehramte widmen zu dürfen. Das hätte seinen Neigungen zugesagt u. er hätte sich für Mathematik entschieden, ein Fach, in welchem auf kath. Seite damals wenig Konkurrenz war“.
Dann trug man ihm aber die Vertretung Kuhns an. Dabei „ward ihm, dem jungen
Geistlichen, der nirgends einen Rückhalt wußte, nicht nur seine Pflicht des Gehorsams vorgehalten, sondern es wurden ihm auch, seine Zukunft betreffend, positive
Versprechungen gemacht von Seiten (mehreren übereinstimmend), denen zu vertrauen ihm ebenfalls Pflicht war. Dreimal unternahm es der Unterz. [sc. Braig], seine Zukunft auf sicherere Grundlagen (d.h. auf methodische Prärogative für das
Lehrfach) zu stellen, als Versprechungen sie zu bieten schienen. Es ward ihm alles
vereitelt; man hatte nur die Rede vom ‘Gehorsam’ u. ‘Vertrauen’, nebst der Äußerung: selbst wie Unterz. seine besten Lebensjahre ‘opfern’ müßte, würde dies auf
seinen Wünschen nicht wesentlichen Einfluß üben dürfen; denn er sei ja ‘gut bezahlt’ dafür“114. Auf welcher Seite die Schuld lag, ob Braig wirklich mündlich Versprechungen gemacht worden waren, die so eindeutig waren, dass er sich so auf
die Übernahme der Kuhn-Nachfolge verlassen konnte, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Es spricht aber einiges dafür, dass Braig selbst diesen Wunsch gehabt
hat und sich durch das, was er aus den Zusprüchen der anderen Beteiligten herauszulesen meinte, in seinen Hoffnungen bestärkt fühlte. Es lässt sich gut vorstellen, dass Braig in seinem eifrigen und zielstrebigen Wesen alles darangesetzt hat,
dieses Ziel zu erreichen, dass er aber vielleicht über diesem Eifer ein wenig den
Blick für die Realität und für die Möglichkeit eines Scheiterns seiner Wünsche verloren hat. Zumindest wird deutlich, welche Ursache das von Linsenmann gerügte
ausfallende Wesen hatte, das noch deutlich in der gegen Schanz polemisierenden
Schrift „Gottesbeweis oder Gottesbeweise?“ von 1888 spürbar ist. In dieser Schrift
kritisierte Braig in scharfer Weise die neuesten Veröffentlichungen von Schanz,
112
113
114
DAR G 1.7.1 Nr. 286.
Linsenmann meint, dass Braig sich schon während seiner Repetentenzeit so benommen habe, als sei er bereits Inhaber des Lehrstuhls. „An dieser Anwartschaft war er
nun freilich nicht allein schuldig. Man hatte ihn schon zuvor mit solcher Auszeichnung
behandelt und ihn hernach in seinen Hoffnungen bestärkt, daß es einigermaßen gerechtfertigt ist, wenn er nach seiner späteren Enttäuschung den Grund seiner Zurücksetzung nicht in sich finden und das Benehmen derer nicht begreifen konnte, welche
ihn zuvor auf den Schild gehoben hatten“ (Reinhardt: Linsenmann 251).
Brief Braigs vom 30. August 1889 an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg (DAR G
1.7.1 Nr. 286).
29
wenngleich auch versichert wird, „daß den Verfasser andere als wissenschaftlichsachliche Beweggründe nicht geleitet haben“115.
Neben dieser mehr kämpferischen Seite an Braigs Charakter, mit der er gegen
sein Schicksal angehen zu müssen meinte, lässt sich in diesen Jahren und hinsichtlich dieser Erlebnisse auch ein gewisser Hang zu Selbststilisierung und
Selbstmitleid erkennen, so wenn er noch 1893, vielleicht auch wegen der aussichtslos erscheinenden Lage in diesem Jahre (vgl. u.), voll Resignation und
Schwermut schreibt: „Den Launen der Höheren hat man meine Jugend geopfert;
werthlos sind mir die schönsten Jahre vergangen; der Neid kleiner Geister hat
meine Erstlingshoffnungen gebrochen. Wie es geht in einer Gesellschaft von Gestalten, die sich Männer heißen: die Selbstsucht ‘Größerer’ hat sich an die Arbeit
gesetzt, nachdem der Reif des Argwohnes auf das Feld meiner Thätigkeit gestreut
war. Indessen, was bedeutet mein armes Leben, dessen gläubiges Vertrauen man
täuschen durfte, dessen zersplitterte Hoffnungen man mit kargen Münzen abzulohnen sucht?“116 An F.X. Kraus schreibt Braig 1887: „Ew. Hochwohlgb. war bekannt, daß ich gerne die akademische Laufbahn gewählt hätte, daß aber widrige
Verhältnisse in der Heimat meinen Hoffnungen sozusagen das Herzblatt versehrt
hatten“117.
Auch die Bemühung des Rottenburger Bischofs Hefele, Braig beim preußischen
Kultusministerium für eine Professur in Breslau vorzuschlagen, schlug fehl.118
Braig verließ119 darauf Tübingen, um zunächst im Sommer 1883 eine ausgedehnte
Studienreise durch deutsche Länder zu unternehmen,120 die ihn nach „München,
Innsbruck, Salzburg, Wien, Prag, Dresden, Leipzig, Halle, Berlin, Münster, Bonn,
Würzburg“121 führte, wo Braig Gelegenheit hatte, „den dermaligen Stand der philosophischen und apologetischen Forschung in Oesterreich und Deutschland so
ziemlich kennen zu lernen“122. Leider ist der Abschlussbericht Braigs für das Ministerium nicht erhalten geblieben, so dass man nur raten oder aus wenigen Andeutungen entnehmen kann, was Braig auf seiner Reise erfahren hat.123 In München
115
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30
Braig: Gottesbeweis oder Gottesbeweise? Würdigung neuer und neuester apologetischer Richtungen in Briefen an den hochw. Herrn Prof. Dr. Constantin Gutberlet in Fulda, Stuttgart 1887, III.
Braig 1893a, 94.
Brief Braigs an Kraus vom 18. März 1887 (Schiel: Briefe I 322).
Vgl. Schiel: Briefe I 318f., 322.
Vgl. AWT D 13.1b -5-: „abgegangen 16. April 1883. Morg[en]s früh 4 ¾ U.“.
Am 30. März 1883 bewilligt der Bischof den beantragten Urlaub vom 16. April bis 1.
September desselben Jahres (vgl. AWT D 13.1b -5-).
Braig: Gottesbeweis III. Die von Braig hervorgehobenen Stationen München, Wien,
Berlin waren auch die, die sein Lehrer Kuhn im Herbst 1831 anzusteuern gedachte; vgl.
Wolf: Ketzer 17.
Braig 1884a, 154; die Reise dauerte vom 16. April bis Anfang August 1883 und wurde
vom Staat mit einem Stipendium in Höhe von 1000 Mark unterstützt (vgl. AWT D 13.1b
-5-).
Vgl. zu den Vertretern der theologischen Fakultäten an den entsprechenden Orten Peter Walter: Die deutschsprachige Dogmatik zwischen den beiden Vatikanischen Konzilien untersucht am Beispiel der Ekklesiologie, in: Hubert Wolf (Hg.): Die katholischtheologischen Disziplinen in Deutschland 1870-1962. Ihre Geschichte, ihr Zeitbezug,
Paderborn 1999, 164-230.
lehrten Alois von Schmid124 Apologie und Dogmatik und Josef von Bach125 Pädagogik und Philosophie. Möglicherweise begegnete Braig in Innsbruck dem Jesuiten
Johann Evangelist Wieser126, der wie er selbst philosophisch-apologetisch ausgerichtet und sich an der Frage der natürlichen Gotteserkenntnis und den Gottesbeweisen interessiert zeigte.127 In Wien hörte Braig im Mai eine Vorlesung von Franz
Brentano über „Philosophie der Geschichte der Philosophie“128. An dieser zweistündigen Vorlesung129 hatte Braig später vor allem auszusetzen, dass hier ein
dem comteschen Positivismus ähnlicher Entwicklungsgedanke gelehrt wurde. In
Prag traf Braig sicherlich auf Josef Sprinzl (1839-1898), der ein weiter verbreitetes
„Handbuch der Fundamentaltheologie“ verfasst hatte.130 In Halle begegnete Braig
Hermann Ulrici, von welcher Begegnung Braig später schrieb: „als ich in Halle an
der Saale weilte, war er für mich die besorgte Menschenfreundlichkeit“131. An der
Universität in Berlin hörte Braig im Sommer „öffentliche, sehr zahlreich besuchte
Vorlesungen über Darwin[132] und den Darwinismus“. Hier wurde Braig bekannt mit
den Gedanken des ein Jahr zuvor verstorbenen Naturforschers, denen aber in genannter Veranstaltung viele logische Schnitzer nachgewiesen wurden.133 In Münster lehrte zu dieser Zeit Joseph Anton Schwane134, zu dessen Nachfolger im Jahr
1893 Braig beinahe ernannt worden wäre. Ebenfalls war dort der berüchtigte Josef
Bautz135 Professor, der aufgrund seiner stupenden Kenntnisse über die Geographie des Jenseits auch „Höllen-Bautz“ genannt wurde. In Würzburg war der schon
länger erkrankte Heinrich Denzinger136 gerade verstorben. Sein Nachfolger auf
dem Lehrstuhl für Dogmatik war Franz Seraph Hettinger137, dessen „Lehrbuch der
Fundamental-Theologie“ zu einem Standardwerk wurde. Es war wohl auch Hettin-
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137
Zu Alois von Schmid vgl. LThK3 9, 178; Josef Finkenzeller: Alois von Schmid (18251910), in: KThD 3, 125-144.
Zu Josef von Bach (1833-1901) vgl. LThK3 1, 1342.
Zu Johann Evangelist Wieser (1831-1885) vgl. BBKL 15, 1503f.
Vgl. Emerich Coreth: Die Philosophie an der theologischen Fakultät Innsbruck 18571957, in: Zeitschrift für Katholische Theologie 80 (1958) 142-183, hier 143-146.
Vgl. Braig 1885b, 451f. Anm.; Jesus Christus 161f. Otto Weiß hält Braig für einen Schüler Brentanos, was aufgrund des höchstens einige Wochen währenden und Braig nicht
sonderlich beeindruckt habenden Aufenthalts in Wien etwas übertrieben klingt (vgl. Otto
Weiß: Der Modernismus in Deutschland. Ein Beitrag zur Theologiegeschichte, Regensburg 1995, 137; 199).
Vgl. Josef M. Werle: Franz Brentano und die Zukunft der Philosophie. Studien zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftssystematik im 19. Jahrhundert, Amsterdam
1989, 160.
Joseph Sprinzl: Handbuch der Fundamentaltheologie als Grundlegung der kirchlichen
Theologie vom religionsphilosophischen Standpunkt bearbeitet, Wien 1876.
Braig 1893a, 376.
Zu Charles Robert Darwin (1809-1882) vgl. LThK3 3, 28f.
Vgl. Braig 1911f, 745.
Zu Joseph Schwane (1824-1892) vgl. LThK3 9, 318.
Zu Josef Bautz (1843-1917) vgl. LThK3 2, 97.
Zu Heinrich Joseph Dominikus Denzinger (1819-1883) vgl. LThK3 3, 99.
Zu Hettinger (1819-1890) vgl. LThK3 5, 77.
31
ger, mit dem Braig eine längere Unterredung über die „neuesten Auswüchse“ der
Tübinger Theologie führen konnte.138
Eine solche Studienreise war im 19. Jahrhundert bei Tübinger Theologen als Qualifikation für einen Lehrstuhl üblich, solange die Habilitation sich noch nicht als allgemein gebräuchliche Form der Qualifizierung durchgesetzt hatte. Johann Evangelist Kuhn hatte beispielsweise auf seiner Reise gleich Gelegenheit bekommen, in
Gießen Vorlesungen zu halten und schließlich auch eine Professur zu übernehmen.139 Braig schrieb aus Frankfurt am Main, am 2. August 1883, schon gegen
Ende seiner Reise, an seinen Bischof, dass er in Bonn auf Vertreter der sieben
Jahre zuvor gegründete Görres-Gesellschaft140 gestoßen sei, die ihm schon 3 ½
Jahre vorher die Bereitschaft erklärt hatte, ihn bei der Vorbereitung auf das akademische Lehramt zu unterstützen. Jetzt habe man das Angebot konkretisiert und
verschiedene Vorschläge zur Ausführung dieses Vorhabens diskutiert. Er solle sich
entweder in Bonn oder in Freiburg habilitieren, oder aber sich in Tübingen um eine
philosophische Dozentur bewerben. Eine jährliche Unterstützung von 500 Talern
wolle man ihm für drei oder vier Jahre zusichern. Braig schrieb an den Bischof, um
dessen Meinung zu erfragen, aber auch, ihn um Unterstützung zu bitten. Das erhalten gebliebene Konzept der bischöflichen Antwort erkennt zwar die Ehre, die
der Antrag der Görres-Gesellschaft bedeutet, meldet aber starke Bedenken an:
Man könne nie sicher sein, wirklich eine Anstellung an einer Universität zu bekommen, und die Stellung eines Extraordinarius oder eines Privatdozenten würde
auf Dauer auch finanziell nicht zufriedenstellen können. In Tübingen sieht der Bischof gar keine Chance, weil der Versuch der Einrichtung einer philosophischen
Dozentur bislang immer erfolglos war, also auch jetzt sein wird, zumal Braig durch
seine Anti-Hartmann-Schrift „Die Zukunftsreligion des Unbewußten“ einflussreiche
Professoren der Universität vor den Kopf gestoßen habe.141
Braig hat wohl auch nichts weiter in der Sache unternommen. Seine Verbindung
zur Görres-Gesellschaft ist aber auch weiterhin durch einen Vortrag auf der Jahresversammlung von 1884, zwei Beiträge im von der Gesellschaft herausgegebenen Philosophischen Jahrbuch und durch die Gewährung eines Reisestipendiums
für eine Exkursion nach England (1889/1890) belegt.
138
139
140
141
32
Vgl. Braig: Gottesbeweis 2; Braig spricht von einer Unterredung „mit einem Manne, der
als Lehrer die erste, als Gelehrter eine der ersten Stellen einnimmt, und der von sich
sagen kann, daß er, mit den katholischen und protestantischen Vertretern der Wissenschaft bekannt, die Entwicklung der Philosophie und der Theologie seit D. F. Strauß
recht eigentlich miterlebt habe“; der Inhalt der Unterredung, die Bibelkritik und das Zurücktreten der philosophischen Behandlung der Denkaufgaben zugunsten naturwissenschaftlicher Empirie, ist auch Gegenstand einer Untersuchung des Werts philosophischen Studiums, wo es an einer Stelle heißt: „Einer der ersten Apologetiker der Gegenwart (Hettinger) verlangt gegen die charakterlose Verflachung, gegen die Seuche
der Zweifelsucht und gegen den rechthaberischen Hochmuth der Wissenschaftlichkeit,
dass die Jugend nicht mit dem Sandregen der Kritik überschüttet werde“ (Braig 1884a,
153).
Vgl. Wolf: Ketzer 19-24.
Zur „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft“ vgl. LThK3 4, 843 (Lit.).
Vgl. DAR G 1.7.1 Nr. 286.
Paul Schanz deutete das Motiv dieser Reise weniger wissenschaftlich: „Braig [...]
wollte vor allem mit den Philosophen und Theologen Deutschlands Bekanntschaft
anknüpfen, um sich dadurch in die gelehrte Welt einzuführen und für eventuelle
Gelegenheit zu empfehlen“142.
4
Als Stadtpfarrer in Wildbad
Nach einem Aufenthalt in der Schweiz143 im Spätsommer und Herbst 1883 zu
Sprachstudien im Französischen ließ Braig sich als Stadtpfarrer nach Wildbad im
Schwarzwald versetzen. Die Stadt Wildbad mit ihren bekannten Thermalquellen,
die ein internationales Kurpublikum anzogen, war im 19. Jahrhundert im Verhältnis
zur Bevölkerung, die ihren ständigen Wohnsitz dort hatte, eine Diasporagemeinde.144 Die katholische Pfarrgemeinde bestand noch nicht lange; zuvor waren die
Katholiken des Oberamts Neuenbürg, zu welchem auch Wildbad zählte, nach Weil
der Stadt eingepfarrt gewesen. Von der Seelsorgetätigkeit in Wildbad erwartete
sich Braig ein ruhiges, wenigstens seine angeschlagene Gesundheit nicht weiter
verschlimmerndes Auskommen.145 Seine Briefe an das Ordinariat in Rottenburg
verraten aber, dass Braig seine Situation als wenig erfreulich und zunehmend unerträglich beurteilte. Es sollten fast genau zehn Jahre sein, die er von seiner Investitur am 28. November 1883 bis Oktober 1893 in Wildbad pastoral tätig sein sollte.
Braig war neben seiner regelmäßigen Seelsorgsarbeit zusätzlich noch vom 30.
Dezember 1884 bis 20. Januar 1887 Bezirksschulinspektor für das Kapitel Stuttgart, und erneut vom 12. März 1887 bis 31. Januar 1888,146 „ein Amt, das er nach
wenigen Versuchsjahren [aus gesundheitlichen Gründen] niederzulegen gezwungen war“147.
Es waren vor allem drei Gründe, die Braig für seine Arbeit in der Kurstadt als belastend anführte. Zunächst war es seine gesundheitliche Situation, die sich sehr
unbefriedigend entwickelte. Die sich während seiner Studentenzeit den Berichten
des Konviktsdirektors gemäß zusehends verbessernde Gesundheit erfuhr während
seines Vikariatsjahrs wieder einen Rückschlag durch den Eingeweidebruch, den
142
143
144
145
146
147
Brief Schanz’ an Carl Werner vom 2. August 1884 (Joseph Pritz: Mensch als Mitte. Leben und Werk Carl Werners, Wien 1968, 409f., hier 410).
Vgl. Briefe Braigs aus Fontaines bei Neuchâtel im Schweizer Jura an den damaligen
Stiftsdirektor Bonifaz Maier. Braig hielt sich dort ab etwa 7. August bis zum 23. Oktober
1883 auf, um dann wegen der seiner Gesundheit abträglichen Klimaverhältnisse über
Einsiedeln in seine Heimat (Kanzach) zurückzukehren. Auch für diesen Aufenthalt wurde ihm eine Staatsunterstützung von 300 Mark gewährt (vgl. AWT D 13.1b -5-).
1860 war Wildbad eine Gemeinde von 2655 Einwohnern, wovon 57 katholischen und
einer jüdischen Bekenntnisses waren (vgl. Königlich statistisch-topographisches Bureau
(Hg.): Beschreibung des Oberamts Neuenbürg, Stuttgart 1860, 234).
„Nach der Zerstörung seines Lebensglückes ward dem Unterz. ‘Wildbad’ umständlich
als ‘glänzende Satisfaktion’ angewiesen“ (Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat in
Rottenburg vom 30. August 1889 [DAR G 1.7.1 Nr. 286]).
Vgl. Neher: Personal-Katalog 276.
Vgl. Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 30. August 1889 (DAR
G 1.7.1 Nr. 286).
33
sich Braig in Horb zuzog. Dadurch war er auch nachfolgend nicht mehr zu vollem
Einsatz fähig. Bereits im Juni 1888 bat Braig um Entlastung durch die Zuweisung
eines Vikars, der unter anderem die anstrengenden Pastorationsbesuche zu den
Filialen Herrenalb und Neuenbürg machen sollte.148 Ein Jahr später, am 15. Juli
1889, brach sich Braig am rechten Fuß einen Knochen im Gelenk, so schwer, dass
er für einige Wochen nicht gehen konnte.149 Auch wenn seine Gehfähigkeit wieder
hergestellt wurde, blieb doch das Grundübel erhalten, das Braig immer wieder zum
Anlass nehmen musste, um Erleichterung seiner Situation zu bitten. Diese erhoffte
er sich zumindest teilweise durch die Zuwendung eines Vikars, womit aber das
zweite Problem berührt ist. Die Bezahlung des Vikars nämlich hätte Braig selbst
übernehmen müssen, was ihn in eine schwierige finanzielle Lage versetzt hätte,
zumindest nach Ausweis seiner Klagen, die er in den Briefen an das Ordinariat
führte. Immer wieder rechnete Braig vor, dass sein Gehalt nicht ausreiche, die
Versorgung des Vikars zu leisten, zumal angesichts der teuren Lebenshaltungskosten in dem Kurort. Braig, der seine beiden Schwestern mitversorgen musste,
verwies darauf, dass der Stadtpfarrer auch „standesgemäß“ leben müsse. Vom
königlich katholischen Kirchenrat wurde Braig zunächst ein Zuschuss von 300,
später dann von 500 Mark pro Jahr bewilligt.150 Braig war damit nicht zufrieden; für
den Vikar brauchte er die doppelte Summe.
Der dritte Grund für seine Unzufriedenheit während der Tätigkeit in dem Kurort war
die mangelnde geistige Anregung, die er erfuhr. Der Kurbetrieb brachte es mit sich,
dass für den Seelsorger in den langen Wintermonaten sehr viel freie Zeit blieb, die
Braig zum Studium hätte nutzen wollen. Wissenschaftliche Anregung war aber in
dem abseits gelegenen Ort kaum zu bekommen, viele Bücher zu beschaffen,
machte die Knappheit der Mittel unmöglich. 1891 schrieb Braig: „Seit 8 Jahren [..]
ist er [sc. Braig] belehrt, daß es immerhin schwer u. oft unmöglich ist, in leerem
Hause, mit leerer Zeit u. lauem Wasser allein wissenschaftlicher Thätigkeit obzuliegen“151. Diese Verödung auszugleichen, bemühte sich Braig durch mehrere wissenschaftliche Reisen, die er während seiner Jahre in Wildbad unternehmen konnte. Wohl auch weil die seelsorglichen Anforderungen innerhalb des Kurortes im
Sommer höhere waren als im Winter,152 konnte es sich Braig immer wieder leisten,
zu Studienreisen sich beurlauben zu lassen.
Vom 1. Oktober 1887 bis zu 1. Mai 1888 ließ Braig sich für einen Aufenthalt in Paris und Toulouse vom Ordinariat in Rottenburg freistellen und bekam für diese Zeit
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152
34
„Vergangenen Winter hat Unterz., trotz großer geistiger Anstrengungen, es dahin gebracht, daß sein Befinden wesentlich gebessert schien. Nun verlangte vergangene
Nacht ein Unglücksfall – tötliche Erkrankung einer seiner Schwestern – mehr als gewöhnliche Anstrengung. Die Folge war die Wahrnehmung, daß des Unterf. Kräfte,
scheint es, in gewisser Hinsicht sich erschöpfen wollen“ (Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 14. Juni 1888 [DAR G 1.7.1 Nr. 286]).
Vgl. Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 24. Juli 1889 (DAR G
1.7.1 Nr. 286).
Vgl. Briefe des Kirchenrats an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 18. Oktober
und 24. Dezember 1889 (DAR G 1.7.1 Nr. 286).
Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 26. August 1891 (DAR G
1.7.1 Nr. 286).
Vgl. Schiel: Briefe I 322.
einen Stellvertreter. In seinem Bittgesuch an das Ordinariat bemerkte Braig, dass
er zur Zeit „gute Verbindungen für wissenschaftliche und sehr nötige sprachliche
Studien in Paris“153 habe. In Toulouse machte er Bekanntschaft mit dem Kanonikus Marc-Antoine-Marie-François Duilhé de Saint-Projet154, dessen vielgerühmte
„Apologie scientifique de la foi chrétienne“155 er bald nach seiner Reise übersetzte
und, mit eigenen Zusätzen versehen, in deutscher Sprache herausbrachte.156 Die
Einleitung zu diesem Werk wurde von der Theologischen Fakultät der Universität
Freiburg als Dissertation anerkannt, so dass Braig am 25. Mai 1889 zum Doktor
der Theologie promoviert werden konnte.157 Schon zuvor hatte Braig dort angefragt, ob eine andere von ihm in Wildbad verfasste Schrift, nämlich „Gottesbeweis
oder Gottesbeweise? Würdigung neuer und neuester apologetischer Richtungen in
Briefen an den hochw. Herrn Prof. Dr. Constantin Gutberlet[158] in Fulda“, als Dissertation angenommen werden könnte. Die Fakultät hatte dies abgelehnt wegen
der darin enthaltenen scharfen Polemik gegen den Tübinger Kollegen und Braigs
Widersacher Paul von Schanz.159
Die Studienreise nach Frankreich war für Braig also sehr produktiv. Sie regte ihn
an zu intensiver wissenschaftlicher Arbeit, deren Frucht auch der theologische
Doktorgrad war. Leider ist nicht mehr bekannt über Braigs Verbindungen nach Paris. Es ist aber anzunehmen, gerade im Hinblick auf seine Bekanntschaft mit dem
Kanonikus aus Toulouse, dass Braig am ersten internationalen Kongress katholischer Gelehrter in Paris teilnahm, der vom 8. bis 13. April 1888 stattfand. Möglicherweise war er sogar der einzige Reichsdeutsche, der dort anwesend war.160
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Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 28. Mai 1887 (DAR G 1.7.1
Nr. 286).
Zu Duilhé de Saint-Projet (1822-1897) vgl. LThK2 3, 597.
Toulouse 1885 u.ö.
Braig: Apologie.
Vgl. Wolfgang Müller: Fünfhundert Jahre theologische Promotion an der Universität
Freiburg i. Br., Freiburg 1957, 108; UAF B 35/36 (25. Mai 1889).
Zu Constantin (Konstantin) Gutberlet (1837-1928) vgl. LThK3 4, 1117.
Vgl. UAF B 35/36 (Protokollbuch der Theologischen Fakultät), wo am 12. Juni 1888 in
Bezug auf das Ansuchen Braigs vermerkt ist, „daß die Fakultät zwar geneigt sei, ihm
das Doctorat zu ertheilen, jedoch Anstand nehme, es auf Grund seiner letzten, gegen
einen Tübinger Collegen polemisierenden Schrift zu thun“.
Maurice d’Hulst, einer der Mitinitiatoren des Kongresses, grüßte in seiner Eröffnungsansprache die Vertreter der verschiedenen Länder: „[...] Salut au Wurtemberg, qui nous
envoie un membre éminent de son clergé pour personnifier l’érudition germanique et la
fraternité catholique, toujours étrangère aux querelles des nations!“ (Congrès scientifique international des catholiques tenu à Paris du 8 au 13 avril 1888, tome premier, Paris 1889, LXXVII); Braig ist zwar in der Liste der adhérents nicht genannt; diese nennt
nur sehr wenige Deutsche, die aber wohl alle verhindert waren, persönlich auf dem
Kongress zu erscheinen; vgl. Karl Hausberger: „Kirchenparlament“ oder Forum des Dialogs zwischen Glaube und Wissen? Die internationalen Gelehrtenkongresse (18881900) und ihr Scheitern im Kontext der Modernismuskontroverse, in: Heinrich Petri u.a.
(Hgg.): Glaubensvermittlung im Umbruch (Festschrift für Manfred Müller), Regensburg
1996, 109-142, hier 118 Anm.; ein anderer württembergischer Priester ist in der Liste
der adhérents genannt, Alois Frisch (1836-1890) aus Mochenwangen, von dem aber
nicht gesagt werden kann, dass er ein „membre éminent“ des Rottenburger Klerus gewesen sei (vgl. Neher: Personal-Katalog 66); zu Maurice Le Sage d’Hauteroche d’Hulst
35
Diesen Gelehrtenkongressen blieb Braig auch weiterhin treu. Drei Jahre später
fand vom 1. bis 6. April 1891 eine weitere Versammlung statt, zu der Braig als „collaborateur“ eingeladen war, einen Vortrag zu halten, „Sur l’une des notions fondamentales dans la philosophie naturelle, la Matière“.161 Kurzfristig musste Braig aber
von der Reise Abstand nehmen, weil ihm eine schon in Aussicht gestellte Staatsunterstützung nicht gewährt wurde. Sein eingesandter Vortrag wurde von Maurice
d’Hulst bei der zweiten Sitzung der philosophischen Sektion verlesen.162 Diese internationalen katholischen Gelehrtenkongresse sollten alle drei Jahre stattfinden
und alle Gebiete der Wissenschaft außer der Theologie zum Gegenstand haben.163 Ob Braig dann an dem vom 3. bis 8. September 1894 in Brüssel stattfindendenden Kongress, bei dem er als „adhérent“ angemeldet war,164 persönlich teilnahm, ist nicht auszumachen. Auf jeden Fall war er wieder auf der Versammlung in
Freiburg in der Schweiz vom 16. bis 20. August 1897 anwesend.165 Die Rolle dieser Kongresse als Wegbereiter des Modernismus ist noch wenig erforscht.166
Kurz nach seinem Unfall im Sommer 1889 bekam Braig dann die Möglichkeit, von
der Görres-Gesellschaft unterstützt,167 eine Studienreise nach England zu unternehmen. Hier wollte er „außer den unumgänglichen Sprachstudien, besonders solche über vergleichende Religionswissenschaft betreiben, zwecks Ergänzung seiner ‘Apologie’“168. Am 6. September 1889 brach Braig dann für diesen Studienaufenthalt nach England auf, um zunächst im Benediktinerpriorat Erdington169 bei
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(1841-1896) vgl. LThK3 5, 315f.; Francesco Beretta: Mgr d’Hulst et la science catholique. Portrait d’un intellectuel, Paris 1996.
Vgl. Briefe Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 7. Februar und 1. April
1891 (DAR G 1.7.1 Nr. 286); der bereits in französischer Sprache ausgearbeitete Vortrag wurde veröffentlicht unter dem Titel: „La matière: Étude sur une notion
fondamentale de la philosophie naturelle“ in: Actes du congrès catholique international.
1891, 42-66; in deutscher Sprache: Zum Begriff der Materie in: Natur und Offenbarung
36 (1890) 577-596.
Vgl. Compte rendu du Congrès scientifique international des catholiques tenu à Paris
du 1er au 6 avril 1891, troisième section: sciences philosophiques, Paris 1891, 270.
Vgl. Hausberger: „Kirchenparlament“.
Compte rendu du troisième Congrès scientifique international des catholiques tenu à
Bruxelles du 3 au 8 septembre 1894, première section: Introduction, Bruxelles 1895,
114.
Compte rendu du quatrième Congrès scientifique international des catholiques tenu à
Fribourg (Suisse) du 16 au 20 aout 1897, Fribourg (Suisse) 1898, 184.
Vgl. Otto Weiß: „Sicut mortui. Et ecce vivimus.“ Überlegungen zur heutigen Modernismusforschung, in: Hubert Wolf (Hg.): Antimodernismus und Modernismus in der katholischen Kirche. Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums, Paderborn u.a. 1998, 42-63, hier 46.
In einem Brief vom 8. August 1889 bittet Cornelius Krieg den Bonner Kirchenhistoriker
Heinrich Schrörs, bei der Görres-Gesellschaft ein gutes Wort für Braig einzulegen, der
von ihr ein Stipendium erhalten soll (vgl. Martin Kraft: Briefwechsel zwischen Cornelius
Krieg [1838-1911] und Heinrich Schrörs [1852-1928]. Ein Beitrag zur Freiburger Diözesan- und Universitätsgeschichte, in: FDA 112 [1992] 133-254, hier 171f.).
Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 21. August 1889 (DAR G
1.7.1 Nr. 286).
Das Priorat Erdington war 1876 gestiftet und von Beuron aus besiedelt worden; vgl.
Philipp Hofmeister: Art. Erdington, in: LThK2 3, 975.
Birmingham Quartier zu nehmen; später ist er dann nach London gegangen,170 wo
er sich im British Museum hauptsächlich mit orientalischer Literatur befasste. In
England machte Braig auch Bekanntschaft mit Friedrich Freiherrn von Hügel171,
wohl durch Vermittlung von Franz Xaver Kraus.172 Die Bekanntschaft mit diesem
später als Verbindungsmann der europäischen Modernisten tätigen Gelehrten hat
aber im Schrifttum Braigs keinen Niederschlag gefunden. Ursprünglich hatte Braig
für seinen Englandaufenthalt einen Urlaub von sechs bis acht Monaten beantragt,
er kam aber schon am 16. Januar nach Wildbad zurück, also nach etwas mehr als
vier Monaten, angeblich weil er den Hauptzweck seiner Reise erheblich früher abschließen konnte, als er zunächst gedacht hatte.173
Seine dritte große Studienreise während der Wildbader Zeit führte Braig vom 15.
September 1891 bis 14. Mai 1892 nach Rom. Anlässlich seiner Anfrage beim Ordinariat begründet Braig den Zweck dieser Reise: „Nachdem er [sc. Braig] die
franz. u. die englische Literatur an Ort und Stelle kennen gelernt, fehlt ihm für ein
schon gefördertes umfassendes geschichtl.-philos. Werk ein wesentliches Stück:
die Kenntnis der italienischen Quellenwerke. Unterz. glaubt etwas Nützliches zu
unternehmen, wenn er seine in Frankreich und England begonnenen Arbeiten in
Italien zum Abschlusse zu bringen sucht. Dazu kommt, daß, nachdem dem Unterz.
‘für die Dauer seiner Präsenz in Wildbad’ ein Hilfsgeistlicher bestellt ist, er sehr
leicht abkommen könnte; denn für zwei Geistliche ist die Arbeit, die Unterz. unglücklicher und unabänderlicher Verhältnisse wegen allein nicht besorgen kann,
doch viel zu gering im Winter“174. Für diese Reise wurde Braig dann „von einer Seite, die nicht will genannt werden, eine Beihilfe in Aussicht gestellt“175. Das „umfassende historisch-philosophische Werk“, für das Braig die „scholastisch-italienische
Gedankenentwicklung an der Quelle“ studieren wollte, ist freilich nie erschienen.176
Braig kam in Rom im Studienkolleg der Anima177 unter. Von dort meldete Braig
sich im Februar 1892, um eine Verlängerung seines Urlaubs von Anfang April auf
Anfang Mai zu bitten, da er ersucht worden sei, „eine ope et opera des hl. Stuhles
gemachte Publikation zu studieren, sowohl um eine Beurteilung als um eine ausgiebige Verwertung der Arbeit für seine [...] Zwecke gewinnen zu können“178. Ein
weiteres Mal wurde sein Urlaub verlängert, als Braig von verschiedenen Seiten
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178
Ein Brief Braigs an F.X. Kraus vom 21. Dezember 1889 nennt als Aufenthaltsort London (London E, 47 Union Str., Whitechapel) (vgl. Schiel: Briefe I 325f.).
Zu Friedrich Freiherr von Hügel (1852-1925) vgl. LThK3 5, 300f. (Lit.).
So vermutet zumindest Schiel: Briefe I 325 Anm. 167.
Vgl. Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 21. Januar 1890 (DAR
G 1.7.1 Nr. 286).
Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 1. April 1891 (DAR G 1.7.1
Nr. 286).
Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 6. Juli 1891 (DAR G 1.7.1
Nr. 286).
Vgl. ebd.
Vgl. Josef Lenzenweger: Art. Anima, in: LThK3 1, 678f. (Lit.).
Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 2. Februar 1892 (DAR G
1.7.1 Nr. 286).
37
aufgefordert worden war, seine Arbeiten dem Papst vorzulegen, und ein Termin für
die Privataudienz abgewartet werden musste.179
Auch wenn Braig also seine Zeit in Wildbad oft sehr ungünstig beschrieb, wusste
er doch, sich aus der drohenden Verödung immer wieder zu befreien und sich geistige Anregung vor allem auf seinen Reisen zu verschaffen. Für das intensive
Studium, dem Braig sich in Wildbad widmete, sprechen auch die Veröffentlichungen aus dieser Zeit. Zunächst zeugen die vielen Rezensionen für eine ungebrochene wissenschaftliche Auseinandersetzung. Hier fällt auf, dass Braig nach seinem Weggang aus Tübingen nicht mehr für die Theologische Quartalschrift
schrieb. Auch auf diese Weise machte sich seine Distanz und Enttäuschung gegenüber der Tübinger Fakultät bemerkbar. Braig veröffentlichte seine Rezensionen
fortan fast ausschließlich in der jeweils von einem Mitglied der Freiburger Professorenschaft herausgegebenen, bei Herder erscheinenden „Literarischen Rundschau“180. Die Literarische Rundschau war 1875 gegründet und zunächst von Joseph Köhler in Paderborn herausgegeben und in Aachen verlegt worden. 1879 übernahm der Würzburger Universitätsbibliothekar Johann Baptist Stamminger181
die Herausgeberschaft, ab 1885 dann der Freiburger Pastoraltheologe Cornelius
Krieg. Zuvor hatte aber schon 1880 die Verlegerschaft ebenfalls nach Freiburg
gewechselt, die jetzt in Händen der Herderschen Verlagsanstalt lag. Die Rundschau stellte ein Rezensionsorgan dar, dass von seinem Anspruch her die ganze
literarische Produktion erfassen wollte und in der sich die ganze Breite der
deutschsprachigen Theologie in friedlicher Eintracht beieinander fand. 1914 musste diese Zeitschrift ihr Erscheinen einstellen. Auffallend ist auch, dass Braig in der
Zeitschrift „Der Katholik“ veröffentlichte, wenn auch nur ein einziges Mal.182 „Der
Katholik“ richtete sich mit seinen Beiträgen in der Regel an ein konservatives katholisches Publikum „mit Interesse an Konfessionstrennung, Rechtgläubigkeit,
Stärkung v.[on] Hierarchie u.[nd] päpstlichen Vorrechten“183. Er war mit seinen
Mainzer Herausgebern Heinrich184 und Moufang185 einer streng neuscholastischen
Richtung verpflichtet. Alle größeren kirchenpolitischen Auseinandersetzungen fanden in der ultramontan gefärbten Zeitschrift Widerhall. In der Auseinandersetzung
Kuhns mit Clemens186 etwa öffnete Heinrich sein Blatt für die Kontroverse und ergriff eindeutig Partei für den neuscholastischen Philosophen und gegen Kuhn.187
179
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187
38
Vgl. Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 4. April 1892 (DAR G
1.7.1 Nr. 286).
Zur „Literarischen Rundschau für das katholische Deutschland“ vgl. Der Katholizismus
in Deutschland und der Verlag Herder 1801-1951, Freiburg 1951, Bibliographie 26 und
33.
Zu Johann Baptist Stamminger (1836-1892) vgl. Friedrich Hartmannsgruber: Die bayerische Patriotenpartei 1868-1887, München 1986, passim (Reg.).
Braig 1885b.
Herman H. Schwedt: Art. Katholik, Der Katholik, in: LThK3 5, 1338f.
Zu Johann Baptist Heinrich (1816-1891) vgl. LThK3 4, 1400.
Zu Franz Christoph Ignaz Moufang (1817-1890) vgl. LThK3 7, 506.
Zu Franz Jakob Clemens (1815-1862) vgl. LThK3 2, 1229.
Vgl. Wolf: Ketzer passim (Reg.: Katholik).
Auch die 1838 gegründeten „Historisch-politischen Blätter“188, wegen der Farbe ihres Umschlags auch „Gelbe Hefte“ genannt, stellten sich unter ihrem profilierten
Herausgeber Joseph Edmund Jörg189 in der Auseinandersetzung mit Schäzler190,
bei der es nicht nur um die Frage nach einer Katholischen Universität in Deutschland ging,191 sondern auch und tiefer um das Verhältnis von Natur und Gnade, gegen Kuhn.192 Braig hatte auch hier keine Berührungsängste und veröffentlichte dort
ab 1890 immer wieder kleinere Beiträge, auch anonym unter dem Kürzel „----g.“.193
Auch im Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, welcher Braig sich zugehörig fühlte
und die ihn in seinem wissenschaftlichen Streben unterstützte, erschienen Aufsätze Braigs zu philosophischen und theologischen Themen.
Als größere von Braig in seiner Wildbader Zeit herausgebrachten Werke sind zu
benennen zunächst die 1886 erschienene Neubearbeitung des zweiten Teils der
„Philosophischen Propädeutik“ des badischen Spätaufklärers Joseph Beck194, gegen dessen Berufung nach Tübingen als Professor sich der in den 40er Jahren des
19. Jahrhunderts noch ultramontan gebende Kuhn seinerzeit erfolgreich zur Wehr
gesetzt hatte.195 Beck hatte den ersten Teil seiner Propädeutik, den „Grundriß der
empirischen Psychologie und Logik“, bereits 1841 als „Leitfaden zu Vorträgen an
höheren Lehranstalten“ veröffentlicht. Dieser Teil erfuhr 21 Auflagen und wurde in
mehrere Sprachen übersetzt. Sein „Leitfaden“ – so Beck – sollte sich von anderen
Lehrbüchern absetzen, die, „statt den Schüler zum Selbstdenken anzuleiten, ihn
fast nur zum Lernen einladen“196. Es war dieser Anspruch, das Selbstdenkertum zu
wecken, der Braig nicht davor zurückschrecken ließ, das Buch des von der Kirche
später Abgefallenen und schon bald der damnatio memoriae Anheimgefallenen
neu zu bearbeiten. In seinem Vorwort schreibt Braig, dass die „Notwendigkeit, das
Buch drei Jahre nach des Verfassers Tod wiederum herauszugeben, [..] die
Brauchbarkeit desselben außer Frage gestellt“ habe. „Das Werk in seiner jetzigen
Gestalt ist eine durchgreifende Neubearbeitung des Stoffes innerhalb des gegebenen dauerhaften Rahmens. Vielleicht ist es nicht unbescheiden, wenn Schreiber
dessen seine Thätigkeit darin bezeichnet, daß er sie mit der Arbeit des musivischen Künstlers vergleicht. Das Mosaikbild, welches von harmonischer Einheit be188
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Vgl. Dieter Albrecht: Art. Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland,
in: LThK3 5, 169; Bernhard Weber: Die „Historisch-politischen Blätter“ als Forum für Kirchen- und Konfessionsfragen, München 1983.
Zu Joseph Edmund Jörg (1819-1901) vgl. LThK3 5, 995.
Zu Johannes Lorenz Constantin Freiherrn von Schäzler (1827-1880) vgl. LThK3 9, 114f.
Zum Problem einer katholischen Universität in Deutschland, zu dem auch Braig sich gelegentlich äußerte, vgl. Hans-Jürgen Brandt: Eine Katholische Universität in Deutschland? Das Ringen der Katholiken in Deutschland um eine Universitätbildung im 19.
Jahrhundert, Köln/Wien 1981.
Vgl. Wolf: Ketzer 176ff.
Vgl. Weber: Historisch-politische Blätter 396; Dieter Albrecht/Bernhard Weber: Die Mitarbeiter der Historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland 1838-1923.
Ein Verzeichnis, Mainz 1990.
Zu Beck vgl. Karl Brechenmacher: Joseph Beck (1803-1883). Ein badischer Spätaufklärer, Tübingen 1984.
Vgl. Wolf: Ketzer 99f.
Zitiert nach Brechenmacher: Beck 75.
39
seelt sein muß, ist wesentlich aus den Steinchen zusammengesetzt, welche der
erste Autor polierte. Sie sind aber sämtlich neu geschliffen; mancher alte Glasfluß
ward bei Seite gelegt; um die Züge des Bildes möglichst klar und scharf hervortreten zu lassen, ward hin und wieder die Zeichnung abgeändert und vervollständigt“197. Beck hatte seinen philosophischen Standpunkt als den des IdealRealismus eines Adolf Trendelenburgs198 beschrieben. Braig weitete in seiner Bearbeitung den Blick weiter: „Plato, Aristoteles, Augustin, Thomas sind ihm gleichfalls Gewährsmänner, und auch was die allerneueste Wissenschaft bietet, wird von
ihm nicht verschmäht“199. Vielleicht hatte Braig seine Tätigkeit als Schulinspektor
und eine Affinität zu pädagogischen Fragen überhaupt zu dieser Arbeit angeregt.
Die Rezension dieses Werkes von Konstantin Gutberlet in der „Literarischen
Rundschau“ war der Anlass, dass Braig ein Buch herausbrachte, das sich mit der
schon in der „Propädeutik“ kurz angeschnittenen Thematik der Gottesbeweise
auseinandersetzen sollte: „Gottesbeweis oder Gottesbeweise? Würdigung neuer
und neuester apologetischer Richtungen in Briefen an den hochw. Herrn Prof. Dr.
Constantin Gutberlet in Fulda“200. Von dem scharfen polemischen Ton, den Braig
in dieser seiner Publikation vor allem gegen den Tübinger Paul Schanz anschlägt,
war bereits die Rede. Braig ging es aber vor allem um eine möglichst umfassende
Darstellung und Kritik der Gottesbeweise. Auch schon erwähnt wurde die Übersetzung und Edition der französischen „Apologie scientifique de la foi chretienne“ des
François Duilhé de Saint-Projet.
Das ungebrochene wissenschaftliche und literarische Schaffen Braigs während
seiner Wildbader Zeit zeigt, dass er wohl immer auch in der Hoffnung lebte, eines
Tages vielleicht doch noch eine akademische Lehrtätigkeit ergreifen zu können.201
Von verschiedenen Seiten schienen sich auch immer wieder entsprechende Gelegenheiten zu bieten. Bereits 1884 hatte F.X. Kraus sich in Tübingen bei Felix von
Himpel über geeignete, das heißt nicht „dem frömmelnden Bannkreis von Innsbruck, Lourdes, Würzburg etc.“ verfallene, Lehrkräfte erkundigt, wonach dieser ihm
unter anderem den Namen des einstweiligen Stadtpfarrers in Wildbad nannte, der
„für Philosophie oder Dogmatik ohne weiteres zu empfehlen“ wäre.202 1885, als die
Suche nach einer Lehrkraft aktuell wurde, schrieb auch J.E. von Kuhn auf Anfrage,
„daß ich den Hrn. Dr. Braig [...] für wohl geeignet erachte, an Ihrer Fakultät neben
Apologetik philosophische Disziplinen vorzutragen. [...] Seine kirchliche und kirchenpolitische Richtung ist die streng klerikale“203. Seinem Bischof teilte Braig am
16. Juli 1885 mit, dass er sich in Freiburg vorgestellt und seine Bereitwilligkeit ausgesprochen habe, die Lehrtätigkeit an einer eventuell einzurichtenden philosophischen Dozentur zu übernehmen.204 Dieser tatsächlich dann eingerichtete Lehrauf197
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204
40
Braig-Beck: Propädeutik IXf.
Zu Friedrich Adolf Trendelenburg (1802-1872) vgl. LThK3 10, 211f.
Konstantin Gutberlet: Rezension zu Braig-Beck: Enzyklopädie, in: LR 13 (1887) 13f.,
hier 13.
Stuttgart 1888.
Vgl. Brief Braigs an Kraus vom 18. März 1887 (Schiel: Briefe I 321ff.).
Vgl. Brief Himpels an Kraus vom 14. Mai 1884 (Schiel: Tübinger Schule 71f.).
Brief Kuhns an Kraus vom 4. April 1885 (Schiel: Tübinger Schule 38f.).
Vgl. Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat in Rottenburg vom 16. Juli 1885 (DAR G
1.7.1 Nr. 286).
trag wurde aber zunächst von dem bedeutenden Religionshistoriker Edmund Hardy205 übernommen, der Kraus von anderer Seite empfohlen worden war.206
Auch 1889 wurde die Hoffnung auf einen Lehrstuhl in München,207 1891 in Bonn
zerschlagen.208 Für die Neubesetzung des Lehrstuhls für Dogmatik an der Universität Münster im Jahr 1892/93 wurde Braig als aussichtsreicher Kandidat gehandelt. Diese Aussicht wurde aber durch den Münsteraner Bischof Hermann Dingelstad209 enttäuscht, der allem, was aus Tübingen kam, ablehnend gegenüberstand.
Karl Hausberger hat den Vorgang um die Neubesetzung der Münsteraner Dogmatikdozentur in den Jahren 1892-1894 ausführlich dargestellt.210 In der von der Fakultät vorgeschlagenen Liste zur Besetzung des neu zu errichtenden Lehrstuhls für
Dogmatik stand der Name Braigs an dritter Stelle nach dem wegen seines fortgeschrittenen Alters schon von vornherein wenig aussichtsreichen Kandidaten Johannes Heinrich Oswald211, der primo loco zusammen mit Herman Schell212 platziert war, und Konstantin Gutberlet213. Braig war aber Favorit des Dekans Max
Sdralek214, der über ihn schrieb: „Braig ist ein hoch angelegter, selbständig denkender, leicht arbeitender philosophischer Kopf, sein wissenschaftliches Fortstre205
206
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209
210
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212
213
214
Zu Edmund Hardy (1852-1904) vgl. LThK3 4, 1189; Schiel: Briefe II 376-395.
Vgl. Schiel: Briefe II 378ff.
Vgl. Briefe Braigs an Kraus vom 23. Januar und 21. Dezember 1889 (Schiel: Briefe I
324f.)
Vgl. Schiel: Briefe I 319f.
Zu Hermann Dingelstad (1835-1911) vgl. Gatz: Bischöfe 132ff.
Karl Hausberger: Wider die Tübinger Richtung und „gravi Scholasticorum more“. Die
Besetzung der Dogmatikprofessur in Münster 1892/94, in: Georg Schmuttermayr u.a.
(Hgg.): Im Spannungsfeld von Tradition und Innovation (Festschrift für Joseph Kardinal
Ratzinger), Regensburg 1997, 125-156.
Zu Johannes Heinrich Oswald (1817-1903) vgl. BBKL 6, 1328ff.
Zu Herman Schell (1850-1906) vgl. LThK3 9, 122ff.; Karl Hausberger: Herman Schell
(1850-1906). Ein Theologenschicksal im Bannkreis der Modernismuskontroverse, Regensburg 1999. Über ein angeblich freundschaftliches Verhältnis zwischen Braig und
Schell lässt sich nichts ausmachen außer dem zweifelhaften Zeugnis eines anonymen
Schell-Schülers in: Das Zwanzigste Jahrhundert 7 (1907) 483: „Im Sommersemester
1893 trat Hermann Schell eines Morgens im Colleg vor uns mit der Mitteilung, er habe
einen Ruf an die Universität Freiburg i. Br. erhalten. Er habe jedoch diesen Ruf dankend abgelehnt, da er einem Freunde, Stadtpfarrer Dr. Braig in Wildbad, den Weg zu
einer Hochschule nicht verlegen wolle“. Die Intention des Verfassers geht dahin, das
schäbige Verhalten Braigs, „der in die Reihe derjenigen trat, die gegen Schells Lebenswerk Sturm läuten“ (mit Bezug auf Braigs Artikel in der Allgemeinen Rundschau
[Braig 1907e]), dem Edelmut Schells gegenüberzustellen. Braigs Handeln wird so gekennzeichnet: „Der feine Knabe sagt unfeinen Dank, / Der in den Brunnen spuckt, aus
dem er trank“ (Friedrich Wilhelm Weber: „Der Welt Lohn“, vgl. ders.: Gesammelte Dichtungen in drei Bänden, Zweiter Band, Paderborn 1922, 340). Richtig ist, dass der erwähnte Ruf nicht aus Freiburg erging, sondern aus Münster, dass mithin Braig seinen
Lehrstuhl nicht dem Verzicht Schells zu verdanken hat. Es wäre auch kaum verständlich, dass Schell seine gesicherte Stellung in Würzburg als Ordinarius für Apologetik
zugunsten eines Extraordinariats in Freiburg aufgegeben hätte. Zur Auseinandersetzung Braigs mit Schells Werk vgl. weiter unten.
Zu Constantin Gutberlet (1837-1928) vgl. LThK3 4, 1117.
Zu Max Sdralek (1855-1913) vgl. LThK1 9, 389.
41
ben war auch in den letzten Jahren seiner seelsorglichen Stellung, wie die Jahreszahlen seiner Druckwerke lehren, ein sehr eifriges“215. Als Ausweis der Befähigung
Braigs zur Vertretung der Dogmatik wird unter anderem das Urteil des Freiburger
Kirchenhistorikers F.X. Kraus geltend gemacht. Gutberlet schied aus dem Verfahren aus, und nachdem im Frühjahr 1893 Schell das ihm gemachte Angebot ausgeschlagen hatte,216 war Braig, dem auch von Seiten des Tübinger protestantischen
Theologen und Universitätskanzlers Carl Heinrich von Weizsäcker217 und Anderen
positive Gutachten ausgestellt worden waren,218 der Favorit des zuständigen Universitätsreferenten im preußischen Kultusministerium Friedrich Althoff219. „Am 27.
und 28. Mai [1893] weilte Braig persönlich in Berlin, und als Ergebnis der offenbar
im besten Einvernehmen verlaufenen Gespräche“ wurde beim Bischof von Münster angefragt, ob dieser etwas „gegen Lehre oder Wandel des Dr. Braig“ einzuwenden habe. Die Zeit drängte, da Braig wohl „in seiner Heimat zwischenzeitlich
eine begehrte landesherrliche Pfarrei in Aussicht gestellt“ worden war.
Da Braig sich aus seiner misslichen Lage in Wildbad mit aller Vehemenz befreien
wollte, hatte er sich schon 1889 beim königlich-katholischen Kirchenrat um die Verleihung der Pfarrstelle Pfauhausen im Dekanat [...] beworben.220 Jetzt sah er wohl
begründete Hoffnung, Aussicht auf die mit einem ständigen Vikariat ausgestattete
Pfarrstelle in Kocherthürn im Dekanat Neckarsulm haben zu können, was ein entsprechendes Bittgesuch mit ausführlichem Lebenslauf vom 21. Juni 1893 an den
königlich-katholischen Kirchenrat belegt.221
Der Bischof wollte noch ein Gutachten abwarten, hatte aber schon Bedenken anzumelden: „Braig sei ‘nur Philosoph’, habe aber auch als solcher ‘noch keine selbständige Arbeit geliefert, sondern nur die Uebersetzung eines französischen Werkes und verschiedene Kritiken veröffentlicht’, wobei er in letzteren ‘durchgehends
einen bissigen Thon anschlage und dadurch Andere kränke und verletze’, weshalb
ihn gerade die zur Beurteilung seiner Persönlichkeit am besten befähigte Tübinger
Fakultät ‘beharrlich abgelehnt’ habe; des weiteren gehöre er der ‘sog. Tübinger
Richtung in der Theologie an, welche hier zu Lande weniger Vertrauen und Sympathie findet’; und schließlich sei er ein ‘Süddeutscher’ und stehe damit ‘den hiesigen Verhältnissen ganz fremd gegenüber, dürfte auch leicht denselben fremd bleiben und nicht in der Weise Einfluß auf die Theologie-Studirenden gewinnen, wie
zu deren gedeihlicher Ausbildung für die Seelsorge wünschenswerth erscheint’“222.
Damit stand das Urteil des Bischofs über Braig dem der Fakultät völlig entgegen.
Ende Juni weilte Braig zu persönlichen Gesprächen in Münster, und dabei „gab
215
216
217
218
219
220
221
222
42
Zit. nach Hausberger: Tübinger Richtung 131.
Vgl. Hausberger: Tübinger Richtung 136f. Schell wollte nicht von seinem ApologetikLehrstuhl in Würzburg scheiden.
Zu Carl Heinrich von Weizsäcker (1822-1899) vgl. Martin Wein: Die Weizsäckers. Geschichte einer deutschen Familie, Stuttgart 1988, 27-79.
Vgl. Hausberger: Tübinger Richtung 135f.
Zu Friedrich Theodor Althoff (1839-1913) vgl. NDB 1, 222ff.
Vgl. Brief Braigs an den königlich-katholischen Kirchenrat vom 4. Januar 1889 (DAR F
IV, Nr. 150).
Vgl. Brief Braigs an den königlich-katholischen Kirchenrat vom 21. Juni 1893 (DAR F
IV, Nr. 150).
Hausberger: Tübinger Richtung 139.
ihm Bischof Dingelstad zwar keine Zusage bezüglich des Nihil obstat, bezeichnete
es aber immerhin als ‘unbedenklich’, seine Bewerbung um die ihm in Aussicht gestellte Pfarrei württembergischen Patronats zurückzuziehen. Braig sprach seinen
Verzicht auf diese wohl sehr vorteilhafte Stelle – sie hatte den von ihm in Wildbad
vermissten ständigen Hilfsgeistlichen – aus.223 Wenige Tage danach, am 3. Juli
1893 führte der Bischof gegenüber dem Berliner Ministerium jedoch wieder massive Bedenken gegen Braig an. Er bezog sich dabei auf die Forderung der Enzyklika
Aeterni Patris, „wonach ‘an den höheren Lehranstalten sowohl die Philosophie als
auch die Theologie gravi Scholasticorum more zu behandeln sei’. [...] ‘Daß aber
ein Docent, welcher seiner ganzen Ausbildung nach der Tübinger Schule angehört
und zudem in seinen Studien und Schriften bereits eine Reihe von Jahren hindurch
vorwiegend der Philosophie sich zuwandte, Solches in gedeihlicher Weise zur Ausführung bringen sollte, läßt sich wohl kaum erwarten und insbesondere von dem
Dr. Braig ausweise [nach Ausweis] seiner Schriften und der darin ausgeprägten
Methode gewiß nicht annehmen.’ Er, Dingelstad, vermöge nicht abzusehen, wie er
sich bei seiner nächsten Visitatio liminum darüber rechtfertigen könne, daß er im
Widerspruch zur Weisung des Hl. Vaters der Berufung eines Dozenten, ‘zumal gerade für das Fach der Dogmatik’, zugestimmt habe, ‘welcher einer ganz anderen
Schule und Richtung angehört und einen ganz anderen Standpunkt in der Theologie und seiner [..] Doktionsweise einnimmt’. Im weiteren Verlauf seiner Darlegungen bezog sich der Bischof auf die von ihm mit der Prüfung der braigschen Schriften beauftragten ‘Fachmänner’ – sie seien unter anderem zu der Feststellung gekommen, daß Braig in seiner Schrift ‘Gottesbeweis oder Gottesbeweise?’ nicht
jedem zum Aufweis der Existenz Gottes vorgetragenen Argument ‘für sich allein’
stringente Beweiskraft zugestehe, sondern nur ihrer Zusammenschau, was im eklatanten Widerspruch zur kirchlichen Tradition stehe –, um dann abschließend den
eigentlichen Grund für die Ablehnung des Wildbader Pfarrers, nämlich dessen
Herkunft aus der Kuhn-Schule, nochmals überdeutlich zur Sprache zu bringen:
‘Bedenklicher noch als solche Verirrungen erscheint mir, wie ich schon vorhin andeutete, die ganze Lehrweise des Dr. Braig. Polemisirt dieser auch in seinen
Schriften gegen manche Einzelheiten in den Auffassungen der jetzt allseitig verlassenen Kuhn’schen Doktrin, so vertritt er doch die philosophirende Richtung derselben in einem solchen Grade, daß ich ein Unheil darin erblicken müßte, wenn 23
Jahre nach dem Vatikanischen Concil die Tübinger Schule in Münster wieder resuscitirt und von der durch den verstorbenen Professor Dr. Schwane[224] geförderten positiven Lehrweise in der Dogmatik auf eine längst veraltete Methode wieder
zurückgegangen werden sollte. Schon allein die hieraus bei den angehenden
Theologen erwachsende Verwirrung würde mir die ernste Erwägung nahelegen,
die jungen Leute von solchen Vorlesungen zurückzuhalten.’“225
223
224
225
Eine Stelle, „wie sie ihm in seiner Heimat wohl nie mehr sich bieten wird“ (Hausberger:
Tübinger Richtung 142); vgl. Telegramm Braigs an den königlich-katholischen Kirchenrat Stuttgart vom 30. Juni 1893 (DAR F IV, Nr. 150): „direkte Zurueckgabe seines Gesuches um K.[ocherthürn] erbittet nach Wildbad = Braig“.
Zu Joseph Schwane (1824-1892) vgl. LThK3 9, 318.
Hausberger: Tübinger Richtung 142f.
43
Die beiden Bonner Professoren Joseph Rappenhöner226 und Heinrich Schrörs227
erstellten ein Gegengutachten und kamen zu dem Ergebnis, dass die braigsche
Lehre von den Gottesbeweisen nicht im Widerspruch zur strengen Lehre der Kirche stehe: „Die aus den Schriften Braigs ausgezogenen incriminirten Stellen sind
von den Beratern und ‘Fachmännern’ des Herrn Bischofes mit großer Dreistigkeit
aus dem Zusammenhang gerissen und von den Incriminanten selbst nicht einmal
verstanden worden. Hätte der Bischof die Stellen einfach selbst nachgeschlagen,
so würde er den Betrug gleich entdeckt haben“228. Über die Tübinger Schule
schrieben sie, dass es eine solche Schule, was Einheitlichkeit der dogmatischen
Lehre nach Prinzip und Methode angeht, schon seit 25 Jahren nicht mehr gebe.
Das Gutachten stellte fest, dass die „Braigschen Schriften den Gegenbeweis für
die insinuierte Befangenheit ‘in der Grundrichtung Kuhns, nämlich in der Anwendung der Schelling-Jakobi’schen Philosophie auf das theologische Gebiet’, liefere.
Im übrigen könne von einer Vernachlässigung des positiven Elements der Theologie auch bei Kuhn nicht die Rede sein, und gänzlich uneinsichtig erscheine
schließlich die Bemerkung des Bischofs, eine ‘philosophirende Richtung’ stehe im
Widerspruch zu den Prinzipien und der Methode des Aquinaten, zeichne sich doch
gerade dessen Werk durch stete Anwendung der Philosophie auf die Theologie
zum Zwecke der spekulativen Durchdringung der Dogmen aus“229. Auch Bischof
Hubert Theophil Simar230 von Paderborn erteilte ein Votum zugunsten Braigs.
Im August 1893 wurde Braig, der aber schon Mitte Juli „genau unterrichtet“ gewesen sein muss,231 der Einspruch Bischof Dingelstads übersandt und selbst um eine
Stellungnahme dazu gebeten. Er schrieb am 23. August nach Berlin, „daß er seine
Erklärung in tunlichster Bälde nach Berlin senden werde und schon nach erster
Durchsicht der übersandten Schriftstücke die Überzeugung hege, es werde ihm ‘überaus leicht’ fallen, den auf einem ihm ‘unbegreiflichen Mißverständnis’ basierenden Einspruch Dingelstads zu entkräften“232. Braig machte deutlich, dass auch sein
Bischof Wilhelm von Reiser und ein hochstehender Beamter der Stuttgarter Regierungsbehörde über den Vorgang ihr Befremden geäußert hätten.233 So wollte er
wohl mit Nachdruck eine Entscheidung in dieser Sache herbeiführen. Nachdem er
seinen Verzicht auf die in Aussicht gestellte Pfarrei erklärt hatte, mussten ihm die
erneuten Vorbehalte Dingelstads umso unerträglicher werden. Wieder schienen
sich alle Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lage zerschlagen zu haben, und
entsprechend resigniert zeigt sich die Stimmung Braigs, wie sie sich in einem Beitrag für die „Historisch-politischen Blätter“, von einer Ferienreise herrührende Reminiszenzen an „Abendstunden in Italien“, darstellte. Am 19. September 1893
226
227
228
229
230
231
232
233
44
Zu Joseph Rappenhöner (1850-1898) vgl. Eduard Hegel: Geschichte der KatholischTheologischen Fakultät Münster 1773-1964, Zweiter Teil, Münster 1971, 67.
Zu Heinrich Schrörs (1852-1928) vgl. LThK3 9, 271.
Zitiert nach Hausberger: Tübinger Richtung 144.
Hausberger: Tübinger Richtung 145.
Zu Hubert Theophil Simar (1835-1902), 1891 Bischof von Paderborn, 1899 Erzbischof
von Köln, vgl. LThK3 9, 590; Gatz: Bischöfe 705ff. Braig hatte am Anfang seines Schaffens eine Rezension über dessen Lehrbuch der Dogmatik verfasst (Braig 1881c).
Vgl. Brief Kriegs an Schrörs vom 6. August 1893 (Kraft: Briefwechsel 182).
Hausberger: Tübinger Richtung 145.
Vgl. Hausberger: Tübinger Richtung 145f.
schrieb Braig in Chiavenna: „Dreimal bin ich die Straßen, deren Staub die weißen
Gletscher überglänzen, südwärts gezogen. Auf den beiden ersten Fahrten war mir
das Herz von Jugendmuth und Hoffnungslust geschwellt; auf der dritten geht mir
der Gram in Geleite. Den Launen der Höheren hat man meine Jugend geopfert;
werthlos sind mir die schönsten Jahre vergangen; der Neid kleiner Geister hat
meine Erstlingshoffnungen gebrochen. Wie es geht in einer Gesellschaft von Gestalten, die sich Männer heißen: die Selbstsucht ‘Größerer’ hat sich an die Arbeit
gesetzt, nachdem der Reif des Argwohnes auf das Feld meiner Thätigkeit gestreut
war. Indessen, was bedeutet mein armes Leben, dessen gläubiges Vertrauen man
täuschen durfte, dessen zersplitterte Hoffnungen man mit kargen Münzen abzulohnen sucht?“234 Braig sah sich in ein Rätselgeflecht verstrickt: „Unendliche Weisheit und endliche Thorheit weben die Weltgeschichte. Des Riesennetzes bin ich
Eine Masche. Alle Maschen aufzulösen, wenn das Sterbliche Unsterblichkeit angezogen, wird unsere Aufgabe sein nach der Ankunft im unbekannten Lande“235.
5
Der Professor für theologische Propädeutik
Doch ganz hatte sich die Aussicht auf die Münsteraner Dozentur noch nicht zerschlagen. Eine Einigung schien in greifbare Nähe gerückt, als sich Bischof Dingelstad geneigt zeigte, Braigs Verteidigung wohlwollend zu bedenken und den Paderborner Bischof Simar zum Schiedsrichter in der Sache anzuerkennen. Zudem
ließ Braig Althoff Anfang Oktober wissen, dass er, „obschon das bischöfliche Urteil
‘so hart an die Existenzmöglichkeit eines Geistlichen rührt’, ‘die ganze Sache als
eine abgethane ansehen’ werde, sobald seiner Selbstverteidigung Genüge geleistet sei. Was seine von Althoff ventilierten sonstigen ‘schlimmen Eigenschaften’ angehe, stehe nichts zu befürchten: ‘Meine ‘Streitlust’ ist längst verraucht! Haben wir
nicht insgesamt genug zu thun, gegen den negativen Ansturm durch redliches Wirken das gemeinsam Teure u. Heilige zu schützen? Dieser Gedanke leitet mich seit
Jahren, im kleinen, u. soll es auch bei größerem.’“236
Dann aber schrieb Braig am 13. Oktober 1893 an Althoff, dass er „‘solus und einstimmig’ für eine Professur an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg
im Breisgau vorgeschlagen worden sei und den daraufhin vom badischen Staatsministerium in Karlsruhe an ihn ergangenen Ruf angenommen habe“237.
So wurde Braig endlich, am 2. November 1893, zum etatmäßigen (außerordentlichen) Honorarprofessor für die philosophisch-theologischen Disziplinen der propädeutischen Theologie“ ernannt. Er ließ damit die ungeliebte, weil physisch ihn
überfordernde pastorale Tätigkeit in der Kurstadt Wildbad hinter sich und war auch
schon als Extraordinarius finanziell deutlich besser gestellt als der Stadtpfarrer. Sicherlich war Braig nicht mit Widerwillen seiner seelsorgerlichen Arbeit nachgegangen, auch wenn sie nicht dem entsprach, was er sich von seinem Leben erhofft
234
235
236
237
Braig 1893a, 94.
Ebd. 95.
Hausberger: Tübinger Richtung 147.
Ebd.
45
hatte. Möglicherweise wird das auch deutlich aus einer Beurteilung der Person ihres ehemaligen Stadtpfarrers, mit der einige Gläubige der Gemeinde Wildbad ein
Bittgesuch an das Bischöfliche Ordiniariat betreffs der Wiederbesetzung der vakant
gewordenen Pfarrstelle einleiten. Hier wird das liebenswürdige, zuvorkommende
Wesen Braigs gelobt, den ein angenehmer und loyaler Umgang und ein gründliches und großes Wissen auszeichnet. Freilich darf nicht übersehen werden, dass
die Intention dieser Petition die Wiederzuweisung des vormaligen Stadtpfarres Eugen Keppler238 nach Wildbad war, der nach seiner Zeit in Wildbad Stadtpfarrer in
Freudenstadt geworden war. Dass aber die zehn Jahre, die Braig in Wildbad weilte, den früheren Pfarrer nicht vergessen machen konnten, deutet vielleicht doch
darauf hin, dass man sich möglicherweise einen umgänglicheren und leutseligeren
Pfarrer wünschte.239
Man kann die Freude und Erleichterung Braigs nachempfinden, die diesen erfasst
haben mag, als er die Berufung nach Freiburg erhielt. Der bisherige Stelleninhaber
Edmund Hardy hatte sich mit der Fakultät überworfen und war ins Kloster Beuron
eingetreten,240 so dass dringend ein Dozent für die philosophische Propädeutik gesucht wurde. Treibende Kraft dafür, dass Braig diese Dozentur erhielt, war der Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus, dessen Einfluss die Berufungspolitik der Freiburger Fakultät in jenen Jahren wesentlich bestimmte.241 Dass sich Braig dessen
bewusst war und dass er ihm deswegen eine lebenslange Dankbarkeit entgegenbrachte, beweisen nicht nur seine Briefe an Kraus.242 Braigs Verhältnis zu Kraus,
besonders wie es sich nach dessen Tod entwickelte, soll in einem späteren Kapitel
untersucht werden.
Braigs Antrittsrede am 5. Juni 1894 behandelte „Die Freiheit der philosophischen
Forschung“243. Die Frage, ob ein christlicher, namentlich katholischer Wissenschaftler mit seiner Gewissensbindung an die christliche Lehre freie, von dogmatischen Voraussetzungen und Vorurteilen absehende Forschung betreiben könne,
war ein äußerst umstrittenes Problem, das nicht nur die Stellung der katholischtheologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten betraf. Braig zumindest
sah keinen Anlass, die richtig verstandene „Voraussetzungslosigkeit“ des katholischen Forschers zu bestreiten.244 Dieses Thema sollte Braig noch lange beschäfti238
239
240
241
242
243
244
46
Zu Eugen Keppler (1847-1897), von 1888 bis zu seinem Tod Pfarrer in Freudenstadt,
vgl. Neher: Personal-Katalog 108.
Vgl. Schreiben von Wildbader Gläubigen vom 1. Dezember 1893 an das Bischöfliche
Ordinariat in Rottenburg (DAR G 1.3, Fasz. 3).
Vgl. Schiel: Briefe II 381ff.; vgl. auch schon den Brief Kriegs an Schrörs vom 22. November 1888 (Kraft: Briefwechsel 166): „Zwischen H[ardy] u. Kraus u. mir ist der Bruch
fast vollständig. [...] Gottlob [...] sagte zu mir: ein solch’ fanaaatisches Holz (wie H.) ist
mir noch nie vorgekommen“. Hardy hielt es freilich nicht lange in Beuron aus; bereits
1894 übernahm er wieder eine Professur in Freiburg in der Schweiz.
Vgl. Brief Max Sdraleks an Franz Xaver Kraus vom 1. Dezember 1893 (Hubert Schiel:
Max Sdralek, der Begründer der Breslauer Kirchengeschichtsschule, im Bannkreis von
Franz Xaver Kraus. Mit 47 Briefen Sdraleks an Kraus, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 36 [1978] 159-203, hier 194f.).
Schiel: Briefe I 318.
Im Druck erschienen Freiburg 1894.
Vgl. dazu unten Zweiter Hauptteil: Die Apologetik Carl Braigs.
gen, vor allem dann wieder in den Zeiten der Modernismuskrise. In seinen ersten
Jahren in Freiburg las Braig in seinen Veranstaltungen vor allem über Erkenntnistheorie, Logik und Ontologie; vor allem die Erkenntnislehre fand wiederholt Berücksichtigung.245 Daneben arbeitete er an einer philosophischen Lehrbuch-Reihe
für seine Studenten, die aber leider unvollendet blieb.246
Wohnung nahm Braig zunächst für einige Monate in der Zähringerstraße 9, dann
aber erwarb er bald ein Haus am Karlsplatz (Nr. 29), in welchem er bis zu seinem
Tode wohnte, das aber im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört wurde.
Am 11. Februar 1895 wurde Carl Braig zum ordentlichen Honorarprofessor mit Sitz
und Stimme im Fakultätsrat ernannt. Als zwei Jahre später Friedrich Wörter in den
Ruhestand versetzt wurde, war man sich einig, Braig als einzigen Kandidaten für
die Nachfolge zu benennen.247 Cornelius Krieg hatte zwar zunächst Herman Schell
an die erste Stelle der Liste setzen wollen, und auch dieser selbst spekulierte wohl
auf die wiederzubesetzende Dogmatikprofessur in seiner Heimatstadt.248 Als
Schell aber mit seiner Publikation „Der Katholizismus als Princip des Fortschritts“249 herauskam, nahm Krieg von seiner Präferenz Abstand, weil das Erzbischöfliche Ordinariat Schell, dessen Hauptschriften ja kurz darauf wirklich indiziert
wurden, sicher abgewiesen hätte.250
Braigs erste Freiburger Zeit von 1893 bis 1897 war literarisch geprägt vor allem
von der Herausgabe der drei Lehrbücher für die von ihm vertretenen Fächer Logik,
Erkenntnistheorie und Metaphysik (1896/97). Insbesondere die letztgenannte
Ontologie sollte einige Beachtung finden. Michael Glossner251, neuthomistischer
Philosoph und Theologe, kritisierte in einer Rezension scharf das „moderne
Gepräge“ dieser Seinslehre, wie sie Braig vortrug.252
In einem späteren Abschnitt soll diese Auseinandersetzung ausführlich dargestellt
werden. Hier soll nur so viel gesagt sein, dass der scharfe Angriff, den Braig von
Seiten Glossners erfuhr, zu einem Schlagabtausch führte, bei dem Braig in der von
der Görres-Gesellschaft herausgegebenen „Philosophischen Jahrbuch“, Glossner
in dem von ihm und seinem Freund Ernst Commer herausgegebenen dezidiert
neuthomistisch geprägten „Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie“
publizierte. Es lässt sich nachvollziehen, dass Braig hinsichtlich seiner Veröffentli245
246
247
248
249
250
251
252
Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse vom Wintersemester 1893/94 bis Sommersemester
1897.
Von den auf zehn Bände konzipierten „Grundzügen der Philosophie“ erschienen lediglich Band 2: Vom Denken. Abriß der Logik, Freiburg 1896; Band 3: Vom Erkennen. Abriß der Noetik, Freiburg 1897; Band 4: Vom Sein. Abriß der Ontologie, Freiburg 1896.
Nachdem Braig 1897 zum ordentlichen Professor für Dogmatik ernannt war, blieb ihm
keine Zeit mehr zur Ausarbeitung der übrigen Bände (vgl. Braig: Eine Frage 93).
Vgl. Sitzung des Fakultätsrats am 22. Mai 1897 (UAF B 35/36 [Protokollbuch]).
Vgl. Karl Hausberger: Schell 123f.
Würzburg 1897 u.ö.
Vgl. Brief Kriegs an Schrörs vom 14. Juli 1897 (Kraft: Briefwechsel 197).
Zu Michael Glossner (1837-1909) vgl. LThK3 4, 754f.; Matthias Buschkühl (Hg.): Michael Glossner und die Theologie seiner Zeit. Briefwechsel Michael Glossner – Ernst Commer, Eichstätt 1992.
Vgl. Michael Glossner: Rezension zu Braig: Vom Sein. Abriß der Ontologie, in: Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie 13 (1899) 501-504.
47
chungen vorsichtiger wurde, nachdem das innerkirchliche Klima immer mehr von
Denunziationen und einer Jagd auf alles nicht Linientreue belastet war. Es ist bekannt, dass Michael Glossner ein besonders scharfer Wächter über die wahre Lehre war,253 der im Jahrbuch auch eine ganze Reihe von Beiträgen lieferte, die sich
mit der seiner Ansicht nach heterodoxen Tübinger Theologie auseinandersetzten,
wobei auch Braig dabei direkt oder indirekt stets im Schussfeld stand. Die Briefe
Glossners an Commer belegen, dass neben Schell besonders der „Tübinger Epigone“ Braig als Gefahr für die Orthodoxie angesehen wurde.254 Vielleicht hat sich
Braig dabei zusehends den Rat Kraus’ zu eigen gemacht, der als „Spectator“ auch
Schell gegenüber geäußert hatte, dass „einer gewissen Kategorie von Gegnern
gegenüber Schweigen die einzige Verteidigung ist“255.
Die von Braig verfasste Ontologie hat aber nicht nur Widerspruch erfahren, sondern wurde für einige junge Denker zu einer Quelle der geistigen Anregung, wie
wir aus den Zeugnissen von Romano Guardini und Martin Heidegger wissen. Weitere Veröffentlichungen Braigs in jener Zeit waren fast ausschließlich Rezensionen,
die sich mit philosophischer Literatur auseinandersetzten.
6
Die Dogmatikprofessur in Freiburg
Am 14. Juli 1897 wurde Braig dann als Nachfolger Friedrich Wörters256 zum
ordentlichen Professor für Dogmatik in Verbindung mit Dogmengeschichte und
Symbolik ernannt. Mit Wörter, dem Nachfolger Franz Anton Staudenmaiers257 und
stark von der Tübinger Schule beeinflusst,258 war die Dogmatik trotz der Umbrüche
nach dem Vatikanischen Konzil zumindest in Freiburg nicht von einem Anhänger
der streng scholastischen Richtung vertreten gewesen. Diese Tendenz sollte sich
durch die Berufung Braigs noch für die ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts fortsetzen.
253
254
255
256
257
258
48
Hier sei nur der unrühmliche Einfluss erwähnt, den Glossner in Bezug auf die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Ernst Commer und Herman Schell hatte; vgl. Hausberger: Schell passim (Reg.), bes. 106-109.
Vgl. etwa den Brief Glossners an Commer vom 23. Mai 1897 (Buschkühl: Glossner
167ff.).
Zitiert nach Hausberger: Schell 153f.
Zu Friedrich Johann Wörter (1819-1901) vgl. LThK2 10, 1232.
Zu Franz Anton Staudenmaier (1800-1856) vgl. LThK3 9, 936f.
Vgl. Claus Arnold: Katholizismus als Kulturmacht. Der Freiburger Theologe Joseph
Sauer (1872-1949) und das Erbe des Franz Xaver Kraus, Paderborn/München 1999,
48: „Insgesamt lief das in Freiburg [...] gebotene theologische Pflichtlehrprogramm auf
den Geleisen der ‘historischen Schule’ der deutschen katholischen Theologie weiter.
Das war möglich, weil das I. Vatikanum in Freiburg im Gegensatz etwa zu Bonn und
Breslau zu keinen größeren Umwälzungen in der Fakultät geführt hatte. Diese Kontinuität ermöglichte es, die aufkommende Neuscholastik weitgehend von der Fakultät fernzuhalten. Speziell im Fach Dogmatik gelang dies bis ins 20. Jahrhundert hinein durch
die von Kraus betriebene Berufung des späten Kuhn-Schülers Karl Braig [...] als Nachfolger von Friedrich Wörter im Jahr 1897“.
Die folgende Zeit bis 1912 bezeichnet Friedrich Stegmüller259 als die der größten
und intensivsten Wirksamkeit Braigs. Aus seiner Vorlesungstätigkeit, die wöchentlich ein Pensum von sechs bis acht Stunden umfasste, erwuchsen zwei als Manuskript gedruckte Traktate, „Abriß der Christologie“ von 1907 und die Gotteslehre
von 1912. Zuvor schon (um 1900) war eine dreiteilige Dogmatik für seine Hörer erschienen. Der Grund, warum Braig mit diesen Werken nicht an eine weitere Öffentlichkeit gegangen ist, mag sicherlich auch die Vorsicht gewesen sein, sich mit seinen nach der Auseinandersetzung um seine Philosophie offenkundig gewordenen
nicht immer überall gern gesehenen Ansichten nicht zu sehr zu exponieren.
Überblickt man das nach 1898 veröffentlichte Schrifttum Braigs, findet man in ihm
nicht, wie man aufgrund der akademischen Tätigkeit Braigs vermuten könnte,
dogmatische Fragen als Schwerpunkt verhandelt, sondern es sind vielmehr verstreute Anliegen, die Braig zum Anlass nimmt, an die Öffentlichkeit zu treten. Einen
Schwerpunkt bildet wieder die Apologetik, besonders in Bezug auf das Problem
der Freiheit der Wissenschaft und ihrer Gewährleistung bei einem konfessionell
gebundenen Forscher. Diese Frage verschärfte sich aus Anlass der ModernismusKrise, die auch noch einmal eine intensive schriftstellerische Arbeit durch Braig ins
Werk setzte. Dann ging es ihm oft, in Abgrenzung zu einer neueren protestantischen Kritik, die vor allem mit dem Namen Adolf von Harnacks260 verbunden war,
um die Frage nach dem Wesen des Christentums. Diese letzten zwanzig Jahre
seines Schaffens waren viel stärker von der aktuellen Tagessituation bestimmt,
auch dadurch, dass vieles aus der Vortragstätigkeit Braigs entsprang, die immer
wieder Stellung nehmen musste zu aktuellen Zeitfragen. Dass Braig trotz seiner
Tätigkeit als Dogmatiker vor allem weiterhin als Apologet auch über Freiburg hinaus Ansehen genoss, beweist die Tatsache, dass er 1903/1904 von Mitgliedern
der Theologischen Fakultät in München für die Nachfolge des Apologten Alois
Schmid favorisiert wurde. Braig selbst hatte in einem Geschäft auf Gegenseitigkeit
versucht, für den nach Straßburg wegberufenen Kirchenhistoriker und Nachfolger
Kraus’ Albert Ehrhard261 seinen Landsmann Alois Knöpfler262 nach Freiburg zu holen, wofür dieser Braig auf die Liste in München setzen ließ.263 Allerdings war es
nur eine Minorität, die dieses Betreiben unterstützte, so dass es nicht zu einem Ruf
259
260
261
262
263
Vgl. Stegmüller: Braig 121.
Zu Adolf von Harnack (1851-1930) vgl. LThK3 4, 1196f.
Zu Albert Joseph Maria Ehrhard (1862-1940) vgl. LThK3 3, 513; Norbert Trippen: Theologie und Lehramt im Konflikt. Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus im
Jahre 1907 und ihre Auswirkungen auf Deutschland, Freiburg u.a. 1977. Ehrhard war
nur kurze Zeit als Nachfolger von F.X. Kraus als Kirchenhistoriker in Freiburg.
Zu Alois Knöpfler (1847-1921) vgl. LThK3 6, 159.
Vgl. Norbert Trippen (Hg.): Aus dem Tagebuch eines deutschen Modernisten. Aufzeichnungen des Münchener Dogmenhistorikers Joseph Schnitzer aus den Jahren
1901-1913, in: Georg Schwaiger (Hg.): Aufbruch ins 20. Jahrhundert. Zum Streit um
Reformkatholizismus und Modernismus, Göttingen 1976, 139-222, hier 151-154 (Eintrag vom 17. Juli 1903); Rudolf Reinhardt: Ein „Kulturkampf“ an der Universität Freiburg.
Beobachtungen zur Auseinandersetzung um den Modernismus in Baden, in: Schwaiger: Aufbruch 90-138, hier 131.
49
aus Bayern kam.264 Auch Braig hatte mit seiner Unterstützung Knöpflers keinen Erfolg.
7
Carl Braig und Franz Xaver Kraus
Es wurde schon deutlich, dass Braig seine Berufung nach Freiburg vor allem einem Mann zu verdanken hatte, der für die Kirche nicht nur in Deutschland in den
letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und lange über seinen Tod am 28. Dezember 1901 hinaus eine große Bedeutung hatte, nämlich dem Kirchenhistoriker
Franz Xaver Kraus265. In dessen Tagebüchern, die nach der fünfzigjährigen Sperrfrist 1957 von Hubert Schiel herausgegeben werden konnten, spielt der Name
Braig zwar kaum eine Rolle.266 Braig geriet aber in den Gesichtskreis des Historikers, als dieser sich Mitte der achtziger Jahre in Tübingen nach geeigneten Lehrkräften erkundigte, vor allem nach solchen, die seiner antijesuitischen und antiultramontanen Geistesrichtung entsprachen.267 Braig machte dann im Sommer 1885
persönliche Bekanntschaft mit Kraus.268 Zwei Jahre später empfahl Braig selbst
sich in einem Brief bei Kraus für die akademische Lehre. Hier schilderte Braig seine Situation in Wildbad – wie bekannt – in düstersten Farben, und als einzige Alternative scheint nur eine Tätigkeit als Professor in Frage zu kommen. Braig beklagt in großer Offenheit seine Arbeitsüberlastung in den Sommermonaten, wenn
der Kurbetrieb Hochsaison hat, aber auch die Isolation im Winterhalbjahr, wenn literarische Hilfsmittel und jede geistige Anregung vermisst werden müssen. So
„droht oftmals die Vereinsamung u. die Verödung, in die ich gebannt bin, alle
Schaffenskraft zu ersticken“269. Auch sein körperliches Leiden wird genannt, das
Braig an einer anderen Tätigkeit interessiert macht: „In meinem Vikariatsjahr nämlich (1879) hab’ ich mir ein körperliches Übel zugezogen (hernia inguinalis), wovon
die HH. Ärzte erklären, daß eine Beseitigung unmöglich, daß das Leiden aber gerade durch die Pastorationsgeschäfte (Predigt, Amt, Treppen- und Bergsteigen
etc.) zu langsamem Fortschreiten gedrängt werden, u. daß ich einmal vor einer
plötzlichen Katastrophe stehen oder in eine Lage versetzt werden könnte, in der
‘sich nicht leben und nicht sterben ließe’. Allen Gefahren wäre, nach menschlicher
Berechnung, vorzubeugen, wenn ich einer anderen Thätigkeit mich zuwenden
dürfte. Dies könnte nur die Lehrtätigkeit sein. Da man aber s.Z. mich gegen meinen Willen genötigt hat, auf die Vorbereitung für das Gymnasialfach zu verzichten,
264
265
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267
268
269
50
Vgl. Hausberger: Schell 323-326.
Zu Franz Xaver Kraus vgl. Michael Graf: Liberaler Katholik – Reformkatholik – Modernist? Franz Xaver Kraus (1840-1901) zwischen Kulturkampf und Modernismuskrise,
Münster u.a. 2003; LThK3 6, 431f. (Lit.).
Vgl. Franz Xaver Kraus: Tagebücher, herausgegeben von Hubert Schiel, Köln 1957.
Vgl. Briefe von Himpels an Kraus (Schiel: Tübinger 60-72).
Vgl. Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat in Rottenburg vom 16. Juli 1885 (DAR G
1.7.1 Nr. 286); Brief Braigs an Kraus vom 18. März 1887 (Schiel: Briefe I 321).
Brief Braigs an Kraus vom 18. März 1887 (Schiel: Briefe I 322).
so könnte wohl nur von einem akademischen Berufe die Rede sein“270. Auch wenn
Braig mit seiner Schilderung Kraus sicherlich für sich einnehmen und einer eventuellen Berücksichtigung geneigt machen wollte, ist doch kein Zweifel erlaubt, dass
sich Braigs schwache gesundheitliche Verfassung, die sich während der Tübinger
Studienzeit eigentlich recht positiv entwickelt hatte,271 zunehmend ungünstig bemerkbar machte. Von der für Braig unerträglich scheinenden Lage in Wildbad war
schon die Rede.
Wenn Franz Xaver Kraus für Braig auch nicht die gleiche große Bedeutung hatte
wie z.B. für Joseph Sauer, ist es doch nicht uninteressant, deren Beziehung zu beleuchten. Kraus war eine sehr umtriebige und einflussreiche Persönlichkeit an der
Freiburger Universität und im deutschen Katholizismus überhaupt. Im Herbst 1878
hatte Kraus die Nachfolge des Kirchenhistorikers Johann Baptist Alzog272 in Freiburg angetreten. Hier war Kraus dann einer „der nicht wenigen ‘politischen Professoren’ der Freiburger Universität“273, der versuchte, Geschichte nicht nur zu
schreiben, sondern auch zu gestalten. Er stand in engem und gutem Verhältnis zur
staatlichen Gewalt in Karlsruhe und Berlin, wohingegen das Verhältnis zur kirchlichen Leitung ein nur oberflächlich beruhigtes war. Seine Hoffnung, der Kulturkampf könne beendet werden, wenn der „religiöse Katholizismus“ über den „politischen Katholizismus“ siege, stand gegen die ultramontanen Bestrebungen eines
Großteils des deutschen Klerus und gegen die politischen Ambitionen des Papstes. In ernste Schwierigkeiten geriet Kraus, als er in der zweiten Auflage seiner
Kirchengeschichte von 1882 auf wenigen Seiten seine illusionäre Vorstellung vom
Kirche-Staats-Verhältnis skizzierte.274
Die von ihm angestrebte Vermittlungsrolle zwischen dem Heiligen Stuhl und Berlin
konnte Kraus nicht spielen. Überhaupt blieben seine praktischen politischen Bemühungen ohne Erfolg. Gegen Ende des Jahrhunderts spitzte sich die Polarisierung zwischen den verschiedenen Richtungen, auch im Hinblick auf Kraus, zu. Ab
1895 publizierte Kraus seine pseudonymen ‘Spektatorbriefe’ in der ‘Allgemeinen
Zeitung’. Diese Briefe eines ungenannten Beobachters wollten die kirchenpolitische Situation kritisch beleuchten und richteten sich nach Kraus’ eigener Zusammenfassung gegen Folgendes: „1. Den politischen Ultramontanismus [v.a. die Zentrumspartei] und die Umwandlung der Kirche zu einer politischen Institution; 2.
gegen die Allianz des Vatikans mit der Demokratie; 3. gegen die Allianz des Vatikans mit der Französischen Republik [‘ralliement’]; 4. gegen die Mißhandlung des
geistigen und wissenschaftlichen Elements in der Kirche“275. Kraus wollte sich da270
271
272
273
274
275
Brief Braigs an Kraus vom 18. März 1887 (Schiel: Briefe I 322); vgl. auch Brief Braigs
an Kraus vom 21. Dezember 1889 (Schiel: Briefe I 325); Brief Braigs an Kraus vom 8.
Juni 1891 (Schiel: Briefe I 327).
Vgl. die Semesterberichte aus den Jahren 1873/74 bis 1877 (AWT D 13.2a -8- und -9-).
Zu Johann Baptist Alzog (1808-1878) vgl. LThK3 1, 479f.
Oskar Köhler: Franz Xaver Kraus (1840-1901), in: KThD 3, 241-275, hier 253.
Vgl. Franz Xaver Kraus: Lehrbuch der Kirchengeschichte für Studierende, Trier 21882,
712-718.
Brief Franz Xaver Kraus’ an Anton Stöck vom 5. November 1899 (Hubert Schiel: Franz
Xaver Kraus, sein Lebenswerk und sein Charakter im Spiegel der Briefe an Anton
Stöck, in: Archiv für Mittelrheinische Kirchengeschichte 3 [1951] 218-239, hier 237); vgl.
Arnold: Kulturmacht 53.
51
mit gegen den von ihm verhassten „politischen Katholizismus“ wenden und den
von ihm bevorzugten „religiösen Katholizismus“ stärken. Es sind diese Schlagworte, die die innerkirchliche Diskussion in der Folgezeit auch wesentlich bestimmen
sollten.
Zu der Zeit, da Braig in Freiburg mit seiner Lehrtätigkeit begann, herrschte eine
gewisse Spannung zwischen den Universitätsgremien auf der einen und der Theologischen Fakultät auf der anderen Seite. Die Freiburger Hochschule wurde von
der päpstlichen Nuntiatur in München kritisch beäugt, weil an ihr meist ungläubige
Professoren lehrten und Juden oder Protestanten in der Überzahl waren trotz der
Mehrheit der Katholiken im badischen Land.276 Trotzdem hatte die Theologische
Fakultät einen Platz in der Universität, den sie mit Selbstbewusstsein zu behaupten wusste. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts nahm nämlich auch sie
Anteil an der allgemeinen Expansion der Universität, zudem günstig beeinflusst
durch die Beendigung des Kulturkampfes.277 Aus Sicht der „Ultramontanen“ war
die Fakultät freilich zu angepasst, so dass der schon erwähnte Religionswissenschaftler und streitbare Zentrumspolitiker Edmund Hardy 1893 die Fakultät verließ,
um zeitweise als Benediktiner in Beuron zu leben. Mit seinem Weggang ermöglichte er Braig den Eintritt in die Fakultät. Es war nicht nur dieser unerquickliche Weggang Hardys – den dieser auch bald wieder bereute –, der die Fakultät in jenen
Jahren in Unruhe versetzen sollte, es war auch eine Entzweiung zwischen dem
Pastoraltheologen Cornelius Krieg auf der einen und dem Kanonisten Franz Heiner
und dem Alttestamentler Gottfried Hoberg auf der anderen Seite, unter der zumindest Krieg zeitweise sehr litt.278 Vielleicht „bot die Fakultät in den Jahren 1891-94
[..] nach außen ein Bild der Geschlossenheit“279, intern gab es Verwerfungen, die
eine vielleicht einmal bestandene Einmütigkeit schon zerstört hatten. Kraus war
dennoch die bestimmende Größe an der Fakultät. Dank seiner guten Beziehungen
zur badischen Regierung und zu Großherzog Friedrich I.280 hatte er nach seiner
Berufung an die Freiburger Fakultät im Jahr 1878 die Zusammensetzung der Fakultät in seinem Sinne, das heißt möglichst frei von ultramontan gesinnten und der
vor allem von Jesuiten geförderten Neuscholastik verpflichteten Theologen, beeinflussen können.
Wie Braig hatten auch andere Professoren ihre Berufung mehr oder weniger dem
Einfluss Kraus’ zu verdanken, so der schon öfter erwähnte Pastoraltheologe Cornelius Krieg281, der Kanonist Franz Xaver Heiner282 und der Exeget Gottfried Hoberg283 sowie der Neutestamentler Karl Rückert284. Für die zweite Hälfte der neunziger Jahre konstatiert Claus Arnold das Offenbarwerden einer gewissen „Polarisierung, die namentlich zur Entzweiung von Kraus und Heiner und später auch zu
276
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279
280
281
282
283
284
52
Diese Zeit ist auch die, in der Joseph Sauer in Freiburg begonnen hat zu studieren (vgl.
Arnold: Kulturmacht 44-57).
Vgl. z.B. Braig 1907k, 7-12.
Vgl. Brief Kriegs an Schrörs vom 17. Januar 1895 (Kraft: Briefwechsel 184ff.).
Arnold: Kulturmacht 46.
Zu Großherzog Friedrich I. von Baden (1826-1907) vgl. NDB 5, 490ff.
Zu Cornelius Krieg (1838-1911) vgl. LThK3 6, 479; Schiel: Briefe II 482-498.
Zu Franz Heiner (1849-1919) vgl. LThK3 4, 1370; Schiel: Briefe II 395-416.
Zu Gottfried Hoberg (1857-1924) vgl. LThK2 5, 397; Schiel: Briefe II 416-441.
Zu Karl Theodor Rückert (1840-1907) vgl. Schiel: Briefe III 183-204.
Konflikten mit Hoberg führte und nicht zuletzt mit dem kirchenpolitischen Engagement von Kraus in den ‘Spektatorbriefen’ zusammenhing“285.
Es wurde schon deutlich, wie sehr Braig sich Franz Xaver Kraus verpflichtet fühlte.
Er schrieb am 1. Dezember 1895 an Kraus: „Ich weiß auch sehr wohl, was ich Ew.
Hochwohlgb. verdanke daran, daß mir möglich geworden, an die Realisierung eines Lebenswunsches u. einer wissenschaftl. Lebensaufgabe zu treten. Ich will
dessen nie vergessen“286. Auch hinsichtlich ihres Engagements in der Fakultät
scheinen sich Braig und Kraus immer einig gewesen zu sein. Das legen zumindest
die Briefe nahe, die Braig an Kraus adressierte und die sich im Nachlass Kraus’
gefunden haben.287
Am 28. Dezember 1901 verstarb Franz Xaver Kraus in San Remo an der italienischen Riviera. Im Namen der Theologischen Fakultät verfasste Braig eine Gedenkschrift „Zur Erinnerung an Franz Xaver Kraus“288, ein nach Hubert Schiel
„würdiges, umfassendes, vielseitiges und gerechtes literarisches Denkmal [...], das
noch immer zum Schönsten gehört, was über Kraus geschrieben wurde“289.
Braig zeichnet hier den Lebensweg des Verstorbenen nach, würdigt seine Begabung, seine Schaffenskraft und den Reichtum der Leistungen auf den Gebieten der
Welt-, Kirchen- und Kunstgeschichte und der Zeit- und Tagesgeschichte. Braig kritisiert aber auch das Verhalten Kraus’ im Zusammenhang mit dessen „Lehrbuch
der Kirchengeschichte“, das dem Verfasser viele – freilich oft ungerechte – Anfeindungen eingetragen hatte.290 Über den Kritiker und Politiker Kraus urteilt Braig: Es
war „verständlich, aber auch zu mißbilligen, daß Kraus, durch sehr üble Erfahrungen gestachelt, sich in sich selber verschloß, im Unmute der Kritik nicht selten zu
weit ging, daß seine Rede, auf teilweise schiefe Beobachtungen versteift, herb, bitter, ätzend wurde“. Zur Verfasserschaft der Spektatorbriefe bemerkt Braig: Kraus
„sprach mit seinen Kollegen nie über den Gegenstand. Zu Kraus’ Lebenswerk
rechnen wir die Briefe nicht“291. Auch die Unterscheidung von politischem und religiösem Katholizismus wird als eine allzu unscharfe zurückgewiesen.292
Braig erkennt an, dass Kraus trotz seiner Kritik ein der Kirche tief verbundener
Mann gewesen sei, „im tiefsten Grunde seines Wesens religiös und fromm gläubig,
[...] ein Mann von Weisheit, von ideal-sittlichem Ernste, von erhabenster Lebensauffassung, ein Mann der christlichen Selbsterkenntnis und der Hoffnung“293.
Braig will gerecht sein und das letzte Urteil einem anderen überlassen: „Das Endurteil über den Heimgegangenen steht bei Ihm, der die Herzen der Sterblichen
wiegt. Er kennt nicht bloß die verborgenen Zusammenhänge aller Gedanken und
die geheimsten Beweggründe des Strebens; Er kennt auch Stoß und Anstoß, die
285
286
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288
289
290
291
292
293
Arnold: Kulturmacht 47.
Brief Braigs an Kraus vom 1. Dezember 1895 (Schiel: Briefe I 327).
Vgl. Schiel: Briefe I 317-339.
Freiburg 1902.
Schiel: Briefe I 320f.
Vgl. Braig: Kraus 18-21; Braig möchte am liebsten „die berührten Vorkommnisse aus
dem Leben des Verewigten gestrichen sehen“, kann dessen Verhalten nicht gutheißen
(Braig: Kraus 20).
Ebd. 44 Anm. 2; vgl. auch ebd. 48f. Anm. 1.
Vgl. ebd. 47f.
Ebd. 56.
53
ein Menschenherz von der oft so rauhen und harten, unnachgiebigen, unnachsichtigen Außen- und Mitwelt erleiden muß, und wonach die Gegenwirkungen gerade
der sensitiven, der in ihrem Gemütsleben alleinstehenden Naturen zu bemessen
sind“294. So bedauert Braig, dass Kraus daran gehindert wurde, eine Schule auszubilden, von Kreisen, „die ‘hinter jeder Selbständigkeit des Urteils und Charakters
den Geist der Empörung witterten’, und welche die Schüler gegen den Lehrer der
Kirchengeschichte mißtrauisch machten“295. – Hatte Braig hier vielleicht nicht nur
das Geschick Kraus’ im Sinn, sondern auch sein eigenes, dem es nicht vergönnt
sein sollte, eine Schülerschaft auszubilden, die sich auf ihn berufen konnte?
Auch als die Begeisterung für Kraus nach dessen Tod aufgrund verschiedener ans
Licht getretener Tatsachen in Freiburg zusehends schwand, zeigte sich Braig noch
immer „dithyrambisch begeistert“ von Kraus.296 Das Denkmal, das Braig dem Verstorbenen in Form der Gedenkschrift gewidmet hatte, war nicht unumstritten. Joseph Sauer297 schrieb offiziell zwar positiv über diese Schrift, anonym aber, unter
dem Decknamen „Rhenanus“, schlug er einen ganz anderen Ton an und kritisierte
scharf die Gedenkschrift Braigs.298 Auf einen anderen „Rhenanus“, Ernst Hauviller,
der ähnlich wie Sauer Braigs Gedenkschrift ablehnend gegenüberstand, reagierte
Braig spät, aber scharf. Im Mai 1904 schrieb er in seinem Artikel „Wer ist ultramontan? Eine Erinnerung an Franz Xaver Kraus“ in der Allgemeinen Rundschau, dass
ihm erst jetzt der genannte Artikel durch Zufall in die Hände gekommen sei. Gegen
zwei Dinge wolle er sich verteidigen. Die Behauptung, dass Kraus selbst seine
Spektatorbriefe als ein ihm besonders wertes Erzeugnis angesehen habe, weist
Braig nicht zurück, relativiert aber die Bedeutung dieser Tatsache, wenn er
schreibt: „Haben wir es noch nie erlebt, daß Schriftsteller, darunter die reichstbegabten, ein Faible hatten für dies oder jenes ihrer Geisteserzeugnisse? Und ist es
nicht mehr zutreffend, wenn geglaubt wird, daß die Schwäche mancher Eltern gerade für ‘ungeratene’ Sprößlinge die stärkste sein könne?“299 Braig spricht klar aus,
dass seiner Meinung nach die Spektatorbriefe „und verwandte Leistungen [..] das
Lebenswerk von Franz Xaver Kraus, zum Teil wenigstens, übel verderbt“300 hätten.
Der zweite Vorwurf, gegen den sich Braig verwahrt, ist der, dass er die kraussche
Unterscheidung von religiösem und politischem Katholizismus für eine unfruchtbare und leere Formel gehalten habe. Diese Auffassung wiederholt er und begründend bemerkt er dazu, dass sich der Freiheitskreis der Kirche nicht scharf von dem
des Staates abgrenzen lasse im Sinne einer wirklichen Alternative von Religion
und Politik. Braig stellt in diesem Zusammenhang die Frage: „Wer ist ultramontan?“. Diese Frage hat für ihn engen Zusammenhang mit dem Inhalt der Vorwürfe,
die ihm aufgrund seiner Kraus-Gedenkschrift gemacht worden waren. Kraus selbst
hatte die Frage nach dem Wesen des Ultramontanismus im zweiten seiner Spekta294
295
296
297
298
299
300
54
Ebd. 26.
Ebd. 33.
Vgl. Brief Kriegs an Schrörs vom 3. März 1902 (Kraft: Briefwechsel 222).
Zu Joseph Sauer (1872-1949) vgl. LThK3 9, 87; Arnold: Kulturmacht.
Vgl. Arnold: Kulturmacht 102-106. Braig selbst verteidigt sich gegen diese Angriffe
(Braig 1904f).
Braig 1904f, 110.
Ebd.
torbriefe beantwortet und einen „Katechismus des Ultramontanismus“ in fünf Punkten erstellt. Braig überlegt, wie ein Gespräch zwischen ihm und Kraus, den er an
anderer Stelle sogar als seinen Freund bezeichnet,301 verlaufen wäre, hätte „der
entschlafene Gelehrte in einer der vielen anregenden Unterhaltungen, die ich [sc.
Braig] während eines Zeitraumes von reichlich neun Jahren in seinem Studier- und
Krankenzimmer mit ihm führen durfte, die mitgeteilten Sätze einmal zur Diskussion
gestellt“302. Braig ist sich sicher: Er hätte zunächst die fehlende Quellenangabe
bemängelt, den Nachweis über den Ort, an dem sich das System des Ultramontanismus in dieser Weise formuliert findet. „Unter allen Umständen ist es ein gewagtes, für den Historiker ein höchst bedenkliches Vorgehen, aus gewissen
Abnormitäten, Uebertreibungen, selbst aus offensichtlichen Irrungen ohne weiteres
ein ‘System’ zu bauen [...]. Der Historiker darf niemals, selbst nicht dem ‘Ultramontanismus’ gegenüber, zu Mitteln greifen, die, wenn auch nur von Ferne, wie ‘systematische’ Verdächtigungen aussehen. Sonst kann er dem Vorwurfe nicht entrinnen, dem gerechten Vorwurfe: Es solle der Zorn ihm die Lücke stopfen, die nur
wissenschaftliche Belege ausfüllen können“303. Braig hätte so die „Beweismethode
im Spektatorbriefe von Franz Xaver Kraus gegen seinen Ultramontanismus als wissenschaftlich unzulänglich und als unzulässig ablehnen müssen“304. Soweit zur
formalen Seite dieser Frage. Interessant und hier nur am Rande zu erwähnen ist
die Frage, wie Braig seiner eigenen Argumentation untreu wird hinsichtlich des
Problems, das sich im Blick auf das „System des Modernismus“ stellt.305 Inhaltlich
argumentiert Braig gegen das aufgestellte System, indem er dem fünften Punkt,
der den Ultramontanen dahingehend charakterisiert, dass er sich immer „bereit findet, ein klares Gebot des eigenen Gewissens dem Anspruche einer fremden Autorität zu opfern“, die Problematik des irrenden Gewissens entgegenstellt. Es ist
durchaus glaubhaft und naheliegend, dass der unpolitische, aber auch hitzköpfige
Braig bei aller Verehrung für seinen Protektor Kraus diesem auf die bezeichnete
Weise begegnet wäre, das heißt auf eine seiner Ansicht nach ungerechtfertigte Argumentation hingewiesen hätte. Braig möchte das Kraus-Erbe und die rechte
Kraus-Exegese nicht für sich reklamieren. Er zollt Kraus über dessen Tod hinaus
Respekt und eine Verehrung, die aber nicht für die Schwächen des Toten blind ist.
Gleichwohl können sich nach Ansicht Braigs die sogenannten Reformkatholiken
nicht auf Kraus berufen. Kraus habe ganz entschieden einen „Reformkatholizismus“ abgelehnt, wie ein Brief beweist, den Kraus kurz vor seinem Tod (an Braig?)
geschrieben hat. Braigs Fazit: „Es ist kein Zweifel, Kraus beurteilte ‘gewisse Reformer’ zum allermindesten nicht milder als seinen Ultramontanismus. Wußte der
Gelehrte doch, so gut wie wir alle, daß ‘Reformer sein’ überaus leicht, ‘Reformieren’ überaus schwierig ist“306.
301
302
303
304
305
306
Vgl. Braig 1905c, 49.
Braig 1904f, 111.
Ebd.
Ebd.
„Braig verurteilte 1907 das modernistische System von ‘Pascendi’, ohne nachzufragen,
ob es wirklich existiere“ (Weiß: Modernismus 110 Anm.); vgl. dazu weiter unten.
Braig 1904f, 112.
55
Es zeigt sich hier zum einen, wie sehr Braig jeder Form eines Personenkultes,
auch in Bezug auf eine weiterhin von ihm hochgeschätzte Persönlichkeit, und der
darauf beruhenden Autoritätshörigkeit eine Absage erteilt. Dies ist zumindest sein
Anspruch, der auch immer wieder deutlich wird, wenn er in seinen Schriften darauf
verweist, dass das Denken eines bestimmten Menschen nicht deswegen als vorbildlich zu gelten hat, weil dieser große Verehrung genießt, sondern allein dann
und deswegen, weil und wenn es als wahres Denken zu erweisen ist.
In jedem Fall gab es unterschiedliche Auffassungen, die richtige Krausinterpretation betreffend. Im Mai 1904 verdichtete sich in der Neugründung der „Gesellschaft
für religiösen und kulturellen Fortschritt“, die sich bald danach den Namen „Krausgesellschaft“ gab, die innerkatholische Reformbewegung, die in Franz Xaver Kraus
ihr großes Vorbild sah. Wenn man sich das Programm der Gesellschaft vor Augen
hält, das sich die Verbreitung der Ideen des „religiösen Katholizismus, der Verinnerlichung des Christentums, der persönlichen Freiheit in Wissenschaft, Kunst und
Politik“307 zum Ziele nimmt, so wird klar, dass Braig sich von solcher Phraseologie,
wie er es genannt hätte, distanzieren musste.
8
Carl Braig in der Auseinandersetzung um Reformkatholizismus
und Modernismus
Franz Xaver Kraus wurde nach seinem Tod also schnell von einer Gruppe von
Streitern für einen „religiösen Katholizismus“ für sich in Anspruch genommen, die
sein Werk in seinem Sinne, oder in dem, was man dafür hielt, weiterführen wollte.308 Braig konnte sich damit nicht anfreunden, und gewiss nicht (nur) aus opportunistischen Gründen. Braigs folgende Entwicklung ist insofern interessant, als sie
angesichts ihres Ausgangs von einer starken Neigung zu dem mit reformistischem
Gedankengut in Zusammenhang gebrachten Kraus und ihres Eingangs in eine
starke antimodernistische Kampfhaltung zu Interpretationen und Spekulationen Anlass bietet. Man braucht nur einmal die Artikel der „Freien Deutschen Blätter“ hinsichtlich ihrer Haltung zu Braig zu befragen. Braig findet in dem Organ des „nichtultramontanen Katholizismus“309 recht selten Erwähnung, und es steht zu vermuten, dass Braig selbst auf diese Unauffälligkeit wert gelegt hat und froh um sie war.
An exponierter Stelle aber fand Braig in der Zeitschrift Erwähnung in der Zeit unmittelbar nach dem Tode Kraus’ nicht nur durch die durchaus positive Besprechung310 seines Kraus-Nekrologs, sondern auch im Zusammenhang mit einer etwas delikaten Enthüllungs-Story, die auf eine gewisse Spannung zwischen der universitären und der seminaristischen theologischen Ausbildung verweist, die
damals in Freiburg geherrscht haben muss. Ein Freund Joseph Sauers, der aus
307
308
309
310
56
Zitiert nach Jörg Haustein: Liberal-katholische Publizistik im späten Kaiserreich. „Das
neue Jahrhundert“ und die Krausgesellschaft, Göttingen 2001, 76.
Vgl. Weiß: Modernismus passim, bes. 122-133.
So eine neben anderen Selbstbezeichnungen der „Freien Deutschen Blätter“; vgl. Haustein: Publizistik 13.
In: Freie Deutsche Blätter 2 (1902) 99.
der Freiburger Erzdiözese stammende Karl Bill311, der dort aber aus dem Priesterseminar entlassen worden war, schrieb in seinen Erinnerungen312 an Franz Xaver
Kraus von einer systematischen Entfremdungspolitik, mit der man die Zöglinge des
theologischen Konviktes in Freiburg und des Priesterseminars in St. Peter gegen
ihre akademischen Lehrer an der Universität aufbringen wollte. Bill führte seine
Entlassung und Nichtzulassung zur Weihe ex informata conscientia darauf zurück,
dass er ein eifriger Schüler seiner Universitätslehrer, namentlich Braigs, Kepplers
und Kraus’ gewesen sei. Von Bill angeschuldigt wurde nicht nur Weihbischof
Knecht313, der zu ihm im Skrutinium gesagt haben soll, dass man Philosophie im
Geiste der Kirche betreiben soll, was Bill als Mahnung gegen die Philosophie
Braigs verstanden wissen wollte; auch der Regens von St. Peter, Franz Xaver
Mutz314 und Subregens Nikolaus Gihr315, sowie Konviktsdirektor Andreas Schill316
waren strenge Scholastiker, die jede irgendwie andersgeartete Lehre verwarfen.
Gihr nannte nach Darstellung Bills Braig auch einmal beim Namen, indem er behauptete, „seine Philosophie gehe weiter, als sich mit dem Standpunkt der Kirche
vertrage“317. Diese Darstellung wurde von den genannten Mutz, Gihr und dem ehemaligen Konviktsdirektor Julius Mayer318 allerdings als unwahr zurückgewiesen,319 was freilich Bill zu einer Erneuerung seiner Vorwürfe veranlasste. Domkapitular Jakob Schmitt320, wohl ein extremer Ultramontaner, wird als der eigentlich
Verantwortliche für diese Politik genannt.321 Im Briefwechsel Braig-Kraus lässt sich
eine Spannung zwischen Fakultät und Konvikt bzw. Seminar nur andeutungsweise
herauslesen, zumindest in Bezug auf die tieferen Ursachen des Konflikts. Wenn
etwa Braig 1898 Kraus von einem „‘demüt.’ Brief“ schreibt, der ihn aus St. Peter erreicht habe,322 oder wenn von Uneinigkeiten zwischen Domkapitel und Fakultät
hinsichtlich des angesetzten Beginns des Vorlesungsbetriebs die Rede ist,323 so
spiegelt sich darin vielleicht das tiefer gestörte Verhältnis zwischen den Institutionen.
311
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323
Zu Karl Bill (1871-1903) vgl. Otto Weiß: Modernismus (Reg.).
Vgl. Karl Bill: Erinnerungen an Franz X. Kraus, in: Freie Deutsche Blätter 2 (1902) 3034, 41-47, 65-68, 78-82, 85ff.
Zu Friedrich Justus Knecht (1839-1921) vgl. LThK3 6, 154.
Zu Franz Xaver Mutz (1854-1924) vgl. Gatz: Bischöfe 525f. Mutz war es allerdings
auch, den die Fakultät zehn Jahre später geschlossen für die Nachfolge der Pastoraltheologie benannte.
Zu Nikolaus Gihr (1839-1924) vgl. LThK3 4, 646.
Zu Andreas Schill (1849-1896) vgl. Ernst Theodor Nauck: Die Privatdozenten der Universität Freiburg i.Br., Freiburg 1956, 76.
Bill: Erinnerungen 87.
Zu Julius Mayer (1857-1926) vgl. Schiel: Briefe II 422. Mayer hat Braig später im Freiburger Diözesan-Archiv mit einem ehrenden Nachruf bedacht (vgl. Julius Mayer: Necrologium Friburgense 1921-25, in: FDA 54 [1926] 9-54, hier 28).
Vgl. die Gegendarstellung in: Freie Deutsche Blätter 2 (1902) 73.
Zu Jakob Schmitt (1834-1915) vgl. Erwin Gatz: Rom als Studienplatz deutscher Kleriker
im 19. Jahrhundert, in: Römische Quartalschrift 86 (1991) 160-201, hier 197.
Vgl. zu diesem Verhältnis Arnold: Kulturmacht 60ff.
Vgl. Brief Braigs an Kraus vom 19. August 1898 (Schiel: Briefe I 329).
Vgl. die Briefe Braigs an Kraus vom 28. und 30. September 1899 (Schiel: Briefe I
332ff.).
57
Auch zu Erzbischof Thomas Nörber324 (1898-1920) schien das Verhältnis ein zumindest in den ersten Jahren von dessen Pontifikat gespanntes gewesen zu sein.
Zumindest verrät das ein Brief Nörbers an seinen Rottenburger Suffraganen Paul
Wilhelm Keppler, der in einer Rede gegen die Versöhnung von Katholizismus und
moderner Wissenschaft und Kultur angegangen war; eine Auseinandersetzung
könne nur dann statthaben – meinte Keppler –, wenn die Kirche zunächst „mit dieser modernen Kultur und Wissenschaft gründlich abgerechnet hat“325. Nörber
schrieb Keppler, er hoffe „auf eine ‘Nutzanwendung ihrer [sic!] Rede auf Braig, der
den kindlich gläubigen Sinn unserer künftigen Priester durch seine dogmatische
Methode arg schädigt’“326.
Trotz des intensiven antimodernistischen Engagements Braigs wurde ihm von Albert Maria Weiß327, mit dem Braig schon 1889 bei einem Besuch in Freiburg Bekanntschaft gemacht hatte,328 kein gutes Zeugnis ausgestellt: „Braig ist ein sehr
braver, kirchlich gesinnter frommer Mann, aber zum Dogmatiker ist er nicht geeignet“329.
Hans-Peter Fischer beurteilt die Position Thomas Nörbers zum Modernismus vielleicht etwas zu harmlos, wenn er sagt, der Erzbischof habe in der Relatio über die
Ausführung der Enzyklika Pascendi „seine des Modernismus bezichtigten und verdächtigten Angehörigen des Klerus und der Theologischen Fakultät in Schutz“330
genommen. Nörber schrieb wörtlich: „Es darf im allgemeinen mit aller Bestimmtheit
behauptet werden, daß ausgebildeter Modernismus in der Erzdiözese nicht vorkommt, wohl aber waren wie überall sporadische Erscheinungen einzelner Symptome zu bemerken, die jedoch nach Erscheinen der Enz[yklika] Pascendi durch
vielfache Publikationen und Erklärungen der Enzyklika ans Licht gestellt und anscheinend beseitigt wurden. I. Was die früheren Studien angeht, so werden die
philosophischen im Sinn des hl. Thomas v. Aquin gelehrt. Der Professor der Dogmatik folgt mehr der historischen Methode, bemüht sich aber der Auffassung des
hl. Thomas treu zu bleiben. Die Moral, Pastoral u[nd] biblische Theologie (Exegese) werden in streng kirchlichem Sinn behandelt. II. Die Professoren der Theologie
an der Universität [...] sind kirchlich korrekt mit einziger Ausnahme des Professors
der Kirchengeschichte [Georg Pfeilschifter331], welcher, von dem modernen Kritizismus angekränkelt, mehr das menschliche Element in der Kirche beachtet ohne
324
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58
Zu Thomas Nörber (1846-1920) vgl. LThK3 7, 903; Gatz: Bischöfe 536f.; Hans-Peter Fischer: Die Freiburger Erzbischofswahlen 1898 und der Episkopat von Thomas Nörber.
Ein Beitrag zur Diözesangeschichte, Freiburg/München 1997.
August Hagen: Der Reformkatholizismus in der Diözese Rottenburg (1902-1920), Stuttgart 1962, 24; vgl. zur Haltung Kepplers zum Reformkatholizismus Karl Hausberger: Eine Denkschrift des Rottenburger Bischofs Paul Wilhelm von Keppler über den Reformkatholizismus aus dem Jahr 1903, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 21
(2002) 321-340.
Brief Nörbers an Keppler vom 4. Dezember 1902 (zitiert nach Arnold: Kulturmacht 174).
Zu Albert Maria Weiß (1844-1925) vgl. LThK3 10, 1046.
Vgl. Brief Kriegs an Schrörs vom 17. Februar 1889 (Kraft: Briefwechsel 168-171).
Brief Weiß’ an Nuntius Frühwirt vom 22. September 1909 (zitiert nach Arnold: Kulturmacht 290).
Fischer: Nörber 275f.
Zu Georg Pfeilschifter (1870-1836) vgl. LThK3 8, 182f.
Rücksicht auf deren Leitung durch den Heiligen Geist u[nd] auch die Schattenseiten über Gebühr hervorhebt. Ich habe denselben gewarnt, u[nd] kann wenigstens
feststellen, daß er im öffentlichen Unterricht vorsichtiger geworden ist. Zu einem
disziplinären Einschreiten ist genügender Anlaß nicht gegeben, doch behalte ich
ihn gewissenhaft im Auge“332. Wird hier nicht ein Gegensatz aufgebaut zwischen
der Lehre im „streng kirchlichen Sinn“ und der „mehr historischen Methode“ Braigs,
die diesen verdächtig macht? Und ist die massive Anschuldigung Pfeilschifters als
kirchlich nicht zuverlässige Person dazu angetan, von einer Protektion seiner
Schutzbefohlenen durch den Erzbischof zu sprechen? Aber mit der Erwähnung der
Reaktionen auf die Modernismus-Krise haben wir schon vorgegriffen. Zunächst
war Braig also auch in den Kreisen der sich für gewisse Reformideen in der Kirche
Aussprechenden wenn nicht als einer der Ihren, so aber doch zumindest als Nahestehender angesehen. Das lässt sich daran ablesen, dass Braig im vierten Jahrgang der jetzt in „Das Zwanzigste Jahrhundert“ umbenannten Zeitschrift noch lobend erwähnt und gegen Angriffe verteidigt wurde. Im Februar und März 1904 fand
im großen Museumssaal in München eine Reihe von sechs Vorträgen statt, die im
„Zwanzigsten Jahrhundert“ durch ganzseitige Anzeigen angekündigt und auch
teilweise in ihrem Wortlaut abgedruckt wurden. Unter anderen sprachen der Münchener Kirchenhistoriker und Landsmann Braigs Alois Knöpfler, Herman Schell
und eben auch Carl Braig. Vielleicht weil Erstgenannter einen Vortrag hielt über
„Offenbarung und moderne Weltanschauung“, wobei eigentlich nur in recht konservativer Manier eventuelle Glaubensbarrieren aus dem Weg geräumt werden
sollten,333 und Schell ohnehin schon im Ruche des Reformers stand, konnte beispielsweise das „Altkatholische Volksblatt“ Braigs Vortrag334 in Zusammenhang mit
den Aktivitäten bringen, die schließlich zur Gründung der Krausgesellschaft geführt
haben.335 Sein Vortrag hat sich seinem Anspruch nach aber auf rein wissenschaftlichen Bahnen bewegt und sollte an einem Beispiel zeigen, dass sich moderne
(Natur-)Wissenschaft und dogmatischer Glaube nicht widersprechen. Als dann in
den Münchener Neusten Nachrichten eine scharfe Reaktion auf den Vortrag zu
finden war, des Inhalts, Braig sei unmotiviert gegen Reformideen und deren Vertreter ausfällig geworden,336 verteidigte das „Zwanzigste Jahrhundert“ den Angegriffenen und deckte das offensichtlich vorliegende Missverständnis auf.337 Braig hatte
sich an einer Stelle seines Vortrags dagegen gewehrt, dass der alte Glaube sich
332
333
334
335
336
337
Zitiert nach Fischer: Nörber 276. Vgl. nach Arnold: Kulturmacht 290: „In theologia dogmatica tradenda professor historicam sequitur methodum; attamen sensui et doctrinae
eiusdem S. Thomae adhaerere vult et studet“.
Vgl. Offenbarung und moderne Weltanschauung, in: Das zwanzigste Jahrhundert 4
(1904) 95-99.
Braig: Von dem Untergang der Dinge, in: Historisch-politische Blätter 133 (1904) 465482, 541-558.
Vgl. Haustein: Publizistik 78 Anm.
Vgl. auch Trippen: Tagebuch 156.
In: Das zwanzigste Jahrhundert 4 (1904) 126f.; vgl. die Aufzeichnungen Joseph Schnitzers, der über Braigs Vortrag schrieb: „[S]prachlich – stilistisch vorzüglich, aber inhaltlich unbedeutend. An Hand der Ergebnisse der Naturwissenschaften suchte er nachzuweisen, daß die letzteren mit der kirchlichen Lehre der Hauptsache nach übereinstimmen“ (Trippen: Tagebuch 156 [Eintrag vom 19. März 1904]).
59
aufgrund der neuesten Wissenschaft revidieren oder reformieren müsse. Wirkliche
Wissenschaft und echter Glaube befänden sich vielmehr im Einklang miteinander.338 So konnte die Zeitschrift auch schreiben, dass gar keine Rede davon sein
könne, „dass Herr Professor Braig die Bestrebungen des fortschrittlichen Katholizismus irgendwie kritisiert hat“. Auch als im Verlauf des Jahres Ernst Hauvillers
Lebensbild339 über F.X. Kraus erschien, betonte man zwar, dass die glänzend geschriebene Erinnerungsschrift Braigs unbedingt einer Ergänzung bedarf, da Braig
die kirchenpolitische Tätigkeit Kraus’ bei der Beurteilung seines Lebenswerkes
ausschalten“ wollte.340 Man zeigte aber auch ein gewisses Verständnis dafür, dass
Braig an der Hauvillerschen Schrift wenig Gutes fand, wenn man diese Kritik auch
zurückweisen musste.341 Braig hatte nämlich in der „Allgemeinen Rundschau“ das
Buch Hauvillers als „klägliches Machwerk“ tituliert.342
Erst nachdem Braig einige sehr kritische und ablehnende Artikel über den „Reformkatholizismus“ im allgemeinen und die „Krausgesellschaft“ im besonderen in
genannter Zeitschrift verfasst hatte,343 versuchte „Das zwanzigste Jahrhundert“
den Nachweis zu führen, dass Braig, der sich rühmte, dem verstorbenen Kraus ein
treues Andenken zu bewahren, „vom Geiste des Verstorbenen keinen Hauch mehr
besitzt“344. Dies bewiesen die Umstände, dass Braig seine Informationen aus dem
„Bayerischen Vaterland“ als einer „ungenügenden Quelle“ [...] beziehe, dass Braig
„als Zentrumsagitator das badische Land“ durchziehe, dass er das Ideal der Rückkehr zum religiösen Katholizismus für Unsinn erkläre, dass er schließlich ein Ultramontaner sei und mit Vorliebe in ultramontanen Zeitungen schreibe, jeweils in
Abkehr von Grundsätzen, die Kraus sein eigen genannt hatte. Dieser habe einem
„literarischen Anstande“ gehuldigt, dem „alles Demonstrieren und Agitieren in Massenveranstaltungen verhasst war“; Kraus wollte zum religiösen Katholizismus zurück und war „einer der schärfsten Bekämpfer des Ultramontanismus“.
Über Braigs angebliches politisches Engagement, sein Eintreten für die Zentrumspartei, ist nichts ausfindig zu machen. Was er von dem Begriff des „Ultramontanismus“ hielt, hatte Braig schon in einem Beitrag von 1904 klargemacht, und dass
er die Ablehnung des Ultramontanismus nicht als ein Prinzip des verstorbenen
Kraus’ ansieht, und wenn es doch so gewesen sein sollte, habe der Tote Unrecht
getan (s.o.).
Fortan war Braig in den Kreisen um die Krausgesellschaft und das „Zwanzigste
Jahrhundert“ nicht mehr wohlgelitten.
338
339
340
341
342
343
344
60
Vgl. Braig 1904b, 547.
Ernst Hauviller: Franz Xaver Kraus. Ein Lebensbild aus der Zeit des Reformkatholizismus, Kolmar 1904.
Vgl. N.N.: „Franz Xaver Kraus und die politische Kirche“, in: Das zwanzigste Jahrhundert 4 (1904) 214ff.
Vgl. N.N.: „Nochmals Dr. Ernst Hauvillers Krausbuch“, in: Das zwanzigste Jahrhundert
4 (1904) 311-314.
Vgl. Braig 1904f, 111.
Vgl. etwa Braig 1905c.
N.N.: „Zu den Pressestimmen über Dr. Geberts Vortrag“, in: Das zwanzigste Jahrhundert 5 (1905) 62f., hier 63.
9
Carl Braig in der Modernismus-Krise
Hatte sich Braig in den letzten Jahren des alten Jahrhunderts, seiner Aufgabe als
Professor für philosophische Propädeutik gemäß, in seinen Veröffentlichungen
hauptsächlich mit philosophischen Themen, vor allem Rezensionen, befasst, trat er
ungefähr ab 1900 gewissermaßen aus dem Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft
heraus und versuchte immer mehr, auf aktuelle Fragestellungen einzugehen. Vielleicht mag hier auch seine Kontroverse mit Glossner eine Rolle gespielt haben,
das Gefühl, sich eindeutig äußern zu sollen. Die Kritik, die Braig am Reformkatholizismus übte, vor allem auch die gegen Adolf von Harnack immer wieder vorgebrachten Punkte, liegen in der Linie, die Braig ab 1907 zu einem großen Engagement veranlasste, was die Verteidigung und Unterstützung der päpstlichen AntiModernismus-Kampagne betraf. Damit wurde die Haltung, die Braig ohnehin vertrat, immer mehr auch auf das kirchenpolitische Feld getragen. Das philosophischtheologische Moment der Aktivitäten Braigs zur Zeit der Modernismus-Krise soll
weiter unten noch ausführlich dargestellt werden. Ob dies Engagement aus der
ihm von Engelbert Krebs konstatierten Ängstlichkeit heraus geschah,345 oder gar
aus einer opportunistischen Kehrtwende hinsichtlich seiner kirchenpolitischen Ausrichtung heraus,346 lässt sich auf den ersten Blick nicht mit Bestimmtheit sagen.
Wie weiter unten deutlich zu zeigen sein wird, beruht Braigs antimodernistisches literarisches Wirken zumindest dem Inhalt nach nicht auf einem Wandel der Auffassungen, wie es möglicherweise erscheinen kann durch Braigs Herkunft aus der
Tübinger Schule, seines nicht unkritischen Verhältnisses der Neuscholastik gegenüber und seiner Beziehung zu Franz Xaver Kraus wegen, sondern es lässt sich
vielmehr zeigen, dass sich von den frühesten Veröffentlichungen Braigs bis zu den
späten Anti-Modernismus-Schriften die eine Linie seines apologetischen Anliegens
und der entsprechenden Ausrichtung durchzieht.
Ganze Artikel-Serien lässt Braig ab Oktober 1907 in der Allgemeinen Rundschau
veröffentlichen, die der Verteidigung der lehramtlichen Veröffentlichungen gegen
den Modernismus dienen. Braig bewies aber nicht nur hier ein Gespür für die aktuellen Probleme, wenn er schon einige Zeit vor der Publikation des Dekrets Lamentabili vom 3. Juli und der Enzyklika Pascendi vom 8. September 1907 einen Artikel
mit „Der Papst und die Neuchristen“347 überschrieb, in dem zwar nicht der Ausdruck „Modernismus“ bzw. „Modernist“ Verwendung fand, den Braig an anderer
Stelle durchaus auch schon lange vor der Verwendung dieses Wortes durch das
oberste Lehramt benutzt hatte, aber doch die „Neuchristen“ als die bezeichnen
konnte, die das Unmögliche begehrten, nämlich dass „der Papst rückhaltlos den
345
346
347
Vgl. Tagebücher Engelbert Krebs, Eintrag vom Mittwoch, 1. Februar 1911 (UAF C 126,
Nr. 4).
Dies wird aus manchen Passagen bei Weiß: Modernismus zumindest suggeriert; vgl.
ebd. 110 Anm. 2, v.a. 129: „Dort [in Freiburg] fand er [Kraus] auch in Paul Wilhelm
Keppler und Karl Braig geistesverwandte Kollegen, die jedoch beide nach seinem Tod
von seinem Idealen abrückten und zu Gegnern eines modernen Katholizismus wurden“.
In: Allgemeine Zeitung 4 (1907), 181ff. (Ausgabe vom 6. April 1907).
61
Forderungen des Fortschrittes, der modernen Kultur des Liberalismus entgegenkomme“348.
Wenn Braig diese Forderungen hier noch als sehr verschwommene und unklare
wahrnehmen konnte, so begrüßt er um so mehr die päpstlichen Auslassungen gegen den Modernismus, die ja in aller Klarheit das „System des Modernismus“ als
„Sammelbecken aller Häresien“ charakterisierten. „Eine Tat, ein Ereignis“ – so applaudiert Braig der römischen Kampfansage, nicht weil es „die erhabenste auktoritative Stelle auf Erden“ war, die den Kampf gegen die Irrungen des modernen
Zeitgeistes aufgenommen habe, sondern weil der Papst die Seele des Modernismus getroffen habe, „und diese Seele ist die Alogie, die Denkwidrigkeit dessen,
was sie als die ‘moderne Weltanschauung’ der ‘Starrheit’ des Christentums, zumal
des katholischen Christentums entgegensetzen“349. Man kann Braig nicht vorwerfen, er habe aus Opportunismus in die gleiche Kerbe gehauen wie die gegen den
Modernismus gerichteten Dokumente, vielmehr muss man es ihm abnehmen,
wenn er seine Erleichterung und Freude kundtut, dass nun auch von höchster Stelle sein Wirken gewissermaßen Bestätigung gefunden hat: Auch der Papst ist der
Auffassung, dass die Apologie der Logik gleichbedeutend mit der Apologie des
christlichen Glaubens ist. In einer ganzen Reihe von „Aphorismen zur Enzyklika“350
versucht Braig seinem Publikum den Inhalt und die Berechtigung der AntiModernismus-Kampagne nahezubringen.
Nicht nur schriftlich in zahlreichen Zeitschriftenbeiträgen warb Braig um die Akzeptanz der päpstlichen Abwehr des Modernismus, auch in Vorträgen ergriff Braig das
Wort gegen den Modernismus. Am 2. Juni 1908 hielt Braig einen umfangreichen
Vortrag vor einer Versammlung des Akademischen Bonifatiusvereins der Freiburger Studentenschaft zur Beantwortung der Frage: „Was soll der Gebildete von dem
Modernismus wissen?“351
Auch eine Vortragsreihe über Jesus Christus stand ganz im Zeichen der Modernismus-Krise. Nachdem die Congregatio Mariana Sacerdotalis schon im Oktober
1906 einen Hochschulkurs zum Thema „Bibelfrage“ mit den Referenten Leopold
Fonck352 und Gottfried Hoberg unter starker Beteiligung abgehalten hatte, fand
vom 12. bis 16. Oktober 1908 ein weiterer Kurs zum Thema „Jesus Christus“ statt.
Die Professoren der Freiburger Fakultät Gottfried Hoberg, Simon Weber353, Cornelius Krieg und Carl Braig und der Bonner Gerhard Esser354 hielten eine Reihe von
Vorträgen, die sich die Verteidigung der kirchlichen Lehre gegenüber den „Irrtümern der Zeit“ zum Ziel gesetzt hatten. Braigs Beiträge in der von der Kongregation herausgegebenen Druckfassung der Vorlesungen nehmen schon rein quantitativ den ersten Rang ein. Neben drei Vorträgen über „Jesus Christus außerhalb der
katholischen Kirche im neunzehnten Jahrhundert“ mit den Themen Person, Lehre,
348
349
350
351
352
353
354
62
Ebd. 181.
Braig 1907e, 551.
Braig 1907e; 1907f; 1907g; 1908e; 1908f; dazu zu zählen sind auch die Artikel Braig
1908g; 1908h und die nochmaligen Aphorismen Braig 1909e.
Abgedruckt in: Frankfurter Zeitgemäße Broschüren 28 (1909) 1-27.
Zu (Johann Christoph) Leopold Fonck (1865-1930) vgl. LThK2 4, 194f.
Zu Simon Weber (1866-1929) vgl. BBNF 4, 306f.
Zu Gerhard Esser (1860-1923) vgl. LThK2 3, 1114.
Stiftung Jesu Christi hielt Braig einen weiteren Vortrag über die Frage: „Wie sorgt
die Enzyklika gegen den Modernismus für die Reinerhaltung der christlichkirchlichen Lehre?“. Der zweiten Auflage der Sammlung von 1911 gab Braig noch
zwei Zusätze bei, die sich gegen die „Unwissenschaftlichkeit des liberalen und
modernistischen Historizismus“ und die „Willkürart des subjektivistischen Philosophismus auf dem Gebiete der Religionswissenschaft“355 stellten.
Nachdem durch das Motu Proprio „Sacrorum antistitum“356 vom 1. September
1910 mit seiner Forderung nach Ablegung des Antimodernisten-Eides die Stimmung noch zusätzlich aufgeheizt worden war, indem erregte Parlamentsdebatten
über die Freiheit der theologischen Forschung und die Existenzberechtigung
katholisch-theologischer Fakultäten an den deutschen Universitäten geführt wurden,357 tat sich Braig noch einmal mit einer Behandlung des Themas „Der Modernismus und die Freiheit der Wissenschaft“358 hervor. Widerwillig und zögernd hatte
Pius X. die Theologieprofessoren an den staatlichen Universitäten in Deutschland
hinsichtlich ihrer Lehrtätigkeit von der Eidesleistung dispensiert, was Braig darin
begründet sah, dass „manche Staatsregierungen sich und die ihnen unterstellten
Staatsbeamten, besonders Professoren an staatlichen Hochschulen, nur schwer
möchten schützen können gegen gewisse Geister und Gestalten, die wider rein
kirchliche, sie selber nicht berührende Verordnungen jederzeit anzugehen pflegen“359. Braig, der zu den Hochschullehrern gehörte, die den Eid freiwillig trotz ihrer Dispens leisteten,360 wiederholte im Vorwort seines Schriftchens noch einmal
die Eidesformel, passend zu seinem Tenor, der jeden wissenschaftsfeindlichen
Charakter der päpstlichen Weisungen weit von sich wies und solche eher der gegnerischen Seite zusprechen wollte. In dieser Schrift fasste Braig noch einmal zusammen, was ihm wichtig war: Das Thema der Freiheit der Wissenschaften hatte
ihn spätestens seit seiner akademischen Antrittsrede im Jahr 1894 beschäftigt, der
Kampf gegen den Modernismus reichte, wenn man will, noch weiter zurück.
Joseph Sauer, dessen Bemühungen um die Kraus-Nachfolge auch durch Braig
zeitweise gescheitert waren,361 sah im linientreuen Verhalten der „Altkrausianer“
Braig, Franz Heiner und Simon Weber, die sich mit ihren Verteidigungen und Deutungen der Enzyklika ‘Pascendi’ wie auch später des Antimodernisteneides exponierten, ein Zeichen der geistigen Verkalkung seiner Fakultät.362 Und in der Tat
hörte Braigs Hand bald danach auf, die Feder zu führen. Bevor mögliche Gründe
dafür erörtert werden können, soll zunächst noch das Wirken Braigs außerhalb des
355
356
357
358
359
360
361
362
Congregatio Mariana Sacerdotalis (Hg.): Jesus Christus. Apologetische Vorträge auf
dem II. theologischen Hochschulkursus zu Freiburg im Breisgau im Oktober 1908, Freiburg 21911, VI.
Vgl. DH 3537-3550; Norbert Trippen: Art. Antimodernisteneid, in: LThK3 1, 761.
Vgl. besonders den für die Situation in Freiburg interessanten Beitrag von Reinhardt:
„Kulturkampf“; ein umfangreicher Faszikel von Zeitungsberichten über den Antimodernisteneid im Freiburger Universitätsarchiv legt Zeugnis von der aufgewühlten Stimmung
ab (UAF B 35/374).
Freiburg 1911.
Braig: Gebildete VI.
Vgl. Das Neue Jahrhundert 3 (1911) 71.
Vgl. Arnold: Kulturmacht 285ff.
Vgl. ebd. 289.
63
engeren literarischen antimodernistischen Kampfes Erwähnung finden, wobei man
vieles als kontextuell mit den Auseinandersetzungen der Modernismus-Krise in
Verbindung bringen kann.
10 Vortragstätigkeit und andere Aktivitäten
Die Unterscheidung von politischem und religiösem Katholizismus, der im Schrifttum Kraus’ und in der Auseinandersetzung um seine Nachfolge wichtig war, spielte
auch eine Rolle bei der Ansprache Braigs am 26. August 1902 auf dem Katholikentag in Mannheim über das Verhältnis von katholischem Glauben und wissenschaftlicher Forschung.363 Es war dies ein Thema, welches ihn ja schon in seiner Antrittsrede von 1894 und überhaupt im Zusammenhang mit seinen apologetischen Bemühungen beschäftigt hatte. Braig wandte sich in seiner Rede gegen die Auffassung, katholischer Glaube und wissenschaftliche Forschung seien unverträglich,
gerade in Betracht ihrer jeweiligen Voraussetzungen: Die Wissenschaft müsse
voraussetzungslos und frei sein, der Glaubende aber sei in seinem Forschen und
Suchen an die Vorgaben des Glaubens gebunden. Dagegen stellte Braig den
Gläubigen als den wahrhaft Freien heraus, weil er sich seiner Bindung an die
Wahrheit bewusst sei.
In der Literarischen Beilage der Kölnischen Volkszeitung vom 2. Oktober 1902
fasste Braig die Vielzahl der Reaktionen, die ihm nach seiner Rede zugekommen
waren, zusammen. Es wurden ihm vorgehalten: „Vollendete Unwissenheit in Bezug auf den Gegenstand, um den es sich handelt; Unkenntnis dessen, was die
Wissenschaft als ihre Voraussetzungen betrachtet, und namentlich dessen, was
sie unter ‘Voraussetzungslosigkeit’ versteht; böswillige Verstümmelung der Sätze,
die ich aufgestellt; hämische Verdrehung der Worte, wie ich sie gewählt habe; Voreingenommenheit gegen die positive christliche Weltanschauung; Abneigung gegen den Standpunkt, den ich vertrete; Feindseligkeit und Haß gegen die Kirche,
der ich angehöre und diene; endlich Unsauberkeit, förmliche Unflätigkeit des Ausdruckes“364.
Joseph Sauer gehörte unter anderen zu den Kritikern Braigs. Er warf ihm in einem
anonymen Artikel eine Verharmlosungstaktik vor. Die prinzipielle Vereinbarkeit von
Glauben und wissenschaftlicher Forschung wolle er gerne zugestehen; nur habe
es der Wissenschaftler meist nicht direkt mit dem Glauben, sondern mit der Indexkongregation und dem Heiligen Offizium zu tun. Der braigschen Interpretation der
Enzyklika Aeterni Patris hielt Sauer entgegen, auf den „Fall Bill“ anspielend, dass
genau diese weite Auslegung der päpstlichen Weisung manchem zum Verhängnis
geworden sei.365 Braig hatte wie oft betont, dass dem Katholiken nicht das ausschließliche Studium der thomasischen Philosophie empfohlen ist, sondern das
Studium mit dem Ernst und dem Eifer, mit dem Wahrheitssinn, die auch einem
Thomas zu eigen gewesen waren.
363
364
365
64
Vgl. Braig 1902d.
Braig 1902e, 303.
Vgl. Arnold: Kulturmacht 133f.
Zur Feier des fünfzigjährigen Thronjubiläums des Großherzogs von Baden, Friedrich I., dedizierte ihm, ihrem Rektor, die Universität eine Festschrift, der Braig eine
Studie beigab mit dem Titel: „Ueber Geist und Wesen des Christenthums. Eine
Studie zu Chateaubriands Génie du Christianisme und verwandten Erscheinungen“366. Hier vergleicht Braig die apologetische Methode solch unterschiedlicher
Autoren wie René de Chateaubriand367, Franz Anton Staudenmaier und Adolf von
Harnack. Da die Theologie des letzteren sehr bekannt geworden und Braig von der
Studentenschaft angegangen worden war, ein Urteil über die Theologie Harnacks
abzugeben, kam er dieser Bitte in der Weihnachtszeit 1902/03 nach durch Ausarbeitung eines Vortrages, der einen Punkt aus den berühmtgewordenen Vorlesungen zum „Wesen des Christentums“ im Wintersemester 1899/1900 näher untersucht, nämlich die Frage nach dem Messiasbewusstsein Jesu.368 Hier kündigte
sich schon der später in der Modernismus-Krise bevorzugt behandelte Themenbereich der Christologie in apologetischer Hinsicht an.
„Der Papst und die Freiheit“ war das Thema einer Rede, die Braig in der Freiburger
Festhalle am 1. März 1903 aus Anlass des 25jährigen Regierungsjubiläums Leos
XIII. gehalten hat. Es war im letzten Jahr des greisen Papstes, der kurz danach,
am 20. Juli, sterben sollte. Braig würdigte in seiner Ansprache das Engagement für
die menschliche Freiheit, das der Papst in seinen Rundschreiben immer wieder erkennen gelassen hatte. Wie aber passt die Freiheit zusammen mit dem Papst, der
als Inbegriff der kirchlichen Autorität zu gelten hat, „dessen erste Rede lautet: ‘Du
sollst!’ – dessen zweite Rede sagt: ‘Du darfst nicht!’ – dessen Schlußrede verordnet: ‘Du mußt!’“369? Zunächst betont Braig, dass die Menschheit ohne die Kirche
nichts von der wahren Freiheit wüsste: „Wo ist denn die Freiheit gewesen, ehe die
Botschaft erklungen war: ‘Die Wahrheit wird euch frei machen!’? Und wer hat die
Botschaft gehütet, sie mit allumfassender Menschenliebe unablässig wiederholt
[...]?“370. Der Papst als Repräsentant der Christenheit habe dafür gesorgt, dass die
Idee der Gleichheit aller Menschen an Würde sich durchsetzen konnte, dass Sklaverei und Unterdrückung der Frau ein Ende gefunden haben, dass der Mensch
gegen die Knechtschaft der eigenen Lüste und Laster kämpfen könne. Der Schutz
der Freiheit vor dem „neuesten und widerlichsten Auswuchs an dem Riesenbaume
des Menschengewächses, das Herren-, das Übermenschentum, gegen die brutalen Ansprüche seiner Vertreter, die sich selber, der Blüte, den Edelprodukten ihrer
Rasse, jedes Gut, jedes Recht, alle Genüsse zuerkennen, und die von der Herdenmasse den willenlosen Dienst alles Denkens, Könnens und Habens verlangen“371, hat freilich wenige Jahre später die Katastrophe des Nazi-Terrors nicht
verhindern können. Es ist aber die Weitsicht Braigs und sein an modernen Men366
367
368
369
370
371
In: Festschrift der Albert-Ludwig-Universität in Freiburg zum 50jährigen Regierungsjubiläum des Großherzogs Friedrich, Freiburg 1902, 13-62.
Zu François René de Chateaubriand (1768-1848) vgl. LThK3 2, 1030f.
Vgl. Braig: Das Wesen des Christentums an einem Beispiel erläutert oder Adolf Harnack und die Messiasidee. Freiburg im Breisgau 1903, V; vgl. dazu Fastenrath: Christologie 95-99.
Braig 1903b, 5.
Ebd. 5f. mit Bezug auf Joh 8,32.
Braig 1903b, 6.
65
schenrechtsvorstellungen orientiertes Denken anzuerkennen. Braig kommt auf die
neueste, „voraussetzungslose“ Wissenschaft zu sprechen, deren Einsicht in das
Wesen der Freiheit darin bestehe, dass es eine solche gar nicht gibt: „Der Mensch
ist eine Maschine, ein Automat mit einem geheimen Räderwerk, und dessen Verborgenheit ist schuld daran, daß der Unkundige den leeren Glauben an die Freiheit
faßt und festhält und verbreitet unter seinesgleichen“372. Dagegen mache der
Papst sich zum Anwalt einer Freiheit, die für Braig vor allem in der Religionsfreiheit
und in der Freiheit zu denken besteht. Religionsfreiheit sei freilich nicht die Freiheit,
sich gleichgültig gegen alle Religionsformen zu verhalten, wie es die Vertreter einer schrankenlosen Religions- und Gewissensfreiheit wollen, deren mehr oder weniger geheimes Ansinnen vor allem gegen die katholische Glaubenslehre gerichtet
sei, die beansprucht, allein wahre Religion zu sein. Diese Beliebigkeit könne nicht
mit der wahren Religionsfreiheit gemeint sein, denn so würde der Gläubige, der
Katholik, „sich seine Überzeugung durch den Irrwahn der leeren, blinden
Gleichgültigkeit, der faden, tauben Religionsmengerei, der öden, blöden
Religionslosigkeit einengen, knechten, zerstören lassen“373. Gleichwohl will Braig
„jede fremde religiöse Überzeugung, selbst wenn wir sie als irrig erkannt haben“374,
achten und keinerlei Zwang ausüben. Hinsichtlich der Freiheit des Denkens, der
Wissenschaft, verweist Braig auf die Erhabenheit dieser Freiheit, die allerdings
auch wieder keine schrankenlose sein dürfe, da die Lüge, die Unwahrheit, der Trug
keinerlei Existenzrecht haben können und dürfen. Freiheit der Forschung könne
nur gelten, wenn diese auf das Wahre ausgerichtet bleibe. Durch diese Beispiele
zeigt Braig – und so legt er es am Schluss in emphatischer Rede dar –, dass
Freiheit und Autorität keineswegs unvereinbar seien wie Feuer und Wasser,
sondern vielmehr untrennbar aufeinander angewiesen: „Die Autorität ohne
handelnde Kraft vermag dem Untergange nicht zu gebieten, wenn er drohet; die
freie Kraft ohne führende Autorität wird blind in den Untergang hineinstürmen“375.
Es fällt auf, dass in den Arbeiten Braigs ab etwa 1906 der Papst und die kirchliche
Hierarchie immer mehr in den Vordergrund rücken als die Verfechter der christlichen Wahrheit, der Ideen, denen auch Braig auf seine Art zum Durchbruch verhelfen möchte. Das zeigt sich beispielsweise in dem als erweiterter Vortrag abgedruckten Beitrag für die Historisch-politischen Blätter „Rom und der Syllabus“376, in
dem Braig die Weltstellung Roms besonders durch das Papsttum betont,377 durch
das im Mittelalter die Kultur bewahrt wurde und welches das Gegengewicht gegen
eine omnipotente Staatsmacht darstelle. Braig möchte auf dieser Linie auch die
neuzeitlichen Äußerungen und Handlungen der Päpste sehen, in denen viele den
Niedergang der Kirche angezeigt finden. Namentlich der Syllabus errorum378 der
Enzyklika „Quanta cura“ vom 8. Dezember 1864 habe bei vielen den Verdacht genährt, dass es mit dem Papsttum vorbei sei, dass die Kirche sich damit von ihrer
372
373
374
375
376
377
378
66
Ebd.
Ebd. 7.
Ebd. 8.
Ebd. 10.
Braig 1906a.
Vgl. auch Braig 1906d.
Vgl. DH 2901-2980; vgl. Klaus Schatz: Art. Syllabus, in: LThK3 9, 1153f. (Lit.).
führenden geistigen und kulturellen Stellung verabschiedet habe. Dagegen stellt
Braig die Auffassung, dass auch der Syllabus nichts enthalte, was mit einer nach
Wahrheit strebenden Aufrichtigkeit nicht zu vereinbaren wäre. Die Verurteilung des
letzten Satzes des Syllabus, „Der Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt,
mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und vertragen“379,
wird von Braig dahingehend ausgelegt und damit einer beschwichtigenden Interpretation unterzogen, dass der Papst sich zu Recht gegen den Liberalismus wende, weil dieser von dem grundfalschen Axiom ausgehe, dass nur der Erfolg gut,
wahr, sittlich, gerecht sei, dass alles sonst im Denken und Handeln zunächst vollkommen gleichwertig, in derselben Weise daseinsberechtigt sei.380 Die schwarze,
verabscheuenswürdige Seele des Liberalismus sei die Verneinung des dem Menschen vorgegebenen Unterschiedes zwischen Wahr und Falsch, zwischen Gut und
Böse. Daher auch Braigs Vorbehalte gegen eine Versöhnung mit dem Entwicklungsgedanken. Das Gesetz nämlich, das den Unterschied zwischen Wahr und
Falsch, Gut und Böse feststellt, unterliege keiner Wandlung. Papst Pius IX. habe
also mit seinem Syllabus keineswegs die berechtigte Freiheit des modernen Menschen beschneiden wollen, vielmehr zeige sich die wahre Freiheit erst, wenn der
falsche Liberalismus in seine Schranken verwiesen sei.
Als hätte Braig mit dieser begeisterten Apologie des Syllabus nach weiteren in dieselbe Richtung gehenden Verlautbarungen gerufen, und als wäre sein Ruf erhört
worden, wurde bald danach der „neue Syllabus“ gegen den Modernismus ausgegeben. Das eifrige Eintreten Braigs für die entsprechenden Argumentationen haben wir schon oben beschrieben. Man kann das ganze weitere Schrifttum Braigs
unter dem Aspekt der Modernismus-Krise betrachten, auch solche Werke, die aus
scheinbar weniger damit verbundenen Anlässen wie die 450. Wiederkehr des Todestages des seligen Markgrafen Bernhard von Baden381 am 15. Juli 1908 entstanden sind. Ende Juli 1908 hielt Braig in der städtischen Festhalle in Karlsruhe
eine Rede zur Feier des Todestages. Unter dem Titel „Christ und Bürger“ ist sie erschienen,382 und sie sollte zugleich an die Feier des fünfzigjährigen Priesterjubiläums Pius’ X. erinnern. Braig zeichnet das Bild Bernhards als „das Bild der Einheit
Christ und Bürger, die der Papst fordert, der gottgewollten, gottgesegneten Einheit
zwischen dem Erdenbürger und dem Himmelsbürger“383. Diese im Leben Bernhards aufscheinende Einheit nimmt Braig zum Anlass, nach der Art der Einheit von
Christ und Bürger, die den Menschen der Gegenwart prägen soll, zu fragen. „Wird
der Bürger dem Christen gegenüber, wenn dieser Ernst macht, nicht am Ende zu
kurz kommen? Muß nicht der Bürger, in weltliche Händel und Hantierungen verstrickt, ab und zu wenigstens durchsetzen, durchfechten, was der Christ glattweg
379
380
381
382
383
„Romanus Pontifex potest ac debet cum progressu, cum liberalismo et cum recenti
civilitate sese reconciliare et componere“ (DH 2980).
Vgl. Braig 1906a, 841f.
Zu Bernhard Markgraf von Baden (um 1428-1458) vgl. LThK3 2, 266; Christine Schmitt:
Der selige Bernhard von Baden in Text und Kontext 1858-1958: Hagiographie als engagierte Geschichtsdeutung, Leinfelden-Echterdingen 2002.
Braig 1908c.
Ebd. 4.
67
gutzuheißen außer stand ist?“384 Hier sind nicht nur die Fragen nach dem Verhältnis von christlicher und bürgerlicher Gesinnung, von Staat und Kirche berührt, man
kann auch weitergehen und hier die Beziehung von Natur und Gnade, von Philosophie und Theologie tangiert sehen. Die dabei erscheinende Gegensätzlichkeit
versuchen viele, so Braig, zu lösen durch einen Rückzug des Religiösen in die Privatsphäre. Solches Ansinnen weist Braig zurück, und er lobt den Papst, der gerade
diese Einheit von Weltlichem und Christlichem immer wieder betone. Rein weltliche
Bildung ohne rechte Verwendung derselben sei nichts. Die Höhenflüge eines Grafen Zeppelin seien bewundernswert; allein, „der herrlichste Triumph der technischen Bildung, die doch immer wieder in den Erdenstaub eintauchen muß, wäre
nicht genug für eine unsterbliche Seele! Sie [...] muß den Weg kennen über die
Wolken hinaus, den Weg an die Gestade der ewigen Heimat!“385 Anders als die
weltliche Klugheit verlange das Christentum aber Opfer, und ein solches Opfer sei
der Verzicht Bernhards auf seine Regentschaft gewesen. Was ist aber der Furcht
derer zu erwidern, die einen Alleinherrschaftsanspruch der Kirche befürchten?
Braig möchte sich nicht über die verschiedenen Meinungen über das Verhältnis
von Staat und Kirche auslassen. Einen Punkt nur möchte er noch berühren und
Missverständnisse abbauen. Der Staat sei wie die Kirche von Gott gegeben. Befehl der Autorität und Gehorsam des Untergebenen seien durch göttliches Recht
sanktioniert. Aufgabe der Kirche sei es, und bezüglich dieser Aufgabe „hat der
Papst in seinem Oberhirtenamte keinen irdischen Gebieter über sich“386, auf die
Gesetze der ewigen Gerechtigkeit, auf deren Heiligkeit, Unwandelbarkeit und Unverletzlichkeit hinzuweisen. Nur der Despot und Tyrann versuche, die Gewissen zu
zwingen, versuche das „Verbrechen gegen die Geistes-, die Denk- und die Gewissensfreiheit“387. „Den Geistern, den Herzen, den Gewissen kann nur Gott gebieten,
und [...] wenn es der Papst nicht kann, dann vermag es niemand sonst auf Erden,
kein Gelehrter, kein Richter, kein König!“388. Gleichwohl sei es Pflicht der Kirche
und des Papstes, auf die Wahrheit hinzuweisen, komme es gelegen oder ungelegen. So verteidigt Braig auch die Verurteilung des Modernismus durch den Papst,
womit all jene, die meinten, der alte Christenglaube sei nicht mehr zeitgemäß, in
ihre Schranken verwiesen werden.389
Braig zeigt sich hier als ein zuverlässiger Staatsbürger, der an der Rechtmäßigkeit
der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit und ihrem Gottesgnadentum keinen Zweifel aufkommen lässt. Hören sich manche Sätze seiner Rede für Ohren des jungen
21. Jahrhunderts unerträglich an,390 und lässt sich dies durch den zeitlichen Abstand auch hinreichend erklären, so erstaunt doch die Begeisterung und die unge384
385
386
387
388
389
390
68
Ebd. 11.
Ebd. 18.
Ebd. 23.
Ebd.
Ebd.
Ebd. 26f.
Christine Schmitt (vgl. dies.: Bernhard 180-183) moniert etwa die Schilderung des „erhebenden und erschütternden“ Anblicks der Heerscharen vor einer Schlacht, die sich
im „Vertrauen auf die gerechte Sache und auf den gerechten Gott“ einen (Braig 1908c,
2f.), oder den synonymen Gebrauch der Ausdrücke „vollkommener Mensch“ und „ganzer Mann“ (Braig 1908c, 24f.).
heuchelte Überzeugung von der Berechtigung der Autorität, die Braig in seinen
theoretischen Schriften sonst nur der Philosophie und dem rechten, logischen
Denken zuerkennen will, wobei es auch hier durchaus unterschiedliche Akzente
gibt.391
11 Das hochschulpolitische Wirken
Carl Braigs hochschulpolitisches Wirken, das Ausdruck fand in der Übernahme der
Dekanenwürde in den Studienjahren 1899/1900, 1904/05, 1908/09 und 1916/17,
wurde durch das Studienjahr 1907/08 gekrönt, für das Braig zum Prorektor der Universität gewählt wurde. Die Wahl verlief denkbar knapp – im ersten Wahlgang
gab es von 40 abgegebenen Stimmen im Senat nur zwölf für Braig, davon allein
die sechs der theologischen Professoren.392 Erst im zweiten Wahlgang, der zwölf
Enthaltungen mit sich brachte, gelang die Wahl mit 19 Stimmen für Braig.393 In jenen Jahren war Rektor der Universität der Großherzog, und die Leitung der Universitätsgeschäfte war damit stets dem aus dem Professorenkollegium jährlich gewählten Prorektor übertragen, wobei man sich dieses Amt turnusmäßig unter die
Fakultäten aufteilte.
Dass die Kandidatur Braigs den Makel eines notwendigen zweiten Wahlgangs an
sich tragen musste, ist auf das mehr oder weniger offen feindselige Verhältnis zwischen Theologischer Fakultät und den anderen Fakultäten zurückzuführen. Schon
bei der Grundsteinlegung zum neuen Kollegiengebäudes am 3. Juli 1906 hatte es
einen kleinen Eklat gegeben, weil der Prorektor in seiner Rede Äußerungen tat, die
den anwesenden Theologen missfallen mussten.394
Als Braig dann in seiner Antrittsrede zum Prorektorat am 5. Mai 1907 wichtige Inhalte der kurz darauf folgenden Antimodernisten-Enzyklika „Pascendi“ (vom 8.
September 1907) Pius’ X. vorwegnahm, konnte er noch nicht ahnen, dass der
kirchlich geführte Kampf gegen den „Modernismus“ die Professorenschaft noch
mehr gegen die Theologische Fakultät aufbringen sollte, dass sogar der Bestand
der Fakultät in Frage gestellt werden konnte.395
In die Zeit seines Prorektorats fallen die Trauerfeierlichkeiten anlässlich des Todes
von Großherzog Friedrich I. von Baden am 28. September 1907. Bei der Trauerfeier der Universität in der Festhalle der Stadt Freiburg im November 1907 hielt
Braig die Trauerrede.396 In ihr schildert Braig die Person des verstorbenen Großherzogs in den ehrenvollsten Tönen. Keinen Zweifel lässt Braig an der Rechtmäßigkeit, ja Notwendigkeit des monarchischen Prinzips: „Wer macht Geschichte?
Sind es die Völkermassen? Sind es die Führer der Massen? Ohne die Massen
391
392
393
394
395
396
Vgl. unten Zweiter Teil Abschnitt 2.3.3.1 Braigs Kommentare zu den ModernismusErlassen und Dritter Teil Abschnitt 1.5.5 Die äußere Wahrheitsquelle: die Autorität.
Vgl. Brief Kriegs an Schrörs vom 31. Dezember 1906 (Kraft: Briefwechsel 247).
Vgl. Protokollbuch der Theol. Fakultät, Eintrag vom 15. Dezember 1906 (UAF B 35/36).
Vgl. die extra deswegen einberufene Fakultätssitzung (Protokollbuch der Theol. Fakultät, Eintrag vom 9. Juli 1906 [UAF B 35/36]).
Vgl. Reinhardt: „Kulturkampf“; siehe dazu weiter unten.
Braig 1907k.
69
fehlt die Wucht und Kraft, das Material für die Weltgeschichte. Das ist richtig. Aber
ohne die überlegene, gebietende, richtende und schlichtende Einsicht des Feldherrn im Kriegsgetümmel, des Meisters im Friedenswerke kann das Durcheinander, das Gegeneinander der Massen und ihrer wilden Triebe nimmer die Gestalt
eines menschenwürdigen Zusammenseins, nimmer den Segen eines menschenwürdigen Zusammenwirkens zeugen. Darum sind die Führer in der Hand dessen,
der über den Sternen waltet, die ersten Werkzeuge, die Massenhaufen sind die
zweiten Ursachen, wenn die Entwicklung unseres Geschlechtes gemäß den ewigen Gesetzen des Rechten und der Gerechtigkeit beginnen, wenn die Aufgabe einer Weltgeschichte gelöst, wenn diese aus dem Chaos eines blinden Geschehens
erlöst werden soll“397.
Braig berichtet von der regen Anteilnahme des Fürsten, die dieser stets dem Ergehen der Universität in Freiburg entgegengebracht habe. So z.B. als Braig zu Beginn seines Prorektorats in Karlsruhe erscheinen musste, so als er zu Festlichkeiten in Mannheim zugegen war. In die über 50 Jahre, die der Großherzog der Universität als Rektor vorstand, fällt der große Aufschwung, den die Hochschule
erfahren durfte. Das zeigt sich nicht nur in der Anzahl der eingeschriebenen Hörer,
sondern auch in einer Reihe von neu errichteten Bauten, die Braig aufzählt.398
Die durchweg positive Charakterisierung, die Braig dem Landesherrn angedeihen
ließ, lässt sich natürlich durch die Verpflichtungen eines Prorektors erklären. Vielleicht spiegelt sich aber in den Worten Braigs noch das gute Verhältnis wider, das
zwischen Franz Xaver Kraus und Großherzog Friedrich geherrscht haben muss. In
den krausschen Tagebüchern nehmen die Begegnungen mit dem Fürsten eine
gewichtige Stellung ein. Friedrich wird als Politiker geschildert, der sich sehr interessiert an einem guten Einvernehmen zwischen Staat und Kirche gezeigt habe.399
Und tatsächlich war es der Großherzog, der in der durch den Kulturkampf, welcher
neben Preußen und Hessen auch Baden mit einiger Heftigkeit heimgesucht hatte,
verfahrenen Situation Ende der siebziger Jahre für eine Verständigung zwischen
Staat und Kirche zur Besserung der kirchlichen Verhältnisse eingetreten war, aus
welcher Motivation auch immer.400
Im Herbst 1909 erhielt Braig einen Ruf in das Domkapitel in Rottenburg, welche
Berufung er aber ablehnte. Da das Ministerium in Karlsruhe Wert darauf legte,
dass Braig an der Universität verbliebe, wurde ihm zur Ausübung seiner Stellung
Erleichterung versprochen.401 Der Privatdozent Heinrich Straubinger402 wurde daraufhin beauftragt, pro Semester eine Vorlesung von zwei Wochenstunden über
Sakramentenlehre bzw. Eschatologie zu halten. Weiterhin wurde dem Konviktsdirektor Jakob Bilz403, dem Lieblingsschüler und späteren Nachfolger Braigs,404 ein
397
398
399
400
401
402
403
70
Ebd. 4.
Vgl. ebd. 9-12.
Vgl. z.B. Kraus: Tagebücher 388 u.ö.
Vgl. Manfred Stadelhofer: Der Abbau der Kulturkampfgesetzgebung im Großherzogtum
Baden 1878-1918, Mainz 1968, 32ff.
Vgl. Protokoll vom 26. Oktober 1909 (UAF B 35/36); es wird der Freude Ausdruck verliehen, dass „Herr Kollege Braig der Versuchung, sich in die Ruhe des Rottenburger
Kapitels zurückzuziehen, widerstanden hat“.
Zu Heinrich Straubinger (1878-1955) vgl. FDA 77 (1957) 271f.
Zu Jakob Bilz (1872-1951) vgl. LThK3 2, 461f.
Lehrauftrag von zwei Stunden pro Semester erteilt für Vorlesungen über Soteriologie. Braig hatte so nur noch ein Pensum von sechs Vorlesungsstunden in der Woche zu absolvieren.405
Am 4. Januar 1910 wurde Braig zum Päpstlichen Hausprälaten ernannt, wohl aufgrund seiner intensiven Bemühungen um die Verteidigung der rechtgläubigen Lehre. Braig machte sich gerade in den Zeiten der Modernismus-Krise zu einem Anwalt des Lehramtes und suchte dieses gerade angesichts einer sehr liberalen Gesinnung der Universität als ganzer gegen Vorwürfe zu verteidigen. In diesem
Zusammenhang verdient auch die Auseinandersetzung zwischen universitärem
Senat und Theologischer Fakultät Erwähnung, die im Zuge der päpstlichen Forderung nach Ableistung des Anti-Modernisten-Eides durch alle Kleriker sich zuspitzte
und einen Höhepunkt erreichte.406 Das Motu proprio „Sacrorum antistitum“ vom 1.
September 1910 traf nur eine, wenngleich sicher die tiefgreifendste Anordnung im
Verlauf der Maßnahmen gegen den Modernismus seitens des Lehramtes. Der
Streit um den Modernismus wurde aus Anlass der Frage nach dem Eid auch eine
Angelegenheit der Universität Freiburg. Der damalige Prorektor und Psychiater Alfred Hoche407 verstand es, den Senat auf seinen gegen die Theologen gerichteten
Kurs festzulegen. So konnte man in Hinsicht auf den Senat von einer liberalistischen Auffassung „preußisch-protestantischer Prägung“ sprechen, während die
andere Seite, die Theologische Fakultät, fast geschlossen „kirchlich“ argumentierte. Ausnahmen machten der Nachfolger von Ehrhard und Kraus, Georg Pfeilschifter, und Joseph Sauer, die sich der Auffassung der Fakultätsmehrheit nicht immer
anschlossen.408 Der Senat wollte die Eidespflicht für die Professoren der Theologie
ausgesetzt wissen, weil er sonst um die Freiheit der Forschung und Lehre fürchtete, und er verfasste eine entsprechende Bitte an die Großherzogliche Regierung,
sie möge mit allen Mitteln versuchen, dass die Eidesverpflichtung für die Freiburger Theologen aufgehoben werde. Der Theologischen Fakultät, die sich irritiert über das eigenmächtige Verhalten des Senats zeigte, erwiderte man, dass es sich
bei dem behandelten Gegenstand um einen Umstand von allgemeinem Universitätsinteresse handele, für welchen der Senat also durchaus Zuständigkeit besitze.
Auch das Ministerium in Karlsruhe verfolgte eine harte Linie gegen die kirchlichen
Interessen, wenn auch schon längst die Eidespflicht für die Professoren der staatlichen Universitäten aufgehoben war. Man sah in den disziplinarischen Vorschriften
des Motu proprio und des Anti-Modernisten-Eides Eingriffe in die staatsbürgerlichen Rechte der Geistlichen gegeben, die der Kirche nicht zuständen. Die Unnachgiebigkeit des Senats zeigte sich zunächst darin, nur solche Priester zu Professoren zu ernennen, die den Eid nicht abgelegt hatten. Als Ende Januar 1911
nämlich der mit Braig befreundete Pastoraltheologe Cornelius Krieg gestorben und
404
405
406
407
408
Vgl. Sitzung des Fakultätsrats vom 24. März 1923 (UAF B 59/162 [Protokollbuch]).
Vgl. Die Vorlesungsverzeichnisse ab Sommer-Semester 1910.
Vgl. dazu Reinhardt: „Kulturkampf“.
Zu Alfred Hoche (1865-1943) vgl. Reinhardt: „Kulturkampf“ 129.
Vgl. Reinhardt: „Kulturkampf“ 93f.
71
eine Liste möglicher Nachfolger aufgestellt worden war,409 bemängelte man an
dieser, dass nur Kandidaten genannt worden seien, die den Eid bereits geleistet
hätten. Man war weiterhin der Meinung, dass der Eid eine bestimmte methodologische Bindung verlange und andere wissenschaftliche Vorgehensweisen disqualifiziere und somit die wissenschaftliche Bewegungsfreiheit entscheidend einschränke. Die Karlsruher Regierung war im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung
nicht darin interessiert, einen offenen Streit mit der Kirche auszufechten. Man sann
daher auf Vermittlung und Kompromisse. Wenn man vom Senat aus deutlich
machte, dass man möglicherweise auch für das Ende der Theologischen Fakultät
an der Freiburger Universität plädieren würde, zeigte man sich in Karlsruhe dagegen am Fortbestand der staatlichen Fakultät interessiert und sah ein, dass ein Bestehen auf ausschließlich unvereidigte Kandidaten auf längere Sicht das Aussterben der Fakultät nach sich ziehen würde. Für den vorliegenden Fall, die Nachfolge
Kriegs, bat man aber doch zur Befriedung aller Seiten um die Aufstellung eines
Kandidaten, der bereits Mitglied der Fakultät sei. Die Theologen einigten sich
schließlich auf Karl Künstle410, einen Schüler von Kraus, der als ordentlicher Honorarprofessor bislang Patrologie und „kirchengeschichtliche Spezialitäten“ gelesen
hatte. Auch in den kommenden Jahren zeigte sich der Senat in seiner Mehrheit
unerbittlich in seiner Forderung, nur unbeeidete Kandidaten für Berufungen zuzulassen. So 1916 bei der Neubesetzung des durch die Berufung des bisherigen Vertreters Simon Weber ins Freiburger Domkapitel vakant gewordenen Lehrstuhls für
Neutestamentliche Exegese, anlässlich derer schon eine fakultätsinterne Auseinandersetzung entstanden war. So hatte die Mehrheit (Hoberg, Braig, Mayer, Weber) versucht, die Besetzung der Professur zu verzögern, um dem erst gerade sich
habilitierenden Arthur Allgeier411 die Chance auf diesen Lehrstuhl zu geben. Demgegenüber stimmte eine Minderheit (Pfeilschifter, Göller, Künstle) dafür, die Besetzung sofort zu erledigen. Daraufhin zeigte sich besonders Weber beleidigt, zumal
auch nur der Antrag der Minorität im Senat durchging, während das Mehrheitsvotum zurückgewiesen wurde. Im Seperatvotum der Minderheit war wohl auch der
Textkritik in der Bibelexegese ein hervorragender Rang eingeräumt worden, was
Braig zu der „Feststellung“ veranlasste, dass gerade die Vorrangstellung der Textkritik in der Formel des Anti-Modernisten-Eides verurteilt worden sei, welche „Feststellung“ die Vertreter der Minderheit wiederum veranlasste, sich einer Verdächtigung ausgesetzt zu sehen, die Braig aber so nicht ausgesprochen haben wollte.412
Das letzte von Braig übernommene Dekanat in den Jahren 1916/1917 war nicht
nur überschattet von den andauernden Kriegswirren, sondern auch von Krankheit
und Konflikten innerhalb der Fakultät. Bereits im März 1916, so berichtet Engelbert
409
410
411
412
72
Interessant an dieser einstimmig aufgestellten Liste ist, dass Franz Xaver Mutz, Regens
am Priesterseminar in St. Peter, als erster genannt ist. Dieser war es, der einige Jahre
zuvor sich angeblich sehr kritisch zur Philosophie Braigs geäußert hatte (vgl. oben).
Zu Karl Künstle (1859-1932) vgl. Schiel: Briefe III 140-175.
Zu Franz Arthur Allgeier (1882-1952) vgl. LThK2 1, 352.
Vgl. Sitzung des Fakultätsrats vom 7. März 1916 (UAF B 59/162); vgl. auch DH 3546
(„Reprobo pariter eam Scripturae sanctae diiudicandae atque interpretandae rationem,
quae [...] criticem textus velut unicam supremamque regulam [...] amplectitur“).
Krebs, habe er mit dem Kirchenhistoriker Emil Göller413 Braig in der chirurgischen
Klinik besucht, wo dieser sich bereits auf dem Weg der Besserung befunden habe.414 Im Verlauf des Frühjahrs aber verschlimmerte der Gesundheitszustand
Braigs sich wieder zusehends, so dass am 27. Juni im Protokollbuch der Fakultät
zu lesen ist: „Zu Anfang Juli hat Prof. Braig die Dekanatsgeschäfte an den H. Prodekan, Prof. Hoberg, übergeben. Der Dekan mußte aus Gesundheitsgründen bei
Gr.[oßherzoglichem] Ministerium um Urlaub nachsuchen für den Schluß des S.S.
1916“415. Dieses Verhalten Braigs sah Krebs als Ausdruck und Konsequenz einer
Niederlage. Braig nämlich wollte verhindern, dass Krebs ein integraler Teil der positiven Dogmatik im Rahmen seines Lehrauftrags übertragen werde. Nachdem aber Braig überstimmt worden war und „Kurie, Minister u. Fakultät ihn haben fallen
lassen“, war es nach Ansicht Krebs’ für Braig zur Wahrung seines Gesichts notwendig, sich zunächst für einige Zeit von der Fakultät zu entfernen.
12 Braig im Urteil seiner Zeitgenossen
Von Braigs Wirken als akademischer Lehrer sind uns vor allem die Zeugnisse einiger seiner Schüler bekannt geworden. Martin Heidegger war ab dem Wintersemester 1909/10 Student an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg. Schon
zuvor, im letzten Jahr seiner Gymnasialzeit, war er auf Braigs 1896 erschienene
Schrift „Vom Sein. Abriß der Ontologie“ gestoßen. Auch als Heidegger nach vier
Semestern das Studium der Theologie aufgegeben hatte, um sich ganz der Philosophie zuzuwenden, hörte er trotzdem noch eine Theologische Vorlesung, die über
Dogmatik bei Braig.416
Heidegger schreibt selbst darüber: „Dazu bestimmte mich das Interesse an der
spekulativen Theologie, vor allem die eindringliche Art des Denkens, die der genannte Lehrer in jeder Vorlesungsstunde Gegenwart werden ließ. Durch ihn hörte
ich zum ersten Mal auf wenigen Spaziergängen, bei denen ich ihn begleiten durfte,
von der Bedeutung Schellings und Hegels für die spekulative Theologie im Unterschied zum Lehrsystem der Scholastik“417. An anderer Stelle bemerkt Heidegger
über seine erste Studentenzeit: „Die entscheidende und darum in Worten nicht
faßbare Bestimmung für die spätere eigene akademische Lehrtätigkeit ging von
zwei Männern aus, die zu Gedächtnis und Dank hier eigens genannt seien: Der eine war der Professor für systematische Theologie Carl Braig, der letzte aus der
Überlieferung der Tübinger spekulativen Schule, die durch die Auseinandersetzung
mit Hegel und Schelling der katholischen Theologie Rang und Weite gab; der andere war der Kunsthistoriker Wilhelm Vöge. Jede Vorlesungsstunde dieser beiden
413
414
415
416
417
Zu Emil Göller (1874-1933) vgl. LThK3 4, 829.
Vgl. Tagebücher Engelbert Krebs, Eintrag vom 28. März 1916 (UAF C 126 Nr. 7).
Sitzung des Fakultätsrats vom 27. Juni 1916 (UAF B 59/162).
Über das Verhältnis Heideggers zur Theologischen Fakultät Freiburg vgl. Bernhard
Casper: Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923, in: FDA
100 (1980) 534-541.
Martin Heidegger: Mein Weg in die Phänomenologie, in: ders.: Zur Sache des Denkens,
Tübingen 1969, 81-90, hier 82.
73
Lehrer wirkte die langen Semesterferien hindurch, die ich stets und ununterbrochen bei der Arbeit im Elternhaus meiner Heimatstadt Meßkirch verbrachte“418.
Sehr viele der Veröffentlichungen über Carl Braig aus neuerer Zeit befassen sich
mit dem Verhältnis Heidegger-Braig.419 Da Heidegger mit autobiographischen Angaben sonst sehr sparsam war, ist die Erwähnung Braigs umso interessanter und
lädt dazu ein, über die Wurzeln des Denkens Heideggers zu spekulieren. An gegebener Stelle wird darauf zurückzukommen sein.
Als zweiter bekannter Schüler Braigs ist Romano Guardini420 zu nennen, der 1912
nach Freiburg kam, um an der dortigen Universität seine Promotionsarbeit zu verfassen. Nach anfänglicher Unschlüssigkeit entschied er sich für die Dogmatik und
ging zu Braig. Guardini schreibt über ihn: „Ich hatte schon früher seinen ‘Abriß der
Philosophie’ studiert und von manchen Teilen – genauer muß ich wohl sagen: Sätzen – einen starken Eindruck gewonnen. Ein philosophischer Urlaut war darin.
Man schätzte ihn nicht sehr. Er war von Tübingen gekommen. Von Hause aus Philosoph, hatte er dann eine theologische Professur übernommen. Seine Vorlesungen waren zu schwer. Er war ein Grübler. Ich sehe ihn noch, wie er, mit einem
kleinen Bleistift in der Hand, auf die Spitze dieses Bleistiftes schaut und ganz
versunken redet. Als ich bei meinem Besuch auf ihn zutrat, machte er eine kleine
Bewegung des Zurückweichens. Später erfuhr ich, daß er immer so tue; es war für
ihn charakteristisch. Ich sagte ihm, welchen Eindruck sein ‘Abriß’ auf mich gemacht
hätte; da erwiderte er in seinem schwäbischen Tonfall: ‘Ich weiß gar net mehr, was
ich g’schrieben hab.’ Auch das war charakteristisch: er hatte aufgeben müssen,
was ihm eigentlich wichtig gewesen war“421.
Auch diese sparsamen, fast kryptischen Bemerkungen lassen keine sicheren
Schlüsse zu. Wer Braig warum nicht sehr schätzte und was es war, das Braig nach
Meinung Guardinis hatte aufgeben müssen, wird nicht klar. Ist es einfach nur die
Beschäftigung mit der Philosophie, die Braig mit der Übernahme der Dogmatik naturgemäß hinter sich lassen musste? Dies würde sich aus dem Zusammenhang
am einfachsten ergeben, bedürfte aber kaum einer so andeutungsreich scheinenden Bemerkung. Otto Weiß bringt Braigs antimodernistisches Engagement in Zusammenhang mit dieser Aussage Guardinis: Braig, der eigentlich „mit Keppler u.
Kraus [...] zur fortschrittl. Gruppe in Freiburg“ gehört haben soll, habe aufgeben
müssen, was ihm wichtig war, und sei dann oder damit zum Antimodernisten ge-
418
419
420
421
74
Martin Heidegger: Vorwort zur ersten Ausgabe der „Frühen Schriften“, Frankfurt a. M.
1972, IX-XI.
Vgl. v.a. Richard Schaeffler: Frömmigkeit des Denkens? Martin Heidegger und die katholische Theologie, Darmstadt 1978, 1-10; Casper: Heidegger; Franco Volpi: Alle origini della concezione Heideggeriana dell’Essere: Il Trattato Vom Sein di Carl Braig, in:
Rivista critica di storia della filosofia 2 (1980) 183-194; John Caputo: Heidegger and
Aquinas, New York 1982, 45-61; Franco Volpi: Heidegger e Aristotele, Padova 1984,
52-64; Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Frankfurt a. M. 1990, 3544. Nach mündlicher Mitteilung Eugen Bisers hat Heidegger auch in seinen Lehrveranstaltungen auf Carl Braig aufmerksam gemacht.
Zu Romano Guardini (1885-1968) vgl. LThK3 4, 1087f.
Romano Guardini: Berichte über mein Leben. Autobiographische Aufzeichnungen,
Düsseldorf 1984, 25f.
worden.422 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser These wird im zweiten
Teil dieser Arbeit erfolgen.
Ein Nachruf auf Braig scheint die von Guardini beklagte Schwierigkeit der Lehre
Braigs zu bestätigen: „Nicht immer war es den Zuhörern leicht, den hohen Gedankengängen des akademischen Lehrers zu folgen“423.
Guardini jedenfalls wurde mit Braig nicht glücklich. Er wunderte sich und scheiterte
auch daran, als Braig ihm als Dissertationsthema einen Vergleich zwischen Thomas von Aquin und Wilhelm Wundt424, mit dem Braig selbst sich auch schon auseinandergesetzt hatte,425 vorschlug, so dass Guardini dann zu dem damaligen Privatdozenten Engelbert Krebs ging und sich von diesem ein Thema geben ließ.
Auch dieser hinterließ in seinen Tagebüchern keinen geschlossenen Eindruck von
seinem Lehrer Braig. Krebs’ Verhältnis zu Braig wandelt sich von einem Gefühl der
Dankbarkeit gegenüber dem Lehrer, der ihm seinen Stundenplan so schön geordnet hatte (Freitag, 7. Dezember 1900), und den glücklichen Stunden, die ihm „in
philosophischer Hinsicht die dogmatischen Seminare und Privatgespräche Prof.
Braigs gebracht“ haben (Sonntag, 13. März 1904) bis zu Misstrauen und Ablehnung. Am Mittwoch, 1. Februar 1911, berichtet Krebs nach einer Unterredung mit
Braig betreffs seiner Habilitation von der „Ängstlichkeit und Schwerfälligkeit“
Braigs, die ihren Höhepunkt erreicht hätten. Gegen Ende der Lehrtätigkeit Braigs
wächst sich der Vorbehalt Braigs seinem jüngeren Kollegen gegenüber zu einer offenen Gegnerschaft aus. Krebs gibt Rechenschaft von einer Fakultätssitzung, „bei
welcher Prälat Braigs Heimtücke gegen mich neue Triumphe feierte, indem sie
mich mit Hoberg und Mayer in Konflikt brachte“ (Montag 5. Juni 1916). Zwei Wochen später erreicht diese Gegnerschaft ihren Höhepunkt: „Nebelgrau. Denkwürdige und – unwürdige Fakultätssitzung. [...] Nun wird der Minister den eigensinnigen
alten Mann zurechtrücken müssen, der heute abend mir sogar zu sagen wagte:
‘Der Kollege Krebs besitzt keine eigene Lehrtätigkeit’ und der mich einfach aus der
Sitzung wegschicken wollte, noch bevor ich einen Antrag gestellt hatte“ (Dienstag,
20. Juni 1916). Braig war zu der Zeit Dekan und verlangte, nachdem er sich gegen
Krebs nicht hatte durchsetzen können, aus Gesundheitsgründen um Urlaub für den
Rest des Sommersemesters 1916.
Ähnlich unerquicklich gestaltete sich das Verhältnis zwischen Braig und Joseph
Sauer. Dieser konstatierte nüchtern sein Verhältnis zu Braig am Tag dessen Begräbnisses: „Ich hatte an ihm weder Vertrauen noch Interesse noch Freundlichkeit
gefunden; wohl viel Hindernisse in meiner Laufbahn. Darum bin ich ihm auch nicht
besonders verpflichtet. Er konnte, im guten Glauben, heftig, hart und selbst gehässig werden“426.
Aus dem zeitlichen Abstand konnte Bernhard Welte, der allerdings Braig selbst
kaum gekannt haben dürfte, dessen anregende Lehre würdigen. Er hält Braig für
jemand, der „als Schüler des letzten großen Tübingers der alten Tübinger Schule,
J. Kuhn, und als ausgezeichneter Leibnizkenner noch einmal das Selbstdenkertum
422
423
424
425
426
Vgl. Weiß: Modernismus 110 Anm. 2.
Julius Mayer: Necrologium Friburgense 1921-1925, in: FDA 54 (1926) 9-54, hier 28.
Zu Wilhelm Wundt (1832-1920) vgl. LThK3 10, 1324.
Vgl. Braig 1907b, hier bes. 101-105.
Tagebücher Joseph Sauer, Eintrag vom 27. März 1923 (UAF C 67 Nr. 19).
75
der einstigen Tübinger Theologen und ihre die Scholastik weit übergreifende Bildung in Freiburg repräsentierte“427.
13 Die letzten Jahre
Nach 1913 veröffentlichte Braig nichts mehr, bis auf einen letzten kleinen Beitrag in
der Allgemeinen Rundschau 1918. Grund für dieses Schweigen mag sicherlich der
Ausbruch des Weltkrieges sein, der auch den Verlag Herder und die Redaktion der
„Literarischen Rundschau“, die das erste Veröffentlichungsorgan für Braig gewesen war, veranlasste, das Erscheinen dieser Zeitschrift einzustellen.428 Zum anderen wird sich die schwache Gesundheit einmal mehr bemerkbar gemacht haben,
die, nach Ausweis Friedrich Stegmüllers, aus den letzten Jahren Braigs, etwa seit
1918, „Jahre des Schweigens und des Leidens“ gemacht habe.429 Inwieweit sich
Braig durch die verschärfte kirchenpolitische Lage der Möglichkeit eines schriftstellerischen Wirkens beraubt sah oder inwieweit die Zurückhaltung einer grundsätzlichen Vorsicht verdankt war, muss wohl im Dunkeln bleiben.
In der letzten Fakultätssitzung vor seiner Emeritierung hielt Braig zum Abschied eine „ganz kurze Anrede. Er sagte: ‘Möge mein Nachfolger oder meine Nachfolger,
die Sache besser machen, als der bisherige Vertreter es gemacht hat! Das ist mein
Wunsch beim Abschied von der Universität.’“430 Am 1. Oktober 1919 wurde er emeritiert. Nachdem er am 10. Februar 1923 noch sein 70. Lebensjahr vollenden
konnte,431 starb er dann in den Morgenstunden des 24. März 1923 und wurde am
Dienstag, dem 27. März 1923, mittags um 3 Uhr auf dem Hauptfriedhof in Freiburg
beigesetzt. Die Fakultät widmete dem Verstorbenen einen Ehrenkranz und eine
feierliche Ansprache durch Jakob Bilz, den Nachfolger und Lieblingsschüler Braigs.
Ein Seelengottesdienst fand am 2. Mai 1923 um 8.15 Uhr statt.432
In einem Nachruf heißt es: „Prälat Braig [war] immer der gleiche, demütig schlichte,
liebenswürdige Mensch, ein Kollege und Freund von goldener Treue, ein Priester
von vorbildlichem Wandel, kindlich fromm, von Herzen wohltätig und groß auch im
Leiden“433.
Als letzte Veröffentlichung Braigs ist der kleine Aufsatz über Okkultismus und Unsterblichkeit aus dem Jahr 1918 zu nennen, deren letzte Zeilen mit folgendem Zitat
schließen:
427
Welte: Zwischen Erbe und Neubeginn 13f.
Vgl. Literarische Rundschau 40 (1914) 515f.
429
Vgl. Stegmüller: Braig 122.
430
Tagebücher Engelbert Krebs, Eintrag vom Freitag, 25. Juli 1919 (UAF C 126, Nr. 9).
431
„Zum 70. Geburtstagsfest des schwerkranken Kollegen Prälat Dr. Braig entbietet die
Fakultät durch Dekan und Senior ihre herzlichsten Glück- und Segenswünsche, die der
Jubilar unter Thränen der Rührung entgegennahm“ (UAF B 59/162 [Protokollbuch] Eintrag vom 20. Februar 1923).
432
Vgl. dazu den schon in der Einleitung genannten Eindruck aus den Tagebüchern von
Engelbert Krebs, Eintrag vom Mittwoch, 2. Mai 1923 (UAF C 126, Nr. 11).
433
Mayer: Necrologium 28.
428
76
„Schal ist unser Tun und Handeln,
Siech und alt sind wir geworden...
Aber einmal – schwer Geständnis –,
Einmal mußt du doch dich beugen,
Und am Ende der Erkenntnis
434
Steht ein ahnungsvolles Schweigen“ .
14 Das Werk Carl Braigs im Überblick
Der bedauernswerte Umstand, dass von den persönlichen Gegebenheiten der
Biographie Braigs so wenig überliefert ist, soll seiner schriftlichen Hinterlassenschaft in Form seiner Veröffentlichungen umso mehr Gewicht verleihen. Daher soll
das Werk Braigs, auf das ja schon gelegentlich eingegangen worden ist, hier noch
einmal in einem Gesamtüberblick vorgestellt werden. Das Gesamtverzeichnis der
Schriften Braigs umfasst ungefähr 140 Nummern (siehe Literaturverzeichnis).
Inhaltlich ist das Werk Braigs recht homogen, charakterisiert durch den durchgängig philosophisch orientierten apologetischen Zug. Genauerhin lassen sich dennoch vor allem vier Interessensbereiche unterscheiden, die in seinem Schrifttum
besondere Berücksichtigung finden, nämlich die Philosophie, insbesondere in ihren
Disziplinen Erkenntnistheorie und Metaphysik, dann die Apologetik, die Dogmatik
und schließlich Fragen der Naturwissenschaft, wie der Psychologie und der Physik. Dass alle vier Bereiche eine apologetische Stoßrichtung haben, soll die Erörterung der beiden folgenden Teile erweisen. Braigs „Apostolat der Dialektik“ weiß
sein Denken in den Dienst der Verkündigung zu stellen.
Vor allem in der umfangreichen Rezensionstätigkeit ist die dauernde Präsenz dieser Themen zu bemerken, zu Beginn vor allem in der Tübinger Theologischen
Quartalschrift, dann ab 1883 durchgehend in der Literarischen Rundschau.
In seiner ersten Tübinger Zeit (1879 bis 1883) wurde Braig die Möglichkeit eröffnet,
in der Theologischen Quartalschrift zu veröffentlichen. Man wollte dem hoffnungsvollen jungen Repetenten Gelegenheit geben, sich wissenschaftlich zu bewähren.
Neben einigen umfangreicheren Rezensionen ist an größeren Abhandlungen hier
zu erwähnen die Abhandlung über die natürliche Gotteserkenntnis nach dem hl.
Thomas von Aquin und der apologetische Versuch über Eduard von Hartmann.
Der apologetische Schwerpunkt mit seinen notwendigen Bezügen zu Dogmatik
und Philosophie bleibt auch während der Wildbader Zeit (1883 bis 1893) erhalten.
Braig veröffentlicht nach seinem enttäuschten Weggang aus Tübingen nicht mehr
im dortigen Organ, sondern vor allem in der vom Freiburger Herder-Verlag herausgegebenen Literarischen Rundschau. Daneben sind an größeren Werken zu nennen die Neubearbeitung der Philosophischen Propädeutik von Joseph Beck
(1886), das apologetische Werk „Gottesbeweis oder Gottesbeweise?“ (1888) und
die Übersetzung und Bearbeitung der „Apologie scientifique de la foi chrétienne“
434
Braig 1918a, 268; Braig zitiert aus Joseph Viktor von Scheffel: Der Trompeter von Säckingen. Ein Sang vom Oberrhein, Lieder des stillen Mannes II und III (Verse 5664f.
und 5658-5661).
77
von François Duilhé de Saint-Projet (1889). Auch die kleineren Beiträge kreisen
um die Themen von Apologie und Philosophie, schließen aber auch religionsgeschichtliche, ästhetische und naturwissenschaftliche Fragestellungen mit ein.
Die erste Freiburger Zeit als Professor für theologisch-philosophische Propädeutik
(1893 bis 1897) ist gekennzeichnet vor allem von der Herausgabe der drei Lehrbücher für die von Braig vertretenen Fächer Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik
(1896/97). Sonst sind es fast ausschließlich Rezensionen, die sich mit philosophischer Literatur auseinandersetzen, die Braig in jenen Jahren verfasst, bis auf die
Herausgabe seiner akademischen Antrittsrede, „Die Freiheit der philosophischen
Forschung in kritischer und christlicher Fassung“ (1894).
Ab 1898 sind es dann nicht in erster Linie dogmatische Fragen, mit denen Braig
sich auseinandersetzt, wie man im Hinblick auf seine neue Aufgabe erwarten
könnte, sondern wieder sehr verstreute Anliegen: einen Schwerpunkt bildet wieder
die Apologetik, besonders in Bezug auf das Problem der Freiheit der Wissenschaft
und der Frage, ob sie bei einem konfessionell gebundenen Wissenschaftler gewährleistet ist. Diese Frage verschärft sich aus Anlass der Modernismus-Krise, die
auch noch einmal eine intensive schriftstellerische Arbeit durch Braig ins Werk
setzt. Auch geht es oft, in Abgrenzung von einer neueren protestantischen Kritik
(Harnack), um die Frage nach dem Wesen des Christentums. Diese letzten zwanzig Jahre seines Schaffens sind viel stärker von der aktuellen Tagessituation bestimmt, auch dadurch, dass viele der Veröffentlichungen aus einer Vortragstätigkeit
entspringen, welche Braig immer wieder Anlass gibt, Stellung zu aktuellen Zeitfragen zu nehmen. Unmittelbar aus seiner akademischen Lehrtätigkeit kommen nur
die dogmatischen Lehrbücher.
In der folgenden Untersuchung soll das Werk Braigs vor allem unter seinem apologetischen Aspekt betrachtet werden. Dies schließt nicht nur seine theoretischen
Überlegungen zur theologischen Disziplin der Apologetik und ihren Voraussetzungen ein, sondern auch die Art und Weise, wie Braig in seinem apologetischen
Selbstverständnis auf aktuelle Tagesfragen eingeht.
Auch die Weise, wie Philosophie verstanden und betrieben wird, wie sie endlich so
gefasst wird, dass Apologie als vernunftmäßige Verteidigung des Glaubens möglich wird, soll ausführlich Darstellung finden.
Durch die Beschränkung der Fragestellung auf die Apologie und insbesondere die
Frage nach der Möglichkeit der natürlichen Gotteserkenntnis ist zum einen eine
deutliche Eingrenzung des zu behandelnden Themas gegeben, zum anderen aber
lässt sich unter diesem Formalobjekt das einheitliche Werk Braigs in einer umfassenden Weise behandeln und würdigen.
78
Zweiter Hauptteil: Glaube und Wissen –
Carl Braigs Konzeption seiner Apologie
Friedrich Stegmüller hat in seiner Braig-Biographie auf die Selbstbezeichnung
Braigs als eines dem „Apostolat der Dialektik“ verpflichteten Theologen aufmerksam gemacht.1 Ist dieses Apostolat zunächst zu verstehen im Sinne einer Mission,
die sich philosophisches Denken und Logik zum Ausgangspunkt setzt, so steckt in
der rhetorischen Bedeutung der Dialektik als der Fähigkeit, den Diskussionspartner
in Rede und Gegenrede zu überzeugen, der apologetische Skopus dieses besonderen Apostolats. Dieses Apostolat hat Braig zum Apologeten gemacht, zu einem
Grenzgänger zwischen den Reichen der Philosophie und der Theologie, in der Absicht, die Vernunftgemäßheit des Glaubens mit den Mitteln des natürlichen Wissens der Philosophie nachzuweisen, sowohl im Sinne einer Verteidigung des
Glaubens gegen seine Gegner, wie auch als positive Begründung seiner Göttlichkeit nach Ursprung und Inhalt. Die Frage nach dem Verhältnis der Gegebenheiten
von Glauben und Wissen ist dabei ein immer wieder thematisiertes Problem.2
In diesem zweiten Hauptteil soll daher zunächst der apologetische Zug des Denkens Carl Braigs beleuchtet werden, das sich in seiner Gesamtheit von dem Apostolat der Dialektik im genannten Sinne her begreifen lässt. Dabei kann in einem
ersten Abschnitt zunächst die braigsche Konzeption der Wissenschaft der Apologetik im Mittelpunkt stehen, auch seine Auffassung vom Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie. Je mehr sich ein (natur-)wissenschaftliches Paradigma als
universale Weltdeutung gegenüber einer religiösen Weltanschauung durchsetzt,
desto mehr muss sich die als Glaubenswissenschaft verstehende Theologie3 einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sehen, dem es zu begegnen gilt. Dies gilt
unbeschadet der Tatsache, dass sich das Christentum bereits von seinem Wesen
her zur Glaubensrechenschaft verpflichtet sieht (vgl. 1 Petr 3,15).
Traditionell ist es die theologische Disziplin der Apologetik, die sich mit der Verteidigung des christlichen Glaubens gegenüber von außen kommenden Bestreitungen beschäftigt. Wie Carl Braig das Aufgabenfeld und die Vorgehensweise der
1
2
3
Stegmüller: Braig 122, 124.
Zum Thema Glauben und Wissen/Denken vgl. als Auswahl aus der unübersehbaren
Fülle der Literatur: Kurt Koch: Ist Glauben ein Rätsel im Wissen oder ein Geheimnis der
Vernunft? Anstösse zur intellektuellen Rechenschaft über den Glauben heute, in: Internationale katholische Zeitschrift „Communio“ 31 (2002) 181-196; Horst Folkers: Wissen
und Glauben, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie
43 (2001) 208-235; Jürgen Werbick: Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg u.a. 2000, bes. 185-224; Wolfgang Klausnitzer: Glaube und Wissen.
Lehrbuch der Fundamentaltheologie für Studierende und Religionslehrer, Regensburg
1999; Peter Neuner: Der Glaube als subjektives Prinzip der theologischen Erkenntnis,
in: HFth2 4, 23-36; Max Seckler: Theologie als Glaubenswissenschaft, in: ebd. 131-184;
Donato Valentini/Max Seckler: Art. Glauben u.[nd] Wissen/Denken, in: LThK3 4, 693696.
Vgl. Max Seckler: Art. Glaubenswissenschaft, in: LThK3 4, 725-733; ders.: Theologie als
Glaubenswissenschaft; Walter Kasper: Die Wissenschaftspraxis der Theologie, in:
HFth2 4, 185-214.
79
Apologetik bestimmt sehen will, soll in diesem ersten Abschnitt untersucht werden.
Da ich mich hier mehr auf die wissenschaftstheoretischen Grundlegungen berufen
will, soll in einem zweiten Abschnitt daher die Rede von Braigs apologetischen
Bemühungen in concreto sein. Dabei kann der Ausdruck „Modernismus“, gegen
den Braig sein wissenschaftliches Mühen in erster Linie gerichtet sieht, als Leitund Suchbegriff dienen. Deutung und Abwehr einer wie immer gearteten modernistischen Glaubensanschauung ist erstes Ziel braigscher Apologetik.
Da Braig die prinzipiellen Überlegungen zur Apologetik vornehmlich in seiner ersten Schaffensperiode dargelegt hat, spiegelt sich im Aufbau dieses zweiten Teils
mit seinem ersten theoretischen Abschnitt und dem zweiten, der diese eher wissenschaftstheoretischen Überlegungen in der Auseinandersetzung mit dem Modernismus eine konkrete Verwendung finden lässt, das Werk Braigs in seiner Entwicklung wider.
In einem eigenen Abschnitt ist das Thema der Freiheit der wissenschaftlichen
Theologie und besonders des katholischen Wissenschaftlers zu behandeln, um
noch einmal von einer anderen Perspektive einen Blick auf die Apologie Braigs zu
werfen. Der Katholik fand sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann
besonders zu der Zeit der Modernismus-Krise von liberal-protestantischer und
staatlicher Seite des generellen Verdachtes der Unfreiheit und Parteilichkeit ausgesetzt, der ihm die Fähigkeit zu einer authentischen, „voraussetzungslosen“ Wissenschaftlichkeit von vornherein abschrieb. Braig mischte sich während der Zeit
seiner akademischen Tätigkeit in die Debatte mit grundsätzlichen Erwägungen ein.
Ein abschließender Teil wird dann nach dem Ertrag der Untersuchung zu fragen
haben. Interessieren wird hier vor allem, wie sich Braigs Konzeption der Apologetik
zu seiner eigenen apologetischen Tätigkeit verhält, wie sich Braigs Wirken überhaupt in das theologische Umfeld seiner Zeit einordnet.
Mit diesem letzten Abschnitt ist zugleich die Schwelle gesetzt für den Übergang in
den dritten Teil, der die philosophischen Grundlagen darlegen will, wie sie ein
Theologe wie Braig im Interesse der katholischen Lehre meinte bestimmen zu
müssen. Dabei sollen dann auch die erkenntnistheoretischen Fragestellungen der
beiden unterschiedlichen Erkenntnisordnungen von Glauben und Wissen in den
Blick rücken, die hier nur am Rande gestreift werden, dann aber ausführlich behandelt werden können.
80
1
Apologetik
1.1 Hinführung – Grundsätzliches zum Verhältnis von Glauben und
Wissen
1.1.1 Fides et ratio
„Glaube und Vernunft (fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der
menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt“4. Mit diesem programmatischen Satz beginnt die im Jahr 1998 erschienene Enzyklika Fides et Ratio, in der
Papst Johannes Paul II. ausführlich das Verhältnis von Glaube und Vernunft thematisiert.
„Die Unterscheidung von G.[lauben] u.[nd] W.[issen] (wie auch von Religion und
Wiss.[enschaft]) zählt zu den grundlegenden Leistungen der abendländ.[ischen]
Kultur, die Frage des theoret.[ischen] u.[nd] prakt.[ischen] Verhältnisses beider zueinander gehört zu ihren permanenten kognitiven und lebensweltl.[ichen] Problemen“5. Die nicht selbstverständliche Unterscheidung zieht die Frage nach dem
Verhältnis von Glauben und Wissen nach sich. Traditionell lassen sich verschiedene Modelle der Zuordnung von Glauben und Wissen unterscheiden. Das von der
christlichen Theologie, die die Annahme einer Einheit der Wahrheit voraussetzt,
bevorzugte, freilich auch nicht selbstverständliche Modell ist das eines kompatiblen
positiven Zuordnungsverhältnisses.6
In diesem Sinne beschreibt der Papst Glauben und Denken als Mittel des menschlichen Geistes, sich zur Betrachtung der Wahrheit zu erheben.7 Als bedeutsames
Werkzeug der rationalen Wahrheitserkenntnis erweise sich seit Jahrtausenden die
Philosophie, die trotz des zeitbedingten Charakters ihrer jeweiligen Form nicht nur
als rein formales Erkenntnismittel von überzeitlicher Bedeutung bleibe, sondern
auch inhaltlich, in Bezug auf „einen Kern philosophischer Erkenntnisse [...], die in
der Geschichte des Denkens ständig präsent sind“. Der Papst erinnert beispielsweise „an die Prinzipien der Non-Kontradiktion, der Finalität, der Kausalität wie
auch an die Auffassung von der Person als freiem und verständigem Subjekt und
an ihre Fähigkeit, Gott, die Wahrheit und das Gute zu erkennen“8. Dieser zuletzt
4
5
6
7
8
Johannes Paul II.: Litterae encyclicae cunctis catholicae Ecclesiae episcopis de necessitudinis natura inter fidem et rationem, in: AAS 91 (1999) 5-88; ich zitiere nach der
Ausgabe des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Enzyklika Fides et
Ratio von Papst Johannes Paul II. an die Bischöfe der katholischen Kirche über das
Verhältnis von Glaube und Vernunft, Bonn 1998, hier 5.
Valentini/Seckler: Glauben und Wissen/Denken 693f.
Vgl. ebd. 694.
Vgl. Fides et Ratio 5.
Ebd. 8.
81
genannte optimistische Grundzug hinsichtlich der Möglichkeiten der Erkenntnis
werde heute allerdings in Frage gestellt. „Mißtrauen gegenüber der Wahrheit“9 mache sich breit, und „mit falscher Bescheidenheit gibt man sich mit provisorischen
Teilwahrheiten zufrieden“10. Gegenüber philosophischen Strömungen, die von
Agnostizismus und Skeptizismus geprägt seien, halte die glaubende Vernunft an
ihrem Vertrauen in die Erkenntnisfähigkeit des Menschen fest.11
Das letzte Ziel des menschlichen Daseins und damit auch seines Erkenntnisstrebens sei sowohl Gegenstand der philosophischen wie der theologischen Forschung.12 Dem glaubenden, von der Einheit der Wahrheit in Gott überzeugten Bewusstsein könne es darum nicht gleichgültig sein, wie eine von jeder theologischen
Voraussetzung abstrahierende Vernunft Wahrheit bestimme, wie sie die Welt und
den Menschen sehe und welche Schlüsse sie daraus für die Frage nach Gott ziehe. So sei es Pflicht des katholischen Lehramtes, auch wenn es nicht eine bestimmte Form der Philosophie als die ihre bevorzuge, „klar und entschieden zu
reagieren, wenn fragwürdige philosophische Auffassungen das richtige Verständnis des Geoffenbarten bedrohen und wenn falsche und parteiische Theorien verbreitet werden, die dadurch, daß sie die Schlichtheit und Reinheit des Glaubens
des Gottesvolkes verwirren, schwerwiegende Irrtümer hervorrufen“13. Es zeigt sich,
dass damit vernünftiges Denken, Logik und Philosophie engstens, möglicherweise
sogar konstitutiv mit dem christlichen Glauben verbunden sind.14
Es soll vielmehr darauf aufmerksam gemacht werden, dass die heutige Situation,
die nach wie vor die Herausforderung des Glaubens durch das aktuelle Wissen
und die gegenwärtige Wissenschaft kennt und erleidet, in wesentlichen Punkten an
die Situation eines Carl Braig erinnert. Die hohe Zeit, in der das päpstliche Lehramt
immer wieder auf philosophische Fragestellungen reagiert hat, ist ja gerade das
19. Jahrhundert, in dem das Magisterium „von Anfang an und dann in einer vorher
nie dagewesenen Intensität auf die [...] nachhegelsche philosophische Diskussionslage reagiert, die es nachgerade zu einem Anwalt der Vernunft gegen deren
Verächter macht“15. In gewisser Hinsicht mag sich dabei die Geschichte insofern
9
10
11
12
13
14
15
82
Ebd. 9.
Ebd. 10.
Vgl. ebd. 10f.
Vgl. ebd. 21.
Ebd. 53.
Vgl. die „Zwischenbilanz“ von Hans Waldenfels: „Mit zwei Flügeln“. Kommentar und
Anmerkungen zur Enzyklika „Fides et Ratio“ Papst Johannes Pauls II., Paderborn 2000,
bes. 109-141.
Klaus Müller: Gottes Dasein denken. Eine philosophische Gotteslehre für heute, Regensburg 2001, 26. Allerdings ist m.E. die These, dass die „Intensität der lehramtlichen
Wortmeldungen in Sachen Philosophie [..] untergründig in Zusammenhang mit jeweils
leitend werdenden binnenphilosophischen Selbstverständigungen zu stehen“ scheint,
nicht mit der eher marginalen Präsenz dieses Themas auf dem Zweiten Vatikanischen
Konzil in Einklang zu bringen. So scheint die These allzu einfach: „Wann immer Selbstzweifel der Vernunft deren Verständigungskraft zu dissoziieren drohen, wächst die Emphase, mit der das Lehramt um der von ihm zu schützenden Botschaft willen die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft (bis in die Gottesfrage hinein) in Erinnerung ruft“ (Klaus Müller: Das kirchliche Lehramt und die Philosophie, in: Theologie und Glaube 90 [2000]
417-432, hier 417).
wiederholen, als auch heute von theologischer Seite nach wie vor gegen die Annahme einer schwachen Vernunft auf deren Stärke insistiert wird.
1.1.2 Aeterni Patris
Über hundert Jahre sind vergangen, seit die „ältere Schwester“ von Fides et Ratio,
nämlich die Enzyklika Aeterni Patris16 von Papst Leo XIII. veröffentlicht wurde, auf
die Papst Johannes Paul II. in seinem Schreiben immer wieder Bezug nimmt. Ist
die Parallelität dieser beiden päpstlichen Rundschreiben darauf zurückzuführen,
dass „heute in der Einschätzung der Vernunft eine ähnliche Hermeneutik des Verdachts das Selbstverständnis der Philosophie bestimmt wie damals, jedoch nach
wie vor zum Selbstverständnis katholischen Denkens eine starke Vernunft gehört?“17
Die Enzyklika Aeterni Patris ist vor allem wegen ihrer Mahnung bekannt geworden,
„die goldene Weisheit des heiligen Thomas wiederherzustellen und möglichst weit
zu verbreiten“18. Auch diese Hochschätzung des Aquinaten als des Philosophen,
dessen Philosophie „wahrhaftig die Philosophie des Seins und nicht des bloßen
Scheins“19 sei, wird am Ende des 20. Jahrhunderts geteilt, weil Thomas damit zu
einem Anwalt gegen den konstruktivistischen Grundzug heutigen Philosophierens
werden könne.20
Leo XIII. empfiehlt ausdrücklich den Gebrauch der Philosophie ganz allgemein als
„natürliches Hilfsmittel“21 zur Wahrheitsfindung. Die Philosophie vermöge, „wenn
sie von Weisen sachgemäß betrieben wird, gewissermaßen den Weg zum wahren
Glauben zu ebnen und zu festigen und die Herzen ihrer Zöglinge für die Aufnahme
der Offenbarung angemessen vorzubereiten“22. Denn es gebe geoffenbarte Wahrheiten, die nicht reine Glaubenssache, sondern durchaus mit den Mitteln der natürlichen Vernunft erreichbar seien, so dass auch die Weisen der Heidenvölker zu ihnen gelangen könnten. Diese Wahrheiten seien nun so darzulegen, dass gezeigt
werden könne, „dass auch die menschliche Weisheit und selbst das Zeugnis der
Gegner dem christlichen Glauben beipflichten“23. Im Hintergrund steht die Lehre
von der doppelten Erkenntnisordnung, die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil
verbindlichen Lehrcharakter erhielt. Im vierten Kapitel der Dogmatischen Konstitution über den katholischen Glauben, „Dei Filius“, handelt das Konzil über das Ver16
17
18
19
20
21
22
23
Text: ASS 12 (1879) 97-115; deutsche Übersetzung in Auszügen DH 3135-3140; vgl.
zur Enzyklika Wolfgang Kluxen: Art. Aeterni Patris Unigenitus, in: LThK3 1, 187; Roger
Aubert: Die Enzyklika „Aeterni Patris“ und die weiteren päpstlichen Stellungnahmen zur
christlichen Philosophie, in: Emerich Coreth u.a. (Hgg.): Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 2: Rückgriff auf scholastisches
Erbe, Graz 1988, 310-332.
Müller: Gottes Dasein 34.
DH 3140.
Fides et Ratio 44.
Vgl. Müller: Gottes Dasein 35f.
DH 3135.
DH 3136.
DH 3136.
83
hältnis von Glauben und Wissen.24 In Prinzip und Gegenstand seien die beiden Erkenntnisordnungen zu unterscheiden, „im Prinzip, weil wir in der einen (Ordnung)
mit der natürlichen Vernunft, in der anderen mit dem göttlichen Glauben erkennen;
im Gegenstand aber, weil uns außer dem, wozu die natürliche Vernunft gelangen
kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie
nicht von Gott geoffenbart wären, nicht bekannt werden könnten“25.
Eine weitere Funktion, die „Aeterni Patris“ der Philosophie zuschreibt, ist ihr Charakter als methodisches Hilfsmittel, nämlich insofern sie die Wahrheiten der Theologie in einen Zusammenhang stellen, aus ihren Prinzipien ableiten, durch Beweise
bestätigen könne.26 Auch in defensiver Richtung seien die Erkenntnisse der Philosophie zu nutzen, um „denen, die sie zu bekämpfen wagen, entgegenzutreten“, so
dass die Philosophie „als eine Schutzwehr des Glaubens und als ein starkes Bollwerk der Religion gilt“27.
1.1.3 Dei Filius
Im Hinblick auf die Problematik des Verhältnisses von Glauben und Wissen stellt
also bereits die Dogmatische Konstitution des Ersten Vatikanums „Dei Filius“ den
entscheidenden Brennpunkt dar, in dem sich die Bemühungen und Überlegungen
der ab Mitte des 19. Jahrhunderts sich stark entwickelnden Fundamentaltheologie
bzw. Apologetik fokussieren und der eine Legitimationsbasis für die sich daraufhin
weiterentwickelnde Wissenschaft abgibt.28
Es lohnt vielleicht, in aller Kürze, auch wegen der vielfachen Bearbeitung, die dieses Thema schon erfahren hat,29 zusammenfassend die wichtigsten Lehrentscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils, die die nachfolgende Entwicklung der
Apologetik betreffen, zu nennen. Das Dokument hat ein eigenes Kapitel, das vierte, der Frage nach dem strittigen Verhältnis von Glaube und Wissen gewidmet. Bereits im dritten Kapitel wurde der Glaube (fides) definiert als eine „übernatürliche
Tugend, durch die wir mit Unterstützung und Hilfe der Gnade Gottes glauben (credimus), daß das von ihm Geoffenbarte wahr ist, nicht [etwa] wegen der vom natürlichen Licht der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge, sondern we24
25
26
27
28
29
84
Vgl. DH 3015-3020; Hermann Josef Pottmeyer: Der Glaube vor dem Anspruch der Wissenschaft, Freiburg 1968, 348-456.
DH 3015.
Vgl. DH 3137.
DH 3138.
Vgl. David Berger: Ratio fidei fundamenta demonstrat. Fundamentaltheologisches Denken zwischen 1870 und 1960, in: Wolf: Disziplinen 95-127.
Vgl. bes. Hermann Josef Pottmeyer: Die Konstitution „Dei Filius“ des 1. Vatikanischen
Konzils zwischen Abwehr und Rezeption der Moderne, in: Günter Riße u.a. (Hgg.): Wege der Theologie. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend (Festschrift für Hans Waldenfels), Paderborn 1997, 73-86; Johannes Flury: Um die Redlichkeit des Glaubens.
Studien zur deutschen katholischen Fundamentaltheologie, Freiburg/Schweiz 1979, 3447; Roger Aubert: La Constitution Dei Filius du Concile du Vatican, in: De doctrina Concilii Vaticani I, Vatikan 1969, 46-121; Georges Paradis: Foi et raison au premier Concile
du Vatican, in: ebd. 221-281; Pottmeyer: Der Glaube.
gen der Autorität des offenbarenden Gottes selbst“30. Das Einsehen einer Wahrheit
aufgrund des natürlichen Lichts der Vernunft könnte gar nicht „Glauben“ genannt
werden, weil mit dem Glauben immer das Moment des Wollens, des Gehorsams
gegenüber einer Autorität, hier der göttlichen Autorität, verbunden sei. Der Begriff
„Autorität“ ist in diesem Zusammenhang in seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung zu verstehen.31 Die Glaubenszustimmung erfolge mit Unterstützung und Hilfe
der Gnade Gottes, zugleich aber auch, damit es eine Entsprechung von Glaubensgehorsam und Vernunft gebe, durch äußere Beweise der Gottesoffenbarung,
„nämlich göttliche Taten und vor allem Wunder und Weissagungen, die, da sie
Gottes Allmacht und unendliches Wissen klar und deutlich zeigen, ganz sichere
und dem Erkenntnisvermögen aller angepaßte Zeichen der göttlichen Offenbarung
sind“32. Diese Festlegung auf die Wunder als herausgehobene motiva credibilitatis,
wodurch die Glaubensbegründung aus innerer Erfahrung etwas ins Hintertreffen
gelangte,33 bestimmte die Apologetik der folgenden Jahrzehnte nachhaltig. Für das
Verhältnis von Glauben und Vernunft bedeutet dies, dass sich Erkenntnisse, die
sich aus diesen beiden Erkenntnisinstrumenten herleiten, niemals widersprechen
können. Sie leisten sich vielmehr wechselseitig Hilfe; „denn die rechte Vernunft
beweist die Grundlagen des Glaubens und bildet, von seinem Licht erleuchtet, die
Wissenschaft von den göttlichen Dingen aus; der Glaube aber befreit und schützt
die Vernunft vor Irrtümern und stattet sie mit vielfacher Erkenntnis aus“34. Die fundamentaltheologische Bedeutung der Konstitution bestehe darin, dass „in ihr nichts
weniger als eine Grundlegung der Fundamentaltheologie als Wissenschaft geleistet wurde. Als Materialobjekt war ihr die aus der Kirchenlehre entnommene Offenbarung zugewiesen; als Formalobjekt die Vernunft, der ja die Möglichkeit, Gott
und die Wunder und Weissagungen zu erkennen, nicht abgesprochen wurde. Aus
der Definition des Glaubens ergibt sich, daß die Vernunft die Glaubwürdigkeit zu
erweisen hat“35. Johannes Flury sieht in der Bejahung und Betonung der Rolle der
Vernunft ein positives Moment in der Konstitution. Kritisch merkt er an, dass besonders der Rationalismus und Intellektualismus, die das Glaubensverständnis
kennzeichnen, den Gegebenheiten des konkreten Glaubens nicht mehr entsprechen,36 obgleich sich das Konzil ja selbst gegen den Rationalismus einer sich als
autonom setzenden Vernunft stellen wollte, der konsequent in der Leugnung Gottes enden würde.37 Gewiss ist die Konstitution von den meisten Interpreten in dem
Sinne aufgefasst worden, dass hier gemäß einem streng abgegrenzten NaturÜbernatur-Schema natürliche Vernunft und übernatürlicher Glaube nicht recht miteinander vermittelt erscheinen, was zu einer Verschärfung des extrinsezistischen
30
31
32
33
34
35
36
37
DH 3008.
Vgl. Braig: Noetik 208-216 („§ 30. Die äußere Wahrheitsquelle: die Autorität“).
DH 3009.
Vgl. Peter Walter: Die Glaubensbegründung aus innerer Erfahrung auf dem I. Vatikanum. Die Stellungnahme des Konzils vor dem Hintergrund der zeitgenössischen römischen Theologie, Mainz 1980.
DH 3019.
Flury: Redlichkeit 42.
Vgl. ebd. 42f.
Vgl. Pottmeyer: Abwehr und Rezeption 75.
85
Elements in der Glaubensbegründung führte.38 Gleichwohl darf man nicht davon
ausgehen, dass die für die Verfassung der Konstitution verantwortlichen Theologen eine Gnadenlehre postulierten, die von der Wirklichkeit eines status naturae
purae ausgeht, oder von zwei sich gegenüberstehenden Ordnungen, einem perfekten ordo naturalis und einem ordo supernaturalis.39 Das Konzil sprach nur sehr
allgemein vom Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, und viele Fragen blieben
offen.40
1.1.4 Natur und Gnade
Immer wieder wird die Gegenüberstellung von Glauben und Wissen zurückgeführt
auf die von Natur und Gnade. David Berger etwa sieht das Verhältnis von Natur
und Gnade in der Neuzeit sich zu einem universalen Verstehensmodell, einem Paradigma, entwickeln. In der Entscheidung, wie man das Verhältnis von Natur und
Gnade sehen wolle, liege das Fundament für die entsprechende Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen, und Berger führt dies am Beispiel des Vergleichs zwischen der seiner Ansicht nach eher molinistisch geprägten Apologetik
Joseph Kleutgens und der eher thomasisch orientierten Matthias Joseph Scheebens aus.41 So hilfreich eine solche Gegenüberstellung sein mag, gerade auch in
einem kontroverstheologischen Kontext, so fraglich ist es allerdings auch, ob eine
solche Zuordnung angesichts der Komplexität des Verhältnisses von Glauben und
Wissen und ihres Ineinandergreifens auf der einen Seite und der nicht minder problematischen Beziehung von Natur und Gnade und ihres oft sehr abstrakt behandelten Verhältnisses auf der anderen Seite sinnvoll erscheinen kann. „Die Zuordnungsverhältnisse v.[on] Natur – Gnade, Vernunft – Offenbarung, Philosophie –
Theologie usw. sind auf das Verhältnis von G.[lauben] u.[nd] W.[issen] infolgedessen nicht (od.[er] nur sehr begrenzt) anwendbar“42.
Urteilt man von der Gegenüberstellung der „zwei Wege der neueren Theologie“43
oder der „zwei Wege der Fundamentaltheologie“44 her, so steht die apologetische
Theologie, wie sie Braig vertritt, ganz auf der Linie, die auch die eines Joseph
Kleutgen ist, einer Option nämlich, die der grundlegenden natürlichen Erkenntnisordnung, die dem Glauben vorausgeht, einen größeren Raum zumisst, als dies der
Supranaturalismus eines strengen Thomismus tut.
38
39
40
41
42
43
44
86
Vgl. Flury: Redlichkeit 44-47.
Vgl. Walter: Glaubensbegründung 264ff.
Vgl. Berger: Fundamentaltheologisches Denken 96f.
Vgl. David Berger: Natur und Gnade. In systematischer Theologie und Religionspädagogik von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Regensburg 1998; dazu
Manfred Hauke: Systematische Hintergründe der modernen Religionspädagogik, in:
Katholische Bildung 100 (1999) 273-281; Berger: Fundamentaltheologisches Denken.
Valentini/Seckler: Glauben und Wissen/Denken 694.
Karl Eschweiler: Die zwei Wege der neueren Theologie, Augsburg 1926.
Berger: Fundamentaltheologisches Denken 98.
Um aber auch die Fragwürdigkeit eines solchen einsinnigen Zuordnungsverhältnisses deutlich zu machen, soll hier wenigstens zur Beurteilung der Entsprechung
von Natur/Gnade und Glauben/Wissen ein kurzer Blick auf die Gnadenlehre Braigs
geworfen werden, so wie er sie in seiner Freiburger Zeit in der Lehre vertreten
hat.45 Sein „Entwurf der Gnadenlehre“, wie er vorsichtig formuliert, hat als Überschrift: „Die Stiftung des Erlösers: Die Kirche das Gnadenmittel“. Es ist ein christozentrischer und ekklesiologischer Entwurf, der „auf zwei Fundamentalbegriffen“
ruht, „auf dem Begriffe des adamitischen Sündenfalles und seinen Folgen, und auf
dem Begriffe der stellvertretenden Genugthuung durch den zweiten Adam, den Erlöser Jesus Christus“46. In der allgemeinen Gnadenlehre wird das Verhältnis zwischen Gottes Gnade und der menschlichen Willenstätigkeit behandelt, jeweils bezogen auf den Heilsprozess. Die spezielle Gnadenlehre behandelt zunächst die
Rechtfertigung, dann die Sakramente als die der Kirche anvertrauten werkzeuglichen Ursachen der Rechtfertigung.47 Braigs Darstellung ist der „historischen Methode“ verpflichtet; die Gnadenlehre wird von ihrer Grundlegung in der Heiligen
Schrift über die wichtigen Auseinandersetzungen um Pelagius und Augustinus zu
den kirchlichen Lehrentscheiden durchgeführt, bevor es dann zur „wissenschaftlichen Erörterung der kirchlichen Lehre von der göttlichen Gnade“48 kommt. Es fällt
auf, dass der Schwerpunkt der Behandlung Braigs auf der Alten Kirche liegt, ein
Zug, der sich bei Braig auch sonst abhebt von einer reinen Konzentration auf scholastisch-systematische Diskussionen und der von einem gewissen historischen
Bewusstsein zeugt. Nach der kirchlichen Lehre sei es eindeutig, dass die göttliche
Gnade nicht unter Aufhebung, sondern unter Wahrung der geschöpflichen Freiheit
wirke. Wie aber geschieht diese Wahrung? Braig referiert die beiden wichtigsten
Lösungsversuche aus der Zeit der neuzeitlichen Scholastik, den Versuch der Thomisten und den der Molinisten, die aber nach Ansicht Braigs beide scheiterten.
Die Auffassung der ersteren wird so dargestellt, dass sie, „mögen die Thomisten
sich auch dagegen verwahren, die Kraft der Gnade auf Unkosten der menschlichen Selbstbestimmung überschätzt“. Denn die efficacia gratiae ex sese, ab intrinseco bewege den Willen des Sünders physisch vom Können zum Wollen voran.
Dadurch aber werde der Begriff der freien Selbstentscheidung zerstört.49 Die Molinisten dagegen lassen, was auch sie nie einräumen würden, die Wirksamkeit der
göttlichen Gnade von der Entscheidung des freien menschlichen Willens abhängen. „Nach ihnen ist die Gnade in der That gratia versatilis, ad utrumque flexibilis.
Das aber heißt im Grunde die Eigenwirksamkeit der Gnade aufheben“50. Ohne für
eine Richtung Partei zu ergreifen, hält Braig das Unzweifelhafte fest: „Die Gnade
Gottes übt nicht Zwang, gehet nicht auf den Wegen der Gewalt noch auf denen der
grundlosen Willkür, sondern auf den Bahnen der unergründlichen Weisheit und
Gerechtigkeit. Sie wirkt das Heil des Menschen ‘suaviter’ und ‘infallibiliter’, indem
sie sich der Naturverfassung des Menschen und seiner freien Persönlichkeit an45
46
47
48
49
50
Vgl. Braig: Dogmatik III 375-474.
Ebd. 375.
Vgl. ebd. 375ff.
Ebd. 406.
Vgl. ebd. 411.
Ebd. 412.
87
schließt und macht, daß er will, was sein Bestes ist“51. Auch noch in seiner 1912
gedruckten Vorlesung über die Gotteslehre weist er, jetzt in der verwandten Frage
nach dem göttlichen Vorherwissen, beide Lösungsversuche, die der Molinisten und
die der Thomisten zurück, um schließlich dem Geheimnis Raum zu lassen: Wir
vermögen, „da uns ein adäquates Analogon nicht zu Gebote steht für das absolute
Wissen Gottes, das Geheimnis, wie Gott die zukünftigen Entscheidungen freier
Wesen zum voraus erkennt, nicht zu entschleiern“52.
Gewiss wird man hier auch die Kritik Braigs an der Terminologie der Scholastik in
Anschlag bringen dürfen, die eine Schärfe und Fixiertheit gerade im Hinblick auf
die Frage nach der Grenzlinie zwischen Natürlichem und Übernatürlichem suggeriere, die aber schon beim Problem der Bestimmung der letzten Fragen des Wissens und der ersten Antworten des Glaubens nicht mehr durchzuhalten sei.53
Die Zuordnung der fundamentaltheologischen Grundoption, wie Braig sie vertritt,
zur Gnadentheologie Luis de Molinas54, die die Autonomie des geschöpflichen
Seins so betont, dass philosophische Anstrengung und „die auf Gründe sich stützende Erkenntniß der Offenbarung [...] nicht bloße Voraussetzung oder Bedingung,
sondern auch Ursache des Glaubens“55 sei, findet zumindest im Befund der expliziten Gnadenlehre Braigs keinen Anhalt.
Es kann hier aber auch gar nicht darum gehen, das Denken Braigs in ein durch
zwingende Kriterien ausgewiesenes bereits vorhandenes zweiwertiges Schema,
dessen Nützlichkeit nicht bestritten sein soll, einzuordnen, sondern allein darum,
die Linie seines Gedankens, wie sie sich von ihr selbst her zeigt, darzustellen, und
dies umso mehr, als sich Braigs Stellung zum Schulstreit der Thomisten und Molinisten, wie gezeigt wurde, differenzierter darstellt, als eine eindeutige Zuordnung
glauben machen kann.
Eine Klärung des Verhältnisses von Glauben und Wissen sieht Braig in der rechten
philosophischen Durchdringung der entsprechenden Begrifflichkeit gewährleistet.
In einer frühen Rezension merkt er an: Das Problem einer Verhältnisbestimmung
habe Augustinus „zwar nicht endgiltig gelöst; aber zu deren Lösung hat er den allein möglichen Weg gezeigt, den der psychologischen Diskussion der Begriffe
Glauben, Meinen, Denken, Wissen, Erkennen“56. Diesen Weg beschreitet auch
Braig, wenn er immer wieder auf die erkenntnistheoretische Grundlegung aller
Aussagen über die verschiedenen Zugänge zur Wirklichkeit, wie sie in Glauben
und Wissen gegeben seien, verweist.
Um das Verhältnis von Glauben und Wissen genauer zu fassen, bietet es sich an,
deren Zusammenhang in der Genese des Glaubens genauer anzuschauen.
51
52
53
54
55
56
88
Ebd.
Ebd. 63-66, hier 66.
Vgl. Braig: Gotteserkenntnis 518.
Zu Luis de Molina SJ (1535-1600) und dem Molinismus vgl. LThK3 7, 379ff.
Joseph Kleutgen: Die Theologie der Vorzeit vertheidigt, Bd. 4, Münster 1860, 519.
Braig 1883a, 283.
1.1.5 Der Glaube und die Analysis fidei
Glaube als Form der Aneignung der christlichen Botschaft ist in der christlichen
Theologie nicht nur einer der am häufigsten gebrauchten Begriffe, sondern er umschreibt auch die angemessene Existenzform des Christen.57 Steht im heutigen
Glaubensbewusstsein der Glaube als „ein dialogisches Beziehungsgeschehen
zwischen Personen“58, der Glaubensvollzug, die fides qua creditur, die Weise des
Glaubens, das Vertrauen in die Botschaft und ihren Künder im Vordergrund, ist
noch in der katholischen Theologie und wohl auch im Bewusstsein der Gläubigen
der Zeit des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts das sachhafte
Element, der Gegenstand und der Inhalt des Glaubens, die fides quae creditur
ausschlaggebend. Damit hängt auch ein anderes Offenbarungsverständnis zusammen, das beispielsweise das Erste Vatikanische Konzil als Kondensierung der
Auffassungen seiner Zeit im Sinne eines „instruktionstheoretischen Modells“ aufnimmt, das Offenbarung also in erster Linie als die Übermittlung rational fassbarer
Glaubensinhalte beschreibt.59 Allein schon der Blick auf die verschiedenen Funktionen der Sprache musste ein solches instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis im Hinblick auf das Gotteswort überwinden.60
Für Braig jedenfalls ist entscheidend, dass das Christentum dem Glaubens- und
dem Erlösungsbedürfnis des Menschen ein System rationaler Heilswahrheiten und
ein System geschichtlicher Heilstatsachen biete.61 Dabei sei dem Glaubensbedürfnis das Gesamt der offenbarten Wahrheiten zugeordnet. Dies legt sich nahe, wenn
man von dem genannten instruktionstheoretischen Offenbarungsmodell ausgeht,
das Offenbarung als „Kundgebung verborgener Dinge durch ein persönliches Wesen an und für andere erkenntnisfähige Wesen“ versteht.62 An erster Stelle stehe
immer das Glauben als Verstandessache, „das Fürwahrhalten von Vorgehaltenem
auf das Ansehen fremder Bezeugung hin“63. Wenn Braig allerdings vom übervernünftigen und übernatürlichen Offenbarungsmysterium spricht, dann versteht er
dieses in dem Sinne, dass es Grund nicht nur der rationalen Heilswahrheiten, sondern auch der geschichtlichen Heilstatsachen sei. Durch diesen Bezug auf die
Heilsgeschichte wäre das statische Offenbarungsverständnis im Sinne einer göttlichen Instruktion etwas aufgebrochen.
Dem übernatürlichen Glauben gehe das natürliche Glauben voraus. Dies sei bestimmt von einer Vielzahl von Momenten, die in einer philosophischen Erkenntnislehre auseinandergelegt werden.64 Der Begriff des Glaubens bestimme sich dabei
als das „Aufnehmen eines Objectes durch ein Erkenntnißsubject auf Grund fremder Mittheilung“65.
57
58
59
60
61
62
63
64
65
Vgl. Max Seckler: Art. Glaube IV. Systematisch-theologisch und theologiegeschichtlich,
in: LThK3 4, 672-685.
Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg u.a. 22000, 230.
Vgl. Max Seckler: Der Begriff der Offenbarung, in: HFth2 2, 41-61, hier bes. 45ff.
Vgl. Jürgen Werbick: Art. Offenbarung VI. Systematisch-theologisch, in: LThK3 7, 993ff.
Vgl. Braig: Apologie L.
Braig: Dogmatik I 2.
Ebd. 66.
Vgl. weiter unten (Dritter Hauptteil: Die Philosophie Carl Braigs).
Braig: Noetik 209.
89
Sei dies der Begriff des natürlichen Glaubens, so gelte für den übernatürlichen,
den theologalen Glauben, dass ihm natürliches Wissen und Glauben als Fundament vorausgehen. Mit der nachtridentinischen Theologie unterscheidet Braig bei
der Glaubwürdigkeitserkenntnis zwischen motiva credibilitatis (philosophische
praeambula fidei, historische äußere Zeichen, aufgrund derer wir glauben können)
und motiva credenditatis (obligatio credendi, Motive, aufgrund derer wir glauben
sollen).66
„Allerdings spricht für die Thatsache der erfolgten positiven Gottesoffenbarung
nicht die philosophische, sondern nur die historische Gewißheit“67, die keinen
Zwang auf Denken und Willen ausüben könne, daher nur beschränkte Bedeutung
für die Glaubensbegründung haben könne. „Das Glauben, dem jene Gewißheit
und Festigkeit zukommt, die das Wesen der ewigen, unendlichen und unveränderlichen Wahrheit selber ausmacht, ist die Gnadenwirkung Gottes im Menschen“68.
Es ist die entscheidende Frage der Analysis fidei, wie „dem Glauben, der eine freie
Zustimmung zu einem nicht einsichtigen Gegenstand ist, doch eine unbedingte Sicherheit u.[nd] unübertreffl.[iche] Festigkeit [...] zukommen [kann], wenn die
Glaubwürdigkeitserkenntnis, die sich vornehmlich auf äußere, hist.[orische] Tatbestände stützt, nur zu einer begrenzten, relativen Sicherheit führen kann“69.
Die Übernatürlichkeit und Gnadenhaftigkeit des theologalen Glaubens wird in dreifacher Hinsicht deutlich erkennbar, nämlich in Bezug auf das Mysterium als den
Gegenstand des Glaubens (fides quae), auf den Vollzugscharakter des Glaubens
(fides qua) und auf seinen eigentlichen Beweggrund (motivum fidei).
Mysterien im eigentlichen Sinne seien „schlechthin übervernünftig und übernatürlich und können nur durch übernatürliche Offenbarung Gegenstand des Glaubens
werden“70. Im Sinne des scholastischen Axioms gratia supponit naturam gehören
die Wahrheiten des rationalen Wissens und Glaubens, die als Ausdrucksmittel der
göttlichen Wahrheiten fungieren, untrennbar auch zum Gegenstand des religiösen
Glaubens.
Der Glaubensakt selbst werde durch Gott im Menschen hervorgebracht. „Die Gnade erleuchtet die Vernunft und erhöht ihre Erkenntniskraft; die Gnade bewegt und
[..] kräftigt den Willen zur Beistimmung; die Gnade erwärmt das Herz und erfüllt es
mit Glaubensfreudigkeit und Glaubensmut“71. Nur so könne der Glaube übermenschliche, unbedingte Festigkeit erlangen.
Die eigentliche Frage ist die nach dem letzten Grund der Glaubenszustimmung.
Eine natürliche Gotteserkenntnis könne dies nicht sein, auch wenn sie allgemeine,
notwendige philosophische Gründe vorzuweisen habe. Denn auch diese können
bloß menschliche, endliche Gewissheit erzeugen. „Der Grundstein des Fundamentes für das Wahrheitsgebäude, das durch Gottes übernatürliche Offenbarung errichtet wird, muß von Gott selber sein. Der Grundstein ist die göttliche Wahrhaftigkeit. Sie ist mein letzter Glaubensgrund im Übernatürlichen, nicht insofern, als sie
66
67
68
69
70
71
90
Braig: Dogmatik I 70, Anm. 2.
Ebd. 70.
Ebd.
Erhard Kunz: Art. Analysis fidei, in: LThK3 1, 583-586, hier 584.
Braig: Dogmatik I 71.
Ebd. unter Bezugnahme auf DH 3010.
eine von mir unfehlbar erkannte, sondern insofern, als sie eine mir unfehlbar durch
Gott selber verbürgte Wahrheit ist“72. Wie aber äußert sich diese unmittelbare Offenbarung Gottes?
„Gott bürgt durch unmittelbares Offenbaren, daß seine Wahrhaftigkeit in der übernatürlichen Offenbarung ganz und genau die gleiche Wahrhaftigkeit ist, die er in
der natürlichen Offenbarung, speziell in der Erschaffung der wahrheitsfähigen,
wahrheitsliebenden, wahrheitsbegehrenden Menschenvernunft kund gegeben
hat“73. Der letzte Grund des übernatürlichen Glaubens sei die von Gott bezeugte
Identität seiner Wahrhaftigkeit in den Bereichen des Natürlichen und des Übernatürlichen.
Wie aber werde ich dieses eigentlichen Grundes des Glaubens gewahr und wie
kann er in der Glaubenszustimmung erkannt und bejaht werden? Braig erkennt die
Frage nach dem letzten Grund des übernatürlichen Glaubens als eine der verwickeltsten aller theologischen Fragen.
Die Schwierigkeit dieser Frage werde deutlich, wenn man überlegt, ob etwa die
göttliche Wahrhaftigkeit von einem Menschen in derselben Hinsicht zugleich gewusst und geglaubt werden kann.
Braig hat die Frage nach der Vereinbarkeit von Glauben und Wissen in demselben
Subjekt hinsichtlich desselben Objekts mehrmals behandelt, zum ersten Mal in
seiner 1881 erschienenen Abhandlung über die natürliche Gotteserkenntnis nach
Thomas von Aquin.74 Hier sagt Braig, dass Thomas zwar explizit diese Vorstellung
verneine und aufgrund seines peripatetischen Standpunktes auch verneinen müsse, dass aber dennoch aus Thomas allein diese Frage nicht so eindeutig entschieden werden könne. Nach Braigs Ansicht würde allein die Möglichkeit der Diskussion über die Verträglichkeit von scibile et credibile in eodem et sub eodem die Unzulänglichkeit des von Thomas eingenommenen aristotelischen Standpunktes
nahelegen.75 Braig konnte sich dabei auf die Ausführungen seines Lehrers Kuhn
stützen, der in der von Thomas behaupteten Unvereinbarkeit von Glauben und
Wissen hinsichtlich desselben und in demselben einen Konflikt mit der Theologie
sieht.76 Gegenüber einer Gegensätzlichkeit von Glauben und Wissen betont Kuhn,
„daß die Erkenntniß der Vernunftwahrheit für den menschlichen Geist überhaupt
keine absolute, kein reines, demonstratives apodictisches Wissen sei [...] und daß
somit auf Seiten der einzelnen Subjekte ein Unterschied in der Erkenntniß Gottes
lediglich in der Art bestehe, daß die Ungebildeten ein unvollkommneres Wissen
von Gott und den göttlichen Dingen besitzen, wogegen auch den Gebildetsten und
in wissenschaftlichen Dingen Geübtesten und Mächtigsten der Glaube nicht entbehrlich sei“77. Kuhn möchte den Glauben nicht als eine defiziente, nur vorläufige
Erkenntnisstufe ansehen, sondern als ein bleibend aller Religion zugrundeliegendes Moment.
72
73
74
75
76
77
Braig: Dogmatik I 72.
Ebd.
Vgl. Braig: Gotteserkenntnis 562f.
Vgl. ebd. 563.
Vgl. Johann Evangelist Kuhn: Katholische Dogmatik, Bd. 1/2, Tübingen 21862, 718-722.
Ebd. 719f.
91
Von diesen Ausführungen distanziert sich Braig implizit, wenn er in der Schrift
„Gottesbeweis oder Gottesbeweise?“ von 1888 die Tübinger Schule besonders
hinsichtlich ihres Begriffs der natürlichen Gotteserkenntnis kritisiert, den er in einer
Erkenntnistheorie grundgelegt sieht, die Denken und Erkennen grundsätzlich als
zwei verschiedene Dinge ansieht. Wenn dem Verstand zugeordnetes Denken und
der Vernunft zugehöriges Erkennen sich nicht wie Mittel und Zweck zueinander
verhalten, sondern die Vernunft ein unmittelbares Wissen aus dem Vernunftglauben heraus hat, dann ist eine ausreichende Objektivität der Erkenntnis nicht gewährleistet. Braig bezieht sich hier auf die Lehre Kuhns, der im Anschluss an den
Philosophen Friedrich Heinrich Jacobi78 einen „Vernunftglauben“ postuliere, der
unmittelbares Wissen sei. Wissen und Glauben erscheinen in dieser Erkenntnislehre nicht als prinzipiell verschiedene Momente, sondern als lediglich formal unterschieden. Unmittelbares Wissen und Erkennen mit nötigender Überzeugung
stehen im menschlichen Bewusstsein eng nebeneinander.79 Dadurch, dass bereits
die Vernunfterkenntnis aus dem Vernunftglauben für ein sicheres Wissen ausreiche, also ohne Leistung des Verstandes, könne auch der alte Satz, wonach in Bezug auf dasselbe in demselben Subjekt nicht Glauben und Wissen zugleich sein
können, bestritten werden.80 Braig weist diese Bestreitung zurück, indem er auf die
alltägliche Erfahrung hindeutet, die z.B. in Bezug auf mathematische Erkenntnisse
das Glauben stets restlos vom Wissen abgelöst erscheinen lasse, wobei gerade
dadurch die Glaubenswilligkeit den höheren, noch nicht gewussten Wahrheiten
gegenüber wachse.81
In seiner Dogmatik von 1900 unterscheidet Braig zunächst grundsätzlich zwischen
der Tätigkeit des Intellektes und der des Willens. Dieser betätige sich im Glaubensakt, indem er den Verstand bewege, den Inhalt der als glaubwürdig erkannten
Wahrheit anzunehmen. „Insofern, in Bezug auf die Willensbetätigung kann das
Verhalten ein und desselben Menschen jeder Wahrheit gegenüber unter dem
Glauben und seiner Gnade stehen [...]. Wenn dagegen der Verstandesakt beim
Wissen allein ins Auge gefaßt wird, dann kann eine natürlich gewisse Wahrheit in
demselben Geiste unter demselben Gesichtspunkt nicht Inhalt des Erkennens und
des Glaubens zugleich sein“82. Denn zugleich wissend und glaubend (d.h. nichtwissend) in Bezug auf denselben Gegenstand sein, sei logisch und ontologisch
unmöglich.
Nach Braig ist es allerdings möglich, dass der Mensch von Dingen, von denen er
mit natürlicher Gewissheit überzeugt sei, von der Gnade bewegt auch glaube, dass
78
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81
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92
Zu Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819) vgl. LThK3 5, 704f.
Vgl. Walter: Glaubensbegründung 142-154.
Vgl. Braig: Gottesbeweis 13ff.
Vgl. ebd. 14f.; auch das meritum fidei sieht Braig durch ein in Wissen überführtes Glauben nicht vermindert (vgl. ebd. 16); er hält die „Verdoppelung oder Spaltung des Erkenntnisvermögens [in Verstand und Vernunft] vor allem deswegen für bedenklich, weil
sie ihn an Anschauungen erinnere, die „die monistisch gedachten subjektiven Energien
des Bewußtseins, welche den Sprung vom Denken in das Sein, vom Individuellen in
das Absolute, von der Einzelvernunft in den Allgeist hinüber ermöglichen sollen“ (ebd.
17). Zur selben Frage unter erkenntnistheoritischem Aspekt siehe unten Dritter Hauptteil: Die Philosophie Carl Braigs.
Braig: Dogmatik I 74f.
„es dasselbe Etwas ist auch unter dem Gesichtspunkte des Uebernatürlichen [...].
Insofern bleibt der Charakter des Uebernatürlichen dem Glauben in seinem Prinzipe und nach seinem Verdienste gewahrt, auch in Bezug auf die Dinge, die nicht
eigentliche Gegenstände des Glaubens, sondern die unentbehrlichen Mittel sind,
die Glaubensgegenstände einzukleiden und aufzufassen“83.
Mit dieser Unterscheidung der Gesichtspunkte löst Braig zugleich die Schwierigkeit, die in der Frage besteht, inwiefern noch von einem Glaubensverdienst oder
einer Glaubenspflicht gesprochen werden könnte hinsichtlich der Gegenstände, die
schon gewusst werden.84
Eine andere wichtige Frage ist die, ob der Glaubensgrund an sich erfasst werde
und erst daraufhin die Mysterien glaubend angenommen werden, oder ob beides,
die Wahrhaftigkeit des Offenbarenden und die Wahrheit seiner Offenbarungen
gleichzeitig geglaubt werden. Braig unterscheidet hier drei Modelle:
1) Der Gläubige hält den Inhalt und die Form der göttlichen Offenbarung unter Einfluss der göttlichen Gnade zugleich für wahr. So umschreibt Braig die Auffassung
Franz Suárez’85. Für diesen sei die „Dunkelheit“ des Glaubens bleibendes Merkmal
desselben, hinsichtlich sowohl der Erkenntnis seines Materialobjekts, der Glaubenswahrheiten, wie auch in Bezug auf die von Suárez als Formalobjekt des Glaubens bestimmte Autorität des offenbarenden Gottes. Natürliche Erkenntnis reiche
nicht aus, um dem Intellekt das Formalobjekt des übernatürlichen Glaubens nahezubringen, es gebe aber auch keine Evidenz vermittelnde übernatürliche Erleuchtung, durch die eine Erkenntnis des letzten Glaubensgrundes erreicht werden
könnte. So sei der Glauben „ein eigenständiger Akt, der in seinem Vollzug sein eigenes Fundament bejaht und deshalb keines außerhalb seiner selbst liegenden
Grundes bedarf. Formal- und Materialobjekt werden in dem einen Akt des Glaubens erfaßt“86. Braig kritisiert an einem solchen Modell, dass die Vielzahl von kettenartig aneinandergereihten psychologischen Elementen, die den Glaubensakt
konstituieren, nicht adäquat wiedergegeben sei.87
2) Es kommt beim Gläubigen aufgrund und angesichts der positiven Offenbarung
eine aus natürlichen und übernatürlichen Elementen gemischte Überzeugung von
Gottes übernatürlicher Wahrhaftigkeit zustande, und daraus wird die unbedingte
Glaubwürdigkeit des Offenbarungsinhaltes gefolgert. So gibt Braig die Meinung
Johannes de Lugos88 wieder, die ja vor allem im 19. Jahrhundert vertreten wird, so
von Joseph Kleutgen und Johann Baptist Franzelin89. Nach de Lugo wird die Autorität des offenbarenden Gottes unmittelbar erkannt, woraus eine unmittelbare Zustimmung zu ihr erfolge, im Sinne einer Einheit von drei Zustimmungsakten, nämlich der Zustimmung zur Autorität Gottes, der Zustimmung zur Offenbarung Gottes
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89
Ebd. 75.
Vgl. Braig: Gottesbeweis 15ff.
Zu Francisco Suárez SJ (1548-1617) vgl. LThK3 9, 1065-1068.
Erhard Kunz: Glaubwürdigkeitserkenntnis und Glaube (analysis fidei), in: HFTh2 4, 301330, hier 307.
Vgl. Braig: Dogmatik I 76.
Zu Juan de Lugo SJ (1583-1660) vgl. LThK3 6, 1106f.
Zu Johann Baptist Franzelin SJ (1816-1886) vgl. Peter Walter: Johann Baptist Franzelin, Bozen 1987.
93
und der Zustimmung zu den Glaubenswahrheiten.90 Braig legt den Akzent auf das
Nacheinander von unmittelbarer Erkenntnis von Gottes übernatürlicher Wahrhaftigkeit und der Folgerung, dass der Offenbarungsinhalt unbedingt glaubwürdig sei.
Für Braig ist hier der Begriff des natürlichen Glaubens zu stark von dem des Übernatürlichen getrennt. Braig siedelt das Moment des Schließens und Folgerns logisch und zeitlich früher an, nämlich als Bedingung für den natürlichen Glauben an
die Tatsache des Übernatürlichen. Dieser natürliche Glaube erfahre durch die Einwirkung der zuvorkommenden Glaubensgnade eine übernatürliche Erhöhung, wodurch der übernatürliche Glaube zustande komme. Die Gesamtheit des Glaubensaktes fasse die Elemente des natürlichen Glaubens in sich als konstitutive conditiones sine quibus non eines übernatürlichen Glaubens,91 wodurch bei Braig
gegenüber dem von ihm so verstandenen Modell de Lugos eine engere Verbindung zwischen natürlichem und übernatürlichem Glauben herrscht.
3) Bei den beiden vorangehenden Modellen ist es jeweils die Erkenntniskraft des
Gläubigen, die auf den Glaubensgrund gerichtet ist. Als einen dritten Versuch stellt
Braig ein Modell vor, demzufolge der Wille es sei, der, von der Gnade angeregt,
auf den Glaubensgrund geht, so dass die übernatürliche Gewissheit durch die Übernatürlichkeit der Willenshandlung generiert werde. Dieses Modell wird nicht einem bestimmten Autor zugeordnet, lässt sich vielleicht als übernatürlich erhöhter
Voluntarismus beschreiben. Braig lehnt das beziehungslose Nebeneinander von
Denken und Wollen ab. Es könne keinen blinden Willen geben, der – mag er noch
so stark und gefestigt sein – Sicherheit ohne Erkenntnis vermitteln könne.
Braig möchte bei seinem Lösungsversuch vermeiden, Denken und Wollen, natürliches und übernatürliches Glauben zu stark zu trennen. Aus natürlicher Gewissheit
entstehen natürliches Denken und natürliches Glauben, nämlich der natürliche
Glaube an die Tatsache des Übernatürlichen. Unter Einwirkung der Glaubensgnade, „die von einer positiven Versicherung Seitens Gottes begleitet zu sein pflegt,
wird der Habitus des natürlichen Glaubens an das Übernatürliche erhöht“92, wandle
sich der natürliche Glaube in einen übernatürlichen. „Auf Grund der erlangten übernatürlichen Glaubensgewißheit wird das einzelne Offenbarungsgeheimnis und
wird die Gesamtheit aller für glaubwürdig gehalten und folgeweis geglaubt. So besteht der abgeschlossene Glaubensakt, der in der Hinnahme des Glaubensgegenstandes zur Ruhe gekommen, aus einer Vielheit von psychologischen Momenten, die kettenartig zur Einheit verbunden sind. Von der Vielheit hat der Ungelehrte
kein und der Gelehrte nur dann ein Bewußtsein, wenn er den Innenvorgang des
Glaubens in seinem Geiste zu zergliedern unternimmt“93.
Braigs Modell ähnelt damit weder dem suárezianischen noch dem de Lugos. Wenn
in dem Modell des Suárez die Dunkelheit des Glaubens eine bleibende Rolle
spielt, der sein Formalobjekt, die Glaubwürdigkeit Gottes, selbst wieder nur glaubend erfasst, so setzt sich Suárez dem Verdacht einer Zirkelbegründung aus.
Überlegt man, welchem Modell Braig damit folgt, so zeigt sich, dass er die Tradition aufnimmt, ohne sie aber im Sinne eines Traditionsbeweises zur Richtschnur der
90
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92
93
94
Vgl. Kunz: Glaubwürdigkeitserkenntnis 307f.
Vgl. Braig: Dogmatik I 76.
Ebd.
Ebd.
eigenen Überzeugung anzunehmen; vielmehr versucht er, unter besonderer Berücksichtigung eigener, vor allem philosophischer Überzeugungen zu einem eigenständigen Lösungsversuch zu gelangen.
1.1.6 Zur Stellung der Apologetik im Gefüge der Wissenschaften
Die ersten Veröffentlichungen94 des jungen Carl Braig fallen genau in das Erscheinungsjahr der Enzyklika Aeterni Patris, und so steht das Wirken des jungen Theologen von Anfang an in der Verantwortung, zu der der Papst die Glaubenswissenschaftler aufruft. Im Sinne der päpstlichen Enzyklika fühlt sich Braig einem „Apostolate der Dialektik“ verpflichtet.95 Auch für ihn seien Theologie und Philosophie wie
zwei Schwestern: „beide bedienen ohne Scheelsucht und beide lieben ohne Eifersucht die Eine Mutter ‘Wahrheit’“96. Als eine Leitidee der Enzyklika nennt Braig die
Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie, die besage, dass
der „Fortschritt der gesammten katholischen Wissenschaft [..] vorwiegend von dem
Gedeihen der philosophischen Studien abhängig“ sei.97 Denken und Glauben sind
nach Braig so eng miteinander verbunden, dass eine Apologie des Gedankens
zugleich auch eine Apologie des Christentums sei.98
Methodisch gehe die Philosophie der Theologie immer voran. Philosophie gilt dabei als Repräsentantin des natürlichen Wissens, während die Theologie den übernatürlichen Glauben zur Darstellung bringen wolle. Natürliche und übernatürliche
Vernunft bilden Philosophie und Theologie als die ihnen entsprechenden Wissenschaften aus. Wie ist nun aber ihr genaues Verhältnis zueinander bestimmt? In der
relativen Gegenüberstellung von Philosophie und Theologie nehme die Apologetik
eine Zwischenstellung ein. „Philosophie, Apologetik, Dogmatik – diese Reihenfolge
der Hauptdisciplinen stellt sich in unserm apologetischen Zeitalter als die naturgemäßeste und zweckentsprechendste dar, um gründliche Rechenschaft zu erlernen
für das Christenthum gegen die antichristliche Wissenschaft“99.
Damit folgt Braig dem gängigen neuscholastischen Modell der Apologetik, „die sich
gegenüber der gesamttheologischen Aufgabe [isolierte], indem sie sich ins Vorfeld
des dogmatischen Lehrgebäudes begab und zu einer reinen Verteidigungswissenschaft für das ‘behauptende Denken’ der Dogmatik wurde“100. Ob damit freilich ein
„Rückzug aus den Auseinandersetzungen mit den Problemen der Gegenwart“ verbunden sein musste, und eine Immunisierung „gegenüber den Problemen der gesellschaftlichen Mitwelt“ stattfand, kann zumindest für Braig nicht ohne Weiteres
94
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Zwei Rezensionen in der Theologischen Quartalsschrift (Braig 1879a und 1879b) zu
Franz Seraph Petz: Philosophie der Religion, und Albert Stöckl: Lehrbuch der Religionsphilosophie. Zu Petz (1820-1887) vgl. Kosch: Das Katholische Deutschland 3509.
Vgl. Braig 1879b, 687; Stegmüller: Braig 122; 124.
Braig 1879b, 684.
Braig 1881c, 698.
Vgl. Braig 1882b, 145.
Braig 1881c, 681f.
Johann Reikerstorfer: Fundamentaltheologische Modelle der Neuzeit, in: HFth2 4, 242264, hier 250.
95
behauptet werden.101 Braig zumindest will seine Apologie nicht in einem luftleeren
Raum betreiben, sondern, wie weiter unten gezeigt werden wird, haben Zeitgenossenschaft und konkrete Auseinandersetzungen durchweg Auswirkungen auf Inhalt
und Form der Apologetik.
Im Grenzgebiet zwischen Philosophie und Theologie, so führt Braig aus, seien die
Disziplinen der Religionsphilosophie und der Apologetik hinsichtlich ihres verschiedenen Standpunktes, von dem aus sie operieren, zu unterscheiden. Es sei nämlich
ein Unterschied, ob man aus einer prinzipiell außenstehenden Perspektive, noch
unberührt von christlichen Glaubenswahrheiten, einen Weg gehe auf den noch
nach Form und Inhalt unbekannten Glauben zu, oder ob man aus der Perspektive
des Glaubens den Weg dorthin nachzuvollziehen, vernunftmäßig als plausibel
nachzuzeichnen versuche. Die Philosophie führe zum Glauben hin, wie der Reim
sagt: „Das ist das Ende von unseren Schlüssen, / zu wissen, dass wir glauben
müssen“102. Die (Religions-)Philosophie müsse sich prinzipiell auf einen Standpunkt außerhalb des Glaubens stellen, denn „vor dem Verlangen hat man sich zu
hüten, von oben herab, vom Gesichtspunkt der christlichen Wahrheit aus eine mathematisch handliche Formel konstruiert zu sehen für die dialektische Grenzbestimmung beider Wahrheitsgebiete. Solch ein Verlangen schlöße die Prätension in
sich, nicht nur das untere, sondern auch das obere Reich der Wahrheit mit dem
rechnenden Verstande durchmessen, also den Glauben völlig zum Wissen sublimiren zu können. Dagegen von unten hinaufgehend ist man im Stande, sowohl dem
Wissen als dem Glauben approximativ Schranken zu ziehen“103. Stellt man sich die
beiden Erkenntnisordnungen wie zwei übereinanderliegende Stockwerke eines
Hauses vor, bezeichnet das untere die natürliche Vernunft mit ihrer philosophischen Erkenntnis, das obere den übernatürlichen Glauben. Die Grenzlinie zwischen beiden festzustellen, die Frage zu entscheiden, welche Erkenntnis noch
dem unteren und welche bereits dem oberen Stockwerk angehöre, ist nach Meinung Braigs allein von einer ausschließlich der natürlichen Vernunft verpflichteten
Wissenschaft zu leisten. Der Glaube, als gnadenhaft zustande gekommener, könne sich vernunftmäßig nicht letzte Rechenschaft über seinen Ausgangspunkt geben, wenn er nicht als ein in einem reinen Rationalismus sich auflösender Glaube
angesehen werden wolle. Hier steht die große Furcht vor dem Rationalismus im
Hintergrund, gegen den sich zusammen mit dem zu seinem „Gegensatz stilisierten
Fideismus“ nicht erst das Vatikanische Konzil gewandt hatte.104
101
102
103
104
96
Vgl. ebd. 250.
Braig 1884a, 160; vgl. DH 3136: „[P]hilosophia [...] iter ad veram fidem quodammodo
sternere et munire valet“; Braig zitiert offensichtlich aus dem Gedächtnis und daher verkürzt den „Spruch Nr. 4“ aus den zu seiner Zeit populären „Juniusliedern“ von Emanuel
Geibel: „Studiere nur und raste nie, / Du kommst nicht weit mit deinen Schlüssen; / Das
ist das Ende der Philosophie, / zu wissen, daß wir glauben müssen“ (Geibels Werke,
hrsg. von Wolfgang Stammler, 3 Bde., Leipzig o.J. [1918]; Bd. 1, 320).
Braig 1879b, 683.
Vgl. Elke Pahud de Mortanges: Art. Rationalismus II. Theologisch, in: LThK3 8, 846; bekannt sind die die natürliche Vernunft in ihre Schranken verweisenden Worte Kuhns:
„[M]an kann sich nicht in das Christenthum hinüber- und hineinphilosophieren“ (Johann
Evangelist Kuhn: Einleitung in die katholische Dogmatik, Bd. 1/1, Tübingen 21859, 264).
„Etwas anderes ist jenes dogmatisch-apologetische Verfahren, welches die Glaubenswahrheiten, wenn auch noch so spekulativ herausgearbeitet durch eindringende Dialektik, zum Ausgangspunkt der Untersuchung nimmt und so jedenfalls
den Schein des schlechten Zirkels nicht vermeidet“105. So werde die Notwendigkeit
eines extrinsezistischen Zugangs zur apologetischen Begründung des Glaubens
nahegelegt. Die innere Stimmigkeit der Glaubenswahrheiten, ihre Angemessenheit
hinsichtlich der Stillung menschlicher Sehnsucht gegenüber, könne letztlich kein
überzeugendes Kriterium für die Wahrheit des christlichen Glaubens abgeben.
So unterscheidet Braig die Vernunft vor dem Glauben, die „die apologetische Thätigkeit selber [ist], welche mit ausschließlich historisch-philosophischen Beweisgründen die motiva credibilitatis und die praeambula fidei darlegt und so das evidente Urteil ermöglicht über die Glaubwürdigkeit der Offenbarung, auf welches sich
der Glaube stützen muß“, von der Vernunft im Glauben, „das Urtheil freier Gewißheit, daß Gottes Wahrhaftigkeit und Weisheit unsere religiösen Ueberzeugungen
zweifellos verbürgt“. Die Vernunft nach dem Glauben schließlich „ist der Dienst,
welchen die natürliche Erkenntniß der Glaubenswissenschaft zu leisten hat (speculative Theologie)“106.
In seiner Besprechung107 der zweiten Auflage des „Lehrbuchs der Religionsphilosophie“, einer vollständigen Fundamentaltheologe des Eichstätter Neuscholastikers Albert Stöckl108, zeichnet Braig nach, wie er sich das Verhältnis von Religionsphilosophie und Apologetik vorstellt. Erstere gehe so vor, dass sie von christlichen Voraussetzungen abstrahiere und von historischen und philosophischen
Untersuchungen geleitet zu dem Ergebnis komme: „Homo, quâ animal rationale,
est animal religiosum, et hominis anima est naturaliter christiana“109. Immer wieder
zeigte sich Braig sehr interessiert an religionshistorischen Fragestellungen. Vor allem im British Museum in London betrieb er nach eigenen Angaben intensiv Studien über vergleichende Religionswissenschaft, „zwecks Ergänzung seiner ‘Apologie’“110. Leider hat Braig, anders als sein Vorgänger auf dem Propädeutik-Lehrstuhl
in Freiburg, Edmund Hardy, der ein bekannter Indologe und Religionshistoriker
war, diesbezügliche Erkenntnisse nie zum Gegenstand seiner Vorlesungen oder
größerer Veröffentlichungen gemacht. Seine Vorträge anlässlich des Hochschulkurses der Congregatio Mariana Sacerdotalis im Juni 1914 über „Die Gottesidee
im Lichte der Religionsgeschichte, der Vernunft und des Glaubens“, bei welchem
Braig verschiedene Beiträge für den religionsgeschichtlichen Teil lieferte, sind nicht
veröffentlicht worden.111 Eine Ausnahme bildet die 1890 erarbeitete Studie über
„Eine mongolische Kosmologie“, in der Braig herausarbeitet, dass die buddhisti105
106
107
108
109
110
111
Braig 1879b, 684.
Braig 1889b, 111.
Vgl. Berger: Fundamentaltheologisches Denken 104.
Zu Albert Stöckl (1823-1895) vgl. LThK3 9, 1015.
Braig 1879b, 686.
Brief Braigs an das Bischöfliche Ordinariat Rottenburg vom 21. August 1889 (DAR G
1.7.1 Nr. 286).
Vgl. die Einladung zu einer Vorlesungsreihe über das Thema „Die Gottesidee im Lichte
der Religionsgeschichte, der Vernunft und des Glaubens“ durch die Congregatio Mariana Sacerdotalis im Jahr 1914; Braig war für den religionsgeschichtlichen Teil verantwortlich (EAF Na 95, Vol. 106).
97
sche Lehre nicht zu der Wahrheit der theistischen Gottesanschauung gelangen
könne, weil sie eine falsche Analogie zu Grunde lege. Die Denkanstrengung, die
der Mensch hinsichtlich der Gotteserkenntnis vollziehe, werde von diesem Menschen „verstanden als die immer lauterer sich sublimirende Energie des Göttlichen
selber. So musste die Grenze zwischen Endlichem und Unendlichem, zwischen
Subject und Object, nicht bloss ins Unbestimmte verschwimmen, sondern sie
musste dem Subjecte, wenn es sich, im Banne der falschen Analogie, zu den eindringendsten Aussen- und Innenbeobachtungen erschwingen wollte, als nichtiger
Schein vorkommen“112. Das proton pseudos der Buddhisten sei mithin, dass sie
„die psychologischen Beobachtungen nicht als das Material genommen, um daraus Begriffe zu formen für die Analogie-Erkenntniss des Welturhebers, sondern
dass sie die Processe in der Menschenseele zu Weltprocessen gestempelt haben“113. Hiermit ist man freilich noch weit entfernt von der Erkenntnis, dass der
Mensch eine von Natur aus christliche Seele habe. Gleichwohl bestimmt und benennt Braig den Punkt, in dem seiner Meinung nach die Erkenntnis des Buddhisten
von der „natürlichen Erkenntnis“ abzuirren beginne.
Nach solchen philosophischen und historischen religionswissenschaftlichen Studien und daraus gewonnenen Erkenntnissen schließt sich nach der Vorstellung
Braigs die Apologetik an mit einer Darlegung der „christlichen Philosophie“, „wobei
aber ‘christlich’ in keinem anderen Sinne denn als kontradiktorischer Gegensatz zu
‘christusfeindlich’ genommen werden will“114. Braig möchte den Anschein vermeiden, er plädiere für eine „christliche Philosophie“, die nach Methode und Inhalt sich
von der allgemeinen, weltlichen Philosophie unterscheide. Es ist ja gerade sein Anliegen, dass die „normale“ Philosophie, die „natürliche Erkenntnis“, wird sie nur genau und ehrlich genug betrieben, der beste Anwalt für die Wahrheit des Glaubens
sei. Damit ist die „christusfeindliche Philosophie“, als deren Gegensatz die christliche Philosophie erscheint, in Wirklichkeit eine falsche, weil mit unbegründbarem
Vorurteil behaftete, Philosophie. Die wahre Philosophie sei die philosophische
„Bewährung des übernatürlichen Karakters und der Göttlichkeit des Christenthums
und der kath.[olischen] Kirche“115.
Braig plädiert dafür, dass die genannten Disziplinen der Religionsphilosophie und
Apologetik zusammengeführt werden. Die Apologetik als Wissenschaft sei auf lange Sicht nur zu halten, wenn sie „über kurz oder lang in der ‘Religionswissenschaft’
als Religionsgeschichte und Religionsphilosophie [..] aufgehen“116 werde.
Religionsphilosophie und Apologetik sollen also beide hinsichtlich ihrer Schlüsse
von dogmatischen Prämissen abstrahieren, welche von der Apologetik nur insoweit
vorausgesetzt werden, als ihre Vernunftmäßigkeit erwiesen werden soll.
Überschaut man das Gesamtwerk Carl Braigs, zeigt sich, dass sein Hauptanliegen
ein apologetisches ist. Es geht ihm im Sinne der Enzyklika Aeterni Patris um die
Verteidigung der Wahrheiten des Christentums, allen voran der Wahrheit des theistischen Gottesgedankens, die von verschiedener Seite bestritten werde. Braig
112
113
114
115
116
98
Braig 1890e, 150.
Ebd. 305f.
Braig 1879b, 684.
Ebd. 686.
Braig 1889b, 109.
sieht in der Gottesfrage das Verbindungsglied zwischen rational-wissenschaftlicher
Erkenntnis und Glaubenserkenntnis. Es geht ihm nicht allein um die Zurückweisung atheistischer Auffassungen, die aus naturwissenschaftlicher oder philosophischer Perspektive heraus motiviert sind, sondern auch um die Abwendung von innerchristlichen oder innerkirchlichen Heterodoxien.
Auf seiner Studienreise durch Frankreich mit den Stationen Paris und Toulouse
lernte Braig 1887 François Duilhé de Saint-Projet kennen, dessen Apologie auf
große Anerkennung im In- und Auslande gestoßen war. Hier hatte sich für die wissenschaftsgläubigen Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine neue
Form der Apologetik ausgebildet, die sogenannte „wissenschaftliche Apologetik“
(„l’apologétique scientifique“), die davon ausging, dass gerade durch die ernstzunehmenden positiven Wissenschaften, die ja oft als Gegenbeweis für die christlichen Lehren herhalten mussten, die Göttlichkeit des Christentums zu erweisen
sei.117 Diese Form der Apologetik sollte später von Maurice Blondel118 eine
schwerwiegende Kritik erfahren, weil die Naturwissenschaften, wie er meinte, im
Zeitalter der Immanenzmethode keine wirklich philosophische Bedeutung hätten.119
Duilhé unterteilt sein Werk in vier Abschnitte, deren erster der Methodologie der
Apologie gewidmet ist, die übrigen der Kosmologie (Entstehung des Universums),
der Biologie (Entstehung des Lebens) und der Anthropologie (Ursprung und Wesen des Menschen). Neben einem romanischen und einem deutschen Typ der
Fundamentaltheologie war die „wissenschaftliche Apologie“ eine dritte Form,120
wobei der romanische Typ sich vorwiegend auf den Offenbarungs- und Kirchentraktat beschränke, während der deutsche mehr religionsphilosophisch argumentiere. Braig hat dieses französische Werk übersetzt und so bearbeitet und mit Zusätzen versehen, dass es ihm für den deutschen Benutzer geeignet erschien. Im
Vorwort zu dieser Bearbeitung121, aufgrund derer ihm von der Freiburger Theologischen Fakultät die theologische Doktorwürde zuerkannt wurde, geht Braig auf
grundsätzliche Fragen ein, die das apologetische Bemühen im Allgemeinen betref117
118
119
120
121
Vgl. Flury: Redlichkeit 93.
Zu Maurice Blondel (1861-1949) vgl. LThK3 2, 528f.
Vgl. Maurice Blondel: Zur Methode der Religionsphilosophie, Einsiedeln 1974, 108ff.;
Flury: Redlichkeit 98.
Vgl. ebd. 58ff.; Josef Schmitz: Die Fundamentaltheologie im 20. Jahrhundert, in: Herbert Vorgrimler/Robert vander Gucht (Hgg.): Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert.
Perspektiven, Strömungen, Motive in der christlichen und nichtchristlichen Welt, Bd. 2,
Freiburg u.a. 1969, 197-245, hier 199f.
Braig, der sich nicht selbst das Lob aussprechen möchte, zitiert in seiner Besprechung
der dritten Auflage des französischen Werkes eine dort angebrachte Bemerkung zur
deutschen Bearbeitung: „Après une appréciation très bienveillante de notre programme
apologétique, un des savants astronomes les plus estimés d’Outre-Rhin, M.
Plassmann, ajoute: ‘Il faut remercier M. Braïg d’avoir établi en Allemagne ce qui était
depuis longtemps dans l’air, ce qui méritait d’être bien établi, alors même que la
science catholique ne devrait pas entrer dans des voies de régénération. Puisse cette
apologie exercer une salutaire influence, surtout parmi ceux qui enseignent la religion’“
(Braig 1890d, 321); zu Eduard Clemens Franz Joseph Plassmann (1859-1940) vgl.
Johann Christian Poggendorff: Biographisch-literarisches Handwörterbuch für
Mathematik, Astronomie, Physik mit Geophysik, Chemie, Kristallographie und
verwandte Wissensgebiete, Bd. 6: 1923 bis 1931, Berlin 1938, 2029f.
99
fen, seine Motivation, seine Methodik, seine Aufgabe und sein Ziel. Die Fragen, die
das Verständnis von Apologie bei Braig betreffen, sollen hier unter Heranziehung
vor allem dieser Einführung behandelt werden, aber auch das übrige Werk Braigs
berücksichtigen.
1.2 Warum Apologetik?
1.2.1 Die Motivation zur Apologetik
Die Vielzahl der Elemente, die für den vollendeten Glaubensakt konstitutiv sind,
werden in der analysis fidei a posteriori erkannt und besonders hinsichtlich des
Verhältnisses von natürlicher Glaubwürdigkeitserkenntnis und übernatürlicher
Gnadeneinwirkung im Glaubensakt untersucht. Zunächst und zumeist findet sich
der glaubende Mensch in seinem Glauben schon vor und in und von seinem Glauben herausgefordert: Der Glaube ist nicht ein statischer Besitz, den man hat oder
nicht hat, sondern er drängt den Menschen mit Verstand und Herz zu Gott hin. Der
Mensch ist als ganzer in eine Bewegung geraten, die ein unbedingtes Engagement
fordert.
Will man sich nicht blind einer solchen Dynamik unterwerfen, liegt es darum nahe,
nach der Legitimation des Glaubens zu forschen. Braig fragt: „Was ist des Glaubens Grund und Beweggrund? Welches sind die Rechtstitel der Glaubensforderung, welches die Gewißheitsbürgen für den Glaubensinhalt? Woraus erhellt mir
die Notwendigkeit, mich dem Inhalte hin-, ihm mit Geist, Herz und Willen gefangen
zu geben? Woraus fließt die Vernünftigkeit der Glaubenspflicht?“122. Hier geht es
ihm also zunächst nicht um die Verteidigung nach außen, sondern um die eigene
Selbstvergewisserung hinsichtlich der Vernünftigkeit dessen, was man glaubt.123
Der Glaube selbst könne auf diese Fragen nicht selbst wieder antworten; er verfiele andernfalls einem logischen Zirkel. Es gehe darum, das Geglaubte auf ein sicheres Fundament zu stellen, es gehe um das Wissen dessen, was im Glauben erkannt wurde. Gewissheit stelle sich ein, wenn man eine innere oder äußere Wahrheit erkannt habe. Jene sei in philosophischer Erfahrung gegeben, diese in
historischer. Wissen könne man im Gegensatz zum reinen Glauben nur etwas
durch philosophische und historische Beweise Erhelltes, wobei aber, wenn schon
nicht der Glaube selbst, immerhin die Vernunftgemäßheit des Glaubens durchaus
wissbar sei.
Das Gesamt der solcherart geführten Beweise nennt Braig die Apologie des Glaubens, die entsprechende wissenschaftliche Disziplin, die religiöse Verteidigungswissenschaft, ist die Apologetik. Mit diesem Sprachgebrauch lehnt Braig sich nicht
122
123
Braig: Apologie XIV.
Vgl. Vat. I, „Dei Filius“: „Ut [..] fidei nostrae obsequium rationi consentaneum esset,
voluit Deus cum internis Spiritus Sancti auxiliis externa iungi revelationis suae
argumenta“ (DH 3009).
100
an einen allgemeinen Konsens an, aber es spricht einiges für diese Unterscheidung.124 Der Ausdruck „Fundamentaltheologie“ fällt bei Braig kaum.
Die Aufgabe der Apologetik und ihr Movens ist es somit, Glauben und Wissen zu
vermitteln, historische und philosophische Gründe des Glaubens aufzuweisen, und
damit den Glauben vor der Vernunft zu verantworten und zu rechtfertigen.
1.2.2 Die Möglichkeit von Apologetik
Wird die Frage gestellt, ob eine solche Verteidigung überhaupt möglich sei, erheben sich viele Stimmen, die solches verneinen. Für viele sei die Religion in erster
Linie Herzens- und Willens-, aber nicht Verstandesangelegenheit. Für solche
scheine zwischen den Bereichen des Glaubens und des Wissens ein breiter, unüberwindlicher Graben zu liegen. Braig hält es allerdings für eine irrige Meinung,
„wenn man dem Wollen die nicht bloß treibende, sondern auch die führende Rolle
im höhern Geistesleben des Menschen zuspricht“125. Maß der Wahrheitserkenntnis
sei und bleibe die Vernunfteinsicht. Braig ordnet den Willen der Vernunft unter:
„Was ist ein Wille, dem nicht irgendwie ein Wissen voranleuchtet?“126. Braig zitiert
in diesem Zusammenhang die Lehre von der doppelten Erkenntnisordnung des
Ersten Vatikanums, in der Glauben und Wissen sowohl hinsichtlich ihres Gegenstandes, wie auch bezüglich ihres Ausgangspunktes unterschieden werden. Braig
folgert daraus eine organische Überordnung des Glaubens über das Wissen, so
dass es keine Gegensätzlichkeit geben könne. „Recta ratio fidei fundamenta
demonstrat“127. Zum Bereich des reinen Denkens zähle die Erkenntnis über „die
Existenz der Gottheit, der Seele Geistigkeit, des Menschen Freiheit“128. Diese seien Gegenstände „rein logischer, von Gemüths- und Willenseinflüssen unabhängiger Schlußfolgerungen“129, die natürlichen Voraussetzungen des übernatürlichen
Glaubens, die Motive der Glaubenswilligkeit für die Inhalte, die nicht mehr Gegenstand des natürlichen Wissens sein können, sondern ausschließlich des übernatürlichen Glaubens. Braig ist sich sicher: „Es kann schlechterdings keinerlei hohler
Willensact noch irgend eine leere Gemüthsregung gedacht werden, kein bloß moralisches Agens, worauf als auf seinem Wesensgrunde sich das religiöse Leben allein und eigentlich erbauen ließe“130. Auch Paulus habe auf dem Areopag nicht an
die Herzensphilosophie der Athener angeknüpft, sondern eine philosophische Gotteslehre vorgetragen.131 Diese sei exakt wie die Mathematik, in der ja auch dem
124
125
126
127
128
129
130
131
Vgl. Max Seckler: Art. Apologie I. Begriff, in: LThK3 1, 834ff.
Braig: Apologie XVII.
Ebd. XVIII; vgl. auch Braig 1909c, 273, mit dem Verweis auf die „psychologisch unmögliche voluntaristische (lutherische) Meinung vom Glauben, der, einer ‘welthistorischen
Autosuggestion’ der Menschheit vergleichbar, durch das Wollen und Fühlen vor allem
Wissen eben wissen möchte, wissen sollte!“.
DH 3019.
Braig: Apologie XIX.
Ebd. XX.
Ebd.
Vgl. Apg 17,16-34.
101
„Empfinden“ keinerlei Aussagekraft beigemessen werde, über die Richtigkeit einer
Rechnung und die Wahrheit ihres Ergebnisses zu befinden.132
Wissenschaftliche Apologetik sei gekennzeichnet vom philosophischen Element
wie vom historischen. Dieses zeige, dass und auf welchem Wege „dem Verlangen
der menschlichen Vernunft nach der absoluten Religion durch die Selbstoffenbarung der erkannten Gottheit genügt ist“133. Traditionell spielen in diesem Zusammenhang die Wunder als ein Beweis der Göttlichkeit der Offenbarung eine entscheidende Rolle.134 Das Wunder ist aber für Braig „nicht sofast gegen ein, als über alle Naturgesetze [...]. Nicht sofast die Thatsächlichkeit des Wunders, als
vielmehr seine Zweckbeziehung ist für den alten Glauben specifisches Kriterium
des Übernatürlichen“135. Von einem Wunderglauben neuzeitlicher Provenienz habe
die Sache des Christentums nichts zu gewinnen. Die Tatsache, dass es Phänomene gebe, die sich mit bekannten naturwissenschaftlichen Gesetzen nicht erklären lassen, hat für die Wahrheit des christlichen Glaubens keinerlei Relevanz. „Das
Wesen des Wunders besteht in seiner absoluten, übernatürlichen Zwecksetzung“136. Damit zeigt sich Braig gegenüber einem „Wunderbeweis, der die Wunder
als ‘facta contra resp. praeter naturam’ begreift und so in ihnen einen unmittelbaren göttlichen Eingriff nachweisen zu können meint“137, sehr skeptisch. Dadurch
unterläuft er aber auch den Vorwurf, der der neuscholastischen Apologetik gemacht wird, dass sie nämlich in Anpassung an die aufgeklärte Vernunft der Neuzeit
im Wunderverständnis „den Akzent ganz auf die göttl.[iche] Außerkraftsetzung
od.[er] Durchbrechung der Naturgesetze“138 gelegt habe. Durch die Betonung der
Zwecksetzung des Wunders immunisiert sich Braig zudem gegen eine Tendenz,
Wunder auf ihren Beweischarakter innerhalb der demonstrationes der Fundamentaltheologie zu reduzieren.139
„Die Möglichkeit unserer Apologie beruht in philosophischem und positivem Wissen, d.h. in dem zusammenfassenden Endergebniß der vergleichenden Religionswissenschaft. Erst nachdem dies feststeht, kann den Herzensargumenten von
Pascal und Genossen Bedeutung zuerkannt werden“140. Die raisons du cœur eines
Pascal141 haben in einem solchen apologetischen Konzept keinen Raum. Die
Gründe des Glaubens seien von mathematischer Form und Exaktheit. Hier ist
Braig natürlich ganz einem neuzeitlichen Wissenschaftsideal verpflichtet.
132
133
134
135
136
137
138
139
140
141
Vgl. Braig 1906e, 95f. u.ö.
Braig: Apologie XXI.
Vgl. Vat. I, „Dei Filius“: „Ut [..] fidei nostrae obsequium rationi consentaneum esset,
voluit Deus cum internis Spiritus Sancti auxiliis externa iungi revelationis suae
argumenta, facta scilicet divina, atque imprimis miracula et prophetias“ (DH 3009).
Braig 1882b, 132.
Ebd. 137, Anm.
Hermann Josef Pottmeyer: Zeichen und Kriterien der Glaubwürdigkeit des Christentums, in: HFth2 4, 265-299, hier 269.
Siegfried Wiedenhofer: Art. Wunder III. Systematisch-theologisch, in: LThK3 10, 1316ff.,
hier 1317f.
Vgl. Flury: Redlichkeit 67.
Braig: Apologie XXI.
Zu Blaise Pascal (1623-1662) vgl. LThK3 7, 1405f.
102
Mit der Erwähnung Pascals, dem „Vater der Immanenzmethode“142, ist die Frage
nach der Bedeutung der intrinsezistischen Methode in der Apologetik angesprochen,143 die Braig nicht erst im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit dem
Denken Herman Schells auf ihre nachgeordnete Stellung verweist.
Immer wieder hat man versucht, hinsichtlich der Stellung Braigs zur Apologetik
Schells eine Gesinnungsänderung nach dem Tode Schells (am 31. Mai 1906) festzustellen.144 Die Frage ist daher, ob man aus den veröffentlichten Rezensionen, die
Braig zu verschiedenen Werken Schells verfasst hat, diese Gesinnungsänderung
ablesen kann. Die vier in der Literarischen Rundschau publizierten Rezensionen
erstrecken sich über den Zeitraum von 1902, also kurz nach dem Tod Franz Xaver
Kraus’, bis 1909, in der Hochzeit des Modernistenkampfes.
In seiner Rezension zum ersten Band der schellschen „Apologie des Christentums“, „Religion und Offenbarung“, lobt Braig die Originalität und Universalität der
von Schell angeführten Gesichtspunkte, die Hingabe, mit der Schell seine Sache
betreibe, warnt allerdings auch schon vor der Kühnheit mancher Auffassung, die
ihm zur Sorge Anlass gebe. So lehnt Braig auch die von Schell favorisierte Vorrangstellung der inneren vor den äußeren Kriterien der göttlichen Offenbarung ab.
Mit „einem theoretischen oder ethisch-religiösen Vollkommenheitsideal beginnen
wollen, hieße zwar den Adlerflug des platonischen Denkens wagen; der Aufflug ist
aber für uns Sinnenwesen ein Versuch des Unmöglichen“145. Braig sieht darin den
Fehler Kants wiederholt, nämlich die Bedürftigkeit des Menschen, die idealisierende Vernunftforderung, ein Postulat also, zum Maßstab der Beurteilung heranzuziehen. Braig versucht dennoch, zu einer wohlwollenden positiven Deutung der
schellschen Auffassung zu kommen: „Die Überordnung der sogen. inneren über
die äußeren Kriterien der göttlichen Offenbarung können wir nur in dem Sinne verstehen, daß auch das Wunder und die Weissagung, inhaltlich betrachtet, im Einklange mit dem logischen Denken und dem sittlichen Werte des Menschen stehen
müssen“146. Das im Menschen Liegende, auf dem für die Untersuchungen der Immanenzapologetik der Schwerpunkt liegt und worauf die Botschaft des Christentums dann die Antwort sein will, deutet Braig damit als Logik und Sittlichkeit. Ausdrücklich lobt Braig hier die Auseinandersetzung Schells mit dem modernen Zeitgeist, die zeige, dass es nicht schwierig sei, „den antikirchlichen, antichristlichen,
antireligiösen ‘Genius’ der Neuzeit nicht bloß zu tadeln und zu schelten, sondern
wissenschaftlich und gründlich zu überwinden“147. Auch zu Schells „Christus. Das
Evangelium und seine weltgeschichtliche Bedeutung“ aus der Reihe „Weltge-
142
143
144
145
146
147
Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. 2/2, Einsiedeln
1962, 569.
Vgl. dazu Max Seckler: Fundamentaltheologie: Aufgaben und Aufbau, Begriff und Namen, in: HFth2 4, 331-402, hier v.a. 398ff.; Albert Raffelt: Art. Extrinsezismus – Intrinsezismus, in: LThK3 3, 1135ff.
Vgl. etwa die Aussage einer modernistischen Zeitschrift: „Wie verschieden Braigs Stellung zu Schell nach dessen Tode von seiner früheren Auffassung geworden ist, wissen
wir ja“ (Das Zwanzigste Jahrhundert 8 [1908] 622).
Braig 1902h, 85.
Ebd.
Ebd. 86.
103
schichte in Karakterbildern“148 verfasste Braig 1903 eine Besprechung, in der er
wiederum die „Kraft des höchsten Idealismus“ lobt, mit der das Buch geschrieben
worden sei. Allerdings legt Braig das Buch mit Enttäuschung aus der Hand, nicht
allein wegen der eigentümlichen Sprache, sondern vor allem sei es die „zeitgeschichtliche Belastung“ des Werks, die allzu große Anbiederung an den „Modernismus“, die Braig befürchten lässt, dass die Mittel Schells keinen durchgreifenden
und dauernden Eindruck hinterlassen werden. Statt dessen hätte sich der Rezensent gewünscht, dass „dem Modernismus gegenüber, insofern er die Geschichtlichkeit der Evangelien und die Dogmatik über den Gottmenschen Christus benagt,
mit allem Nachdrucke zu betonen [sei], daß, was die Negation angehäuft hat,
nichts weiter als Schutt und Staub ist“149. Daneben wiederholt Braig seine Kritik an
der Neigung Schells, die inneren Kriterien den äußeren in der wissenschaftlichen
Beurteilung vorzuziehen. Braig vermutet, dass der Satz Lessings150, „Zufällige Geschichtswahrheiten können nicht der Beweis notwendiger Vernunftwahrheiten
sein“, hier im Hintergrund stehe. Allerdings betont Braig: „Durch Fakta und durch
Wunder will man sich lediglich über das Ob und Daß eines geschichtlichen Sachverhaltes vergewissern; das Was, Wie, Warum eines Vernunftsatzes, sein Wahrheitsgehalt will und kann durch die bloße Tatsache, daß jemand gelebt und den
Satz ausgesprochen habe, mit nichten erhärtet werden [...]. Keine ‘Tatvollkommenheit’, kein ‘Vollkommenheitsideal’ einer Offenbarung mag uns zu getrösten,
wenn ihre Tatsächlichkeit nicht festgestellt werden könnte“151.
Inhaltlich nichts Neues, wenn vielleicht auch etwas schärfer formuliert, bietet die
Rezension des 1905 erschienenen zweiten Bandes der schellschen Apologie,
„Jahwe und Christus“, die Braig einige Monate nach Schells Tod verfasste. Braig
fand den ersten Band, „Religion und Offenbarung“, „viel besser“. Aus dem zweiten
Band zeige sich auch ganz klar: Der „Grundgedanke der Sch.[ell]schen Apologie
erscheint nach den Forderungen der unerbittlichen Logik verfehlt. Aus der ‘unvergleichlichen’ Erhabenheit, aus der ‘einzigartigen’ Herrlichkeit des Christentums, so
sehr der Gläubige von den äußeren und inneren ‘Vorzügen’ der Wahrheit überzeugt ist, können wir keinen zwingenden Schluß machen auf die Übernatürlichkeit
der göttlichen Offenbarung, ihrer Fakta und ihrer Dogmata“152. Hatte Braig 1902
noch versucht, die Überordnung der inneren über die äußeren Kriterien der göttlichen Offenbarung „gutartig“ zu deuten, so entdeckt er jetzt, 1907, darin ein nicht
haltbares Prinzip bei Schell. Schärfer und radikaler formuliert Braig seine Vorbehalte gegen die Lehre Schells in der „Allgemeinen Rundschau“. Hier wird die Apologetik Schells von Braig eindeutig in eine „modernistische Ecke“ gedrängt, und zwar
aufgrund ihres unlogischen Grundansatzes. Diesen möchte Braig in einem Brief
Schells entdeckt haben, wo es von der Wahrheit heißt, sie sei „die Gleichung zwischen dem Erkennenden und seiner Geistesstufe und Geistesentwicklung einer-
148
149
150
151
152
Zu dieser Serie vgl. Christoph Weber: Der „Fall Spahn“ (1901). Ein Beitrag zur Wissenschafts- und Kulturdiskussion im ausgehenden 19. Jahrhundert, Rom 1980, 88-108.
Braig 1903d, 147.
Zu Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) vgl. LThK3 6, 851f.
Braig 1903d, 148.
Braig 1907h, 17.
104
seits und dem Ideal anderseits“153. Damit sei zum einen durch die konstitutive Bedeutung des Entwicklungsstandes ein Relativismus der Wahrheit gelehrt, zum anderen enthülle der Verweis auf das „Ideal“ eine verdeckte petitio principii: „Die
Wahrheit, das Gesuchte, soll die Gleichung des Denkenden mit seinem ‘Ideale’
sein, d.h. mit irgend einer Ansicht, die der Enthusiasmus des Suchenden diesem
vorweg als die Wahrheit mag erscheinen lassen“154. Gleichwohl kann Braig aber
dennoch weiterhin „die Begeisterung [...] für die Wissenschaft und Wahrheit und
die wandellose Treue des Heimgegangenen gegen die Trägerin der übernatürlichen Autorität, gegen die Lehrerin der Wahrheiten Gottes und Jesu Christi, [..] [als]
vorbildlich für die Jetztlebenden und für kommende Geschlechter“ hinstellen.155
Diese Rezension hat durch den Herausgeber der zweiten Auflage von „Jahwe und
Christus“, Karl Hennemann156, eine deutliche Kritik erfahren,157 die vor allem darauf
hinweist, dass Braigs Verlangen nach einem zwingenden Schluss auf die Übernatürlichkeit der Offenbarung gegen die Canones des Ersten Vatikanums spreche,
vor allem gegen die Verwerfung der Auffassung, der Glaube sei nicht frei, sondern
könne mit den Mitteln des menschlichen Geistes hervorgetrieben werden.158 Als
Braig die Gelegenheit zur Besprechung dieser zweiten Auflage und der darin geäußerten „herben Antikritik“, wie er an Joseph Sauer schrieb,159 ergreift, fällt es ihm
leicht, diesen Vorwurf zu entkräften: In der Tat beziehe sich das Konzil ja nicht auf
die Schlusskraft apologetischer Beweise, sondern auf das Wesen des
Glaubensaktes. Andere Stellungnahmen des Konzils deuten jene an, wenn es
etwa von den „manifestae notae“, den „signa externa“, von der „evidens fidei
christianae credibilitas“ usw. spreche.160 Hennemann wirft Braig eine
Unterschätzung der inneren Kriterien vor, Braig bestreitet deren Vorrangstellung, in
welcher er den Fehler des „hysteron proteron“ nicht vermieden sieht.
Inhaltlich lässt sich jedenfalls kein Unterschied zu einer späteren Auffassung feststellen, wenn Braig schon 1889 schreibt: „Die Brauchbarkeit, sogar die höchste Idealität und Vollkommenheit eines Satzes mag wohl zeugen für dessen Wahrscheinlichkeit. Die an sich nothwendige Gewißheit ist durch die besagte Eigenschaft einer Formel nicht schon mit erhärtet“161. Nur bestätigt sich hier, dass die
modernistische Krise, wie noch festzustellen sein wird, die traditionelle Apologetik
zu einer verschärften Formulierung ihrer Position führte, auch bei Carl Braig.162
153
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160
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162
Braig 1907e, 552.
Ebd.; Braig greift die Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsbegriff Schells noch einmal auf in Braig 1907f, 632 Anm. 5.
Braig 1907h, 18.
Zu Karl Hennemann (1864-1951) vgl. Hausberger: Schell 4.
Vgl. Karl Hennemann: Vorwort zur zweiten Auflage, in: Herman Schell: Apologie des
Christentums, Bd. 2: Jahwe und Christus, Paderborn 21908, V-IX.
Vgl. ebd. Vff.; vgl. DH 3035.
Vgl. Brief Braigs an Sauer als den Herausgeber der Literarischen Rundschau vom 14.
Juni 1909 (UAF C 67, Nr. 1160). Braig fährt fort: „Streiten wollen wir nun nicht; aber
vielleicht wäre etw. richtig zu stellen“.
Vgl. Braig 1909d; vgl. DH 3008-3014.
Braig: Apologie XIV.
Vgl. Flury: Redlichkeit 117-131.
105
Motivation und Möglichkeit der Apologetik bestehen im rationalen Charakter des
Glaubens, der nicht im Sinne einer rationalistischen Auflösung des Glaubens verstanden werden will, sondern so, dass Glauben und Wissen in einer Weise aufeinander zugeordnet sind, dass höchste rationale Erkenntnis dem Glauben vorausgehen könne, ohne dass sich ein Widerspruch zwischen den beiden Erkenntnisformen ergebe. Braig wendet sich hier in einem ersten Schritt gegen diejenigen, die
überhaupt die Möglichkeit der Apologie bestreiten, die damit den entscheidenden
Stellenwert des intellektuellen Gehaltes des christlichen Glaubens bestreiten. Braig
erkennt zwar den Wert solcher demonstrationes ad homines an, billigt ihnen aber
nur einen nachgeordneten Rang in der apologetischen Glaubensbegründung zu.
1.3 Die Methode der Apologetik
Ist der rationale Charakter des Glaubens einmal festgestellt und die Notwendigkeit
seiner vernunftmäßigen Plausibilisierung eingesehen, stellt sich die Frage, wie nun
in der Apologie konkret vorzugehen ist, welches ihre methodischen Schritte sind.
Ein zeitloses Methodenmonopol, wie es die rationale Demonstrations-Apologetik
der Neuscholastik beanspruchen wollte,163 kann Braig nicht anerkennen. Zunächst
sei nämlich das Forum auszumachen, vor dem der Glaube vernunftmäßig erwiesen werden soll. Ist dieses Forum zunächst die eigene Vernunft gewesen, so tritt
doch schnell auch die kritische Zeitgenossenschaft auf den Plan, die Rechenschaft
über den Glauben fordere. Ohne Forum, ohne konkrete Infragestellung oder Gegnerschaft, gebe es auch keine Apologie.
Braig möchte das Vorgehen der Apologetik so verstanden wissen, dass sie den
entscheidenden Knotenpunkt ausfindig macht, von dem aus die Widersacher der
Wahrheit von dieser abzuirren beginnen. Es gelte, das proton pseudos auszumachen: „Habe ich das Principium der Irrung erkannt für einen Gegner, für eine Zeit,
dann obliegt mir bei der Vertheidigung der Wahrheit keine andere Aufgabe, als in
allen Bewegungen des Irrthums die fälschende Direction des Anfangstoßes nachzuweisen“164. Dadurch gewinnt die Apologie natürlich einen stark defensiven Zug,
den man dem ganzen Werk Braigs ansehen kann.
Das Vorgehen der Apologie könne also nicht auf einen ein für alle Mal feststehenden Kanon festgelegt werden, sondern sie sei durchaus von dem jeweiligen geschichtlichen Kontext mitbestimmt, von der jeweiligen Form der Bestreitung der
christlichen Wahrheiten, auch dadurch, dass sie sich der Ergebnisse der vergleichenden Religionswissenschaft bediene.165 Scharf wendet sich Braig allerdings
gegen eine Auffassung, die auch für die reine Vernunfteinsicht eine Geschichtlichkeit annimmt, gewissermaßen ein relativierendes Moment in das Wahrheitskriteri163
164
165
Vgl. Max Seckler: Art. Apologetik IV. Systematisch, in: LThK3 1, 839-842, hier 841; vgl.
z.B. Constantin Gutberlet: Lehrbuch der Apologetik, Bd. 1, Münster 1888, 2: „Die Apologetik als Verteidigungs-Wissenschaft [...] muß eine zusammenhängende, prinzipielle
und methodische Verteidigung des Glaubens in seiner Gesamtheit bieten, welche für
alle Zeiten Geltung hat“.
Braig: Apologie XXII.
Vgl. Braig 1887c, 232.
106
um der Vernunft einträgt. Nicht die Wahrheit sei es, die sich ändere, sondern die
Feststellung, die Erkenntnis der Wahrheit geschehe auf verschiedenen Wegen, je
nach dem zur Verfügung stehenden Material und der durch die Glaubensgegner
vorgegebenen Stoßrichtung.
Konkret heißt das aber, nach einem geeigneten Kriterium für die Feststellung dieser Wahrheit zu fragen. In Glaubensdingen gebe es ohne Zweifel eine Autorität,
der zu folgen sei; in der reinen Wissenschaft zähle nur die Vernunfteinsicht. Die
Apologetik, der es um die Vermittlung zu tun ist, müsse nach der Vereinbarkeit
dieser Gegensätzlichkeit fragen. Wie steht es mit wissenschaftlichen Sätzen die
unmittelbar mit Glaubenssätzen zusammentreffen? Zählt hier „der allgemeine
Consens, die beständige Ueberlieferung“166? Was gilt also im Konfliktfall, hat das
Dogma sich nach der wissenschaftlichen Einsicht zu richten, oder muss sich der
Wissenschaftler unter das Dogma beugen?167
Worin aber besteht überhaupt die Wahrheit, die es zu verteidigen gilt? Mit dem
Hinweis auf den Glauben, auf das depositum fidei sei es nicht getan. Zunächst
sollte doch die Frage behandelt werden, was genau zu der Wahrheit gehört, die es
gegenüber deren Widerstreitern in Schutz zu nehmen gelte. Braig führt als Beispiel
das Verhalten der Apologie der Bibel an. Aufgrund neuer Methoden, auch neuer
Erkenntnisse und Hypothesen, insbesondere was die Schöpfungsfrage angeht,
und wegen der erwachenden historisch-kritischen Methode scheine die Frage vordringlich, was man von dem in der Bibel inhaltlich wörtlich Gebotenen unbedingt im
Glauben festhalten müsse, und was in anderer denn wissenschaftlicher und historischer Weise zu verstehen sei. Das kirchliche Lehramt gebe hierzu nur bedingt
Hilfestellung, denn es gebe „Schriftsätze [...], die einen Gegenstand ausdrücklichen Glaubens bilden, ohne formell definirt zu sein“168.
In der theologischen Erkenntnislehre werden äußere Normen, nämlich dogmatische Definitionen, und innere Normen, wie die wissenschaftliche Kritik und Exegese, unterschieden, die jeweils zur Erkenntnis der göttlich geoffenbarten Wahrheit
beitragen. Nun beziehe sich die kirchliche Unfehlbarkeit nicht auf Punkte, die den
Bereich der Naturkunde betreffen, und die nach den Erkenntnissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts oftmals irrigen Anschauungen der Väter auf diesen Gebieten
können keine Verbindlichkeit haben. Braig legt größten Wert darauf, genau zu differenzieren zwischen unentschiedenen und wirklich nicht zu bestreitenden Glaubensaussagen. Hinsichtlich der Sechstageschöpfung gehe der consensus patrum
beispielsweise klar dahin, dass dieser Schöpfungsbericht gemäß seinem Wortlaut,
also geschichtlich zu verstehen sei.
So sei also zuerst zu fragen, was genau zu dem gehört, was in der Apologie zu
verteidigen ist. Es müsse klar getrennt werden zwischen dem, was unbedingt zum
unveräußerlichen Gut des Dogmas gehöre, was keinesfalls in Frage gestellt werden dürfe, und dem, was dem Feld der freien Forschung und der Hypothesenbildung ungefragt überlassen werden könne.169 Braig hat die Gewissheit, dass diese
166
167
168
169
Braig: Apologie XXIII.
Vgl. unten Abschnitt 2.4 Die Freiheit der Wissenschaft.
Braig: Apologie XXIV.
So wie hier in Bezug auf die Protologie bespricht Braig in seinem Vortrag „Von dem Untergang der Dinge“ (Braig: 1904b) die Vereinbarkeit wissenschaftlicher und theologi107
Fragen sich durch hinlängliche „Gewissenhaftigkeit und Wahrheitsliebe wohl entscheiden“ lassen.170 Dazu zähle das Bemühen, die Glaubenssätze, ihren inneren
Zusammenhang, ihre Beziehungen zu der profanen Wissenschaft zu durchleuchten. „Das wird nur der Fall sein, wenn wir uns aufs engste anschließen an die überlieferte Theologie in der alten Scholastik, wie die Encyklika Aeterni Patris dies vorgeschrieben. Dort haben wir die Beweise und die Principien zu suchen, welche
stark und ausgiebig genug sind, um alle neuen Schwierigkeiten zu überwinden“171.
Braig möchte mit seinem Bezug auf die Scholastik nicht einem Autoritätsbeweis
das Wort reden. Es geht ihm in Bezug auf die ihm vorschwebende Stellung der
Scholastik immer darum, weniger den materialen Aspekt als den formalen zu betonen, Theologie zu betreiben nach Art der scholastischen Denker172, und nicht von
Thomas vorgegebene Sätze zu wiederholen. Beispielsweise habe die Scholastik
„eine gründliche Auseinandersetzung mit dem jeweiligen ‘Zeitbewußtsein’ [...] am
wenigsten gescheut“173. Es geht ihm um die Prinzipien des scholastischen Denkens, nach denen auch in seiner Zeit noch gedacht werden könne. Die Empfehlung des Papstes für die scholastische Philosophie sei nicht im Sinne eines Versuchs zu deuten, den Inhalt der Sätze eines mittelalterlichen Theologen zu definieren, sondern es solle gegen den radikalen Rationalismus vorgegangen werden.
Trotzdem könne es Fragen geben, hinsichtlich derer es zu keiner letzten Sicherheit
kommt, in denen es trotz aller Bemühung nicht zu der Gewissheit komme, ob der
Gegenstand nun zum unveräußerlichen depositum fidei gehöre oder nicht. Hier unterscheidet Braig zwischen zwei Apologetenschulen, einer neueren, die alle nicht
mit letzter Sicherheit erkannten Glaubenswahrheiten der Freiheit neuartiger Deutungen überlassen möchte, und einer alten Schule, die auch das verteidigt sehen
wolle, „was am allgemeinsten Annahme gefunden hat unter den Vätern und den
frühen Exegeten“174. Neuartige Deutungen werden nur dann zugelassen, wenn es
unmöglich wird, die alten zu halten, ohne einen bewiesenen Satz zu verwerfen.
„Die letztere Methode scheint zuverlässiger, schon weil sie älter ist“175.
Braig, als Anhänger einer fortschrittlichen Apologetik, verwirft den vermeintlichen
Gegensatz der verschiedenen Exegeten- und Apologetenschulen. Die mehr oder
weniger freien und die an die Überlieferung gebundenen Apologetenschulen seien
und fühlten sich ja nicht in unterschiedlicher Weise, sondern gleichermaßen dem
kirchlichen Lehramt verpflichtet. Und für beide Richtungen gelte auch gleichermaßen: „Habe ich bezüglich eines Punktes, der zu den praeambula fidei zählt, nicht
bloß sein historisches, sondern sein dialektisches Moment zu prüfen, dann kann
ich mich nicht auf Auctoritätsbeweise verlassen“. Insofern sei die Entgegensetzung
170
171
172
173
174
175
scher Sätze hinsichtlich eschatologischer Aussagen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis,
dass ein voller Einklang „zwischen dem alten Glauben und der neuesten Wissenschaft“
gegeben ist: „nach beiden ist der Untergang der Dinge gewiß; nicht aber wird er die
Seinsvernichtung sein“ (ebd. 551).
Braig: Apologie XXV.
Ebd. XXVf.
„Mein Rath wäre: Studiren wir nicht blos die Philosophie von St. Thomas, studiren wir
auch Philosophie wie St. Thomas“ (Braig 1899a, 95).
Braig 1904c, 143.
Braig: Apologie XXVII.
Ebd.
108
der beiden Apologetenschulen nicht sachgemäß. Diese Argumentation verstärke
sich dadurch, dass die zeitgenössische Apologetik ja insbesondere von philosophischen Infragestellungen herausgefordert sei. „In philosophischen Dingen gibt es so
wenig einen Auctoritätsbeweis als in mathematischen“176.
Bei der Unterscheidung von historischer und spekulativer Form der Wahrheit löse
sich also der genannte Gegensatz auf. Die Dreiteilung der Sätze in „gewiss –
wahrscheinlich – frei“ (Gewissheit – Probabilität – Freiheit) sei ebenfalls undurchführbar, weil die wahrscheinlichen Urteile ja frei sein müssen, um als solche, nämlich wahrscheinliche, erkannt werden zu können. Im Interesse des (nur) Wahrscheinlichen müsse es doch liegen, dass es als gewisse Wahrheit erkannt werden
könne. Und dies könne es nur, wenn es überprüft, der wissenschaftlichen Untersuchung anheimgegeben wird. Braig tendiert zur „neueren Richtung“, für die er das
alte Motto ausgibt: „In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas!“177.
Worauf es Braig in seiner Charakterisierung der apologetischen Methode vor allem
ankommt, ist die Bestimmung des Formalobjekts dieser Wissenschaft. Allein die
Vernunft könne dies sein, weil andernfalls, wollte der Glaube sich durch sich selbst
begründen, eine nicht hintergehbare Zirkelbegründung gegeben wäre. Die an die
Wurzel der jeweiligen gegnerischen Angriffe gehende Absicht Braigs wird ebenso
deutlich wie die Unbestechlichkeit der wissenschaftlichen Begründung des Glaubens, die sie nach Ansicht Braigs haben soll. Er erkennt das Konfliktpotenzial, das
sich ergibt, wenn man nicht genügend zwischen unveräußerlichem Glaubensgut
und Theologenmeinung unterscheidet und so in unwürdige Rückzugsgefechte gerät, in eine Lage, die meint, auch das letzte Jota der schriftlichen Glaubenszeugnisse als unfehlbar offenbarte Wahrheit verteidigen zu müssen.
1.4 Die Gestalt der aktuellen Apologetik
Was aber ist nun konkret die der Gegenwart eigentümliche Aufgabe der Apologetik? Diese Frage gelte es zu beantworten, ehe man sich über verschiedene Schulformen dieser Verteidigungswissenschaft auseinandersetzt.
Braig sieht die Gegnerschaft gegen den christlichen Glauben nicht so sehr auf empirischem Gebiet, sondern eher grundlegender als einen Streit zwischen philosophischen Weltanschauungen. Er macht einen diffusen antitheistischen Untergrund
in der Geistesauffassung der Gesellschaft seiner Zeit aus, zusammengetragen aus
den Erkenntnissen der Naturwissenschaften, wie der Kosmologie, der Geologie,
der Zoologie und Anthropologie. „Man hat Gott abgesetzt im Namen der Leidenschaft und Gewalt, der Sünde und Thorheit; im Namen der Wissenschaft ward
Geistiges und Göttliches nie so allgemein und so systematisch geläugnet wie heute. Fast jede der ‘neueren Disciplinen’ hat die eine oder andere ‘Entdeckung’ aufzuweisen, daß für ihre Constructionen des wissenschaftlichen Gedankens die
‘Hypothese Gott’ ebenso entbehrlich geworden, wie für die Reconstruction des
176
177
Ebd. XXIX.
Ebd. XXXI; vgl. zu diesem in der christlichen Irenik vielverwendeten Motto Peter Walter:
Art. In necessariis unitas, in: LThK3 11, 137.
109
Weltsystems durch Laplace“178. Ausdrücklich gemacht entstehe daraus eine „natürliche“ Religion der Zukunft, ahistorisch, objektiv, panmonotheistisch, unpersönlich,
in der sich alle vorangegangenen Elemente dialektisch aufheben. Auch der von
ihm oft vor allem für seine Betonung des teleologischen Naturprinzips gelobte
Hermann Lotze sei dem allgemeinen Pantheismus verfallen, wenn er als Bedingung der Möglichkeit des Wirkens, des Interagierens zwischen zwei Substanzen,
das Unendliche als die Gottheit erschließe.179 Der Monismus erweise sich als fern
aller Logik,180 logisch und ontologisch als Unmöglichkeit, wie später besonders gegen die Anschuldigungen Michael Glossners betont wird.181
Demgegenüber sieht Braig besorgt auf die christliche Theologie, die sich in ein Arbeitshaus verzogen habe, „allwo man orientalische Wurzeln raspelt, biblische Varianten liest, diplomatische Urkunden schabt, kritische Noten sortirt, Regesten und
Register dreht, historische Kommata und Semikola versetzt, gedroschenes Stroh
drischt, antiquarische Meinungshaufen aufschichtet, aus den Systemen Häckerling
schneidet – und einander zu Nutz und Frommen die Rauchkerzen der Recensionen aufsteckt und auslöscht“182.
Die alexandrinische Verworrenheit, eine Materialschlacht mit einer Unmenge von
zusammengetragenen empirischen Daten, ohne aus diesem Dickicht an einem roten Faden entlanggehen zu können – dies ist es, was Braig an zeitgenössischen
Apologeten bemängelt. Auch für die Apologie gelte, dass „eine bloße Materialiensammlung Stoff ist ohne Form, wenn ihr die philosophische Verwerthung fremd
bleibt“183.
Dies betont Braig besonders in seiner Polemik gegen Paul Schanz, den Nachfolger
Kuhns auf dem Lehrstuhl für Dogmatik und Apologetik in Tübingen. Braig berichtet
von seiner Unterredung mit Franz Seraph Hettinger in Würzburg184, bei der es vorwiegend um „zwei Punkte der neuesten (Tübinger) Richtung“ gegangen sei: „jene
Neigung, die philosophische Behandlung der Denkaufgaben zu Gunsten einer naturwissenschaftlichen Empirie zurücktreten zu lassen; sodann die Bibelkritik. In
beiderlei Hinsicht, ward ich belehrt, macht sich ein gewisser ‘hungeriger Realismus’
geltend. Man übersieht aber, daß der bloße Empirismus den pädagogischen Aufgaben einer spekulativen Theologie nicht gewachsen ist“185.
Zum einen hält es Braig für sinnvoller, das Feld der Naturwissenschaft den Spezialisten auf diesem Gebiet zu überlassen, die zuverlässigere Forschungen betreiben
können als Theologen. Zum anderen ist er skeptisch gegenüber einem Vermittlungsversuch zwischen Theologie und Naturwissenschaft, der dahin gehe, in den
Lücken, die die empirischen Wissenschaften lassen, den Raum zu erblicken, in
dem die Glaubenswissenschaft Platz genug zu ihrer Entfaltung finde. Diese falsche
178
179
180
181
182
183
184
185
Braig 1885c, 33; zu Pierre Simon de Laplace (1749-1827) vgl. LThK3 6, 651.
Vgl. Braig 1885a, 34.
Vgl. Braig 1897e, 146.
Vgl. Braig 1899a, 93.
Braig: Apologie XXIV.
Braig 1891d, 176.
So vermutet Stegmüller: Braig 124; vgl oben Erster Hauptteil: Das Leben von Carl
Braig, Abschnitt 3 Als Repetent in Tübingen.
Braig: Gottesbeweis 2.
110
Bescheidenheit sei gänzlich ungeeignet, über die Darlegung der AuchBerechtigung des Christentums hinaus dessen Alleinberechtigung festzustellen.186
Auch die Bibelkritik geriere sich oft in der Weise, dass sie zu viel Material zusammentrage, ohne einen Zusammenhang zu bedenken, wodurch sich oft der Eindruck einstelle, als habe man es nicht mit Wahrheiten zu tun, sondern mit Annahmen. Wäre das Christentum nur eine wissenschaftliche Hypothese, würde man ihm
nur ganz geringe Wahrscheinlichkeit zubilligen können, wegen seines übernatürlichen Charakters. Deswegen müsse mit Hilfe der überempirischen Wissenschaft,
der Philosophie, die Ganzheit und Einzigkeit des christlichen Gedankens, seine
Wahrheit dargetan werden.187
In seiner Polemik gegen Paul Schanz, die wohl auch von persönlichen Ressentiments getragen war, beleuchtet Braig eine Form der Apologie, wie sie nicht geführt
werden sollte.188 Braig behandelt den ersten Teil der dreibändigen „Apologie des
Christenthums“189, der 1887 in erster Auflage erschienen ist. Diese Apologie sollte
zu Lebzeiten Schanz’ drei Auflagen und eine englische Übersetzung erfahren, und
Heinrich Fries beurteilt Schanz trotz aller Zeitbedingtheit seiner materialen apologetischen Bemühungen als einen der bedeutendsten Apologeten des modernen
Katholizismus, der in seiner „Apologie“ namentlich darum bemüht gewesen sei,
Wissenschaft und Glauben zu vermitteln, der aber auch in seiner Harmonisierungssucht für unentschieden und standpunktlos beurteilt werden konnte.190
Braig wirft Schanz „grobe Verstöße“ vor, „welche die modern-exakte Methode nach
der philosophischen Richtung hin begangen hat [...], logische Schnitzer, stilistische
Deklamationen, naive Häufung von Citaten“191. Vor allem bemängelt Braig den
ausgiebigen Gebrauch des Autoritätsbeweises, der in historisch-kritischen Fragen
durchaus angebracht sei, der aber auf spekulativem Gebiet überhaupt keinen Wert
habe.192
Das spekulative Moment, wie es von Braig immer wieder herausgehoben wird, sollte von der Apologetik also mit einem besonderen Augenmerk beachtet werden.
Dreifach sei die Aufgabe des zeitgenössischen Apologeten bestimmt, der gegen
den Irrglauben des Monismus die Wahrheit des Theismus193 zu stellen habe.
Zum einen müsse er die „Theologie der Vorzeit“ studieren, um die dogmatischen
Verkettungen der christlichen Weltsicht und deren dialektischen und systematischen Zusammenhang mit den Prinzipien der unmittelbaren Erfahrungen und des
natürlichen Erkennens zu durchschauen. Zu diesem Punkt werde Christen oft der
Vorwurf gemacht, dass sie mit dieser Methode der Alten eine unwissenschaftliche
Herangehensweise an das Glaubensgut übernähmen. Dies ist nach Meinung
Braigs aber nicht richtig, vorausgesetzt man wiederhole nicht einfach inhaltlich das,
186
187
188
189
190
191
192
193
Vgl. ebd. 3f.
Vgl. ebd. 4.
Vgl. ebd. passim, v.a. 80-155.
Paul Schanz: Apologie des Christenthums, 3 Bde., Freiburg 1887f. u.ö.
Vgl. Heinrich Fries: Paul von Schanz (1841-1905), in: KThD 3, 190-214.
Braig: Gottesbeweis 84.
Vgl. ebd. 91-96.
Braig betont, „dass den Theismus vom monistischen Atheismus erst ein vollgiltiger
Schöpfungsbegriff grundsätzlich scheidet“ (Braig 1890e, 292 Anm.).
111
was Thomas oder Augustinus schon gesagt haben, sondern bedenke, wie „ein Augustinus, ein Thomas, selbständig und allen Umständen Rechnung tragend, diese
und jene moderne Meinung anfassen“ würden.194
Das zweite ist, die Meinungen der Gegner gründlich zu studieren „in ihren ersten
Voraussetzungen und in ihren letzten speculativen Consequenzen, um nicht die
Auch-Berechtigung des christlichen Theismus, sondern die Allein-Berechtigung
unserer Wahrheit verfechten zu können“195. Ein wirklich überzeugender Beweis gelinge nur, wenn gegen alle möglichen Einwände eine Widerlegung formuliert werden kann. Dazu seien aber zunächst alle wirklichen „Instanzen, welche vom philosophischen Standpunkt aus gegen das Christenthum vorgebracht sind und geltend
gemacht werden können, durchzugehen und zurückzuweisen“196. Man kann es als
ein Charakteristikum des braigschen Denkens ansehen, dass in seinen Schriften
die Darstellung der gegnerischen Meinung zunächst breiten Raum einnimmt und
gründlich erfasst werden will. Es gehe ihm darum, „Irregeleitete nicht zu besiegen,
sondern zu gewinnen“197, wobei deren irrige Auffassung ernstgenommen werden
soll. Es gehe um die Auseinandersetzung mit der lebendigen Gegenwart, und dazu
ist „die Basis einer gemeinsamen Verständigung, auch mit den am weitesten nach
links Abgekommenen unerläßlich“198, auch im Sinne des Satzes: „Nicht alles außer
der Kirche Gedachte und Gewollte ist ipso facto unwahr und unsittlich“199. Der
Hauptgewinn des Studiums der modernen Philosophie sei der apologetische. Hier
zeige sich, „was die Weltweisheit ausserhalb des Christenthums geleistet und gefehlt, und inwiefern das Christenthum in der Weltweisheit auch das natürliche Denken vorwärts bewegt hat. Nur jene Apologie ist für eine hinlängliche zu halten, welche den Begriff des Uebernatürlichen als Forderung der Vernunft selber nachweist“200. Eine brauchbare Widerlegung der antichristlichen Irrtümer sei nur zu
leisten, wenn man wie Irenäus von Lyon201 vorgehe, der „Zug für Zug den Fuchskopf des Irrthums studirte und Schritt für Schritt dessen Schleichwegen nachspürte“202.
[Um nun das Vorgehen dieser zweiten Aufgabe deutlich zu machen, untersucht
Braig paradigmatisch das Denken Schleiermachers203. Schleiermacher werde im
Allgemeinen und von vielen sehr gelobt, weil sein Versöhnungsversuch von Glau-
194
195
196
197
198
199
200
201
202
203
Braig: Apologie XXXVII.
Ebd. XXXV; vgl. Braig 1884a, 161: „Nicht also die Berechtigung, sondern die Alleinberechtigung der christlich-theistischen Weltanschauung ist zu beweisen“ (unter Berufung
auf DH 3026).
Braig 1884a, 161.
Braig 1879b, 685.
Braig 1881c, 699.
Ebd.
Braig 1884a, 160.
Zu Irenäus (2. Jh.) vgl. LThK3 5, 583ff.
Ebd. 162; „[C]onati sumus nos universum male compositae vulpiculae huius corpusculum in medium producere et aperte facere manifestum: iam enim non multis opus erit
sermonibus ad evertendum doctrinam ipsorum manifestam omnibus factam“ (Irenaeus:
Adversus haereses I 31, 4 [FC 8/1 354]).
Zu Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) vgl. LThK3 9, 158f.
112
ben und Wissenschaft für überzeugend und zeitgemäß angesehen werde.204 Was
ist die Religion für Schleiermacher? Er wolle ihren psychologischen Grund vorweisen und finde das Wesen der Religion im „Gefühl des über alle Wortschranken ergossenen Unendlichen“205.
Braig vergleicht nun den alten, christlich-katholischen Begriff der Religion mit dem
neuen des „Modernismus“206, wie er in abschätziger Weise die von Kant beeinflussten Versuche benennt, kritisches Denken und Religion zu vereinbaren: „Das
Christentum stellt dem Glaubensbedürfniß des Menschengeistes und dem Erlösungsbedürfnisse des Menschenherzens ein System rationaler Heilswahrheiten
und ein System geschichtlicher Heilsthatsachen in einer sichtbaren Heilsordnung
gegenüber. Beide Reihen laufen nicht unvermittelt nebeneinander. Das Bindeglied
ist das übervernünftige und übernatürliche Offenbarungsmysterium“207.
Für die moderne Anschauung habe dagegen alles Äußere und Geschichtliche „nur
Sinn und Werth als ein nach außen verlegtes Symbol eines psychologischen Innenzustandes oder Innenvorganges“208. Alles Weitere sei Mythologie. Religion erweise sich als „heilige Ehrfurcht“, „Natursinn“, „Sinn für Gesetz und Erhabenheit“,
Religion sei „Zuversicht und Vertrauen“, „Erlösung und Versöhnung“, Religion habe
keine Dogmen, alle traditionellen, in der Religion verwurzelten Begriffe bekämen
eine neue Bedeutung, Offenbarung, Gnade, Glauben, Gott, Christus, Unsterblichkeit.]
Braig kritisiert die Schulapologetik, die den popularisierten Ideen der modernen
Religionsphilosophie nicht beizukommen verstehe. Diese Ideen seien nicht nur
durch die klassischen deutschen Dichter Schiller und Goethe in das allgemeine
Bewusstsein gedrungen, sondern auch durch Philosophen wie Lotze, Strauß u.a.
Daher dürfe es sich eine Apologie nicht zu einfach machen. „Denn die nicht getroffenen Ideen der Verächter [der Religion] sickern unfehlbar in die Massen“209. Braig
konstatiert: „[M]ehr als zwei Drittel des deutschen Volksthumes [...] sind [...] von
den modernen Vorstellungen durchtränkt“210.
Da tue es Not, die grundlegenden Darlegungen der demonstratio religiosa wieder
in den Vordergrund zu stellen – unter Zurücktreten der Begründung der Offenbarungsreligion (der demonstratio christiana) und Übertragung der Aufgabe der demonstratio catholica an die Dogmatik.211 Von der Wirklichkeit der Existenz Gottes
sei man noch zu Zeiten des Deismus so überzeugt gewesen, dass man von dieser
Überzeugung als Allgemeingut sprechen konnte.212 So erkläre sich die Wichtigkeit
der Spekulation, die Bedeutung des philosophischen Momentes an der Verteidi-
204
205
206
207
208
209
210
211
212
Zur Analyse der Theologie Schleiermachers bei Braig siehe Abschnitt 2.3 Carl Braigs
Kampf gegen den „Modernismus“.
Braig: Apologie XLVIII.
Zu Wesen und Begriff des „Modernismus“: siehe unten Abschnitt 2.2 Die Diskussion um
den Modernismus-Begriff.
Braig: Apologie L.
Ebd.
Ebd. LXVII.
Ebd.
Vgl. Braig 1889b, 108f.
Vgl. Braig: Apologie LXIII.
113
gungswissenschaft.213 Grundlegend gebe es nur eine Alternative: wahr oder falsch,
Monismus oder Theismus. „Jede a-theistische Religionsvorstellung hat einen monistischen Grundzug [...]. Welches ist des ‘Thoren’ Weisheit? Die Rede, welche
Schöpfer und Geschöpf verwechselt, folglich Ein Seiendes postulirt“214. Bereits in
seinem breit angelegten apologetischen Versuch215 gegen Eduard von Hartmann
hatte Braig die „Zukunftsreligion“ als vor allem von den Gedanken des Pantheismus und Monismus bestimmt angesehen.216
Eine auf solche Art die Gegner wahr- und ernstnehmende Apologie, eine solche
Verteidigung des christlichen Glaubens vor dem Forum der wissenschaftlichen
Vernunft müsste aber zunächst klarmachen, und das ist die – schon oben anlässlich der Untersuchung der Methode erwähnte – dritte Aufgabe der heutigen Apologie, was als unbedingt wahr, was als unbedingt falsch zu gelten habe, und zwar
auf beiden Seiten. Das jeweils dazwischen Liegende wäre der Forschung frei gegeben. Das sei anzuwenden zunächst auf die geschichtlichen Fragen, zum Zweiten auf die naturwissenschaftlichen Fragen, und drittens auf die philosophischen
Fragen, wobei sich naturgemäß letztere schon in den beiden ersten Fragenkomplexen zu Wort melden werden. Auch von daher macht sich die Betonung des dialektischen Moments in der Apologie Braigs verständlich.
Ist die Aufgabe der Apologetik darin zu sehen, „eine zusammenhängende, prinzipielle und methodische Verteidigung des Glaubens in seiner Gesamtheit zu bieten,
welche für alle Zeiten Geltung hat“217, wie Constantin Gutberlet in seiner Apologetik
formuliert, so nimmt sich das von Braig in Angriff genommene Aufgabenfeld bescheidener aus. Für Braig ist die zu erfüllende Aufgabe viel zu sehr von den konkreten Bestreitungen der Zeitgenossen abhängig, als dass man sagen könnte, er
strebe einen überzeitlichen Geltungsanspruch an. Gleichwohl hält Braig natürlich in
seiner Betonung des spekulativen Moments der Verteidigungswissenschaft an einer ewigen Gültigkeit des so Herausgearbeiteten fest.
1) Wenn Braig das Studium der Alten als die erste Aufgabe der Apologetik auf
dem Weg ihrer Überzeugungsarbeit bestimmt, dann sieht er darin den ersten
Sinn auch der lehramtlichen Mahnung, sich dem Denken des Aquinaten anzunähern, nämlich sich ebenso vorurteilslos auf die Zeitgenossenschaft einzulassen, wie es Thomas einst mit der wieder neu entdeckten aristotelischen
Wissenschaft getan habe.
2) Das Studium der Gegner, das Braig als zweites Moment nennt, hat natürlich
deren Widerlegung zum Hauptzweck. Dennoch wird der Anspruch erhoben,
die Gegner auf der Höhe ihrer selbst wahrnehmen und würdigen zu wollen.
Der Nachweis des ihrer Anschauung zugrundeliegenden Irrtums räumt unnötige Glaubensbarrieren aus dem Weg, geschieht aber naturgemäß aus einer
rein defensiven Stellung heraus.
3) Gerade der Fall Galilei zeigt, dass es oft nicht einfach ist, überhaupt den Inhalt des in der apologetischen Wissenschaft zu Verteidigenden zu bestim213
214
215
216
217
Vgl. Braig 1889b, 109.
Braig 1887b, 47.
Braig: Zukunftsreligion.
Vgl. Braig: Zukunftsreligion passim, bes. 219-223.
Constantin Gutberlet: Lehrbuch der Apolgetik, Bd. 1, Münster 1888, 2.
114
men. Hier müsse sauber geschieden und unterschieden werden, um sich
nicht auf peinliche und Kräfte verzehrende Rückzugsgefechte einlassen zu
müssen.
1.5 Das Ziel der Apologetik
Aus einer gesunden philosophischen Einstellung heraus ergeben sich folgende
Gründe des religiösen Glaubens: „[...] historisch die allgemeine Ueberlieferung,
praktisch das allgemeine Bedürfniß, philosophisch der Causalitätsdrang des Menschengeistes, in lückenlos vermittelten Schlüssen, die sich stützen auf die Gesammtheit der Erfahrung, hinter die nothwendigen Voraussetzungen der Erfahrung
und ihres Inhaltes zu kommen“218. Diese Gründe ermöglichen eine überzeugende
rationale Begründung des Glaubens, und sie dienen der Abwehr von Irrlehren, wie
sie Braig in der Fassung der „modernen Religion“ gegeben sieht.
Braig fasst im Gegensatz dazu die Anschauung der „modernen Religion“ so auf,
dass für sie der psychologische Grund für die Religion „der im Gefühl gegenwärtige Glaube an das Unendliche“219 sei. Beispielhaft dreht Braig den Spieß um, wenn
er die Argumente dieses Gefühlsmonismus gerade gegen diesen selbst und zugunsten des orthodoxen Glaubens verwendet. So könne die moderne Religion widerlegt werden, wenn man sich über die Bedeutung des Gefühlsbegriffs im Klaren
sei. „Die Gefühle sind Leitungsmittel, durch welche das denkende Erkennen auf
eine specifische Bestimmtheit seines Trägers zurückverwiesen, durch welche dann
andererseits die Anschauung des Geistes auf eine bestimmte Beschaffenheit an
äußeren Gegenständen hingelenkt wird“220. Das Schönheitsgefühl wird als Beispiel
angeführt. Worin liegt der Grund, dass wir das Schöne als Soseinsollendes empfinden? Die monistische Gegenwartsanschauung, die den genannten modernen
religiösen Strömungen zu Grunde liegt, sage, dass die eine Idee des Schönen innerhalb und außerhalb der Dinge gleichermaßen vorhanden sei. Durch das Gefühl
gelange man zur Überzeugung von der Substanzeinheit von Individuum und Universum. Diese Auffassung aber sei das gesuchte proton pseudos. Das Gefühl
könne nicht diese Einheit verbürgen, sondern nur die Selbigkeit des Verhältnisses
wahrnehmen: nämlich die Entsprechung zwischen der dem Geist eingeschriebenen Idee des Schönen und der wahrgenommenen Wirklichkeit. Entgegen den Vorstellungen der „Modernisten“ sei das Gefühl vielmehr ein Indiz für die Differenz von
Subjekt und Objekt. Hier nimmt Braig einen Gedanken Hermann Lotzes auf.221
Vielmehr werde „die wesentliche Selbständigkeit der Seele, die sich den unabhän-
218
219
220
221
Braig: Apologie LXXV.
Ebd.
Ebd. LXXXVII.
Vgl. Braig 1885d, 173: „[E]s kann nicht geläugnet werden, daß gerade der Begriff des
Schönen, wie kein anderer, zu seiner eigenen Verständlichkeit die Hinterlage des absoluten und zugleich freien Schöpfers [..] fordert, daß kaum noch eine andere Idee so
lebhaft gegen jede Form des Immanenzgedankens protestirt, wie die Idee der Schönheit“.
115
gig von ihr gesetzten Dingen unterscheidend gegenüberstellt“222, erkannt, „das
Plus auf seiten des empfindenden Subjectes, die Werthschätzung der Verhältnisse, beweist die Wesensverschiedenheit zwischen Subject und Object“223. Der
Mensch erfahre sich im Schönheitsgefühl nicht als normgebend, sondern vielmehr
als normiert. Hier werde deutlich, dass die philosophische Erkenntnistheorie entscheidend ist für die Beurteilung der Erkenntnisfähigkeit des Menschen. So seien
die Gefühle gleichsam der Protest gegen jede Art von Monismus und Materialismus224.
„Die Schönheit als Gestalt der Seinsordnung ist der Inbegriff der ontologischen und
objectiven Momente, sofern sie den Zusammenhang der Seienden als mangellose
Zusammenstimmung aller mit allen schaubar und genießbar machen für alle“225.
So führt Braig in seiner Einleitung zur von ihm herausgebrachten Apologie an einem Beispiel aus, wie er sich die Ausführung apologetischer Argumentationen vorstellt. Mit dem Hinweis auf die „modernistische“ Herkunft des vorgestellten irrigen
Gefühlsmonismus sind wir nicht weit entfernt von der Haltung Braigs, die er auch
20 Jahre nach Verfassung dieser Einleitung gegenüber dem nunmehr auch von
höchster Stelle als solchen bezeichneten „Modernismus“ einnimmt.
1.6 Zusammenfassung: Die Konzeption der braigschen Apologetik
Ausgehend von einem durch das Erste Vatikanum vorgegebenen bestimmten Zuordnungsverhältnis von Glauben und Vernunft und einer darauf fußenden Bestimmung der Relation zwischen Theologie und Philosophie siedelt Braig die Apologetik als Verbindungsglied zwischen den Reichen des Glaubens und des Wissens
an. Suche die Vernunft des einzelnen Gläubigen zunächst den Glauben verstehend zu ergründen, um die Einheit der Momente von Religion und Wissenschaft im
eigenen Leben zu garantieren, so zeige sie in der Apologie, dass die einer verbreiteten Geistesauffassung der Gesellschaft zugrundeliegende antitheistische Weltanschauung widerlegt werden könne, ja, dass umgekehrt der theistische Gedanke
die einzig mögliche und die notwendige Konsequenz einer vorurteilslosen Weltbetrachtung sein müsse. Diese auf den Traktat der demonstratio religiosa konzentrierte Apologetik nimmt sich die Theologie der Vorzeit formal, das heißt in ihren
philosophischen Prinzipien, zum Vorbild, um von dort aus in der gründlich zu studierenden Lehre der Gegner das entscheidende proton pseudos ausfindig zu machen. Geht man noch weiter und fragt mehr nach materialen Gesichtspunkten, die
die Apologie gegenüber der modernen Wissenschaft zu berücksichtigen habe, so
zeigt sich die Notwendigkeit, zu unterscheiden zwischen unveräußerlichen Glau-
222
223
224
225
Braig: Apologie LXXXI.
Ebd. LXXXII.
Vgl. Braig 1892b, 171: „Die obersten sittlich-ästhetischen Werthkategorien [...], diese
psychologischen Thatsachen sind so wenig Atome oder Atomverknüpfungen oder Atomschwingungen, als das mechanische Atom sein eigener logischer Begriff ist als
Begriffsgebilde“.
Braig: Ontologie 154.
116
benswahrheiten auf der einen Seite und diskutierbaren Schulmeinungen auf der
anderen Seite.
Ist dies der abstrakte Rahmen einer von Braig konzipierten Apologetik, soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden, wie sich dieses Gerüst füllt in einem konkreten
Konflikt, wie er in der Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ gegeben ist.
117
2
Der Kampf gegen den „Modernismus“
2.1 Einleitung
„Als im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mehrfache Stürme auf wissenschaftlichem Gebiete gegen die Kirche sich erhoben, und der sogen. Modernismus
die übernatürliche Grundlage des Christentums zu zerstören suchte und deshalb
von der Kirche verurteilt wurde, da trat Professor Braig mit dem Rüstzeug überlegenen Wissens jenen Strömungen entgegen und verteidigte in mehreren Schriften
und öffentlichen Vorträgen wirkungsvoll das hohe Gut des Glaubens an Jesus
Christus, den ewigen Gottessohn“226.
Das starke Engagement, das Braig im Kampf gegen den Modernismus aufgebracht hatte, war es vor allem, was nach seinem Tod in Erinnerung geblieben ist,
so legt es zumindest die zitierte Stelle aus dem Necrologium Friburgense nahe. Es
fällt auch die Betonung der Christologie auf, gegen deren Verfälschung sich Braigs
Wirken in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor allem gewandt
hat, was nicht unbedingt von seinem philosophischen und auf die demonstratio religiosa konzentrierten Ansatz her zu erwarten war. Auch seinen unmittelbaren Zeitgenossen erschien der Freiburger Theologe in den ersten beiden Jahrzehnten des
neuen Jahrhunderts wohl vor allem als der, welcher sich durch sein Apostolat der
Dialektik dazu berufen sah, im gesprochenen und geschriebenen Wort gegen die
„Modernisten“ anzugehen.
Apologie wird nicht in einem geschichtslosen Raum betrieben, sondern die Verteidigung des Glaubens muss in einer bestimmten Situation geschehen, in der gegen
bestimmte Angriffe und Infragestellungen vorzugehen ist. Braig selbst hat immer
wieder auf die Bedeutung der aktuellen Widersprüche hingewiesen, die eine Verteidigung des Christentums bestimmen. Wenn im Folgenden die zunächst eher
wissenschaftstheoretische Konzeption der Apologetik durch Braig an der konkreten
Tätigkeit des Freiburger Theologen gemessen werden soll, dann kann einer solchen Untersuchung der Ausdruck „Modernismus“ als Suchbegriff dienen. Die Feinde des Glaubens, gegen die sich das apologetische Wirken Braigs wendet, können
von ihm stets mit dem Namen „Modernisten“ bezeichnet werden. Damit ist nicht allein der „Modernismus“ kurz nach der Jahrhundertwende gemeint, dessen Charakterisierung im Dekret „Lamentabili“ und in der Enzyklika „Pascendi“ aus dem Jahre
1907 durch das kirchliche Lehramt vorgenommen wurde.227
Wurde Braig von seinen Zeitgenossen also als ein dezidierter Anti-Modernist
wahrgenommen, so war die Beurteilung einer solchen Haltung natürlich je nach
kirchenpolitischem Standpunkt verschieden. Begrüßten die einen die Bemühungen
Braigs, lehnten die anderen sie ab, ja konnten sie sogar fast als Verrat kennzeichnen. Es wurde schon hingewiesen auf die Äußerungen in der Zeitschrift „Das
226
227
Mayer: Necrologium 28.
Zum aktuellen Stand der Modernismusforschung vgl. Claus Arnold: Neuere Forschungen zur Modernismuskrise, in: Theologische Revue 99 (2003) 91-104.
118
Zwanzigste Jahrhundert“, in der Braig spätestens ab 1905 als eine ehemals Franz
Xaver Kraus nahestehende Person gekennzeichnet werden konnte, die aber die
Ideen Kraus’, der später von vielen Modernisten als ihr Stammvater vereinnahmt
wurde,228 verraten habe. Diese Einschätzung konnte und kann sich bis in unsere
heutigen Tage halten.229
War Braig ein Opportunist? Warum sonst konnte der Eindruck entstehen, dass
Braig von seinen anfänglichen in der Nähe des Modernismus stehenden Auffassungen abrückte, sobald das innerkirchliche Klima sich so verschlechtert hatte,
dass abweichende Meinungen nicht mehr geduldet wurden? Vier Gründe lassen
sich aufführen, die eine zumindest scheinbare Nähe Braigs zu reformfreudigen
Kräften in der Kirche nahelegen konnten und immer noch können.
Zunächst lässt sich hier einfach auf das Faktum der Herkunft Braigs aus der traditionsreichen und mit Innovation und der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit
modernem Denken verbundenen Tübinger Schule verweisen, das ihn gleich in die
Nähe der modernistischen Reformer bringt.230 Hier ist noch einmal zu erinnern an
die Schwierigkeiten, die Braig anlässlich seiner gescheiterten Berufung auf die
Dogmatik-Professur in Münster hatte, wo der ansässige Bischof Hermann Dingelstad der Kandidatur Braigs vor allem wegen seines Misstrauens gegen dessen
Herkunft aus der Tübinger Schule ablehnend gegenüber stand. In dieselbe Richtung deutet die Auseinandersetzung Braigs mit Michael Glossner, deren inhaltliche
Seite vor allem im dritten Teil dieser Arbeit ausführlich diskutiert werden wird. Braig
zählte für Glossner mit Paul Schanz und Herman Schell zu den Epigonen der Tübinger Schule,231 die es zu bekämpfen galt. Auch aus der Häufigkeit, in der der
Name Braigs in seinen Briefen an Ernst Commer fällt, wird deutlich, dass für den
strengen Thomisten die gegenüber der scholastischen Tradition kritisch eingestellte Tübinger Richtung, auch in der Form, wie Braig sie vertrat, eine Gefahr darstellte.232
Mit diesem hängt der zweite zu nennende Punkt aufs Engste zusammen, nämlich
die kritische Einstellung Braigs der Neuscholastik gegenüber. Auch hier soll auf
den dritten Teil der Arbeit verwiesen werden. Eine Distanz Braigs zur Neuscholastik lässt sich besonders deutlich in seinen ersten Veröffentlichungen nachweisen,
wenn Braig etwa in seiner Untersuchung zur natürlichen Gotteserkenntnis bei
228
229
230
231
232
Vgl. Weiß: Modernismus 122-133.
Vgl. etwa ebd. 129, wo Braig und Paul Wilhelm Keppler als geistesverwandte Kollegen
von F.X. Kraus bezeichnet werden, „die jedoch beide nach seinem Tod von seinen Idealen abrückten und zu Gegnern eines modernen Katholizismus wurden“.
Vgl. dazu in der zeitgenössischen Diskussion etwa Edmond Vermeil: Jean-Adam Möhler et l’école de Tubingue (1815-1840). Etude sur la théologie romantique en
Wurttemberg et les origines germaniques du modernisme, Paris 1913; dazu Josef
Rupert Geiselmann: Die katholische Tübinger Schule. Ihre theologische Eigenart, Freiburg u.a. 1964, 13ff.
Vgl. Michael Glossner: Die Tübinger katholisch-theologische Schule vom spekulativen
Standpunkt kritisch beleuchtet, I. Drey, der Apologet; II. Kuhn, der Dogmatiker; III. Linsenmann, der Moralist; IV. Die Epigonen (Dr. Schanz, Dr. Braig, Dr. Schell), in: Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie 15 (1901) 166-194; 16 (1902) 1-50;
309-329; 17 (1903) 2-42.
Vgl. Buschkühl: Glossner (Reg.).
119
Thomas von Aquin sehr deutlich macht, inwiefern die scholastischen Voraussetzungen „in nicht unwesentlichen Stücken als unvollständig“233 gekennzeichnet
werden müssen. Auch später wurde dieser Abstand zur forcierten Verbreitung der
reinen scholastischen Lehre auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen, etwa in der
skandalträchtigen Enthüllung der Zustände der Priesterausbildung in Freiburg
durch Karl Bill in „Das Zwanzigste Jahrhundert“ 1902.234 Wenn Thomas F. O’Meara
allerdings behauptet, Braig würde die Scholastik für ebenso inakzeptabel einschätzen wie etwa den Historizismus von Harnacks, dann liegt dem womöglich ein
sprachliches Missverständnis zugrunde.235 Die Kritik Braigs ging nie so weit, dass
sie die Scholastik an sich verworfen hätte. Braig konnte sich mit seiner Distanz
immer auf den Wortlaut der Enzyklika Aeterni Patris selbst berufen, die ja selbst
eine gewisse Distanz zu den scholastischen Lehrern nahelegt,236 eine Distanz, die
übrigens auch von Pius X. in der Modernismus-Krise uneingeschränkt geteilt wurde,237 wenngleich auch von einem Großteil der Rezipienten nicht so verstanden.
Ein drittes Argument für eine angebliche Nähe zu modernistischen Umtrieben
Braigs ist seine schon genannte Beziehung zu Franz Xaver Kraus, der ja auch von
einigen Modernisten als ihr großes Vorbild gesehen werden konnte. Ein enges
Verhältnis zwischen Braig und Kraus verraten nicht so sehr die Briefe des jüngeren
an den älteren Kollegen,238 als vielmehr das schöne Bild, das Braig von dem Verstorbenen in seiner Gedenkschrift gezeichnet hat.239 Dass Braig allerdings mit dem
kirchenpolitischen Tun Kraus’ nicht zurechtkam und dies schon in seinem Nekrolog
durch die Bemerkung kundtat, er rechne die Spektator-Briefe nicht zum Werk
Kraus’, wurde ihm von gewissen Kreisen nicht verziehen. Schon zu Lebzeiten
Braigs konnte sich daher der Eindruck ergeben, dass Braig mit seiner modernis233
234
235
236
237
238
239
Braig: Gotteserkenntnis 595.
Vgl. oben Erster Hauptteil: Das Leben von Carl Braig, Abschnitt 8 Carl Braig in der
Auseinandersetzung um Reformkatholizismus und Modernismus.
„Braig dared to find scholasticism as well as Harnack’s historicism unacceptable“ (Thomas Franklin O’Meara: Church and Culture. German Catholic Theology 1860-1914, Notre Dame 1991, 132). O’Meara bezieht sich auf eine Stelle in Braigs Studie „Ueber
Geist und Wesen des Christentums“ von 1902 (Braig 1902c), wo es heißt: „Beide,
Scholasticismus und Historicismus, verfallen dem Irrthum. Jener verwechselt Wortfiguren und Wortgefüge mit Principien und Resultaten [...]“ (ebd. 46); weiter oben hieß es
dort zur Erläuterung: „Wer mit Principien und Kategorien allein arbeitet, wer den Tempel
der Wissenschaft lediglich durch Definitionen und Distinctionen, Divisionen und Subdivisionen der Kunstworte, der Indices und Schemata für das Baumaterial, meint errichten zu können, der huldigt dem falschen Scholasticismus, dem unfruchtbaren Panlogismus“ (ebd. 46). Möglicherweise hat O’Meara die von vornherein gegebene pejorative
Bedeutung des Ausdrucks „Scholastizismus“ (im Gegensatz zum neutralen englischen
„scholasticism“) übersehen.
„Sapientiam sancti Thomae dicimus: si quid enim est a Doctoribus scholasticis vel nimia
subtilitate quaesitum vel parum considerate traditum, si quid cum exploratis posterioris
aevi doctrinis minus cohaerens vel denique quoquo modo non probabile, id nullo pacto
in animo est aetati nostrae ad imitandum proponi“ (DH 3140).
Vgl. Pii X. Epistola Encyclica De modernistarum doctrinis. Textum authenticum latinum
et germanicum, Freiburg 1908, 98.
Vgl. Schiel: Briefe I 317-339.
Vgl. oben Erster Hauptteil: Das Leben von Carl Braig, Abschnitt 7 Das Verhältnis Braigs
zu Franz Xaver Kraus.
120
muskritischen Einstellung die Prinzipien und Anschauungen Kraus’ verraten habe.
Allerdings war Kraus auch willens, im Konfliktfall die Unterwerfung unter das Lehramt über seine wissenschaftliche Erkenntnis zu stellen.240 So weit kam es mit Braig
allerdings nie, und nie hätte er zugegeben, dass es einen Konflikt zwischen Dogma
und wahrer wissenschaftlicher Erkenntnis geben könnte.
Als vierte Motivation, Braig in die Nähe des Modernismus zu stellen, kann in seiner
Beziehung zu Herman Schell gesehen werden. Ob hier eventuell eine Freundschaft bestanden hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Da eine solche nur
durch das zweifelhafte Zeugnis eines Anonymus angenommen werden kann,241
soll sie hier unberücksichtigt bleiben. Die Auseinandersetzung mit Schells apologetischer Methode wurde schon oben dargestellt. Als Ertrag kann hier noch einmal
wiederholt werden, dass Braig sich durchgehend kritisch zur schellschen Apologetik geäußert hat, wenn auch deutlich geworden ist, dass 1902 noch größere Bereitschaft vorhanden war, die Schell später zum Fallstrick gewordenen Anschauungen
bzw. Formulierungen wohlwollend zu interpretieren, als dies dann später, nach
Schells Tod und der vom Papst belobigten Schell-Hetze durch Ernst Commer,242
der Fall war.
Nach einer nur oberflächlichen Betrachtung dieses Befundes scheint die Sache
klar zu sein: Braig war ursprünglich ein liberal gesonnener, auf Ausgleich zwischen
moderner Weltanschauung und Katholizismus bedachter Theologe, der mit Schell
gegen die Überbewertung der extrinsezistischen Glaubensbegründung, mit Kraus
gegen Ultramontanismus und politischen Katholizismus und mit Kuhn und anderen
Tübingern gegen die aristotelisch-scholastische Philosophie eingestellt war. Auf
eine nicht näher bestimmte Weise, vielleicht aus Angst, vielleicht aus Opportunismus, hat sich in den Jahren nach Kraus’ Tod, also nach dem 28. Dezember 1901,
und der zunehmenden Verschärfung des innerkirchlichen Klimas Braigs theologische und kirchenpolitische Meinung ins Gegenteil verkehrt.
Die folgende Untersuchung will auch prüfen, ob andere als inhaltliche Gründe für
das starke Anti-Modernismus-Engagement Carl Braigs angeführt werden können.
Meines Erachtens lässt sich Braigs Kampf gegen den Modernismus aus inneren
Gründen erklären, aus Gründen, die in seinem Verständnis von Glaubenswissenschaft und Apologetik verwurzelt sind.
Neben der interessanten Frage nach der Kontinuität der Lehre Braigs steht natürlich das Problem der Apologetik in ihrem von Braig konzipierten Verständnis. Wird
das schon früh entworfene Programm einer auf die demonstratio religiosa und ihren philosophischen Voraussetzungen verpflichteten Fundamentaltheologie durchgehalten?
Es lässt sich an dieser Stelle schon sagen, dass eine Einschätzung, die von einem
Umschwung in Braigs Denken ausgeht, von mir nicht geteilt wird. Es lässt sich kein
Bruch im Schrifttum Braigs ausmachen, mit dem sich diese Aussage bestätigen
ließe. Wohl aber lässt sich eine Verschiebung des apologetischen Skopus feststellen, insofern Braig im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts nicht mehr unbedingt die Bestreitung des theistischen Gottesglaubens als das erste Ziel einer apo240
241
242
Vgl. Weiß: Modernismus 127.
Vgl. Das Zwanzigste Jahrhundert 7 (1907) 483.
Vgl. Hausberger: Schell 392-428.
121
logetischen Abwehr ansieht, sondern vielmehr die Methoden, die manchen Theologen zu Irrtümern über die Natur Christi und die Kirche führen.
2.2 Die Diskussion um den Modernismus-Begriff
Im Zusammenhang mit der Thematisierung des „Modernismus“ drängt sich zunächst die Problematik des Modernismus-Begriffs auf. Papst Pius X. wusste sehr
genau, was er meinte, wenn er vom System des Modernismus sprach. Modernisten waren nicht nur jene, die das ganze in der Enzyklika beschriebene Lehrsystem in extenso vertraten – solche gab es wohl überhaupt nicht –, sondern auch
und vor allem solche, die nur einzelne Stücke daraus lehrten, um, wie die Enzyklika sagt, „den Schein des Suchens und Tastens zu erwecken, während sie doch
fest und entschieden sind“243. Das gemeinsame Wurzelgeflecht der scheinbar unabhängig voneinander wie Pilze hervorsprießenden Irrtümer, die von den modernistischen Theologen vertreten wurden, versuchte das päpstliche Rundschreiben
freizulegen und zu fassen. Gleichwohl muss dieser bemühten, aber nur scheinbaren Klarheit gegenüber betont werden, dass der Modernismus-Begriff von Anfang
an ein sehr schillernder ist. Denn gerade die Behauptung, dass eine ganze Vielzahl von Symptomen auf die Grundkrankheit des Modernismus hindeutet, macht
diesen Begriff zu einem Schlagwort, mit dem jeder Abweichler oder missliebige
Theologe diskreditiert und aus dem Verkehr gezogen werden konnte. Vielleicht wäre es daher richtig, sich beim Gebrauch des Terminus „Modernismus“ bewusst zu
sein, dass dieser bestenfalls einen heuristischen Wert hat, der hilfreich sein mag,
um zu einer vorläufigen Klärung und Übersicht zu gelangen, der aber gleichzeitig
in seiner Begrenztheit zu einer differenzierteren Betrachtung nicht taugt.
Die von der Kirchenleitung vorgenommene negative Charakterisierung des „Modernismus“ als einer auf der philosophischen Lehre des Agnostizismus beruhenden Irrlehre244 ist nicht selbstverständlich. Otto Weiß etwa hat in seiner wegweisenden Studie über den „Modernismus in Deutschland“ auf seiner Spurensuche
nach den Äußerungen des Modernismus mit ebendiesem Begriffe wie „Gewissen,
Freiheit, Verantwortung, Innerlichkeit, Vernunft, Dialog, Begegnung“245 verbunden.
Damit unterscheidet sich sein Bild des Modernismus von dem dunklen Erscheinungsbild, das Pius X. von den herrschenden Zeitirrtümern gezeichnet hat. Weiß
reiht sich selbst in die Reihe der Modernisten ein.246 Freilich vergisst auch Weiß
243
244
245
246
„Quia vero modernistarum [...] callidissimum artificium est, ut doctrinas suas non ordine
digestas proponant atque in unum collectas, sed sparsas veluti atque invicem seiunctas, ut nimirum ancipites et quasi vagi videantur, cum e contra firmi sint et constantes“
(Pii X. Epistola 6).
Vgl. Pii X. Epistola 8 (DH 3475).
Weiß: Modernismus 6 (im Text hervorgehoben).
„Innerhalb der katholischen Theologie vertritt der Verfasser eine ‘modernistische’ Sichtweise. Sie besteht vorrangig darin, daß ich mit Tyrrell und den meisten Modernisten der
Überzeugung bin, daß trotz Hierarchie und Amtsmißbrauch die römische Kirche von allen Kirchen diejenige darstellt, der am meisten die Eigenschaft der Katholizität zugesprochen werden kann. [...] Sie braucht weder die aufklärende Vernunft noch die mysti-
122
nicht, kritische Anmerkungen zur Geisteshaltung mancher Modernisten zu machen, zu welcher Abgrenzung aber wieder die Modernisten selbst in Anspruch genommen werden. „Schließlich soll unsere Darstellung nicht nur ein panegyrischer
Lobgesang sein. Die Forderung nach kritischer, wissenschaftlicher Arbeit, die den
‘Modernisten’ so teuer war, darf auch vor ihrem eigenen Tun und Denken nicht
Halt machen. [...] Zu nennen ist ein fast unbeschränkter Fortschrittsoptimismus [...].
Zu nennen ist die Tendenz, die Entwicklung zu verabsolutieren und den festen Halt
aufzugeben, ferner die Gefahr, das subjektive Erleben über objektive Werte zu
stellen, oder die Kirche nur als Gemeinschaft gleichgesinnter Seelen zu sehen und
ihre Funktion als ‘Heilsanstalt’ zu leugnen“247. Genannt wird außerdem der elitäre
und akademische Charakter des Modernismus, seine Wertschätzung der nationalen Eigenart, die ihn dann später auch anfällig für die nationalsozialistische Ideologie gemacht habe. „Grundsätzlich ist herauszustellen, daß es sich bei all diesen
Tendenzen zwar um mögliche Entwicklungen, aber nicht um die notwendige
Grundrichtung des Reformkatholizismus handelte“248. Wenn Weiß feststellt, dass
„sich in Deutschland auch Gruppierungen den Namen ‘Modernisten’ zulegten, welche den Grundkonsens des katholischen Glaubens verlassen hatten“249, und diesen „Modernismus“ von dem Modernismus-Begriff beispielsweise eines Tyrrell abheben will, so entbehrt diese Unterscheidung eines „echten“, „guten“ Modernismus
von einem „falschen“, „bösen“ Modernismus letztlich eines überzeugenden wissenschaftlichen Grundes.250
Weiß weist auch darauf hin, dass die Begriffe „Modernismus“ und seine Gegenbegriffe „Ultramontanismus“ und „Jesuitismus“ als typische Schlag- und Schwammwörter verwendet wurden, in erster Linie dazu, den Gegner zu brandmarken, nicht
aber, um differenzierte Unterscheidungen vorzunehmen. Diesen Gebrauch sieht
Weiß gegenüber seiner positiven Konnotation allerdings als einen derivaten, ideologischen.251 Die Wirklichkeit bestimmt Weiß dahingehend, dass „Modernismus“
und „Reformkatholizismus“ eine „bestimmte Ausprägung des alternativen, ‘modernen’ Katholizismus der Neuzeit“ kennzeichnen. Modernismus und alternative, liberale Katholizität verbindet der Ruf nach „Begegnung mit der modernen Kultur und
Wissenschaft“. „Alternativer Katholizismus“ ist „der Oberbegriff für die Richtung im
Katholizismus, welche die Wende zum Subjekt, zum Gewissen, zur Person, zum
Menschen seit Beginn der Neuzeit mitvollzog und damit Ungleichzeitigkeit mög-
247
248
249
250
251
sche Versenkung in Gott, weder die Freiheit noch die Normen zu verurteilen. Beide
Momente sind Grundpfeiler, auf die sie nicht verzichten kann. Beide Momente prägten
auch den Modernismus, und zwar gerade den ‘eigentlichen Modernismus’. Er ist daher
keine protestantische, noch eine altkatholische, sondern eine durch und durch katholische Bewegung“ (Weiß: Modernismus 7f.).
Weiß: Modernismus 8.
Ebd. 9.
Ebd. 128.
Vgl. die Kritik Friedrich Wilhelm Grafs: Moderne Modernisierer, modernitätskritische
Traditionalisten oder reaktionäre Modernisten? Kritische Erwägungen zu Deutungsmustern der Modernismusforschung, in: Wolf: Antimodernismus 67-106, hier 69f.
Weiß: Modernismus 10: „Hinsichtlich des ‘Modernismus’-Begriffes läßt sich dieser
übergestülpte Inhalt in seinem Kern dahin bestimmen: Die ‘Modernisten’ sind Leute,
welche die Religion in Subjektivismus und Irrationalismus auflösen“.
123
lichst vermied“252. Eine Ausprägung des alternativen Katholizismus ist der Reformkatholizismus, der sich für verschiedene Reformen innerhalb der Struktur der Kirche einsetzte. Innerhalb des Reformkatholizismus siedelt sich für Weiß der Modernismus an, dem es um mehr ging als um Strukturreformen: „[E]r wollte Vertiefung
der Religion und wissenschaftliche Glaubensbegründung“253, welche beiden Pole
in einer gewissen Spannung zueinander standen. Zwischen den Polen Mystik und
Aufklärung, Mysterium und Vernunft, Dogma und Geschichte zu vermitteln, darin
sieht Weiß das Anliegen, für das der Modernismus den Weg bereitet hat. Die positive Konnotation, die Weiß dem Modernismusbegriff zubilligt, soll die Berührungsangst, die in Deutschland diesem Wort gegenüber noch vorherrschend sei, aufbrechen.254
Selbst Braig wird von Weiß in die Nähe seines positiv konnotierten Modernismus
gestellt, denn er gehörte zu denen, die trotz des Schocks des Ersten Vatikanums
und der Monopolstellung, die Leo XIII. der Neuscholastik eingeräumt hatte, ein
selbstständiges Denken voranbringen wollten. „Braig gehörte mit Keppler u.[nd]
Kraus [...] zur fortschrittl.[ichen] Gruppe in Freiburg. Beeinflußt von F. Brentano,
vertrat er eine selbständige Seinsphilosophie, kritisch gegen Neuscholastik wie
gegen ‘Subjektivismus’, ‘Psychologismus’ u.[nd] ‘Modernismus’ (bereits 1889)“255.
Die fortschrittliche Gruppe an der Freiburger Theologischen Fakultät insinuiert
Weiß auch, wenn er schreibt: „Dort fand er [sc. Kraus] in Paul Wilhelm Keppler und
Karl Braig geistesverwandte Kollegen, die jedoch beide nach seinem Tod von seinen Idealen abrückten und zu Gegnern eines modernen Katholizismus wurden“256.
Für Weiß ist Braig, den er wie Schell und auch Husserl für einen Schüler Franz
Brentanos hält,257 damit ein Wegbereiter des Modernismus, d.h. der Begegnung
von Kirche und Theologie mit der Moderne,258 der aber später zu einem Gegner
desselben geworden wäre. Damit wäre zugleich eine Widersprüchlichkeit in das
Werk Braigs hineingetragen, die man zumindest insofern nachweisen können sollte, als sich irgendwo ein Meinungsumschwung inhaltlicher Art niedergeschlagen
haben müsste.
Weiß kritisiert gerade an anderer Stelle die „Modernismusbegriffsdiskussion“ mit ihrer Unterscheidung eines engen und weiten Modernismusbegriffs und fordert stattdessen, das Selbstverständnis der Betroffenen stärker zu berücksichtigen, aus
dem sich dann folgender Sinn ergibt: „Modernismus könnte dann umschrieben
252
253
254
255
256
257
258
Alles Weiß: Modernismus 10.
Ebd. 11.
Vgl. ebd. 12.
Ebd. 110. Weiß bezieht sich auf eine Stelle in den Lebenserinnerungen Guardinis (vgl.
Romano Guardini: Berichte über mein Leben. Autobiographische Aufzeichnungen,
Düsseldorf 1984, 25f.; vgl. dazu Erster Hauptteil: Das Leben von Carl Braig, Abschnitt
12 Braig im Urteil seiner Zeitgenossen).
Ebd. 129. Die „fortschrittliche Gruppe“ (Braig, Keppler, Kraus) findet sich auch Weiß:
Modernismus 201; 232; 247.
Vgl. ebd. 137; 199.
„Kraus, Schell, Ehrhard und Müller ebneten [...] den Weg für eine Begegnung von Kirche und Theologie mit der Moderne [...]. Einige wenige andere Theologen [...] könnten
angeführt werden, [...] und selbst ein Mann wie der Antimodernist Carl Braig“ (ebd.
121); vgl. auch ebd. 160.
124
werden als eine spezifische Ausprägung der Begegnung von Kirche und Theologie
mit dem neuzeitlichen Denken“259.
Kritisch setzt sich Friedrich Wilhelm Graf mit den Deutungsmustern der Modernismuskrise auseinander, und er stellt nicht zuletzt im Hinblick auf die Studie von
Weiß fest, dass im Verlauf der Geschichtsschreibung die „‘deutschen Modernisten’
[..] zunehmend an Zahl und Gewicht gewonnen“ hätten.260 In seiner kritischen
Würdigung von Weiß’ Monographie kommt Graf zu dem Schluss, dass diese Art
von Präsentation historischen Materials im Kern verfehlt sei. „Indem biographische
Einzelstudien durch eine entwicklungsgeschichtliche Metaerzählung verknüpft
werden, droht die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der dargestellten Theologien zugunsten eines geschlossenen Geschichtsbildes abgeblendet zu werden“261.
Was Graf hier zu Recht anmahnt, soll auch für eine Untersuchung der Tätigkeiten
Braigs im Kontext der Modernismus-Krise gelten. Dabei ist Braigs Wirken insofern
interessant, weil ihm zugestanden wird, „als erster katholischer Theologe den Modernismusbegriff in die apologetische Literatur sowie die konfessionskulturellen
Unterscheidungsdiskurse der römisch-katholischen Theologie eingeführt zu haben“262.
Schon Ende 1909 stellte der Münsteraner Apologetiker Bernhard Dörholt263 fest,
dass Braig an einer Stelle seiner Rede zur Übernahme des Prorektorats im Frühjahr 1907 das „‘jüngste Christentum’ nach liberal-protestantischen Typen [...] schon
mit demselben Namen (‘Modernismus’) benannt hat, der einige Monate später
durch die Enzyklika zum offiziellen Namen wurde“264. Braig hatte aber schon etliche Jahre zuvor den Ausdruck „Modernismus“ verwendet. Friedrich Stegmüller hat
in seiner kleinen Braig-Biographie im Oberrheinischen Pastoralblatt von 1953 darauf hingewiesen, dass Braig den Begriff des „Modernismus“ als erster in einem
den genannten päpstlichen Dokumenten vergleichbaren Sinne verwendet habe.265
259
260
261
262
263
264
265
Otto Weiß: „Sicut mortui. Et ecce vivimus.“ Überlegungen zur heutigen Modernismusforschung, in: Wolf: Antimodernismus 42-63, hier 60f.
Graf: Kritische Erwägungen 68f. „Denn obgleich Weiß selbst auf die Komplexität und
Vieldeutigkeit des Phänomens hinweist, konstruiert er eine relativ geschlossene Tradition deutscher modernistischer Theologie, die im II. Vatikanischen Konzil kulminiert. Mit
der originellen Prägung des Begriffes ‘Neomodernismus’ wird diese Erfindung semantisch abgestützt“ (Graf: Kritische Erwägungen 69).
Ebd. 70.
Ebd. 74.
Zu Bernhard Dörholt (1851-1929) vgl. LThK2 3, 520.
Bernhard Dörholt: Rezension zu: Modernstes Christentum und moderne Religionspsychologie, in: Literarische Rundschau 35 (1909), 587f.
„Schon 1889, 18 Jahre vor der Enzyklika Pascendi, prägte der Stadtpfarrer von Wildbad
den Ausdruck Modernismus für jene Strömungen, die die Selbstbeglaubigung der religiösen Wahrheit im Menschengemüte durch das Gefühl vermitteln wollten und nach
denen alles Äußere und Geschichtliche Sinn und Wert nur habe als ein nach außen
verlegtes Symbol eines psychologischen Innenzustandes und Innenvorgangs“ (Stegmüller: Braig 125); Stegmüller meint, Braig sei der erste gewesen, der „für die von der
Kirche 18 Jahre später verurteilte Richtung den Ausdruck Modernismus prägte und diesen Terminus in die deutsche Sprache einführte“ (Stegmüller: Braig 128, Anm. 3).
125
Diese Auffassung übernehmen Richard Schaeffler in seinen Untersuchungen zum
Modernismus,266 Karl Leidlmair in seinem kurzen Beitrag über Carl Braig267 sowie
Otto Weiß.268 Sie beziehen sich dabei auf die Verwendung des Begriffs in der Einleitung zur von Braig übersetzten und herausgegebenen „Apologie des Christentums auf dem Boden der empirischen Forschung“ von 1889. Bereits 1983 hat Elmar Fastenrath aber darauf hingewiesen, dass der Ausdruck schon 1882 bei Braig
auftaucht in dessen Schrift gegen Eduard von Hartmann.269
Ein Vergleich der Bedeutung, die die erste Nutzung dieses Begriffs hatte, mit dessen Verwendung in der durch die päpstliche Enzyklika ausgelösten Modernismuskrise selbst scheint darum geboten. Friedrich Graf führt diesen Vergleich im Zusammenhang seiner Zeichnung der Begriffsgeschichte zum „Modernismus“, in der
er festhält, dass der Begriff „modernus“ und dessen Derivate „Modernisti“ und
„Modernisten“ spätestens seit Renaissance und Reformation dazu dienten, „Vertreter einer bestimmten Theologie und Philosophie, zumeist die Repräsentanten der
nominalistischen via moderna, von Anhängern anderer theologischer Konzepte zu
unterscheiden“270. Für die deutschsprachige evangelische Theologie stellt Graf
fest, dass der Begriff „moderne Theologie“ im ausgehenden 19. und beginnenden
20. Jahrhundert sehr unterschiedlich besetzt war. „Er diente teils als programmatische Selbstbezeichnung bzw. als Signalwort für die jeweils beanspruchte theologische Fortschrittlichkeit, teils als kritische Fremdbezeichnung bzw. als ein Begriff
theologischer Illegitimität“271. Braigs Beitrag lag nun nicht darin, den Modernismusbegriff im Sinne der späteren Modernismuskrise gebraucht zu haben, sondern diesen Begriff auf „diverse zeitgenössische Gegner des Christentums sowie auf
liberale Protestanten“272 anzuwenden, und zwar eben nicht erst in der Einführung
der Apologie, sondern schon 1882, in seiner Anti-Hartmann-Schrift. „‘Modernismus’
repräsentierte für Braig also eine subjektivistische Gegenposition zum objektiven,
katholischen Glauben, die seit dem frühen 19. Jahrhundert von liberalen Protestanten oder den Vertretern neuer antichristlicher Weltanschauungen eingenommen
werde“273, aber eben noch nicht bezogen auf abweichende katholische Theologen.
In seinem Vorwort zur schon öfter erwähnten von ihm herausgegebenen Apologie
bringt Braig den Terminus mit der neuprotestantischen Gefühlsreligion zusammen,
womit er nach Graf „der Übertragung des Begriffs in innerkatholische Auseinandersetzungen den Weg“274 bereitet habe. So folgte der Vatikan in seiner Begriffsverwendung der Bedeutung, die auch schon bei Braig zu finden sei, nämlich sei-
266
267
268
269
270
271
272
273
274
Vgl. Richard Schaeffler: Der „Modernismus-Streit“ als Herausforderung an das philosophisch-theologische Gespräch heute, in: Theologie und Philosophie 55 (1980) 514-534;
ders.: Art. Modernismus, in: HWPh 6, 62-66.
Vgl. Karl Leidlmair: Carl Braig (1853-1923), in: Coreth: Christliche Philosophie 1, 409419, hier 411.
Vgl. Otto Weiß: Art. Modernismus, in: LThK3 7, 367-370, hier 367.
Vgl. Fastenrath: Christologie 84ff.
Graf: Kritische Erwägungen 71.
Ebd. 73.
Ebd. 74.
Ebd. 75.
Ebd.
126
nes Gebrauchs im Sinne eines Irrationalismus und Psychologismus des Religionsverständnisses.
Grafs Resümee: „Angesichts der – weithin noch unerforschten! – komplexen Geschichte des Modernismusbegriffs dürfte es ein elementares Gebot intellektueller
Redlichkeit sein, den Begriff mit großer Behutsamkeit zu verwenden. Entweder gelingt es, ein trennscharfes analytisches Konzept des Modernismus zu entwickeln,
das präzise Abgrenzungen zwischen modernistischen und nicht-modernistischen
Theologien zu formulieren erlaubt. Oder der Begriff muß strikt für jene Theologen
reserviert bleiben, die sich selbst als ‘Modernisten’ bezeichneten und deshalb beispielsweise auch den Antimodernisteneid verweigerten. Wer den Begriff weiter faßt
und alle irgendwie reformerisch gestimmten oder liberal gesonnenen katholischen
Theologen zu Modernisten machen will, erzeugt bestenfalls Unklarheit“275.
Da Braig der Letzte ist, der sich als Modernist bezeichnet hätte, da er umgekehrt
den Eindruck eines aggressiven Anti-Modernisten macht, der unaufgefordert und
freiwillig den Anti-Modernisten-Eid geleistet hat,276 möchte ich von der Bezeichnung Braigs als Modernisten absehen. Im Übrigen soll sich das zu Eigen gemacht
werden, was Graf allgemein methodisch anmerkt: „Analyse impliziert immer reflektierten Abstand [...]. Es sollen analytische Außenperspektiven auf den ‘Gegenstand’, etwa: eine ‘modernistische Theologie’, entwickelt werden, die es verhindern,
nur die Selbstdeutungen oder Selbststilisierungen eines Theologen zu reproduzieren und beispielsweise seinen Anspruch für bare Münze zu nehmen, theologisch
wie politisch ‘moderner’ als seine ‘antimodernen’ Gegner oder Kritiker zu sein“277.
Der Modernismus-Begriff ist dadurch belastet, dass er zur Kennzeichnung verschiedener Sachverhalte dienen musste, dennoch aber den Anschein einer gewissen Eindeutigkeit suggeriert, der man meint auf die Spur kommen zu können.
Deshalb kann es nicht darum gehen, „in ideologiekritischer Untersuchung ein fundamentum in re hinter dem Schlagwort ‘Modernismus’ aufzuspüren und Abgrenzungen vorzunehmen, wenn denn dieser Begriff überhaupt einen Sinn haben
soll“278. Es ist nicht zu erwarten, dass sich hinter den Modernismus-Begriffen der
verschiedenen Seiten ein einziges reales Äquivalent finden lässt. Deshalb soll hier
versucht werden, das Modernismus-Verständnis Braigs in der Zeit vor Erscheinen
der Enzyklika „Pascendi“, deren Modernismus-Begriff und Braigs Begriff des Modernismus nach Veröffentlichung der Enzyklika herauszuarbeiten und zu vergleichen. Dabei soll aber nicht so getan werden, als ob die Sache, um die es geht, an
der Verwendung des Terminus „Modernismus“ hängen würde.
Es wird sich zeigen, dass Braigs Engagement in Sachen ModernismusBekämpfung zutiefst mit seinem Apostolat der Dialektik in Zusammenhang zu bringen ist. Insbesondere die Rolle der apologetischen Fragestellungen soll bei der
folgenden Untersuchung immer Berücksichtigung finden.
275
276
277
278
Ebd. 76.
Vgl. oben Erster Hauptteil: Das Leben von Carl Braig, Abschnitt 9 Carl Braig in der Modernismus-Krise.
Graf: Kritische Erwägungen 80.
Otto Weiß: Der Katholische Modernismus. Begriff Selbstverständnis Ausprägungen
Weiterwirken, in: Wolf: Antimodernismus 107-139, hier 107.
127
2.3 Carl Braigs Kampf gegen den „Modernismus“
2.3.1 Avant la lettre
„Modernismus“ ist auch außerhalb eines theologischen Kontextes ein sehr schillernder und weiter Begriff, weil er zunächst und ursprünglich eine Haltung zum
Ausdruck bringt, die gegenüber Neuem und Kommenden aufgeschlossen ist, im
Gegensatz zu einer Verhaftung an das Überkommene und Alte. Damit ist ein so
verstandener „Modernismus“ eigentlich eine „normale Erscheinung im geschichtlichen Kräftehaushalt geistigen Lebens“279.
Angesichts der Uneindeutigkeit des Terminus, ist es angebracht, mit größter Vorsicht die verschiedenen „Modernismen“ zu betrachten, gegen die sich die Apologie
Carl Braigs im Laufe seiner schriftstellerischen Tätigkeit wendet.
2.3.1.1 Gegen Eduard von Hartmann
Karl Robert Eduard von Hartmann war ein außerhalb der akademischen Szene
seiner Zeit angesiedelter Philosoph, der versuchte, Vorstellungen Leibniz’, Kants
und Schopenhauers zu verbinden. Sein Pessimismus rührte von der Überzeugung
her, dass diese Welt zwar die beste aller möglichen ist, aber schlechter als gar
keine, weil die „Weltlustbilanz“ auch für die Zukunft negativ ausfalle. Berühmtheit
erlangte Hartmann durch sein Werk „Philosophie des Unbewussten. Versuch einer
Weltanschauung“280, in dem er seinen pantheistischen Monismus verbreitete. Heute nahezu vergessen war Hartmann zu seinen Lebzeiten eine gewichtige philosophische Stimme, die vor allem auch wegen ihrer antichristlichen Stoßrichtung die
katholische Theologie auf den Plan rief. 281
Nicht nur Braig betonte für die christliche Apologetik die Wichtigkeit, an der hartmannschen Philosophie nicht vorbeizugehen angesichts der Tatsache, dass
„Hartmann entschieden die sämmtlichen Vertreter des Antichristianismus weit überragt, was die mephistophelisch ätzende Schärfe seiner ‘Argumente’ betrifft“282.
Braig versucht in seiner Schrift „Die Zukunftsreligion des Unbewußten und das
Princip des Subjektivismus“ die Philosophie des Berliner Gelehrten einer apologe279
280
281
282
Robert Scherer: Art. Modernismus, in: LThK2 7, 513-516, hier 513.
Berlin 1869 u.ö.
Zu Eduard von Hartmann (1842-1906) vgl. LThK3 4, 1200f.; Eryck de Rubercy: Art.
Hartmann, in: Denis Huisman u.a. (Hgg.): Dictionnaire des philosophes, Bd. 1, Paris
1984, 1147; Reiner Wimmer: Art. Hartmann, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2, Mannheim u.a. 1984, 42f.; auch Herman
Schell setzte sich mit Eduard von Hartmann auseinander; vgl. dessen Dissertation: Die
Einheit des Seelenlebens aus den Principien der Aristotelischen Philosophie entwickelt,
Freiburg 1873 (Nachdruck Frankfurt/Main 1967), 94-148.
Vgl. Braig: Rezension über Eduard von Hartmann: Die Selbstzersetzung des Christenthums und die Religion der Zukunft; ders.: Die Krisis des Christenthums in der modernen Theologie; ders.: Das religiöse Bewußtsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwicklung, in: ThQ 65 (1883) 317-326, hier 318.
128
tischen Kritik zu unterziehen, die den umgekehrten Weg des gewöhnlichen fundamentaltheologischen Ganges mit seinen Traktaten demonstratio religiosa, demonstratio christiana und demonstratio catholica beschreitet. Zuerst nämlich schildert Braig das Verhältnis Hartmanns zu den verschiedenen Konfessionen, die Darstellung und Bewertung, die der Katholizismus in den Schriften Hartmanns findet,
der Protestantismus in seinen liberalen und spekulativen Ausformungen. Dabei
findet Braig jeweils selbst zu Urteilen über die Auslassungen Hartmanns. Der wenig schmeichelhaften Beurteilung des Katholizismus durch Hartmann etwa hält
Braig eine „sehr unphilosophische Jesuitenfurcht“ vor, die der eigentliche Anlass
zu solcher Polemik sei.283 Die Behauptung, die katholische Kirche verpflichte auf
ihre Lehre allein durch eigene Autorität, so dass sie sogar „eine Prüfung ihrer Berechtigunggründe dazu verbietet“, weist Braig nicht nur mit dem Hinweis auf die
Verurteilung der Lehre von der „zweifachen Wahrheit“ auf dem Fünften Laterankonzil, sondern auch dadurch zurück, dass er auf die alogische Grundlage der
Philosophie des Unbewussten verweist,284 die am Ende seines Buches
ausführliche Darstellung finden wird.
So verfährt Braig weiter mit den Ausführungen des Verhältnisses Hartmanns zum
Christentum und zur Religion. Bevor wir mit Braig aber zum letzten Kapitel, „Hartmann und die Logik“, gehen wollen, wo er die „Apologie des Gedankens“ gegen
die Aufstellungen des Philosophen geltend machen will, soll die allgemeine Charakterisierung des „Modernismus“ wiedergegeben werden, die Braig vom System
der hartmannschen Religion zeichnet.
„Modernismus“ ist der Name nicht nur für die Philosophie des Unbewussten, sondern allgemein für gewisse subjektivistische Strömungen, in die sich auch Hartmann und sein Denken einordnen lassen. „Der Subjektivismus in seinem neuesten
Gewande kann gut als Modernismus bezeichnet werden“285. Damit sei ein Charakterzug getroffen, der Rationalisten, Deisten, Naturalisten, Materialisten, Pantheisten, Idealisten, Sensualisten, Atheisten „in friedlichem Verein umfaßt“286. Als Protagonist der Modernen wird der „Philosoph des Unbewußten“, eben Eduard von
Hartmann, genannt. Eine dreifache Charakterisierung präge dessen Selbstverständnis. Braig konstatiert zunächst die Nähe der Anschauungen Hartmanns zu
denen des „liberalen, gemeinrationalistischen Protestantismus, zu dessen Hauptvertretern Strauß von Hartmann gerechnet wird“287. Hier lässt sich schon die Struktur des beiden gemeinsamen „subjektiven Naturalismus“ gegen den „objektiven
Supranaturalismus, welcher die Grundidee des christlichen Theismus bildet“288,
abheben.
283
284
285
286
287
288
Vgl. Braig: Zukunftsreligion 34f.
Vgl. ebd. 35ff.
Ebd. 19.
Ebd.; vom Rezensenten der braigschen Ausführungen wird diese Charakterisierung
des „Modernismus“ aufgenommen: „Der Modernismus, um [..] auf den diametralen Gegensatz des Objectivismus überzugehen, hat vollständig und ausgesprochener Maßen
mit dem Christenthum gebrochen, ist rücksichtsloser Subjectivismus, fasst alle Gegensätze des Objectiven und Uebersinnlichen in scheinbar friedlichem Vereine in sich
zusammen“ (Johann Baptist Renninger: Rez. zu Braig: Zukunftsreligion 461).
Ebd. 20; zu David Friedrich Strauß (1808-1874) vgl. LThK3 9, 1041f.
Braig: Zukunftsreligion 20.
129
David Friedrich Strauß hatte 1835/36 in seinem Werk „Das Leben Jesu“289 eine kritische Bearbeitung des historischen Jesus versucht. Hier sollte der geschichtliche
Kern des Neuen Testamtents von allen mythischen, ungeschichtlichen Zusätzen
befreit werden. Durch seine Methodik allerdings, die auf der hegelschen Dialektik
beruhte, führte Strauß das berechtigte Anliegen der historischen Exegese ad absurdum. Er war nämlich davon ausgegangen, dass historisierende Theologie und
(hegelsche) Philosophie den gleichen Inhalt haben, nur verschieden ausgedrückt
einmal in der Form geschichtsbezogener und zeitbedingter Vorstellung, einmal in
der angemesseneren Form des zeitlosen Begriffs. Die eigentliche, in Glauben und
Denken zugrundeliegende Idee sei die der Einheit von Gott und Menschheit. Inhalt
des Neuen Testaments als „geschichtsartige Einkleidungen urchristlicher Ideen,
gebildet in der absichtslos dichtenden Sage“290, sei nicht Jesus Christus, sondern
diese Idee, auf die Jesus nur hinweise. Braigs Lehrer Kuhn hatte früh versucht, die
Historizität Jesu gegen dessen Auflösung im Mythos zu retten,291 freilich unter Zuhilfenahme von Methoden der historisch-kritischen Exegese, was ihm einen Heterodoxievorwurf einbrachte.292 In seinem Bemühen, gegenüber den Aufstellungen
Strauß’ die Eigenständigkeit der Theologie zu begründen, verwies er auf die wesenhafte Bindung der Theologie an die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus
Christus, die nicht in einem Begriff auflösbar sei.293 Auch Kuhn führte gegen Strauß
ins Feld, was ebenfalls immer Anliegen Braigs ist, nämlich die Betonung des objektiven Charakters der Glaubenswissenschaft gegen eine unreflektierte Übernahme
philosophischer Paradigma und Auffassungen, die auf den ersten Blick naheliegend und plausibel erscheinen, letztlich aber ihren willkürlichen und subjektivistischen Charakter nicht verhehlen können.
Nun aber zurück zur Streitschrift gegen Hartmann. Drei Punkte zählt Braig auf, die
dessen Modernismus kennzeichnen:
1) Im Vergleich dieser beiden, nämlich Hartmanns und Strauß’, ergebe sich ein
lediglich formaler Unterschied, der freilich von Hartmann immer wieder zu einem prinzipiellen gemünzt werde. Die Gemeinsamkeit sei weitaus größer:
„Materialistischer Rationalismus [bei Strauß] und pantheistischer Mysticismus
[bei Hartmann] sind Gegenpole an Einer Achse: sie sind nach Strauß selber
‘im Grunde nur Ein Gegensatz’ zum formalen Dualismus der logisch-
289
290
291
292
293
David Friedrich Strauß: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835f.
u.ö.; vgl. dazu Franz Courth: Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß in der Kritik
Johann Evangelist Kuhns. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung der Katholischen Tübinger Schule mit dem Deutschen Idealismus, Göttingen 1975, 19-131, zusammenfassend
bes. 129ff.
Strauß: Leben Jesu I 75.
Vgl. v.a. Johann Evangelist Kuhn: Das Leben Jesu, wissenschaftlich bearbeitet, Mainz
1838; ders.: Von dem schriftstellerischen Charakter der Evangelien im Verhältniß zu der
apostolischen Predigt und den apostolischen Briefen, in: Jahrbuch für Theologie und
christliche Philosophie 6 (1836) 33-91; ders.: Hermeneutik und Kritik in ihrer Anwendung auf die evangelische Geschichte, in: Jahrbuch für Theologie und christliche Philosophie 7 (1837) 1-50.
Vgl. Wolf: Ketzer 32-37.
Vgl. Courth: Leben Jesu 157-191.
130
2)
294
295
296
297
298
299
300
301
302
303
theistischen Weltanschauung“294. Seien Strauß und Hartmann beide von der
Überlebtheit der traditionellen Religionen überzeugt, so kämpfe Strauß für eine neue „abstrakte“ Religiosität, wie er sie etwa in seinem späten Werk „Der
alte und der neue Glaube“295 propagiere, während Hartmann sich für die
„konkrete“, auf metaphysischer Grundlage basierende Religion des Unbewussten stark mache. Braig entdeckt hier bei beiden das Prinzip des falschen
Subjektivismus. Dieser kennzeichne gegenüber dem Objektivismus „alle Gestaltungen des irrenden Denkens“296. Er „will den Erkenntnißproceß im eigentlichen Sinne mit nichts beginnen und dessen Gesammtinhalt erschaffen
durch die rein subjektiven Mittel des einzelnen Denkgeistes“297. Diese subjektivistische Grundidee verwirkliche sich in den beiden Formen des straußschen Materialismus und des hartmannschen Pantheismus, je nachdem, ob
man das Bewusstsein selbst „als eine ziellose Schnellkraft oder als eine
zwecksetzende Substanz verstanden“298 wissen wolle.
Hartmann fühle sich als die Repräsentationsgestalt der kommenden Kultur,
die noch von wenigen verstanden werde, weil sie auf neuen Prinzipien beruhe. a) Eine historische Betrachtungsweise lasse erkennen, dass diese „neuen“ Prinzipien keineswegs so neu sind, vielmehr auf die „sinnlich-obscön gedachten Syzygien des Gnosticismus“299 zurückgreifen: „Hartmanns ‘Wille’
nämlich ist das aktiv Männliche, die ‘Vorstellung’ das passiv Weibliche. ‘Aus
der Umarmung dieser beiden überseienden Principien, des zum Sein entschiedenen Seinkönnenden und des in seliger Unschuld Reinseienden, wird
das Sein gezeugt; vom Vater hat es sein Daß, von der Mutter sein Was und
Wie’“300. Hier moniert Braig das dualistische Prinzip der alten griechischen
Philosophie, das auch die Scholastik an ihrer Vollendung gehindert habe,301
„der falsche Dualismus der ganzen alten (griechischen) Philosophie [..], der
Dualismus von ewiger Wirklichkeit (Form, Idee, Gott, actus purus) und gleich
ewiger Möglichkeit (Materie, Potentialität, ‘Seinswille’)“302. Die Unmöglichkeit
und damit Falschheit dieses Prinzips sei evident, denn „von zwei entgegengesetzten Dingen, von welchen zugleich jedes das andere sein kann, müssen
wir aus logischen Gründen annehmen, daß beide nichtig sind“303. Hier ist eine
auch später noch festzustellende Tendenz Braigs zu konstatieren, dass er
nämlich versucht, gewisse Irrtümer als bereits in der Geschichte vorhanden
gewesene nachzuweisen, wohl um ihnen damit den Reiz des Neuen zu nehmen und ihrer bereits erfolgten Verurteilung Nachdruck zu verleihen. b) Ein
weiterer Charakterzug der „Modernisten“ sei ihre Selbstüberschätzung, wie
Braig: Zukunftsreligion 22.
Bonn 1872.
Ebd. 7; vgl. auch den Titel der Schrift, die das „Princip des Subjektivismus“ zu seinem
Untersuchungsgegenstand hat.
Ebd. 10.
Ebd.
Ebd. 24.
Ebd.
Vgl. etwa bereits Braig 1879a, 327f.
Braig: Zukunftsreligion 25.
Ebd.
131
sie etwa aus folgendem Satz spreche: „Der Panmonotheismus befriedigt die
tiefsten religiösen und ethischen Bedürfnisse des Geistes und Herzens nicht
bloß ebenso gut, sondern weit besser als der Theismus; er ganz allein ist fähig, ‘Weltreligion’ zu werden“304.
3) Hartmanns Überzeugung gehe dahin, zu glauben, dass der Kulturkampf das
Zeichen für das letzte Aufbäumen des Christentums vor seinem endgültigen
Untergang sei. Braig handelt hier von den praktischen Tendenzen, die das
Werk Hartmanns intendiert: Es möchte dem Kulturkampf beistehen, das Verfahren des Kulturstaats religionsphilosophisch rechtfertigen. Auch die Art und
Weise, wie Hartmann für seine Schriften werbe, hält Braig für charakteristisch; etwa die anonymen Selbstrezensionen, die Heranziehung von pseudonym verfassten eigenen Werken, Werktitel, die sich wie imposante Reklametafeln ausnehmen.
Schon in dieser ersten Anti-„Modernismus“-Schrift repräsentiert sich dieser „Modernismus“ als eine subjektivistische Gegenposition zum objektiven, katholischen
Glauben.305
Was hat Braig gegen einen solchen Modernismus vorzubringen, wo setzt er seinen
apologetischen Hebel an? Braig sah die hartmannsche Philosophie als Ausformung eines prinzipiell zugrundeliegenden Subjektivismus, der auch andere Gestalten annehmen kann. Der Protestantismus wird von Braig wie selbstverständlich,
einem in der Zeit verbreiteten katholischen Urteil gemäß, auch als auf einem subjektivistischen Irrtum beruhend begriffen. Lediglich an das traditum zu denken, ohne nach dem unfehlbaren tradens und normans zu fragen, die Anerkennung der
Schriftautorität und einer transzendental gedachten Überlieferung, sei historisch
und logisch unbegründbar.306 Was ist nun also das proton pseudos des pantheistischen Subjektivismus? Ein kleiner und unscheinbarer Fehler am ersten Anfang,
der im weiteren Verlauf immer mehr anschwillt.
Nach Darlegung seiner Anschauung des Erkenntnisproblems konstatiert Braig,
dass der prinzipielle formale Fehler der Philosophie des Unbewussten die unlogische Lösung der logisch-noetischen Frage sei, dass „Spinoza’s Sophisma Omnis
determinatio est negatio, also die Substantivirung des Nein und die Zulassung eines Dritten zwischen Ja und Nein, zur Grundlage des Welt- und Gotteserkennens
gemacht und willkürlich festgehalten wird“307. Diese Überlegung erlaubt sich von
einem logischen Standpunkt über die Wahrheit der verschiedenen Konzepte der
metaphysischen Theologie zu urteilen, über Dualismus, Monismus und Theismus.
Da die Philosophie, insbesondere die Erkenntnistheorie im dritten Teil dieser Arbeit
ausführlich dargestellt werden soll, kann hier nur kurz darauf eingegangen werden.
Weil der Mensch nicht unlogisch denken könne, müsse er auf die Richtigkeit des
metaphysischen Gesetzes des zu vermeidenden Widerspruches schließen. „Das
metaphyische Gesetz des Widerspruchs erhält nicht seine Giltigkeit durch das parallele logische Axiom; aber der Geist erlangt nur durch des letzteren Evidenz Ein-
304
305
306
307
Ebd. 26.
Vgl. Graf: Kritische Erwägungen 75.
Vgl. Braig: Zukunftsreligion 16.
Ebd. 276.
132
sicht in die nothwendige Giltigkeit des ersteren“308. Der metaphysische Dualismus309 nehme nun, formal betrachtet, die Gleichursprünglichkeit von Ja und Nein
an. Dabei „wird nicht klar erkannt, daß Ein reales Ja, das Ich des Denkgeistes in
Bejahung und Verneinung thätig ist; es wird also die psychische Ursächlichkeit
nicht voll gewürdigt“310. Diese Auffassung sei letztlich angesichts des unausrottbaren logischen Triebes im Bewusstsein nicht haltbar. Auch der Monismus311, der ein
ewiges Prinzip annehme, dessen innere Bestimmung nicht Ja oder Nein, sondern
die reine Bestimmungslosigkeit sei, also ein Drittes zwischen Ja und Nein, beruhe
auf einem Denkfehler. Seine erste Voraussetzung sei ein Abstraktum, ein grundund inhaltsloses Phantasma, denn letztlich sei die Identität von Ja und Nein behauptet. So bleibe als dritte Möglichkeit der metaphysische Theismus312, der allein
der Empirie gerecht zu werden vermag. Hier werde das Absolute nicht nach einem
Abstraktum gedacht, sondern nach Analogie des Denksubjekts als absoluter Geist.
Anhand der Betrachtung der verschiedenen möglichen metaphysischen Konzepte,
nämlich Dualismus, Monismus und Theismus, hat Braig den entscheidenden Charakterzug des philosophischen Subjektivismus erläutert, nämlich die „Eigenwilligkeit der abstrakt konstruierenden Phantasie“313. Und darin unterscheide er sich
vom philosophisch objektiven Theismus, dessen Grundzug die Berücksichtigung
der Denknotwendigkeit sei.
In seinem ersten großen apologetischen Versuch hat Carl Braig die „modernistische“ Philosophie Eduard Hartmanns hinsichtlich ihres Kardinalfehlers entlarvt. Es
ging Braig in diesem Werk weniger darum, einzelne Behauptungen Hartmanns über die christliche Religion im Allgemeinen oder den Katholizismus im Besonderen
zu prüfen und zu widerlegen, sondern die Untersuchung läuft von Anfang an auf
die Aufdeckung und Überwindung des proton pseudos hinaus. Indem dieses freigelegt und entschärft ist, bleibt für den Apologeten nichts weiter, als die Richtigkeit
und Wahrheit des entgegenstehenden Konzepts, in diesem Fall des Theismus,
aufzuzeigen. Es zeigt sich, dass Braigs apologetischer Anspruch auch von der Bedeutung her zu verstehen ist, mit der er in der Frühzeit seines Forschens die philosophische Bestreitung des Gottesgedankens gefüllt hat.
Im vorangegangenen Kapitel wurde das apologetische Konzept Braigs, vor allem
im Blick auf seine sieben Jahre nach der Anti-Hartmann-Schrift verfasste Einleitung zu F. de Duilhés Apologie dargestellt. Dort machte Braig auf die Wichtigkeit
des dialektischen Moments in der Apologie aufmerksam. Denn die Herausforderung, der sich die apologetische Wissenschaft in der Zeit Braigs zu stellen hat, ist
nicht so sehr auf den Gebieten umstrittener Anschauungen der positiven Wissenschaften zu suchen, sondern auf dem Feld der diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen zugrundeliegenden philosophischen Auffassungen.
308
309
310
311
312
313
Ebd. 275.
Vgl. ebd. 277f.
Ebd. 277.
Vgl. ebd. 278-282.
Vgl. ebd. 282-287.
Ebd. 285.
133
2.3.1.2 Gegen Schleiermacher
Die Auffassung, gegen welche sich die christliche, katholische Apologetik zu wenden hat, „ist jener allgemeine Niederschlag der Meinungen, welcher, wenn auch
noch so wenig bestimmt und concret, sich als die ‘neue’ Weltsicht, als die allgenügende ‘Metaphysik’, an die Stelle des Weltbegriffes setzen möchte, an die Stelle
derjengen Welt- und Seinsaufassung, die auf dem christlichen Begriffe von der
persönlichen Gottheit ruht“314. Methodisch gehe diese neue Philosophie so vor,
dass die Erkenntnisse aller Wissensgebiete zusammengetragen und in eine einheitliche philosophische Form gebracht werden. Hier zitiert Braig Ausführungen
von E.v. Hartmann, der diese „Religion der Zukunft“ charakterisiere als wissenschaftliche Darstellung einer ewigen Heilsordnung, einer autosoterischen Erlösungsreligion, die viel besser als alles bisher Gewesene „die tiefsten Bedürfnisse
des religiösen Gemüthes befriedigt“315. Inhaltlich sei diese Religion ein „unpersönlicher, immanenter Monotheismus“, der geschichtlich als die Synthese der indischen
und jüdisch-christlichen Religionsentwicklung auftrete.
Braig fragt nach der Form und den Merkmalen des „neuen Gedankens“, für welchen er den geeigneten Repräsentanten und eigentlichen Urheber in Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ausmacht, „welcher der eigentliche Psychologe und der
genial andeutende Metaphysiker der ‘neuen Religion’ in Deutschland ist“316. Nach
der Nüchternheit der aufklärerischen „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft“ wollte Schleiermacher das Wesen der Religion in ihrer Ursprünglichkeit
als staunende Anschauung des Unendlichen und religiöses Gefühl bestimmen.
Aus der Jugendschrift Schleiermachers „Ueber die Religion. Rede an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von 1799 und der 1821/22 in Berlin erschienenen
„Glaubenslehre“ erhebt Braig den schleiermacherschen Begriff der Religion.
Schleiermacher wolle „den psychologischen Grund und Begriff der Religion vorweisen“, und was nicht mit dem in der Menschenseele gefundenen religiösen Gefühlen übereinstimme, könne nicht Inhalt dieser modernen Religion sein. Schleiermacher gehe hier vor wie ein Naturwissenschaftler, der das Wesen der Elektrizität
erkunden wolle, sich dabei ausschließlich an die Phänomene halten müsse, sich
von keiner Meinung über die Elektrizität, und sei sie noch so alt, beeinflussen lassen dürfe. Die überkommenen Meinungen über die Religion haben Berechtigung
nur, wenn sie sich an den objektiven, allgemeinmenschlichen Regungen des Religiösen bestätigen. Schleiermacher beschreitet hier nach Ansicht Braigs einen richtigen Weg, wenn er dem psychologischen Grund der Religion auf die Spur kommen will. „Wenn richtig ist, was der Modernismus über das Wesen der Religion
glaubt ausgemacht zu haben, und wenn sich damit die positiven Religionsformen
und Religionsdogmen nicht vertragen, dann vermögen sich die letzteren nicht zu
halten, sich stützend etwa nur noch auf ihr Alter. Sie wären jetzt ebenso nothwendig umzugestalten, wie die Sätze der alten Physik über die Natur des Wärmestoffes theils preiszugeben, theils umzuwandeln waren angesichts des Gesetzes von
der Erhaltung der Weltenergie und der hierauf ruhenden Wärmemechanik“317.
314
315
316
317
Braig: Apologie XXXIII.
Ebd. XXXIV.
Ebd. XXXVIII; vgl. Hermann Fischer: Art. Schleiermacher, in: TRE 30, 143-189.
Braig: Apologie XL.
134
Braig folgt der schleiermacherschen Ausführung, wenn er im Menschengemüt einen zweifachen Trieb konstatiert, einen, der dem Reich der Selbständigkeit und
Freiheit zugehöre, der uns als etwas Besonderes erfahren lasse, und einen anderen Trieb, der nach Gemeinschaft dränge, nach Ordnung, Gesetz, Zusammenhang. Zwischen Selbstbewusstsein und Allbewusstsein zu vermitteln, sei Aufgabe
des religiösen Menschen, „das Dahinterliegende jenseits des Einzelnen und der
Allsumme von Einzelheiten fühlen durch die Kraft lebendiger Anschauung“318. Alles
Edle und Gute wachse so hervor aus den Tiefen der menschlichen Seele. „Betrachtet man so die Religion von ihrem Urquell und Mittelpunkt aus, nach ihrem innern Wesen, dann ist sie die Aeußerung der Menschennatur, hervorgetrieben aus
einer von ihren nothwendigen Handlungsweisen oder Energien“319.
Sind nun die geschichtlichen Religionen adäquate Äußerungen der aus den Tiefen
der Menschenseele aufsteigenden Urreligiosität? In den Schriften aller Religionen
sei die Religion mit anderen, ihrem Wesen nach fremden Bestandteilen durchsetzt,
schon allein, weil niemand über die moralischen und metaphysischen Begriffe seiner Zeit hinwegsehen könne. Zwischen den Zeilen sei für den Kundigen freilich
noch immer jener Urlaut der ursprünglichen Religion zu erkennen, die mit den Worten Schleiermachers selbst so umschrieben wird:
„Die Betrachtung des Frommen ist das unmittelbare Bewußtsein von dem allgemeinen Sein alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen im Ewigen und durch das Ewige. Dieses Suchen und Finden in allem, was
lebt und sich regt, in allem Werden und Wechsel, in allem Thun und Leiden – und
das Leben selbst im unmittelbaren Gefühle haben und kennen als das Sein: das ist
Religion“320. Religion sei keine Theorie, keine Summe von Sätzen oder Formeln,
keine Weltanschauung. Sie sei aber auch keine Sitten- und Tugendlehre. Die Religion sei vielmehr ein Drittes neben oder über Wissenschaft und Praxis. Dort und
nur dort, wo das Gefühl herrsche, ein Teil des Ganzen zu sein, das mich trägt, nur
dort sei Religion. Diese könne zu Wissen und Handeln drängen, religiöse Begriffe
und Grundsätze seien aber wertlos, solange man sie nicht als Äußerungen seines
eigenen Gefühls erkenne.
Braig fasst die zwei Momente der schleiermacherschen Religion zusammen: „Der
Mensch hat sich dem Universum hinzugeben und sich erregen zu lassen von der
Seite desselben, die es ihm gerade zuwendet. Dann soll er diese Berührung, die
als solche und in ihrer Bestimmtheit ein einzelnes Gefühl ist, nach innen fortpflanzen, in die innere Einheit seines Lebens und Schaffens aufnehmen. Die beständige Erneuerung dieses Verfahrens ist das religiöse Leben“321.
Dadurch kommt Braig zur Charakterisierung des „Modernismus“: „Der Modernismus will die ‘Selbstbeglaubigung’ der religiösen Wahrheit im Menschengemüthe
durch das Gefühl vermitteln, durch die unmittelbare Innenanschauung der religiösen Verhältnisse. Alles Aeußere und Geschichtliche hat nur Sinn und Werth als ein
nach außen verlegtes Symbol eines psychologischen Innenzustandes oder Innenvorganges. Wo etwas, sei’s Wort sei’s Thatsache, mehr sein will als ein Index des318
319
320
321
Ebd. XLII.
Ebd. XLII.
Ebd. XLIVf.
Ebd. XLVIIIf.
135
sen, was sich in jeder Menschenbrust, nach den Gesetzen der religiösen Gefühlsassociation, mit psycholgischer Nothwendigkeit zuträgt: das alles ist Mythus und
dessen Darstellung ist Mythologie“322. Der Inhalt der modernen Religion sei „metaphysisch der ‘Druck des Unendlichen’, psychologisch der im Gefühl gegenwärtige
Glaube an das Unendliche“323.
Dagegen benennt Braig die Lehre des wahren Christentums als ein System rationaler Heilswahrheiten und eine System geschichtlicher Heilstatsachen in einer
sichtbaren Heilsordnung, deren Bindeglied das übernatürliche Offenbarungsmysterium sei.
Wir brauchen die Folgesätze, die Braig aus der Charakterisierung des „Modernismus“ und der Analyse Schleiermachers zieht, nicht weiter zu verfolgen. Hier wird
die Religion als heilige Ehrfurcht, als Natursinn bezeichnet, sie sei Sinn für Gesetz
und Erhabenheit, sei Zuversicht und Vertrauen, Erlösung und Versöhnung, und
habe keine Dogmen. Weiter wird die durch die neue Religion betriebene Umdeutung der alten Begriffe wie Offenbarung, Gnade, Glauben und Gott charakterisiert.324 Uns interessiert hier vor allem, wie sich Braig das Vorgehen der Apologetik
gegen solche eindeutig als Irrtümer zu kennzeichnenden Neuerungen vorstellt. Deren Aktualität und weite Verbreitung weist Braig nicht nur in Zitaten aus den Werken der deutschen Dichterfürsten Goethe und Schiller nach, auch durch die Auffassungen des „positiven“ Philosophen Rudolf Hermann Lotze werde dies bestätigt.325 Daraus ergebe sich: Jede „Apologie führt müßige Luftstreiche, wenn sie
nicht durchaus philosophisch gehalten, im Geist eines hl. Thomas von Aquin geschult ist, und wenn sie nicht den sämmtlichen Irrgängen der modernen Philosophie mit überlegener Macht nachspürt“326.
Im Blick auf den geschilderten „Modernismus“ bedeute dies, die Falschheit von
dessen Grundgedanken aufzudecken, der nach Braig darin bestehe, aufgrund der
Einheit von Selbst- und Gottesgefühl im menschlichen Bewusstsein auf die wesentliche Identität von Seele und Gottheit zu schließen. Ähnlich wie in der Studie
zur Logik Hartmanns, wo Braig die Grundtätigkeiten des Bewusstseins, nämlich die
theoretische, die praktische und die ästhetische, auf die einfache Unterscheidungstätigkeit zwischen Ja und Nein zurückgeführt und damit die Widersinnigkeit des
Monismus betont hat, versucht er hier, unmittelbar am Beispiel des ästhetischen
Gefühls die Falschheit des Monismus zu erweisen. Die inhaltliche Seite der braigschen Vorstellung von den Ideen soll im dritten Teil der Arbeit dargestellt werden.
Hier sei nur soviel gesagt: Durch die ästhetischen Gefühle werde die wesentliche
Selbstständigkeit der Seele deutlich, die sich in dem Urteil, ob ein Gegenstand
dem Verhältnis der Schönheit, des Soseinsollens entspricht oder nicht entspricht,
klar ausspricht. Umgekehrt erfahre die Seele sich gegenüber dem Schönen als
normiert. Es zeige sich: Selbstbewusstsein und Gottesidee stehen nicht auf gleicher Linie, vielmehr tritt „die letztere – Gewissen – als transcendentes und absolutes Normativ des erstern überall auf [..]. Das logische Denken muß aus der Ver322
323
324
325
326
Ebd. L.
Ebd. LXXV.
Vgl. ebd. L-LIX; mit Blick v.a. auf die Christologie vgl. Fastenrath: Christologie 88.
Vgl. Braig: Apologie LIX-LXXII.
Ebd. LXXIII.
136
schiedenheit der Ich- und der Gottesidee schließen auf eine Geschiedenheit der
Wesenheiten, auf welche durch die Ideen zurückgedeutet ist“327.
Auch an diesem Beispiel zeigt sich, wie die Apolgetik Braigs gehalten ist. Formal
ist sie philosophisch orientiert, inhaltlich richtet sie sich gegen ein Denken, das
man einem zugrundeliegenden „Subjektivismus“ zuordnen kann. Braig verweist
dagegen auf einen erkenntnistheoretischen Realismus, in dem er auch die theistische Grundverfassung des christlichen Glaubens bestätigt sieht.
2.3.1.3 Gegen Harnack
Verfolgt man das apologetische Wirken Braigs weiter, fällt zunächst auf, dass in
den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, besonders nach der Ernennung
Braigs zum Professor, dessen Schaffen sich mehr auf rein philosophischem Gebiet
bewegte, veranlasst wohl durch seine Lehrverpflichtungen. In die Reihe der Auseinandersetzungen mit Hartmann und Schleiermacher gehört dann erst wieder die
mit Harnack zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Karl Gustav Adolf von Harnack
war beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die Repräsentationsgestalt des
deutschen (Kultur-)Protestantismus.328 Er hatte im Wintersemester 1899/1900 in
seinen berühmt gewordenen Vorlesungen „Das Wesen des Christentums“ versucht, das Christentum in zeitgemäßer Form wirksam werden und ihm eine wissenschaftliche Begründung angedeihen zu lassen. Diese Vorlesungen fanden in
Deutschland ein ungeheures Echo,329 und auch Braig setzte sich vor allem in zwei
Schriften ausführlich mit Harnack auseinander.330 Der Festschrift, die die Universität Freiburg ihrem Rektor, dem Großherzog von Baden, dedizierte, hatte Braig eine
Studie „Über Geist und Wesen des Christentums“331 beigegeben. Hier wird vor allem über die Methode des als Kritizismus bezeichneten Denkens Harnacks gehandelt. Die Lehre Harnacks wird in dem Wort vom „rationalistischen Ebionitismus“ zusammengefasst. Gemäß dem apologetischen Bemühen Braigs bei einem ersten
zugrunde liegenden Kardinalfehler und seiner Akzentuierung des philosophischdialektischen Moments ging es ihm so vor allem um die Methode Harnacks, und
anhand ihres Vergleichs mit den älteren Apologien Chateaubriands und Staudenmaiers wies Braig die Unhaltbarkeit der modernen Vorgehensweise nach. Zunächst hat Braig aber die Ergebnisse dargelegt, die eine falsche, moderne Methode zeitigt.
327
328
329
330
331
Ebd. LXXXIII.
Vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Art. Harnack, Adolf von, in: TRE 14, 450-458.
Vgl. zur Wirkungsgeschichte des „Wesen des Christentums“ Thomas Hübner: Adolf von
Harnacks Vorlesungen über das Wesen des Christentums unter besonderer Berücksichtigung der Methodenfragen als sachgemäßer Zugang zu ihrer Christologie und Wirkungsgeschichte, Frankfurt/Main u.a. 1994, 98-175. Braig selbst kann noch im Nachhinein „über sich selber ärgerlich werden, wenn man gestehen muß, daß die Arbeit beim
ersten Lesen etwas wie einen Eindruck bewirkt hat“ (Braig 1907e, 553).
Vgl. Fastenrath: Christologie 91-101.
Carl Braig: Ueber Geist und Wesen des Christenthums. Eine Studie zu Chateaubriands
Génie du Christianisme und verwandten Erscheinungen, Freiburg 1902 (Braig 1902c).
137
Was ist das Wesen des Christentums nach den Auffassungen der Modernen, namentlich Harnacks? Es sei die „Kenntniss, freudig gewisser Besitz Gottes als des
Vaters, Kenntniss vom unendlichen Werth der Menschenseele und Bethätigung
dieser erlebten Erkenntniss gegen sich und Andere nach dem Willen des Vatergottes“332. Braig zitiert Harnack selbst: „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium hinein, wie es Jesus verkündigt hat. Gott und die Seele, die
Seele und ihr Gott!“333 Dieser Auffassung sieht Braig einen „intellektualistischen,
rationalistischen Ebjonitismus“334 zugrundeliegen. Bekanntlich haben die judenchristlichen Ebioniten in ihrer Christologie die Menschheit Jesu betont,335 so wie
auch für Harnack Jesus der einzigartige Mensch sei, der ganz von der Erkenntnis
Gottes als des Allvaters gelebt habe. Einen christologischen Begriff, wie ihn die
Evangelien und die altkirchlichen Symbola bewahren, lehne Harnack ab. „Ein Sohn
Gottes im eigentlichen, unbildlichen Sinn, die Person eines Logos, der mit dem Vater wesenseins ist, kurz, ‘Uebernatürlichkeiten’ wie der trinitarische Gottesbegriff,
[...] sind ‘nun einmal metaphysisch unmöglich’“336. Wie kommt nun nach Meinung
Braigs Harnack zu dieser Einschätzung, und vor allem: wie ist einer solchen Aufstellung zu begegnen?
Die Methode des modernen Kritizismus, namentlich die Harnacks, sei die „Befragung der Geschichte, ist die Aufstellung einer vollständigen historischen Induktion“337 Dabei gehe Harnack so vor, dass er „das Wesentliche und Werthvolle, das
Principielle und immer Giltige, das, was in dem Wechsel und trotz des Welkens der
geschichtlichen Formen am Christenthume dauert“, zu erheben versuche. Es zeige
sich allerdings, dass dieser Standpunkt recht unsicher ist: Der Kern des Evangeliums solle aus den geschichtlich gewachsenen Einkleidungen herausgeschält werden, nach einem Maßstab freilich, der sich nur in der und durch die Geschichte ergebe. Braig erkennt in solchen Bemühungen den grundsätzlichen Irrtum des alten
Protagoras, der den Menschen als Maß aller Dinge hinstellte. „Die Methode ist ein
hoffnungsloser Anlauf, um das Unbekannte – was ist das vorausgesetzte ‘Gemeinsame’ in den geschichtlichen ‘Typen’ des Christenthums? – durch die Einstellung
eines anderen Unbekannten – was sind die vorausgesetzten ‘Grundzüge’ des Evangeliums? – eindeutig zu bestimmen“338.
Und so finden wir uns wieder beim alten Vorwurf des Subjektivismus, denn der
„Maassstab des subjektivistischen Schätzens hat es verschuldet, dass Harnack’s
Blick, sein Empfinden gerade das Wesentliche am Christenthum, dessen Göttlichkeit und die Gottheit seines Stifters, verfehlt hat“339.
Zusammenfassend wäre zu sagen, dass Braig, auch wenn es dezidiert um den
Versuch geht, historische Einwände gegen die überkommene Form des Christen332
333
334
335
336
337
338
339
Ebd. 51.
Ebd. 53.
Ebd. 30.
Vgl. Jürgen Wehnert: Art. Ebioniten, Ebionäer, in: LThK3 3, 430f.
Braig: Geist und Wesen 32.
Ebd. 17, vgl. zum Begriff der „vollständigen Induktion“ in diesem Zusammenhang Hübner: Harnacks Vorlesungen.
Ebd. 18.
Ebd. 19.
138
tums zu finden, es versteht, den zugrundeliegenden Irrtum auf philosophischem
Gebiet, vor allem auf dem der Erkenntnistheorie festzumachen. Allerdings geht es
hier nicht mehr direkt um den Gottesbegriff, sondern um die Methode, wie man die
christliche Überlieferung beurteilt. Gleichwohl ist der erkenntnistheoretische Fehler
derselbe. Wieder findet Braig einen den wahren christlichen Glauben sichernden
Objektivismus als geeignete Entgegensetzung der subjektivistischen Irrtümer der
Neuerer. Noch deutlicher wird dies, wenn Braig sich noch einmal die Harnackschen Vorlesungen vornimmt, um am Beispiel von dessen Darstellung der Messiasidee zu einem Urteil über die Theologie Harnacks zu gelangen.
Zunächst betont Braig, dass Harnack im Grunde nichts Neues vorbringe, dass also
die Aufregung, mit der die Edition der Vorlesungen begrüßt wurde, im Grunde nicht
angemessen gewesen sei. Er habe sofort die Irrümer des ebionitischen Rationalismus in der Schrift erkannt, „welche die katholische Kirche vor Jahrhunderten
schon aufgedeckt und abgewiesen hat“340.
Dieses Urteil möchte Braig anhand der Darstellung der Messiasidee, wie sie Harnack vermittle, begründen. Nach Darlegung der Messiasidee, wie sie im zeitgenössischen Judentum Jesu vorherrschend gewesen sei, behandelt Harnack das
Messiasbewusstsein Jesu selbst. Jesus habe das Messias-Prädikat als Mittel verwendet, sein einzigartiges Bewusstsein der Gottessohnschaft mitzuteilen und
zugleich dieses Bewusstsein der Gotteskindschaft allgemein fruchtbar zu machen.
Jesus habe sich in Einheit mit dem Vater gefühlt, und sein Beruf sei es gewesen,
dieses selbe Bewusstsein von der Gotteskindschaft „und in ihm die lebenzeugende, beseligende Empfindung vom unendlichen Werte der Menschenseele“341 zu
vermitteln. Braig verweist mit Nachdruck auf die Feststellung: „Harnacks Messias
hat dem Menschen nichts zu geben, was dieser nicht schon hätte“342! Es ist ein
trostloses, ein vergebliches Christentum, das Harnack predige, denn es vermöge
nicht zu erlösen von der objektiven Schuld und ihrem furchtbaren Verhängnis. Am
Beispiel der Osterbotschaft, deren Wahrheit nach 1 Kor 15,14 über den Wert der
christlichen Verkündigung entscheidet, zeigt Braig, dass die Aufstellungen Harnacks dem eminent soteriologischen Interesse des Menschen nicht gerecht werden. Jesus ist nach Harnack wie jeder Mensch gestorben und verwest; was am
Leben bleibe, und so könne der Osterglauben gerettet werden, sei der Geist Christi, die Idee der unvergänglichen Einheit Christi mit der Gottheit. Braig kann diesen
Osterglauben so zusammenfassen: „In der Menschheit sind die Abstrakta, nicht jedoch die Konkreta gegen Tod und Verwesung versichert; nicht zwar die Subjekte,
wohl aber die Prädikate sind unsterblich, das Zeitlose, Geistige, Göttliche vom
Menschen“343. Diesen Osterglauben hält Braig aber für etwas gänzlich Wertloses.
Für ihn lautet die Alternative: „Entweder die ganze, geschichtliche Osterbotschaft
[...]! Oder aber keine Osterbotschaft – denn ein ‘Schauen’ des Auferstandenen lediglich im Innern des Schauenden ist das allerzweifelhafteste Surrogat der Osterbotschaft!“344 Braig fordert diese Klarheit des Denkens, die unterscheidbare Deut340
341
342
343
344
Braig: Messiasidee 2 (Braig 1903a).
Ebd. 15.
Ebd.
Ebd. 26.
Ebd. 29.
139
lichkeit in den Prinzipien. Entweder Christentum oder „Modernismus“, eine Versöhnung des Katholizismus mit der „modernen Kultur“, wie sie am Beispiel Harnacks aufscheint, könne und dürfe es nicht geben.
Auch eine begründete Sittlichkeit könne eine solche Religion nicht herstellen.345
Weiterhin bringt Braig gegen Harnack vor, dass der Gedanke der Gottinnigkeit,
den Harnack als durch Christus neu in die Welt gekommen preist, sich schon bei
Plato finde, also so neu nicht ist.346 Der eigentlich zugrundeliegende Irrtum Harnacks, sein proton pseudos, wird aber wiederum gesehen in seinem Subjektivismus, näherhin als die Einbildung subjektiver Werturteile, die in die Vergangenheit
zurückprojiziert werden, von woher ihr „tieferer Sinn“ wieder herausgelesen und als
Erkenntnis der modernen Geschichtswissenschaft gefeiert werde.347 Dieser circulus vitiosus könne keinesfalls als ernstzunehmende Wissenschaft gelten. Der von
Harnack konstruierte Christus sei inspiriert von der Christusvorstellung Schleiermachers. Mit ausdrücklichem Verweis auf seine Einführung in die „Apologie“ charakterisiert Braig den schleiermacher-harnackschen Christus als „die Persönlichkeit, die uns die wahre Vorstellung von der Unsterblichkeit gelehrt, nämlich die
‘Empfindung’ gebracht hat, wie wir mitten in der Endlichkeit Eins werden können
mit dem Unendlichen, und wie wir lernen sollen, ewig zu sein in jedem Augenblicke“348. Diesen „religiösen Monismus“ sieht Braig auf der Vorstellung beruhen: „Wie
meiner Gedanken Einheit, meine Geistigkeit, das Prädikat, das Wirkliche meines
Ich, der ‘Aufstrahl meines eigentlichen Selbst’ ist, so ist mein Ich eines von den
Prädikaten der Allheit, die, als Einheit angeschaut und empfunden, die Gottheit
ist“349. Zur Abwehr dieser Aufstellung nütze eine einfache Wiederholung des christlichen Dogmas nichts; es gelte, die Kunst der theologischen Apologie weiterzuentwickeln, sich die Erkenntnisse der verschiedenen Wissenschaften zu Nutze zu
machen, die aber immer verwiesen bleiben auf den objektiven Realismus der wahren philosophischen Erkenntnislehre.
Am Ende zeigt Braig sich überzeugt: „Wir wissen [...], daß jeglicher Versuch, die
vom Geiste Gottes gelegten Voraussetzungen des christlichen Glaubens umzuformen oder fortzubilden, in kläglichen Mißbildungen endigt, stets geendiget hat
und darum auch stets endigen wird mit Mißbildungen des religiösen Denkens, mit
Mißerfolgen des sittlichen Ringens, mit Mißgestalten des sittlichen Schaffens“350.
Hier wird einmal mehr deutlich, dass sich Braigs apologetische Gegnerschaft nicht
mehr so sehr wider eine falsche Gottesvorstellung richtet, sondern vielmehr stehen
jetzt historische Sachverhalte zur Diskusssion, wie die Frage nach dem Messiasbewusstsein Jesu, wenngleich auch diese Frage mit dem gleichen philosophischen
Rüstzeug verhandelt wird. Entsprechend kann Braig lediglich die Unmöglichkeit
des harnackschen Gedankens aufweisen, nicht aber die notwendige Geltung seines Gegenteils. Der defensive Charakter der braigschen Apologetik tritt dadurch
deutlicher ins Bewusstsein. Der philosophische Gegner steht nun nicht mehr au345
346
347
348
349
350
Vgl. ebd. 35, Anm. 2.
Vgl. ebd. 17.
Vgl. ebd. 19f.
Ebd. 35.
Ebd.
Ebd. 37.
140
ßerhalb des Christentums wie Hartmann, sondern innerhalb. Harnack ist aber nicht
der einzige, gegen den man sich zu wehren habe.
2.3.1.4 Gegen ein „modernes Christentum“
Kurz vor den Veröffentlichungen des römischen Lehramts gegen den Modernismus
zeichnete Braig noch einmal aus seiner Sicht, welche Missbildungen ein „modernes Christentum“ an sich trägt. Am 15. Mai 1907 hielt Braig zur Übernahme seines
Amtes als Prorektor der Universität eine Rede mit dem Titel: „Das Dogma des
jüngsten Christentums“. Braigs ambitioniertes Vorhaben ging dahin, aus der Fülle
der Literatur einen Grundriss des „modernen Christentums“ zu entwerfen. Bemerkenswert ist, wie Braig wenige Monate vor den päpstlichen Verlautbarungen von
„Lamentabili“ und „Pascendi“ damit eine eigene „Modernismus-Enzyklika“ verfasst
hat. Er nennt einige Autoren, aus denen er einen Überblick über die Anschauungen der Modernen gewonnen habe. Namen wie Wilhelm Herrmann351, Reinhold
Seeberg352 und Ernst Troeltsch353 verweisen auf liberale protestantische Theologie,
und so bleibt der braigsche Modernismusvorwuf noch auf den nichtkatholischen
Bereich beschränkt.
Das Wesen der Religion bestehe nach dem Verständnis Braigs solcher und anderer Autoren darin, fromm zu sein, das heißt gut und gütig sein, sich hinzugeben an
„das Unerforschliche, das der Mensch in den Stunden heiligen Erschauerns, seligen Ahnens als den Grund und als das Ziel seines eigenen Daseins fühlt“354, welches die Gottheit sei. Aus diesem individuellen Gefühl entwickle sich in der Geschichte des einzelnen wie in der Geschichte der Menschheit die Religion mit ihren
vielfältigen Lebensregungen wie Anbetung, Danksagung, Opfer, Gebet. Das individuelle Moment an der Entwicklung der Religion nach Ansicht der Modernen sichere die Ausbildung der Persönlichkeit. Aus dem anfänglichen Ahnen des Unendlichen werde der Mensch als Person angeregt, auf den Grund seiner selbst und
nach seinem Ziel zu blicken. Der religiös empfindende Mensch fühle sich geborgen
als Kind Gottes, auch wenn über die letzten Dinge ein dichter Schleier gelegt sei.
„Die Weltwirklichkeit ist mir nicht Fremde, sondern Heimat, und durchschaut mein
Verstand auch nicht den Grund des Geschehens, begreift er nicht sein Wie noch
sein Warum, es ist für mich doch das Verfünftigste, das Beste, das Beruhigendste,
so ich unerschütterlich in dem Glauben bleibe, wie wenn, als ob die unendliche
Gottheit mit unendlicher Vaterliebe für alles schon gesorgt, den letzten meiner
Seufzer schon vernommen und beschwichtigt hätte“355.
Das soziale Moment beschreibe nun die Entwicklung der institutionellen Formen,
die sich aus dem Religionsgefühl heraus entwickeln. Der religiöse Mensch suche
wie selbstverständlich seinesgleichen, und so entstehe die religiöse Gemeinschaft,
die Kirche. Diese trete offensichtlich in Erscheinung, wenn „für die Aussprache des
Überschwenglichen, das jedes Gemüt ahnt, Formeln aufgestellt, [..] Dogmata ge-
351
352
353
354
355
Zu Wilhelm Herrmann (1846-1922) vgl. LThK3 5, 25.
Zu Reinhold Seeberg (1859-1935) vgl. LThK3 9, 368.
Zu Ernst Troeltsch (1865-1922) vgl. LThK3 10, 266.
Braig: Dogma 11 (Braig 1907c).
Ebd. 15.
141
bildet und diese als Glaubensgebot anerkannt werden“356. Das Dogma sei freilich
nur Symbol, Sinnbild, welches das Unaussprechbare dem Empfinden der Gläubigen nahebringen wolle. Sei ein Einzelner zur Überzeugung gelangt, das Dogma
entspreche nicht mehr seiner inneren Überzeugung, sei er unbedingt frei, es jederzeit abzuwerfen. Religiosität sei nie gebunden an Kirchenzugehörigkeit, allein der
persönlich Andächtige, der in die Gottheit Versenkte könne wahrhaft religiös genannt werden. „In dieser Verfassung ist sich der Mensch, als Erkenntniswesen,
des Zweckes seines Daseins bewußt, und, als Wesen der Tat, wirkt er gemäß seinem religiösen Bewußtsein für sich und andere, zeigt er sich sittlich, gut, hilfreich
und edel. Das aber allein heißt Religion besitzen und ihres Himmelstrostes froh
sein, heißt Gott lieben über alles und in Gott alle Brüder lieben“357.
Damit sei auch der Kern der christlichen Botschaft genannt, der aus all den äußerlichen Vorstellungen, Bildern, Einrichtungen, Dogmen durchschimmert, mit Harnack zu sprechen: „Gott und die Seele, der Vatergott und das Gotteskind – unendlicher Wert der menschlichen Persönlichkeit! Dieser Gedanke selbst aber und er
allein ist das Bleibende und Wesentliche am Christentum, wie er denn der zeitlose
Kern, die Religion in den Religionen ist“358.
Jesus sei nicht der Sohn Gottes im ontologischen Sinne, weil ein solcher Glaube
nach den Vorstellungen der modernen Welt sinnwidrig sei, wie auch die anderen
Glaubenswahrheiten, im eigentlichen Sinn verstanden, neu ausgelegt und verstanden werden müssen. Braig führt nun weiter aus, worin die soteriologische Stellung
des Heilandes nach Ansicht der Modernen noch bestehe. Christus habe die Wahrheit der Lehre von der Gotteskindschaft mitgeteilt und sich dafür verbürgt, und die
Intensität des Gefühls der Gottinnigkeit, das Jesus sein Eigen genannt habe, war
und ist unerreichbar; darin liege seine Einzigkeit. Braig endigt seine Darstellung
des jüngsten Christentums mit der Feststellung, dass es mit den Dogmen und
Formeln, den Symbolen und Mysterien der alten Kirchen nur mehr die Bezeichnung teile.
Was ist nun zu solchen Irrtümern zu sagen? In gewisser Weise kann Braig die idealistische Form der neuen Aufstellungen loben, ihre Begeisterung und ihre Abwehrhaltung gegen den Materialismus würdigen. Das aber genüge nicht: „Allein
keine Schönheit, keine Innigkeit, keine Ehrwürdigkeit des Ausdruckes kann die
Frage des kritischen Verstandes beiseite schieben: Soll der Kerngedanke der heiligen Schriften und der Botschaft Jesu nichts weiter als den Umriß einer antimaterialistischen Gottesidee geben, nichts anderes als einen Begriff vom Menschen
und seinem Verhältnisse zur Gottheit umschreiben, der eines sittlich gereiften Geistes würdig ist“359?
Bei der Widerlegung der Neugläubigen möchte sich Braig auf einem überkonfessionellen Standpunkt wissen.360 Auch wenn die falschen Aufstellungen meist aus
dem protestantischen Raum stammen, kann er doch mit einigen protestantischen
Theologen selbst feststellen, dass in seinen Tagen die Unterschiede zwischen
356
357
358
359
360
Ebd. 16.
Ebd. 18.
Ebd. 21.
Ebd. 33.
Vgl. ebd. 37.
142
gläubigen evangelischen und katholischen Christen sich gering ausnehmen im
Vergleich zu der Kluft, die zwischen Altprotestanten und Neugläubigen wie Harnack bestehe. Braig betont diesen Umstand sicherlich nicht nur, weil er als Prorektor einem vornehmlich protestantischen Publikum gegenüber steht. Auch entspricht
es seinem eigenen apologetischen Standpunkt, die Widerlegung philosophischer
Irrtümer als das eigentlich vorrangige Anliegen seines Zeitalters anzusehen und
damit einen konfessionellen Ansatz zunächst ausschließen zu können.
Wir können die weiteren Ausführungen Braigs, die sich im Wesentlichen an das
halten, was schon bekannt ist, zusammenfassend in die Erörterung des eigentlich
verfehlten Kerns der modernen Anschauungen einmünden lassen. Braig verweist
auf den Glaubensbegriff der Modernen, der sich hinsichtlich seiner Inhalte an äußeren Kriterien nicht messen lasse. Dieser letztlich auf dem Agnostizismus der
kantschen Philosophie beruhende willens- und gefühlsgeleitete Glaube führe zu
einer Unentscheidbarkeit der unvermeidlichen Frage nach dem Gottesbild. Die
Frage nach der Wahrheit des Monotheismus oder des Monismus hält Braig auch
im Hinblick auf das Selbstbild des Menschen für äußerst entscheidend: „Es ist
nicht gleichgültig, ob der Mensch sich als unvermeidliches und unverantwortliches
Erzeugnis der Allmutter Natur oder als das frei gesetzte, frei sich bestimmende, für
sein Tun und Lassen selbst eintretende Geschöpf dessen ansieht, der Herr der
Natur ist. Unser Seinsverhältnis ist nun einmal nicht das gleiche für beide Fälle“361.
Hier wird noch deutlicher, dass Braig die Entscheidung über die Annahme des Monismus oder des Theismus von der jeweils zugrundeliegenden Philosophie abhängig macht und das bei der Entscheidung der Frage auch ein Bewusstsein von so
etwas wie der „humanen Relevanz“ des Glaubens und der Philosophie vorhanden
sein sollte. „Entweder geht dem drängenden Wollen, dem sehnenden Ahnen des
Menschengemütes ein sehendes Wissen, ein prüfendes Schließen zur Seite, und
es zeigt dem Wollen und Ahnen ein höchstes Ziel; diesem aber legt das folgerichtige Beweisen nach dem Gesetze der Kausalität, auf objektive Erkenntnisgründe
hin, die Eigenschaften Gottes bei. Dann ist die Kantsche Vorstellung vom Glauben
und damit das Dogma des jüngsten Christentums, wonach die Religion ausschließlich Willens- und Herzenssache und, weil Bedürfnis der praktischen Vernunft, einer
theoretischen Begründung weder benötigt noch mit einer solchen verträglich sein
soll, als unerfüllbare Zumutung abzulehnen. Oder das Kantsche Philosophem und
das Dogma des jüngsten Christentums wird festgehalten, aller Logik zum Trotz.
Dann ist der Weisheit letzter Schluß die Meinung: das Verhalten des religiösen
Gemütes, das sein Ringen nach einem unbestimmten Punkte hin mit dem Erringen
eines Zieles, sein bloßes Verlangen mit etwas Verlangtem, sein Gefühl für den
‘unbekannten Gott’ mit dem Glauben an den wahren Gott, den Glauben an das
Sein Gottes mit dem Sein Gottes selbst verwechselt – dies Verhalten muß von uns
als die sinnwidrige Natureinrichtung unseres Wesens einfach hingenommen werden, und in diesem Sachverhalt eben besteht das Geheimnis der religiösen Anlagen in jedem Menschen“362.
361
362
Ebd. 50.
Ebd. 48.
143
Wir können hier abbrechen. Es hat sich hinlänglich erwiesen, worauf auch diese
durch Braig vorgenommene zusammenfassende Darstellung der modernen Irrtümer hinausläuft. Gerade der zuletzt zitierte Abschnitt zeigt deutlich, dass es Braig
mit seinem Insistieren auf dem „objektiven Prinzip“ nicht darum geht, Gefühl und
Gemüt außen zu vernachlässigen oder zu ignorieren. Für die Erkenntnis, auch die
Glaubenserkenntnis, bedürfe es wohl aber eines objektiven Kriteriums, das dem
Sehnen und Verlangen des Menschen die Tatsächlichkeit seines Ziels bestätigt.
Zum braigschen Modernismusbegriff lässt sich mit Friedrich W. Graf festhalten:
„Braig verstand unter ‘Modernismus’ vorrangig eine psychologistische Herleitung
der Religion aus dem Unbewußten oder anderen Tiefenschichten der Gefühlssubjektivität. Der ‘Modernismus’ deute Religion nicht von Lehre und dogmatischem
Wahrheitsanspruch her, sondern von den emotiven Erlebnissen und psychischen
Erregungen des ‘religiösen Gefühls’. Der ‘Modernismus’ der modernen Religionswissenschaften impliziere deshalb die Annahme, daß alle positiven, historisch tradierten Gestalten eines objektiven christlichen Kirchenglaubens unwiderruflich in
Auflösung begriffen seien“363. Braig ging es aber nicht um eine Kennzeichnung der
modernistischen Auffassungen um ihrer selbst willen, sondern in der Analyse und
Zuordnung der Gedanken Schleiermachers, Strauß’, Hartmanns und Harnacks und
Anderer soll schon der Grund gelegt sein für deren Widerlegung.
Die Frage nach dem Ausdruck „Modernismus“, mit dem Braig immer wieder die
„der neuprotestantischen ‘Gefühlsreligion’ entstammende kritische Deutung aller
konfessionellen Christentümer deutete“, spielt hier nur am Rand ein Rolle. Immerhin aber bereitete Braig „der Übertragung des Begriffs in innerkatholische Auseinandersetzungen den Weg. Wer immer einen prinzipiellen Vorrang religiöser Gefühlssubjektivität vor Dogma und Lehre bzw. vor irgendwelchen objektiven Wahrheitsansprüchen der Kirche vertrat, konnte als Repräsentant des
religionswissenschaftlichen ‘Modernismus’ bezeichnet werden“364. Wann dann dieser Begriff auch auf katholische Theologen Anwendung fand, ist noch nicht geklärt.365
2.3.2 Der Modernismus – Sammelbecken aller Häresien
Schon oben wurde auf die erstaunlichen Parallelen namentlich der Prorektoratsrede Braigs mit den kurz darauf folgenden magisteriellen Erlassen hingewiesen. Die
entsprechenden Äußerungen des Lehramtes folgen „den Auslegungen des Begriffs, die schon bei Braig zu finden sind: Auch in den Texten des Lehramtes sollte
‘Modernismus’ ‘einen Irrationalismus und Psychologismus des Religionsverständnisses brandmarken, der die Wahrheit der christlichen Glaubensverkündigung mit
363
364
365
Graf: Kritische Erwägungen 75.
Ebd.
Vgl. dazu die Hinweise von Roger Aubert: Die modernistische Krise, in: Hubert Jedin
(Hg.): Handbuch der Kirchengeschichte Bd. 6/2: Die Kirche zwischen Anpassung und
Widerstand (1878-1914), Freiburg u.a. 1973, 435-500, hier 436.
144
den gefühlsbedingten Produkten der Einbildungskraft verwechselt’“366, die aus dem
Unterbewusstsein hervorbrechen.367 Die nachfolgende Analyse soll das ausweisen.
Während das am 3. Juli 1907 von der Indexkongregation im Auftrag des Papstes
fertiggestellte und am 17. Juli publizierte Dekret „Lamentabili“368 zunächst nur 65
Einzelsätze als häretisch verurteilte, versuchte die Enzyklika „Pascendi dominici
gregis“369 vom 8. September 1907 das als System aufgefasste Phänomen des Modernismus umfassend zu schildern. Der Papst stellt fest, dass sich die Feinde
Christi nicht mehr nur unter den offenen Gegnern, das heißt Atheisten und Protestanten, befinden, sondern sich auch immer mehr in der katholischen Laienwelt und
sogar im Klerus verbreiten. Wie Braig betont auch die Enzyklika den Hauptpunkt
der Irrungen, der sie in Widerspruch zur wahren christlichen Lehre bringt: Die Modernisten „greifen das Heiligste an Christi Werk an und schonen dabei nicht einmal
die göttliche Person des Erlösers selbst, den sie in blasphemischer Frechheit zu
einem bloßen armseligen Menschen herabdrücken“370, was Braig gegenüber der
Lehre Harnacks als „ebionitischen Rationalismus“ bezeichnet hatte.
Wir haben gesehen, dass auch in der Prorektoratsrede Braigs die Tendenz gegeben ist, die modernistischen Irrtümer zu sammeln und als ein einheitliches Ganzes
zu begreifen. Braig hat dazu nicht nur die Aufstellungen einzelner Theologen herangezogen, wie die Harnacks, der ihm wohl immer noch als Hauptgewährsmann
erschien, sondern es geht ihm darum, „den Grundriß des jüngsten Christentums
und seines Dogmas zu zeichnen“371. Auch die Enzyklika fasst die Irrungen der Modernisten in einem System zusammen, das in einem Überblick dargestellt werden
soll, um den Zusammenhang der einzelnen Aussagen aufzuzeigen und geeignete
Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.372 Hatte Braig die dabei auftauchende
Schwierigkeit einer prinzipiellen Unklarheit der modernistischen Lehren zugeschrieben,373 ist die Enzyklika hinsichtlich der Schwierigkeit, die Lehre der Modernisten zu fassen, davon überzeugt, sie der Hinterhältigkeit und Bosartigkeit der
Modernisten selbst zuschreiben zu können, die den schlauen Kunstgriff gebrauchen, „ihre Lehren nicht systematisch und einheitlich, sondern stets nur vereinzelt
und aus dem Zusammenhang gerissen vorzutragen, um den Schein des Suchens
und Tastens zu erwecken, während sie doch fest und entschieden sind“374. Überhaupt wird in Bezug auf die moralische Verruchtheit der modernistischen Gegner
der Kirche jeder nur denkbare Verdacht als Tatsache hingestellt: Die Modernisten
366
367
368
369
370
371
372
373
374
Graf: Kritische Erwägungen 76, mit Bezug auf Richard Schaeffler: Art. Modernismus, in:
HWPh 6, 62-66, hier 63.
„[D]ivini indigentia, quia nonnisi certis aptisque in complexibus sentitur, pertinere ad
conscientiae ambitum ex se non potest; latet autem prima infra conscientiam, seu, et
mutuato vocabulo a moderna philosophia loquuntur, in subconscientia, ubi etiam illius
radix occulta manet atque indeprehensa“ (Pii X. Epistola 10.12).
In: ASS 40 (1907) 470-478; vgl. DH 3401-3466.
In: ASS 40 (1907) 593-650; vgl. DH 3475-3500; zitiert wird nach der autorisierten lateinisch-deutschen Ausgabe (Pii X. Epistola).
Pii X. Epistola 4.
Braig: Dogma 7.
Vgl. Pii X. Epistola 6.
Vgl. Braig: Dogma 8ff.
Pii X. Epistola 6.
145
als Feinde der Kirche seien Gotteslästerer,375 voll Falschheit,376 neuerungssüchtig
und vorwitzig,377 voll ungebändigten Stolzes,378 und sie bildeten eine Gemeinschaft,
in der sich die Gesamtheit aller denkbaren Häresien versammle379 und in der am
Untergang der Kirche gearbeitet werde.380 Diese Auslassungen „im Stile einer nicht
sehr hochstehenden Erbauungsliteratur“381 sind wohl meist auf den zweiten Verfasser der Enzyklika, den Beichtvater des Papstes José Calasanz Vives y Tuto zurückzuführen, der die beiden das Gesamturteil über die Enzyklika maßgeblich bestimmenden Abschnitte über Kritik und Abwehr des Modernismus geschrieben hatte, während der weniger anstößige systematische Teil von Joseph Lemius
stammte.382 Braig hatte dagegen für seine Modernisten immer einen großen Idealismus festgehalten, auch eine Sittenstrenge, die aber leider nicht vor Irrtum geschützt habe.383 Gleichwohl denkt auch Braig, dass eine monistische Religion letztlich eine überzeugende Ethik nicht ausbilden könne.384 Allerdings hatte Braig Anfang April 1907 in der Allgemeinen Rundschau einen Artikel veröffentlicht, „Der
Papst und die Neuchristen“, der durch seine pauschalisierende Argumentation von
weit geringerem wissenschaftlichen Wert ist und dadurch in eine ähnlich manichäistische Zuordnungspolemik gerät wie die Enzyklika: „Christ oder Antichrist! Tertium – Neuchrist, Katholik der modernen Kultur – non datur“. Die Antichristen, „die
Todfeinde Jesu Christi in unserer Zeit“ identifiziert Braig als die Anhänger der „internationalen Sozialdemokratie, die sich [...] unter jüdischer Führung mit dem kosmopolitischen Kapitalismus verbündet“ und der es „nicht nur um den Umsturz der
heutigen Gesellschaftsordnung, auch nicht bloß um eine gleichgültige Leugnung,
sondern um die Vertilgung des christlichen Gedankens zu tun“ sei.385
Die Enzyklika beginnt in ihrer systematischen Darstellung des Modernismus mit
dessen zugrundeliegender Philosophie, die in den Schlagworten „Agnostizismus“
und „vitale Immanenz“ charakterisiert wird. Braig hatte in seinen Analysen die philosophischen Grundlagen immer als letztes behandelt, sie aus der Fülle der modernistischen Aufstellungen gleichsam herausdestilliert, um gemäß seiner apologe375
376
377
378
379
380
381
382
383
384
385
Vgl. ebd. 4.
Vgl. ebd. 4; 6; 56.
Vgl. ebd. 88.
Vgl. ebd. 88; 90.
Vgl. ebd. 82.
Vgl. ebd. 4.
Trippen: Lehramt 26.
Vgl. zur Verfasserfrage und Joseph Lemius (1860-1923) und Vives y Tuto (1854-1913)
den Überblick bei Trippen: Lehramt 19-30.
Vgl. etwa Braig: Dogma 31ff., wo auch die Wirksamkeit dieses Idealismus gegenüber
dem gemeinsamen Feind, dem Materialismus, lobend hervorgehoben wird.
Vgl. Braig: Messiasidee 35, Anm. 2.
Vgl. Braig 1907d. Interessant und fast ironisch mutet die eigenwillige Deutung des jesuanischen Gleichnisses an, wenn Braig vom „alten Wein der ewigen Wahrheit“
schreibt, den die „Neuchristen“ „in die Schläuche der neuen Kultur hineinzubringen“
versuchen (vgl. ebd. 183). Unerträglich für heutige Ohren erscheint die Charakterisierung des Modernismus als „Feminismus“ „in dem Sinne zweier Poetenworte. ‘Logik
gibt’s für keine Frau’ singt einmal Friedrich Bodenstedt, und bei Ludwig Uhland steht irgendwo das böse Wort: Er wisse wohl, daß die Schönen ‘selbst die Logik zu verhöhnen
lieben.’“ (Braig 1907e, 553).
146
tischen Methode deren Falschheit nachzuweisen und mit der objektiven theistischen Anschauung vergleichend zu konfrontieren. Die Enzyklika hat nicht so sehr
den Anspruch einer wissenschaftlichen Analyse, sie will vielmehr einen synthetischen Überblick über die Lehre geben, und sie legt ihren Akzent bei der Bekämpfung der Irrtümer nicht auf das dialektische Moment, auf einen Appell an den logischen Trieb des Menschen gewissermaßen, sondern einerseits auf den Verweis
auf einschlägige Lehrdokumente,386 andererseits auf die disziplinarischen Vorkehrungen, die jetzt, nachdem das Mittel der waltenden Milde versagt habe,387 dringend erforderlich erscheinen.388 Dazu fühle sich der Herausgeber kraft apostolischer Autorität berechtigt und sogar verpflichtet.389
Von den disziplinarischen Anordnungen wird noch die Rede sein müssen. Zunächst aber soll das philosophische System der Enzyklika in seiner Entsprechung
zum vorangehenden Wirken Braigs zu Wort kommen.
„Als Grundlage der Religionsphilosophie betrachten die Modernisten die unter dem
Namen Agnostizismus bekannte Doktrin“390, die von einer prinzipiellen Unerkennbarkeit von den hinter den Erscheinungen liegenden Dingen, also auch Gottes,
ausgeht. Demgegenüber verweisen die Modernisten die Lehren von der natürlichen Gotteserkenntnis, von den praeambula fidei, den motiva credibilitatis und der
äußeren Offenbarung als überholten Intellektualismus zurück. Vier Monate zuvor
hatte Braig darauf hingewiesen, dass „die Verfechter des neuen Religionsbegriffes
auf den Agnostizismus der nach Immanuel Kant benannten Philosophie bauen“391.
Solche, die gegenüber der grundsätzlichen Unklarheit der Lehre der Neuerer nach
„scharfen und deutlichen Begriffen verlangen, erhalten die Versicherung, daß sie in
den Vorurteilen des alten Intellektualismus und Dogmatismus befangen seien“392.
Den positiven Teil der philosophischen Lehre der Modernisten benennt die Enzyklika als die „vitale Immanenz“. Wie jedes andere Phänomen auch brauche die Religion einen Grund, der sie erklärt. Dieser Grund liege im Gefühl des Menschen,
das aus einem tiefinneren Bedürfnis des Menschen nach dem Göttlichen entspringe. Die Religion der Modernen hebt nach Braig an bei der Frömmigkeit des einzelnen. „Fromm sein bedeutet: sich hingeben an das Unerforschliche, das der
Mensch in den Stunden heiligen Erschauerns, seligen Ahnens als den Grund und
als das Ziel seines eigenen Daseins fühlt, dessen Hereinwirken in sein Wesen wie
in die Naturen seinesgleichen, zuletzt in das Innere aller Dinge, der Mensch spürbar erleben kann“393.
Die Enzyklika schildert weiter das Entstehen der institutionellen Religion aus dem
anfänglichen Gefühl, das sich verstandesmäßig reflektiere und Sätze ausbilde, die
zum Dogma werden. Gegenüber der Absolutheit der religiösen Gefühle seien die
386
387
388
389
390
391
392
393
Vgl Pii X. Epistola 8; 18; 22; 32; 42; 58; u.ö.
Vgl. ebd. 2; 4.
Vgl. ebd. 98-120.
Vgl. ebd. 2; 4.
Ebd. 8.
Braig: Dogma 47.
Ebd. 9.
Ebd. 11.
147
Dogmata sekundär und relativ und damit veränderlich.394 Bei Braig geht der Ausbildung des Dogmas die Gemeindebildung voraus, für die eine gemeinsame kommunikable Grundlage gelegt werden müsse. „Das geschieht dadurch, daß für die
Aussprache des Überschwenglichen, das jedes Gemüt ahnt, Formeln aufgestellt,
daß Dogmata gebildet und diese als Glaubensgebote anerkannt werden“395. Auch
hier wird die Relativität des Dogmas gegenüber der individuellen Religiosität betont, die das Recht und die Freiheit des einzelnen nach sich ziehe, das Dogma jederzeit abzuwerfen.
Der Papst geht im Weiteren ein auf den Glaubensbegriff der Modernisten,396 auf
den Entwicklungsgedanken,397 der insbesondere auf die Entstehung von christlicher Lehre,398 von Kult und Sakramenten,399 der heiligen Schriften400 und der Kirche401 Anwendung finde und alle diese Momente damit relativiere. Insbesondere
geht der Papst im eigenen Interesse des Längeren auf die disziplinarische Gewalt
des kirchlichen Lehramtes ein, wie es von den Modernisten gesehen und verworfen werde. Dagegen wird unter Berufung auf einschlägige Stellen aus den Verlautbarungen des kirchlichen Lehramtes darauf verwiesen, dass nicht allein der Wortlaut der Glaubenslehre von den katholischen Gläubigen festzuhalten sei, sondern
auch ihr Sinn.402
Des Weiteren geht der Heilige Vater auf den Modernisten als Kritiker und Historiker
ein. Hier stellt er fest, dass der Bezug auf die Geschichte, der die Arbeiten der Modernisten als wissenschaftliche und objektive ausweisen möchte, ein schlauer
Kunstgriff sei, den wahren Ursprung der modernistischen Geschichtsdeutung zu
verschleiern. In Wirklichkeit gehe die modernistische Historie nämlich von den oben genannten philosophischen Grundsätzen aus, von einem Agnostizismus, der
die Annahme eines göttlichen Eingreifens in die Geschichte von vornherein verbiete. Daher die Unterscheidung von Christus des Glaubens und Christus der Geschichte. Ähnlich wie Braig gerade im Hinblick auf den Kritizismus Harnacks die offensichtliche Zirkelstruktur dieses Vorgehens als „Ungeschichtlichkeit“ monieren
konnte,403 weist der Papst die Subjektivität des Kriteriums einer solchen Historie
nach. „Man sucht sich nämlich in die Rolle Christi selbst hineinzudenken und sie
gleichsam durchzuspielen: was man selbst unter den gleichen Umständen getan
hätte, das überträgt man ohne Ausnahme auf Christus. – So behaupten sie
schließlich a priori und nach philosophischen Prinzipien [...] in ihrer sog. wirklichen
Geschichte, Christus sei nicht Gott und habe auch durchaus nichts Göttliches getan; als Mensch aber habe er nur das getan und gesagt, was sie ihm, wenn sie
394
395
396
397
398
399
400
401
402
403
Vgl. Pii X. Epistola 8-24.
Braig: Dogma 16.
Vgl. Pii X. Epistola 24-34.
Vgl. ebd. 38; 52-58.
Vgl. ebd. 20; 22; 40.
Vgl. ebd. 40; 42.
Vgl. ebd. 42; 44.
Vgl. ebd. 44-50.
Vgl. ebd. 58 mit Verweis v.a. auf Sätze des Syllabus (DH 2905) und des Ersten Vatikanums (DH 3020).
Vgl. Braig: Geist und Wesen 17ff.; ders.: Messiasidee 19; ders.: Dogma 37ff.
148
sich in seine Zeiten zurückversetzen, zu tun und zu sagen erlauben“404. Insbesondere wird hier das Augenmerk auf die Bibelwissenschaft gelenkt, deren neuesten
Erkenntnisse der Kirchenleitung in großem Maße besorgniserregend erschienen.405
Bevor wir zur Betrachtung der disziplinarischen Vorgehensweise der Kirchenleitung schreiten, soll hier noch kurz das Thema des Modernisten als Apologet angerissen werden, ein im Zusammenhang mit Braig besonders interessierendes Gebiet. Das Rundschreiben hatte schon klargemacht, wie die Modernisten sich das
Verhältnis von Glauben und Wissen vorstellen.406 Glauben und Wissen seien völlig
getrennte Bereiche, der Glaube habe ausschließlich das zum Gegenstand, was
außerhalb des für die Wissenschaft zugänglichen Gebietes der Phänomene liege.
Ein Widerspruch sei bei dieser prinzipiellen Unmöglichkeit einer Begegnung
grundsätzlich ausgeschlossen. Die Modernen gehen aber von einer Unterordnung
des Glaubens unter die Wissenschaft in dreifacher Hinsicht aus. Zum einen unterlägen die Dogmen und Glaubensformeln der Wissenschaft insofern, als sie ja der
phänomenalen Welt angehören. Das Gleiche gelte für die Gottesidee im menschlichen Geist, über die die Wissenschaft zu richten sich anmaße. So ergebe sich für
den Gläubigen die Notwendigkeit, nach Maßgabe der Wissenschaft zu einem Ausgleich zwischen Glauben und Wissen zu gelangen. Diese Anschauung von der
Subalternation der Theologie unter die Philosophie vorausgesetzt, der der Papst
natürlich energisch widerspricht, müsse der modernistische Apologet sich die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft und Anthropologie zu Eigen machen. Der
modernistische Apologet argumentiere geschichtlich und psychologisch. Am Beispiel eines bestimmten Theologen werden der typische Gang und die Schwäche
dieser Argumentation nachvollzogen. Um von der katholischen Wahrheit zu überzeugen, müsse gezeigt werden, dass in der katholischen Kirche eine unerklärbare
vitale Kraft liegen müsse. Dazu zeige man, dass der in Christus schon angelegte
Keim seiner Botschaft sich durch die Jahrhunderte in der Kirche durchgetragen
habe, über alle Hindernisse hinweg, so dass das Unerklärbare klar hervortrete.
Hier wird aber gleich wieder auf die Falschheit der dieser Methode zugrundeliegenden agnostisch-evolutionistischen Philosophie verwiesen. Diese gehe auch davon aus, dass die Gesetze der Logik, die in der Wissenschaft unbedingt Geltung
haben, für das Leben nicht oder nur bedingt gelten. Die Wahrheit des Lebens sei
die „Wahrheit der Relativität und der Proportion zu dem Milieu, in dem man lebt,
und zu dem Zweck, für den man lebt“407. Und so können die modernen Apologeten
auch ohne Weiteres Irrtümer in der Heiligen Schrift und Widersprüche in den Dogmen zugeben bzw. behaupten, weil damit ja nur die äußere Hülle des Eigentlichen,
des Glaubens und der Moral, betroffen sei. Die neuen Apologeten kennen aber
noch eine andere Weise, die Wahrheit des Glaubens zu beweisen, nämlich die auf
dem Gedanken der Immanenz beruhende subjektive Methode. Hier gehe man davon aus, dass im Innern eines jeden Menschen das Bedürfnis nach Religion vor404
405
406
407
Pii X. Epistola 62.
Vgl. ebd. 64-70; vgl. dazu das Dekret „Lamentabili“ (DH 3401-3466), deren verworfene
Sätze besonders solche aus dem Gebiet der biblischen Exegese sind (vgl. v.a. DH
3401-3419).
Vgl. Pii X. Epistola 28-34.
Ebd. 74; 76.
149
handen sei, und zwar nach einer solchen Religion, wie sie im Katholizismus verwirklicht erscheine. Aus der Entsprechung zu dem Bedürfnis des inneren Menschen werde damit gewissermaßen die Wahrheit des katholischen Glaubens erwiesen. „Pascendi“ kann dies als eine Methode der gemäßigt erscheinen wollenden Theologen bezeichnen, die freilich dennoch eine große Gefahr darstellen: Es
scheine nämlich auch bei ihnen, als hielten sie „eine Erhebung der menschlichen
Natur zur übernatürlichen Ordnung nicht bloß für möglich und entsprechend, was
ja die katholischen Apologeten unter Einhaltung der nötigen Schranken von jeher
bewiesen haben, sondern dieselbe sei ihnen im eigentlichsten Sinne eine Forderung der Natur“408. Hier spielen die Fragen nach dem Verhältnis von Natur und
Gnade, nach der natura pura und der Gratuität der Gnade hinein.
Die Enzyklika konstatiert in ihrem kirchenpolitischen Teil bei den Modernisten eine
Ablehnung gegen „die scholastische Methode in der Philosophie, die Autorität und
die Tradition der Väter und das kirchliche Lehramt. Diesen gilt der heißeste
Kampf“409.
Es gebe „kein sichereres Zeichen für eine beginnende Hinneigung zu den modernistischen Lehren, als wenn man anfängt, Widerwillen gegen die scholastische Methode zu empfinden.“410
2.3.3 Braigs Reaktion auf die Modernismus-Erlasse
Wenn nun im Folgenden eine Darstellung des apologetischen Wirkens Braigs nach
Veröffentlichung der päpstlichen Anti-Modernismus-Schriften erfolgen wird, so ist
damit natürlich auch ein Vergleich verbunden mit seiner Publikationstätigkeit vor
dem Jahr 1907. Daraus lassen sich dann vielleicht allgemeine Folgerungen ziehen,
was Methode und Inhalt der braigschen Apologetik und deren eventuell veränderte
Ausrichtung nach der Modernismus-Krise angeht. Das Wirken Braigs nach der
Herausgabe der Modernismus-Enzyklika lässt sich nach zwei Gesichtspunkten unterscheiden: Zunächst tritt der Enthusiasmus, mit dem Braig die Enzyklika „Pascendi“ begrüßte, in den Beiträgen, mit welchen er in Form von Vorträgen und
Schriften die Enzyklika kommentierte, offen zu Tage, seine kritiklose Begeisterung,
die sich dadurch erklären lässt, dass er die Berechtigung seines bisherigen theologischen Wirkens durch die Ausführungen des Rundschreibens in vollem Umfang
bestätigt sah. Sie bezeugen die kongeniale ideologische Nähe Braigs zu den
päpstlichen Ausführungen. Diese tritt zweitens auch zum Vorschein in der Behandlung der Themata, die nicht direkt mit der Frage nach Abwehr des Modernismus zu
tun haben, vor allem bezüglich der Christologie und historischen Fragen. Dabei
kann allerdings eine gewisse kirchenpolitische Naivität nicht übersehen werden,
die auch dann weiterbesteht, wenn sich Braig in der Behandlung von weiter entfernt liegenden Themenfeldern immer wieder an den Modernismus erinnert fühlt
408
409
410
Ebd. 78.
Ebd. 90.
Ebd. 92.
150
und sich dabei, wie bei der Thematisierung etwa des Galileikonflikts, einem gewissen Problembewusstsein nicht verschlossen zeigt.
2.3.3.1 Braigs Kommentare zu den Modernismus-Erlassen
Bei der Betrachtung der unmittelbaren Reaktion Braigs auf die ModernismusEnzyklika könnte man davon ausgehen, dass er sich auf die Kommentierung des
systematischen Teils beschränkt hätte. Dies ließe sich erwarten von seiner philosophisch-apologetischen Grundausrichtung her, die sich doch gegenüber einem
positivistischen Verständnis des autoritativen kirchlichen Lehramtes zumindest kritisch zeigt. Leider – wie man vielleicht sagen kann – hat sich Braig aber nicht nur
begeistert von den systematischen Ausführungen der Enzyklika gezeigt, sondern
auch von den disziplinarischen. Zunächst ist also die Reaktion Braigs auf den
Maßnahmenkatalog zu betrachten, den der Papst zur Ausmerzung des modernistischen Übels angeordnet hatte.411
Braig verteidigt uneingeschränkt die Maßnahmen, die der Papst in seinem Rundschreiben zur Ausmerzung des Modernismus angeordnet hat, indem er auf die
Pflicht aufmerksam macht, die jedem obliege, der für Wahrheit, Sitte und Anstand
Sorge trage.412
In seiner schon vom Titel her vielsagenden Abhandlung „Wie sorgt die Enzyklika
gegen den Modernismus für die Reinerhaltung der christlich-kirchlichen Lehre?“
legt Braig die Heilmittel der Kirche gegen das Übel des Modernismus dar. Diese
Schrift ist darum besonders interessant, weil sie uns Antwort auf die Frage gibt,
wie Braig nun selbst über die Anordnungen denkt, die ja eindeutig nicht auf die
Überzeugungskraft der Wahrheit, des logischen Denkens im Allgemeinen bauen,
sondern disziplinarisch auf eine bestimmte Schulrichtung verpflichten, wenn auch
aus der Einsicht in die Wahrheit dieser Richtung. Braig referiert zunächst die
päpstliche Anordnung, die das Studium der Philosophie in der schon von Leo XIII.
bevorzugten Weise der Scholastik betrifft. Einige nicht namentlich genannte Modernisten aus Frankreich und Italien werden als Zeugen für die Meinung aufgerufen, dass die Philosophie des Thomas sich überholt habe, und dass „auf dem Boden einer neuen Physik eine neue Metaphysik erstehen“413 müsse. Dazu schreibt
Braig: „Es ist hier nicht der Ort, mit den Modernisten über die scholastische Philosophie und ihr Verhältnis zu dem Denken der neuern Zeit zu rechten“414, wohl weil
Braigs Verhältnis zur Scholastik selbst sich differenzierter darstellt, als es von der
Enzyklika gefordert erscheint. Die falsche Philosophie des Modernismus bestehe
aber in jedem Fall in dessen Hinneigung zu Kant, zu dessen Antiintellektualismus
und Fideismus, Voluntarismus, Pragmatizismus. Gegen diese Pseudo-Philosophie
die scholastische Lehre zu stellen, habe höchste Berechtigung: Der Papst wolle,
„daß wir wieder lernen, so scharf und gründlich zu denken, wie es das Ideal der Al411
412
413
414
Vgl. ebd. 98-118.
Vgl. Braig: Wie sorgt die Enzyklika gegen den Modernismus für die Reinerhaltung der
christlich-kirchlichen Lehre?, in: Congregatio Mariana Sacerdotalis (Hg.): Jesus Christus. Apologetische Vorträge auf dem II. theologischen Hochschulkursus zu Freiburg im
Breisgau im Oktober 1908, Freiburg 21911, 523-577 (Braig: Reinerhaltung).
Ebd. 547.
Ebd. 548.
151
ten, das Ideal eines Thomas von Aquin gewesen. Philosophieren heißt, nicht ruhen, nicht ablassen vom Untersuchen und Prüfen, bis der Verstand entweder erkannt hat, wie es sich mit einem Ding und einer Denkaufgabe verhält, oder bis der
Verstand eingesehen hat, daß, warum, inwiefern ein Frage von uns Menschen
zwar gestellt, nur aber teilweise oder gar nicht gelöst werden kann. [...] Daß Rom
von der Versandung des Denkens unter dem Geröll der modernen Phrasen mit
Nachdruck auf den Ernst, die Strenge, die Folgerichtigkeit der alten Philosophie
zurückverweist, ist eine Tat, und zwar eine Tat, die geeignet ist, die Philosophie
vor den Philosophen zu retten, wenn die Philosophen die Philosophie zu Grunde
richten könnten“415.
Dieser formale Grundansatz des scholastischen Denkens wird von einem inhaltlichen ergänzt, nämlich dem Festhalten am theistischen Gottesgedanken. Entgegen
den Modernisten „denken die Alten theistisch, und sie wissen den Theismus mit
sieghafter Klarheit, Geschlossenheit und Festigkeit zu begründen“416. So stelle sich
als das Kriterium für die Richtigkeit der modernistischen Thesen die Beantwortung
der Frage heraus, ob „das Dasein des persönlichen Gottes, die Schöpfung der
Welt, der Unterschied des materiellen und geistigen Seins, die Freiheit und Unsterblichkeit der Menschenseele, der Unterschied zwischen Gut und Böse, die
Verpflichtung des Sterblichen auf ein wandelloses Sittengesetz, die Idee von der
göttlichen Vergeltung, für die Vernunft der Adamskinder erkennbar [ist] oder
nicht“417.
Gleichwohl möchte Braig seinen Grundsatz des Selbstdenkertums gewahrt wissen.
„Philosophieren nämlich heißt nicht bloß, denken so scharf und gründlich, wie die
Alten gedacht haben, heißt nicht einfach, bewiesene Sätze der Vorzeit nachdenken und wiederdenken. Philosophieren – damit nennen wir die höchste Aufgabe
der menschlichen Wissenschaft überhaupt – Philosophieren heißt, selber denken,
mit Selbständigkeit denken. Es gibt keine Autoritätsphilosophie“418. Dies sind die
bekannten Sätze Braigs zur Frage nach der Berechtigung einer philosophischen
Schule, und sie sind geschrieben, nicht nur als ob die Enzyklika gegen deren Kritiker in Schutz genommen werden sollte, sondern auch zur eigenen Rechtfertigung
gegenüber den Verdächtigungen von scholastischer Seite. Braig ist zuversichtlich,
dass die Empfehlung der philosophia perennis durch das Lehramt das Pseudowissen des Modernismus zurückdrängen werde.419 Ob er damit allerdings die Tragweite dieser Verpflichtung auf die Philosophie des Aquinaten richtig einschätzte, die
so weit ging, dass die Studienkongregation 1914 eine Reihe von scholastischen
Thesen als Leitnormen veröffentlichte.420
Eine zweite Anordnung des Papstes betrifft die Studenten, die ihr Doktorat nur zuerkannt bekommen, wenn sie „den geregelten Kursus der scholastischen, d.i. systematischen Philosophie durchgemacht haben“421. Wissenschaftliche Theologie
415
416
417
418
419
420
421
Ebd. 550f.
Ebd. 551.
Ebd. 552.
Ebd. 553.
Vgl. ebd. 555.
Vgl. DH 3601-3624; diese Leitnormen konnten sich allerdings auch nicht durchsetzen.
Reinerhaltung 556f.
152
könne nur auf dem Boden einer soliden Philosophie betrieben werden. Dagegen
stehe die Philosophie, „besser die Unphilosophie, der ‘Synkretismus’ Adolf Harnacks und des ganzen neuzeitlichen Liberalismus“422. Daneben fordert der Papst
auch das Studium der positiven Theologie, der Theologie der geschichtlichen Offenbarung, die aber im Licht der scholastischen, das heißt philosophischen Theologie gelesen werden müsse, da man sonst die Sache der Modernisten fördern
würde.423
Hinsichtlich der praktischen Vorschriften zur Ausmerzung des modernistischen
Übels merkt Braig an: „Indessen, auch unter uns selber, bis tief hinein in die Kreise
der Bestgesinnten, konnte man und kann man Stimmen hören, welche ein Bedauern über die Verfügungen, die der Papst zur Überwindung der Modernisten erlassen hat, nicht unterdrücken. Die Maßnahmen werden der Härte geziehen; und unzweckmäßig sollen sie teilweise sein, da sich nicht alle durchführen lassen in jedem Land, in jeder Kirchenprovinz“424. Diese Einwände sind nach Meinung Braigs
gegenstandslos. Die Vorkehrungen seien „zum Besten der Fehlenden und zum
Schutze bedrohter Unerfahrenheit“. „Eine bestellte Geheimpolizei, wohl gar ein
Spähertum mit verschwiegenen Anweisungen gibt es in der katholischen Kirche
nicht“425. Als Braig 1908 diese Zeilen schrieb, bestand die erst 1909 gegründete
römische Geheimorganisation „Sodalitium Pianum“, die sich dem Kampf gegen
den Modernismus verschrieben hatte, tatsächlich noch nicht.426 Braig meint, dass
man sich nicht über die Einengung seiner Bewegungsfreiheit beklagen könne,
denn ein „Gesetz, wider das ich mich nicht verfehle, kann mir doch nicht eine Last
bedeuten“427! Wenn Braig also die Harmlosigkeit der päpstlichen Anordnungen unterstreichen will, spricht er doch auch von dem Fall einer ungerechtfertigten Anschuldigung, bei der zum einen „die Wahrheit, die erweisbare Richtigkeit einer Anschauung in Sachen der menschlichen Erkenntnis auch durch den Machtspruch
einer kirchlichen Person oder Behörde nicht und niemals beiseite geschafft [würde]. Zum andern würde die Buße, die von der Gesamtheit der Gläubigen für den
Mißgriff zu zahlen wäre, so wenig als im Galileifall ausbleiben“428. Dass diese Aussage wenig trostreich für den eventuell Betroffenen ist, darüber geht Braig stillschweigend hinweg, obwohl er selbst diese Erfahrung einer ungerechten Anschuldigung gemacht hat.429 Seiner Meinung werde es schuldloses und schuldhaftes
Versagen immer geben. Braig rechnet wohl damit, dass diese Mahnung gegenüber
vorschneller Denunziation und Verurteilung, die ja der Sache der Kirche einen ungeheuren Schaden zufügen könnten, an den guten Willen und die Vorsicht derer
422
423
424
425
426
427
428
429
Ebd. 558.
Vgl. ebd. 561.
Ebd. 565.
Ebd.
Vgl. Otto Weiß: Modernismus und Antimodernismus im Dominikanerorden. Zugleich ein
Beitrag zum „Sodalitium Pianum“, Regensburg 1998; ders.: Art. Sodalitium Pianum, in:
LThK3 9, 682.
Braig: Reinerhaltung 566.
Ebd. 566f.
Vgl. Braigs Auseinandersetzung mit Michael Glossner (Erster Hauptteil: Das Leben Carl
Braigs, Abschnitt 5 Der Professor für theologische Propädeutik; Dritter Hauptteil: Die
Philosophie Carl Braigs, Abschnitt 2 Vom Sein).
153
appelliere, die entsprechende Verantwortung tragen. Es ist jedenfalls klar, dass
Braig die Gefahr, die vom Modernismus ausgeht, für eine weit größere hält als die
Gefahr einer ungerechten Verurteilung eines vermeintlichen Modernisten. Braig ist
dankbar für die päpstliche Anordnung und hält es für eine Notwendigkeit zur Reinerhaltung der wahren Lehre, jede sinnwidrige Neuerung schon im Keim zu ersticken. Auch über Zweck und Rechtmäßigkeit der übrigen Bestimmungen der Enzyklika kann für Braig kein Zweifel bestehen.
Als die Modernismus-Krise durch das Motu Proprio Pius’ X. vom 1. September
1910 noch verschärft wurde, dadurch dass die Theologen verpflichtet wurden, einen Eid über die Verwerfung modernistischer Anschauungen abzulegen, was vor
allem die modernistischen Theologieprofessoren zur Selbstoffenbarung zwingen
sollte, ließ sich diese Bestimmung in Deutschland aber für die theologischen
Hochschullehrer nicht durchsetzen. Der Papst dispensierte sie von der Eidesleistung hinsichtlich ihrer Lehrtätigkeit, nicht aber in Bezug auf eventuell ausgeführte
seelsorgerliche Nebentätigkeiten. Am 5. Februar 1911 vermeldete „Das Neue
Jahrhundert“ eine Reihe von Namen deutscher Hochschullehrer, die den Eid trotz
Dispens abgelegt hätten. Braig war einer unter ihnen.430 Im vom 21. Februar 1911
datierten Vorwort seiner Schrift „Der Modernismus und die Freiheit der Wissenschaft“ wiederholt Braig die entscheidenden Sätze des Eides: „Me etiam, qua par
est reverentia, subiicio totoque animo adhaereo damnationibus, declarationibus,
praescriptis omnibus, quae in encyclicis litteris ‘Pascendi’ et in decreto ‘Lamentabili’ continentur, praesertim circa eam quam historiam dogmatum vocant“431.
Es ist davon auszugehen, dass Braigs Meinung damit, was den kirchenpolitischen
Aspekt der Modernismus-Krise betrifft, vollständig wiedergegeben ist. In einer gewissen Arglosigkeit verteidigt er alle lehramtlichen Maßnahmen zur Ausmerzung
des Modernisten-Übels. Dabei scheint er zu übersehen, dass durch den paranoiden Zug der Enzyklika „Pascendi“ die Gefahr besteht, eine Denunziations- und
Verfolgungswelle auszulösen. Eine gewisse Naivität erstaunt umso mehr, als Braig
ja selbst schon Angriffsziel eines ihn eines gewissen „Modernismus“ anklagenden
Mannes geworden war.432 Erklärt sich daraus vielleicht der Eifer, mit dem Braig unaufgefordert wirklich jeden Aspekt der päpstlichen Antimodernismus-Kampagne als
kirchenamtliche Großtat begrüßt?
So nähme es jedenfalls nicht wunder, wenn man feststellt, dass dem ganzen nach
1907 herausgekommenen Schrifttum Braigs seine Verflochtenheit in die Modernismus-Debatte anzumerken ist, sei es direkt, als Kommentar zu den päpstlichen
430
431
432
Vgl. Das Neue Jahrhundert 3 (1911) 71.
Braig: Modernismus und Freiheit VI (Braig 1911c), im Text hervorgehoben; vgl. DH
3543.
Michael Glossner spricht von der Ontologie Braigs, die „ein noch schärferes modernes
Gepräge an sich trägt als desselben Verf.s Lehre vom Denken“ (Michael Glossner: Rezension zu Braig: Vom Sein. Abriß der Ontologie, Freiburg 1896, in: Jahrbuch für Philosophie und spekulative Philosophie 13 [1899] 501-504, hier 501).
154
Erlassen,433 sei es indirekt, wenn etwa der Galileifall als Exempel des möglichen
Konflikts zwischen Lehramt und wissenschaftlicher Erkenntnis verhandelt wird.434
Was nun den systematischen Teil der Enzyklika anbelangt, so weiß sich Braig
nicht zuletzt durch sein eigenes Schaffen ihm uneingeschränkt verbunden. An ihn
kann sein bisheriges Wirken, das sich zuletzt durch die Theologie der deutschen
liberal-protestantischen Richtung herausgefordert sah, in seiner Argumentation
gegen den Modernismus nahtlos anschließen. Die Frage, ob es einen Modernismus im Sinne der Enzyklika gebe, stellt sich Braig nicht ausdrücklich, wohl weil er
selbstverständlich davon ausgeht. Er geht von dem System aus, wie es vom Lehramt beschrieben wird.
Aus dem apologetischen Wirken Braigs, das weitgehend die dialektische Kraft des
Geistes ohne Rückgriff auf eine wie immer geartete Autorität sprechen lassen wollte, lässt sich zumindest die den systematischen Teil der Enzyklika „Pascendi“ verteidigende Tendenz viel besser verstehen, die in mehreren Kommentaren sich
Ausdruck verschafft hat. Zu den Kommentaren zählt eine ganze Reihe von Artikeln
in der „Allgemeinen Rundschau“, die Braig im Herbst und Winter 1907/08 unter
dem Titel „Aphorismen zu der Enzyklika ‘Pascendi dominici gregis’“ veröffentlichte.
Wie sehr Braig bei der Kommentierung der Modernismusabwehr auf Eigenes zurückgreifen konnte, wie sehr er auch darum bemüht war, Verständnis für die päpstlichen Ausführungen zu wecken, wird auch an Hand der Darstellung eines Vortrags
deutlich, den Braig im Sommer 1908 gehalten hat.
Dieser Vortrag vor dem Akademischen Bonifatiusverein am 2. Juli 1908 sollte die
Frage beantworten: „Was soll der Gebildete von dem Modernismus wissen?“ In
ihm erinnert Braig zunächst noch einmal an das große Aufsehen, das das Erscheinen der Enzyklika Pius’ X. in der Welt hervorgerufen habe.
Wenn Braig auf den Lehrinhalt der Enzyklika eingeht und nicht auf die Anordnungen zur Abwehr des Modernismus, konzentriert er sich im Sinne seiner Wissenschaft auf den ersten Teil des Rundschreibens, der weit weniger Widerspruch als
der zweite erfahren hat.435 In drei Punkten behandelt Braig in engster Fühlungnahme mit den Ausführungen der Enzyklika die beiden philosophischen Grundlagen des Modernismus, den Agnostizismus und die vitale Immanenz, und schließlich die modernistische Auffassung von den „Symbolen und Dogmen des Glaubens, von der Ueberlieferung und der heiligen Schrift, von den Sakramenten, der
Kirche und dem Kultus, von der Entwicklung des Kirchentums und der Kirchenlehre“436.
Braig versucht trotz engster Anlehnung seines Kommentars an den Wortlaut der
Enzyklika, die Ausführungen des Papstes nicht einfach nur zu paraphrasieren,
sondern sie zugleich mit Vernunftgründen zu untermauern, verständlich zu begründen. Die Falschheit der philosophischen Lehre des Agnostizismus, die „erste
433
434
435
436
Vgl. etwa Braig: Was soll der Gebildete vom Modernismus wissen? (Frankfurter zeitgemäße Broschüren 28,1), Hamm i.W. 1908 (Braig 1908d).
Vgl. Braig: Der Abschluß des Galileihandels, in: Historisch-politische Blätter 145 (1910)
48-61; 100-115.
Vgl. Trippen: Lehramt 20.
Braig: Der Gebildete 10.
155
Voraussetzung des Modernismus“,437 beweist Braig mit dem Hinweis auf die Unsinnlichkeit physikalischer Gesetze. Diese würden dennoch Wahrheit aussagen,
indem sie vom Sinnlichen schlussweise zum Unsinnlichen vordringen.438 Die kritisch-agnostische Meinung sei zu verwerfen, weil „sie widersinnig und weil sie
seinswidrig ist. Prädikate ohne Subjekt, dessen Prädikate sie sind, können nach
der natürlichen Ordnung nicht sein. Es ist deshalb nicht bloß möglich, von dem
Dasein und Wirken der Prädikate auf das Sein und Wirkendsein des Subjektes zu
kommen, sondern das Subjekt selbst muß aus seinen Prädikaten, wenn sie richtig
gefaßt sind, erfaßt werden“439. Das Tier hingegen sei Agnostiker, weil es sich nicht
vom Sinnlichen lösen könne, des Denkens über irgendetwas nicht fähig sei. So sei
der Papst im Recht, wenn er die Infizierung katholischer Gelehrter durch die Irrtümer kirchenferner Philosophien verurteile.440 Gemäß seinem apologetischen Programm, nach dem Braig das proton pseudos der Gegner benennen und seiner
Falschheit überführen will, benennt er den Agnostizismus als den einen Pfeiler, auf
dem das Modernismusgebilde ruhe, dessen Selbstwidersprüchlichkeit aber leicht
darzutun sei. „Einerseits behauptet er, es sei dem Menschen unmöglich, hinter die
Erscheinungen der Sinnenwelt zurückzugehen, in das Gebiet des Metaphysischen
einzudringen. Anderseits tut die agnostische Sinnengelehrsamkeit so, als sei sie
hinter den Erscheinungen mindestens ebenso gut bewandert wie innerhalb ihres
Bereichs, ansonst sie ja, diese Gelehrsamkeit, sich nicht für berufen halten dürfte,
die Erkenntnismöglichkeit mathematisch auf dem Bezirk des Sinnenfälligen einzugrenzen, zu verbürgen, daß hinter den Phänomena wirklich nichts zu holen sei“441.
Der implizite Selbstwiderspruch des Agnostizismus sei also evident.
Im Gegensatz zum Agnostiker bejahe der Katholik die Möglichkeit der natürlichen
Gotteserkenntnis, wie sie das Vatikanische Konzil formuliert habe. Aber auch der
Modernist möchte Religion haben, aber nicht die Religion des Wissens, sondern er
trage sie „im Inneren seines glühenden Gefühles“442. Das Gefühl entspringe aus
dem Bedürfnis nach einem Höchsten und sei der Glaube. Dieses Gefühl sei aber
nur vom Einzelnen selbst erlebbar, und darum benennen die Modernisten ihre Religion „mit dem tiefsinnigen Worte von der ‘vitalen Immanenz’ (Prinzip des Innenerlebnisses). Die vitale Immanenz, die ‘zweite Voraussetzung des Modernismus’,[443]
soll das Positive im Modernismus sein, das Bruststück, während der Agnostizismus
das Negative ist, das Rückenstück“444. In der „vitalen Immanenz“ sieht Braig den alten gnostischen Widersinn am Werk, den Versuch, „dem Denken und Erkennen
ein irrationales Empfindungsprinzip inhalt- und normgebend vorausgehen zu lassen“445.
437
438
439
440
441
442
443
444
445
Vgl. Braig 1907f.
Vgl. Braig: Der Gebildete 4f.
Braig 1907f, 632.
Vgl. Braig: Der Gebildete 6.
Ebd. 15.
Ebd.
Vgl. Braig 1907f.
Braig: Der Gebildete 7; vgl. Pii X. Epistola 10 (DH 3477).
Braig: Der Gebildete 15 Anm. Im gleichen Zusammenhang erwähnt Braig die lutherische Solafides-Lehre, die „Aftermystik“, Fideismus, Voluntarismus, dem er die wahre
Mystik entgegenhält: „O Herr, du allein erkennst die Natur eines minnereichen Herzens
156
Das Prinzip der Immanenz bringt Braig in Verbindung mit dem Fideismus, der auf
dem Konzil verurteilt worden sei. Er bemängelt die Unklarheit des Gefühlsbegriffs,
denn die Aussage, dass es im Innersten des Menschen sich abspiele, sei keine
Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Religiösen, des Gefühls, des Glaubens. Dann macht er auf die Unverzichtbarkeit des Wissens um Gott aufmerksam;
allein das Wissen nämlich könne Kriterium sein für die Beurteilung des Gefühlserlebnisses, ob in diesem wirklich Gott und nicht ein Götze oder gar nur ein leerer
Wahn zu finden sei.446 Das sei vergleichbar mit einem Durstigen, der durch sein
Durstgefühl sich sicher sei, den durststillenden Stoff in seinem Besitz zu haben.
Das aber stehe in Gegensatz zur katholischen Lehre, die sich damit zum Anwalt
der logischen Vernunft mache.
Weitgehend „Pascendi“ paraphrasierend vergleicht Braig weiter die beiden Auffassungen von Offenbarung und Glauben, die der Kirche und die der Modernisten. Offenbarung im Sinne der Kirche sei Ausfluss des Gottesgeistes, nach den Modernisten werde die Offenbarung dem Menschen durch sich selbst zuteil, von unten und
von innen. Glauben bedeute im Sinne der Modernisten nicht, „Wahrheiten oder
Tatsachen, die ein Mensch nicht selber sieht, nicht selber einsehen kann, auf eine
zuverlässige, unfehlbare Bezeugung hin mit klarbewußter Zustimmung, mit zweifelsfreier Festigkeit anerkennen [...]. Glauben soll nichts anderes sein als das lebendige, gesteigerte Gefühl für das Unsagbare, das Unerkennbare (motus intimus
cordis), welchem, eben weil Verstand und Vernunft Bestimmtes von dem Zustand
und über seinen Gegenstand nicht zu denken vermögen, der Wille des Gläubigen
das Größte, Edelste und Herrlichste, wonach das Wünschen glühen mag, selbst
das Göttlichsein und das Gottsein, zutrauen und gegenüberstellen darf“447. Der
Modernismus wird nach Braig dann auch folgerichtig vom Papst als Fideismus und
Voluntarismus bezeichnet: Man müsse für das Unerkennbare, sich im Inneren gefühlsmäßig Offenbarende glühen, „wie wenn es das Göttliche wäre“448.
Der Verstand der Modernisten, wenn er auch bei der Glaubenszustimmung keine
Rolle spiele, melde sich dennoch danach, und er wisse viele Begriffe der Kirche
umzudeuten und Kriterien zu benennen, nach denen diese umgeschrieben werden
müssen. „Symbol“ des Gefühls und des Unerkennbaren sei das, was „das Gefühl
des Unerkennbaren von sich und von dem Unerkennbaren in dem Bewußtsein des
Menschen zunächst offenbart“. Die Zusammenstellung symbolischer Ausdrücke
bilde „religiöse oder Glaubensformeln des ersten Grades“449. Deren Verbesserung
und Verfeinerung durch den Verstand stelle die Glaubensformeln zweiten Grades
her. „Ihre Fassungen sind dann die ‘Dogmen’“450. „Der Glaube an die göttliche
Wirklichkeit, wie er aus der Gemütsanlage des religiösen Individuums entspringt,
446
447
448
449
450
und weißt, daß niemand das minnen kann, was er in keiner Weise erkennt. Da ich nur
dir dienen und dich allein minnen soll, so gib dich mir zu erkennen, damit ich dich gänzlich minne“ (ebd.).
Vgl. Braig: Der Gebildete 8.
Ebd. 9.
Ebd.
Ebd. 11.
Ebd.
157
ist nun in der Welt fortzupflanzen, und dies geschieht durch die ‘Tradition’“451. Kirche sei reine Organisation der Gläubigen, die Heilige Schrift „die Sammlung von
außergewöhnlichen Erfahrungen außergewöhnlich religiöser Menschen, von Erlebnissen, die die Kirche wegen ihrer Fruchtbarkeit für alle Gläubigen verehrt, wie
wenn sie göttlich inspiriert wären“452. Sakramente werden in einem ähnlich rationalistischen Sinne gedeutet. „Alles aber in der Kirche, Dogma, Kult und Sakrament,
Gebrauch der Heiligen Bücher und Wertung der Tradition [...], alles und jedes steht
– das ist der Hauptartikel der Modernisten – unter dem Gesetz der ‘Entwicklung’“453. Fortwährende Änderung aller Ausdrucksformen des Glaubens sei notwendig. „Das Unerkennbare nämlich, das die Formeln, jede zu ihrer Zeit und jede
an ihrem Orte, den Glaubenden fühlen lassen wollen, ist auf unendlich mannigfache Weise, darum notwendig auch in Gegensätzen und Widersprüchen darstellbar“454. Kirche müsse also ihre Äußerungen immer an die Bedürfnisse der Menschen anpassen. Gerade hinsichtlich des Begriffs der Entwicklung mahnt Braig zur
Vorsicht an, namentlich bei der Übertragung der Vorstellung vom sich entwickelnden Leben auf ein anderes Gebiet außerhalb der Biologie. „Werden die Bilder als
Begriffe, die Aehnlichkeiten (Analogien) als Kongruenzen und Identitäten genommen, so entstehen unvermeidliche Beweiserschleichungen. Sie sind der Tod der
Wissenschaft“455.
Soweit die Darstellung des modernistischen Lehrsystems durch Carl Braig. Es ist
hinlänglich klargeworden, dass Braig in seiner Darstellung des Modernismus und
seiner Abwehr kaum originell ist. Seine Ausführungen sind reine Paraphrasen des
lehramtlichen Textes, hier und da gewürzt durch eine Erklärung und philosophische Begründung.
Für Braig ist ganz klar, dass die vom Papst verurteilten Irrtümer nicht deswegen zu
verwerfen seien, weil es der Papst war, der das Verdikt über sie gesprochen habe,
sondern sie seien abzulehnen, weil sie vernunftwidrig sind. Auch hier spricht das
Prinzip des Selbstdenkertums, das sich von seinem Anspruch her von Autoritätsgründen nicht beeinflussen lassen will.
In seiner Charakterisierung des Modernismus lehnt Braig sich also engstens an die
Ausführungen der päpstlichen Bekanntmachung an, die zuletzt erklärt: „Bei dieser
ganzen Schlussfolgerung beachten sie [die Modernisten] jedoch nicht das eine,
daß jene Bestimmung des ursprünglichen Keimes sich einzig dem Apriorismus des
agnostischen Philosophen und Evolutionisten verdankt und daß der Keim selbst
von ihnen so beliebig bestimmt wird, daß er mit ihrem Anliegen übereinstimmt“456.
Auch Braig erkennt die Nähe des Modernismus mit vielen Anschauungen, die ihm
bei Schleiermacher, Harnack und Anderen begegnet sind. Er konstruiert daher ein
Ursprungsverhältnis, das den Modernismus im deutschen Protestantismus grundgelegt sieht. „Die Modernisten, agnostisch gerichtet gegen den veralteten ‘Intellektualismus’, d.h. gegen das beweisende Verstandeserkennen mit seinen äußeren,
451
452
453
454
455
456
Ebd.
Ebd. 12.
Ebd.
Ebd. 13.
Braig 1911f, 746.
Pii X. Epistola 74 (DH 3502).
158
logisch-objektiven Kriterien, gegen die vernunftmäßige und geschichtliche Unterlage des religiösen, des christlichen, des katholischen Glaubens, die ‘Forscher’, denen nur die inneren Kriterien, die der Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung etwas sind und gelten, haben ihre Formeln größtenteils in den Gärten Ritschls und
Harnacks, der historizistischen Schule der akatholischen Gegenwart aufgelesen.“457. Diese Auffassung entspricht der der Enzyklika.458
Wir stellen bezüglich der Kommentare, die Braig den päpstlichen Antimodernismus-Erlassen angedeihen lässt, fest, dass diese sowohl zur systematischen Darstellung des Modernismus wie auch in Bezug auf die diesen bekämpfenden disziplinarischen Maßnahmen eine kongeniale geistige Nähe aufweisen. Diese Nähe ist
zum größten Teil aus dem grundsätzlichen apologetischen Programm Braigs und
seiner in den Jahren zuvor schon vorhanden gewesenen inhaltlichen Ausrichtung
zu erklären. Unverständnis oder zumindest Befremden erweckt höchstens der Enthusiasmus, mit dem die kirchenpolitisch-autoritativen Abwehrmaßnahmen gegen
den Modernismus begrüßt werden.
Relativismus der Wahrheit und Amerikanismus werden von Braig als zwei Vorspiele dieses Modernismus benannt.459 Hatte sich Braig bezüglich einer Stelle in einem
Brief Herman Schells von dessen relativistischer Auffassung der Wahrheit überzeugt gezeigt und Schell damit in die Nähe des Modernismus gestellt,460 zeigt er in
einem Aufsatz genauer, was es mit der irrigen Auffassung von der Zeitbedingtheit
der Wahrheit auf sich habe. Diese Meinung steht in engem Zusammenhang mit
dem Evolutionismus der damaligen Naturforschung. So wie sich im Bereich des
Lebendigen alles ständig weiterentwickle, es keine absoluten Formen und Ausprägungen gebe, so gebe es im Bereich des menschlichen Geistes, des Denkens, der
Kultur und der Religion nichts Festes, Ewiges, schlechthin Wahres. Evolutionismus
und Relativismus – das eine sei entweder Voraussetzung oder Folge des anderen.
Namentlich die Überzeugung von der Relativität der Dogmen ist offensichtlich katholischer Orthodoxie völlig entgegengesetzt. Eine apodiktische Behauptung der
Relativität der Wahrheit sei aber auch vernunftwidrig. Warum? Braig führt die ewige Geltung mathematischer, geometrischer Sätze an, die die Auffassung von der
Relativität der Wahrheit von vornherein ad absurdum führe. Braig räumt ein, dass
der Charakter spekulativer, theoretischer Wahrheiten und der praktischer Wahrheiten ein sehr verschiedener sein könne. Gleichwohl sei vom Charakter der elementaren Einsicht in die Wahrheit her die Meinung von der Relativität aller Wahrheit
zurückzuweisen. Braig verweist auch auf den Selbstwiderspruch des Satzes von
der Relativität aller Wahrheit. Dieser Satz nämlich in seiner apodiktischen Form
setze zumindest für den Fall seiner eigenen Wahrheit implizit eine Absolutheit voraus, die dem Inhalt des Satzes widerspreche. Damit sei die Wahrheit der Auffassung, nach der alle Wahrheit, namentlich die der Glaubenssätze, nur vorläufig und
relativ wahr sein solle, widerlegt.
457
458
459
460
Braig: Reinerhaltung 538.
„Equidem protestantium error primus hac via gradum iecit; sequitur modernistarum error; proxime atheismus ingredietur“ (Pii X. Epistola 86).
Braig 1910b
Braig 1907e, 552; Braig 1907f.
159
Auch von der Unhaltbarkeit der zweiten, zeitgeschichtlichen, Voraussetzung des
Modernismus, des Amerikanismus461, zeigt Braig sich überzeugt. Der Amerikanismus wird von Braig als eine Anschauung bezeichnet, die aufgrund des von ihm
postulierten Vorrangs der arbeitenden, unternehmenden Tugenden vor den betrachtenden, duldenden scheinbar einen sehr günstigen Eindruck mache.462 Ähnlich wie „Liberalismus“ oder „moderne Kultur“ sei aber auch der Amerikanismus ein
Sammelwort, das „Richtiges, Treffendes und Treffliches zugleich mit Schiefem,
Ungehörigem, Verderblichem umfassen“463 könne. Braig hält bereits die Unterscheidung von aktiver und passiver Tugend für verfehlt, denn eine „passive Tugend“ sei ein Widerspruch in sich. Jede Tugend entspringe der sittlichen Tatkraft,
ist „bonus usus liberi arbitrii“, wie Thomas die Tugend definiere. Deswegen seien
auch die weiteren Folgerungen aus dieser vermeintlich wesensmäßigen Unterscheidung von aktiver und passiver Tugend, wie die Behauptung, die Befolgung
der evangelischen Räte sei unserem Zeitalter nicht angemessen, sind deshalb
nicht haltbar. Der Grundfehler der Amerikanisten sei die Überschätzung der individuellen Freiheit, von deren persönlicher Tatkraft alles Heil erwartet werde. Weiter
fordern die Amerikanisten, dass die Kirche im Versuch, die Ungläubigen zu gewinnen, sperrige Glaubenssätze erst einmal außen vor lassen und schwierige Gebote
mildern solle. Dagegen betont Braig, dass die Wahrheit keiner Steigerung oder
Minderung fähig sei. Das Walten des Gottesgeistes sei nach Ansicht der Amerikanisten im 19. und 20. Jahrhundert in der lebhafteren Schaffens- und Unternehmenslust kraftvoller Charaktere zu suchen, in welcher Meinung Braig einen Ausdruck des modernen Dranges nach Autonomie entdeckt, der allerdings verkenne,
dass das letzte Urteil in religiösen Dingen der obersten Lehrautorität vorbehalten
bleiben müsse, denn das Zeugnis für eine Empfehlung Gottes könne der Mensch
niemals sich selbst ausstellen. Entscheidend sei immer die äußere Einwirkung auf
den Menschengeist durch Erschaffung, Offenbarung und Vorsehung, nicht das Innenwirken und Eigenwirken des religiösen Gefühles. Hier sieht Braig im Amerikanismus schon einen Vorläufer des im Modernismus ausgeprägten Prinzips der „vitalen Immanenz“. Als Vater des Amerikanismus gilt Issac Thomas Hecker464, der
nach Braig durch seine Wurzeln im Protestantismus ungewollt zum Urheber der
amerikanistischen Irrtümer wurde, also durch die sola-fides-Lehre Luthers mit seiner Auffassung, „daß das Recht der subjektiven Gläubigkeit [...] durchweg über der
Richtigkeit oder Unrichtigkeit des objektiven Glaubens stehe. [...] Die Stimmung also der Seele, des Gemütes allein, ohne die Zustimmung des Verstandes zu Dogmen und Formeln (Symbola), vermöge zu ‘rechtfertigen’“465. Diese auf die reine
subjektive Innerlichkeit bezogene Religiosität erkennt Braig als eine Form des Relativismus der Wahrheit, ähnlich wie die Bestrebungen, den katholischen Glauben
national auszugestalten, ihn den Landes- und jeweiligen kulturellen Gegebenheiten
461
462
463
464
465
Zum Amerikanismus vgl. Herman H. Schwedt: Alte Welt gegen Neue Welt. Der Papst
und der katholische Amerikanismus (1899), in: Wolf: Antimodernismus 143-161; ders.:
Art. Amerikanismus, in: LThK3 1, 526f.
Vgl. Braig 1910b, 491.
Ebd.
Zu Hecker (1819-1888) vgl. LThK3 4, 1235.
Braig 1910b, 499.
160
anzupassen. Dagegen hält Braig an der Festigkeit und Unveränderlichkeit der katholischen Glaubenslehre fest. Was an einem bestimmten Charakter lobenswert
sei, solle in der Kirche seinen Platz haben; das Urteil darüber sei aber der gottgewollten Autorität vorbehalten. „Das Verlangen nach individuell-nationaler Religion
ist ebenso sinnvoll wie das Verlangen nach individuell-nationaler Physik oder Algebra“466.
Es fällt auf, dass Braig hier das dem subjektivistischen Prinzip entgegengesetzte
objektive Kriterium zur Beurteilung der Wahrheit in der „gottgewollten Autorität“
verwirklicht sieht, und nicht in der durch das eigene Denken ausgewiesenen Denknotwendigkeit. Dies ist womöglich Indiz dafür, dass das Vertrauen Braigs in die
Einsichtsfähigkeit des Menschen durch Verstand und Vernunft begrenzter ist, als
es vielleicht vormals angenommen war, vielleicht aber auch dafür, dass es in der
Modernismus-Auseinandersetzung nicht allein um die Frage nach der philosophischen Gotteserkenntnis, sondern auch um Fragen geht, die eng mit der Auslegungsvollmacht des Lehramtes in Verbindung stehen.
Um dem Vorwurf zu begegnen, Braig habe das modernistische System von „Pascendi“ verurteilt, „ohne nachzufragen, ob es wirklich existiere“467, sei auf die 1911
erschienene zweite Auflage der von der Congregatio Mariana Sacerdotalis herausgegebenen Sammlung der Vorträge des Hochschulkurses von 1908 verwiesen. Hier nämlich schickt Braig seinen drei Vorträgen über „Jesus Christus außerhalb der katholischen Kirche im neunzehnten Jahrhundert“ eine Einführung voraus,
die „ein Beispiel der freien Kritik aus jüngster Zeit“, nämlich „die neueste Bestreitung des päpstlichen Primates“ behandelt. Darin setzt sich Braig intensiv mit der
dogmengeschichtlichen Studie „Cyprian und der römische Primat“468 von Hugo
Koch469 auseinander, in der Braig ein „Paradigma des modernen Historizismus“470
erblickt. Koch hatte in seinem Werk die Deutung des Herrenwortes Mt 16,18 durch
Bischof Cyprian von Karthago zum Anlass genommen, Universalepiskopat und Unfehlbarkeit des Papstes als Produkte späterer Zeiten nachzuweisen. Cyprian habe,
so Koch, die Rechtgläubigkeit nicht an der Zugehörigkeit zu Rom festgemacht,
sondern an der Verbindung zur Gesamtkirche und dem Kollegium der Bischöfe,
deren Gesamtheit die Nachfolge des Petrus repräsentiert. Cyprian, der damit
nichts als den allgemeinen Glauben seiner Zeit wiedergebe, beweise, dass die
Dogmen des Ersten Vatikanums in der Alten Kirche, zumindest in den ersten beiden Jahrhunderten noch unbekannt gewesen sein dürften.
Hierbei handelt es sich nach Braig „um die Leugnung des päpstlichen Primates,
der Institution somit, ohne die es kein kirchliches Lehramt und, wenn kein autoritatives Lehramt, keine Kirche und, wenn keine Kirche, keinen göttlichen Ursprung
des Christentums und, wenn kein Christentum, keinen Christus, keinen Gottessohn, keinen Begriff eines theistisch-trinitarischen Gottes gibt“471. Hier zeigt sich
466
467
468
469
470
471
Ebd. 502.
Weiß: Modernismus 110, Anm. 2.
Leipzig 1910.
Zu Hugo Koch (1869-1940) vgl. LThK3 4, 165; BBKL 4, 209-215; Weiß: Modernismus
336-343.
Braig: Jesus Christus 125.
Ebd. 124.
161
zum einen deutlich, dass die Apologie der Kirche und des Papstamtes für Braig in
engster Verbindung mit der zu Anfang seines wissenschaftlichen Wirkens als
Schwerpunkt gesetzten demonstratio religiosa, des Begriffs des theistischen Gottes steht, eine Verbindung allerdings, die zum anderen nicht so ohne weiteres einleuchten kann und der näheren Erläuterung bedarf. Die Kirche – freilich in einer
hierarchischen Engführung – ist der Garant für die Vermittlung des Begriffs vom
dreieinigen Gott. Hier wäre auf die Erkenntnisquelle der Autorität und das Prinzip
lebendiger Überlieferung zu verweisen, die als Urnorm und Grundregel für Kenntnis und Deutung der christlichen Offenbarungen zu gelten habe.472
Braig möchte die Behauptung Kochs, das Papsttum sei ein Produkt der Geschichte
und keineswegs eine Stiftung Jesu, nicht einfach nur mit dem Hinweis auf das katholische Dogma widerlegen. Zunächst will Braig die Bedeutung der Geschichtswissenschaft relativieren, die, „wenn Wissenschaft Erkenntnis des AllgemeinNotwendigen ist, keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne, sondern eine Hilfswissenschaft“473 sei. Viele moderne Historiker überschätzen nach Meinung Braigs die
Historie. „Der Glaube an die Wandelbarkeit sowohl der Erkenntniselemente, des
Empfindungs-, Wertungs-, Geschmacksvermögens, des modernen ‘Wahrheitssinnes’ als auch des Erkenntnisinhaltes und Erkenntnisgegenstandes, der Wahrheit
selber, muß doch an die Stelle dessen, was nach dem Vorbilde der strengsten
Wissensform, der Mathematik, das Wesen jeder Wissenschaft ist, an die Stelle der
Unveränderlichkeit, welche die Gesetze des Denkens und die Ergebnisse des Beweisens haben müssen, den regellosen, oft genug sinnlosen Wechsel setzen“474.
Die moderne Geschichtskunde zeige ihr wahres Antlitz, wenn sie die Lehre von der
relativen Wahrheit vertrete: nicht nur dass die Wahrheit verschiedene Ausgestaltungen erfahren, sondern dass sie sogar, „den Zeit- und Raumverhältnissen entsprechend, jeweils unterschiedliche, entgegengesetzte, einander aufhebende
Formen der Brauchbarkeit, Nutzbarkeit, Gültigkeit“475 haben könne. Dagegen verficht Braig die „intellektualistische“ absolute Wahrheit mit ihrer reinen, zeitlosen
Unveränderlichkeit, wie sie sich etwa in der ewigen Gültigkeit mathematischer
Aussagen zeige. Dieses den Methoden der modernen historischen Wissenschaft
zugrundeliegende proton pseudos, nämlich die Ansicht von der Relativität der
Wahrheit, verfälsche diese Methoden so sehr, dass sich die Falschheit der Einzeluntersuchungen leicht nachweisen lasse.
Braig macht aber auch deutlich, dass, selbst wenn Koch mit seiner Interpretation
Cyprians Recht hätte, dieser Tatbestand nichts an der katholischen Wahrheit ändern würde. Sein immer wieder vorgebrachtes Axiom lautet: „Nicht weil Cyprian,
Augustinus, Thomas von Aquin eine Lehre vortragen, ist sie für die Katholiken
maßgebend, sondern weil und soweit eine führende Persönlichkeit die katholische
Wahrheit bezeugt, ist der Mann eine Lehrautorität; das Zeugnis eines Menschen,
selbst eines Apostels und Evangelisten, kann niemals der Seinsgrund, sondern nur
ein Erkenntnisgrund der Wahrheit sein“476. Braig geht sogar noch weiter, wenn er
472
473
474
475
476
Vgl. ebd. 340.
Ebd. 134.
Ebd. 136.
Ebd.
Ebd. 140 u.ö.
162
erklärt, dass es in der Weltgeschichte überhaupt keine „schöpferischen“ Persönlichkeiten, wie es der moderne Historizismus will, gebe. Es gebe keine irdische Autorität, die den Gehorsam Unterworfener dauerhaft in eine gewissenswidrige Richtung lenken könne. „Katholisches Prinzip ist es und wandelloses Dogma: Es gibt
nur eine Gewalt, eine Autorität, die Gottes selbst. Autoritäten sind dann nur unerschütterlich und unfehlbar, wenn sie mit der Kraft Gottes, mit der Kraft der Wahrheit ausgerüstet sind“477. Hier zeigt sich ein kritisches Moment gegen jeden Personenkult und blinde Autoritätshörigkeit, die Braig als eine moderne Form des Aberglaubens bezeichnen kann. Zudem betont Braig die theonome Grundlegung aller
Autonomieansprüche der geschaffenen Wirklichkeit.478
Auch der darwinistische Entwicklungsgedanke als umfassendes Erklärungsparadigma für geschichtliche Abläufe lasse sich nicht begründen, weil ihm ein widersinniges Axiom zugrundeliege: Aus nichts entwickelt sich alles.
Dass Koch einer vorgefassten Meinung zugetan sei, werde daran deutlich, dass er
das argumentum e silentio, dass nämlich Cyprian weder eine Ekklesiologie entwerfe noch das Dogma vom petrinischen oder römischen Primat entwerfe oder verneine, in dem Sinne deutet, dass es damals einen solchen eben nicht gegeben haben
könne.
Braig fasst die sich aus den Irrtümern der modernen Kritiker ergebenden festzuhaltenden Konsequenzen in drei allgemeinen Punkten zusammen:
1) Die Wissenschaft der modernen, liberalen und negativen Kritik sei eine
Glaubenssache im schlechten Sinn des Wortes. Den modernen
Anschauungen liegen Dogmen zugrunde, wie etwa der Entwicklungsgedanke
oder das Philosophem der drei Entwicklungsstadien des menschlichen
Geistes, wie es Auguste Comte aufgestellt haben wollte.479
2) Braig kritisiert die willkürliche Deutekunst der modernen Kritiker. Das Verfahren der Modernen sei das, sich in den „Sinn“ eines Schriftstellers, in den
„Geist“ und die „Anschauung“ seiner Zeit hineinzuversetzen. „Indessen, es
bleibt ein grober Fehler, Vermutungen, die falsch sein können, als unbestreitbare Gewißheit auszugeben“480.
3) Der dritte Punkt behandelt die Frage nach der Wahrheit der Offenbarung.
Wenn es diese Offenbarungen Gottes für uns geben sollte, dann müssen sie
sich auch mit Sicherheit finden lassen. Die Antwort des Glaubens laute: „Entweder sind die Offenbarungen, die den Suchenden aller Zeiten die Kirche
Christi, das Lehramt der Kirche Christi im Bewußtsein gottgewirkter Unfehlbarkeit vorträgt, Wahrheit und die Wahrheit; oder eine Offenbarung der
Wahrheit, eine Wahrheit der Offenbarung gibt es nicht! Offenbarungen, die
dem Menschengeist nicht mit untrüglicher Sicherheit entgegenkommen und
die er nicht mit vernünftiger Gewißheit entgegennehmen kann, sind, weil sie
nichts offenbaren, nichtig“481. Das rechte Verständnis eines Schriftwortes
brauche die Auslegungshilfe durch den Autor, den Geist Gottes, und da der
477
478
479
480
481
Ebd. 142.
Vgl. Braig 1903b.
Vgl. Braig: Jesus Christus 161-164
Ebd. 166.
Ebd. 167.
163
Einzelmensch nicht beweisen könne, dass in ihm der sich offenbarende Gottesgeist wohne, müssen die unter dem Anspruch der Unfehlbarkeit vorgetragenen Gottesoffenbarungen des Lehramtes der Gotteskirche als Wahrheit
angenommen werden.482
2.3.3.2 Christologie im Zeichen des Modernismus
Als Professor für Dogmatik war Braig auch zuständig für die christologischen Vorlesungen. So erklärt sich auch sein zunehmendes Interesse an Fragen der Christologie und der Deutung Jesu Christi durch die modernen und modernistischen
Theologen. In der Frage nach dem antimodernistischen Kurs Braigs muss daher
sicherlich auch der Hochschulkurs der Marianischen Priester-Kongregation Erwähnung finden, der im Herbst 1908 unter reger Beteiligung stattfand und ganz im Zeichen der Modernismus-Krise stand. Die Freiburger Professoren Hoberg, Weber,
Braig und Krieg und der Bonner Gerhard Esser behandelten das Thema „Jesus
Christus“ aus unterschiedlichen Blickwinkeln.483 Braig konnte mit seinem Gebiet,
„Jesus Christus außerhalb der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert“, an schon
vorher gemachte Studien anknüpfen, namentlich an die über Harnack und das
„Dogma des jüngsten Christentums“. In drei Vorträgen versucht Braig seine Hörer
in das außerkatholische Verständnis der Person Christi, seiner Lehre und seiner
Stiftung, der Kirche, einzuführen. Nicht vergisst Braig gleich zu Anfang des ersten
Vortrags an den Modernismus zu erinnern,484 für den ja auch das christologische
Bekenntnis ein zentraler Punkt der Auseinandersetzung sei.485 Dann behandelt
Braig in bekannter Manier die Methode der kritischen Wissenschaft,486 als deren
Grundfehler sich die unkritische Anwendung des Satzes des Protagoras herausstelle.487 Weiter geht es um das Messiasbewusstsein Jesu488 und den Christus der
Urgemeinde,489 bevor eine Zusammenfassung die verschiedenen Anschauungen
über Jesus Christus noch einmal verdeutlicht.490 Einmal mehr betont Braig hier die
Falschheit der wissenschaftlichen Methode der Neuerer, die modernes subjektives
Empfinden in alte Quellen zurückverlege und es dort wieder herauszulesen versuche. Die Wertlosigkeit dieses Verfahrens liegt auf der Hand. Und trostlos sei der
482
483
484
485
486
487
488
489
490
Vgl. ebd. 166-169.
Der Alttestamentler Hoberg versucht, den geschichtlichen Charakter der Evangelien zu
erweisen, der Apologet und Neutestamentler Simon Weber untersucht die Gottheit Jesu
nach der Heiligen Schrift. Gerhard Esser stellt das christologische Dogma unter dem
Gesichtspunkt der Dogmenentwicklung dar, und der Pastoraltheologe Cornelius Krieg
schließlich überschreibt seine Vorträge mit „Jesus Christus, die Wahrheit, der Weg und
das Leben“. Roger Aubert bewertet den Sammelband als eins der wenigen Beispiele
für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Modernismus von antimodernistischer
Seite (vgl. ders.: Die modernistische Krise, in: Hubert Jedin [Hg.]: Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 6/2, Freiburg u.a. 1973, 435-500, hier 483).
Vgl. Braig: Jesus Christus 170-176.
Vgl. Fastenrath: Christologie 81f.
Vgl. Braig: Jesus Christus 181-184.
Vgl. ebd. 185ff.
Vgl. ebd. 187-196.
Vgl. ebd. 196-209.
Vgl. ebd. 209-214.
164
neue Glaube, der den christlichen Grundbegriff ungeheuer entwerte. Erst an späterer Stelle erwähnt Braig das soteriologische Interesse des Menschen, der sein Heil
von einem rein menschlichen Erlöser nicht erwarten könne, ähnlich wie etwa in
seiner Untersuchung über Harnacks „Wesen des Christentums“, wo die Wertlosigkeit der harnackschen Erkenntnisse – unter Berufung auf Pascal – daran festgemacht wurde, dass der „entscheidende Punkt“ hinsichtlich der Frage, ob das Christentum einen Wert besitze, der ist, wie es auf das Interesse des sterblichen Menschen an der Unsterblichkeit der Seele antworte.491 Braig scheut sich also auch
hier nicht, ein aus der Bedürfnislage des Menschen gezogenes immanenzapologetisches Argument gegen die Richtigkeit der modernen Anschauungen ins Feld zu
führen, gleichwohl nicht als entscheidende Begründung.492 Man fühlt sich an Albert
Schweitzers kritische Durchsicht der Leben-Jesu-Forschung erinnert, die die Beliebigkeit der jeweiligen von einzelnen Forschern geschaffenen Jesusbilder feststellt,493 wenn Braig auch die verschiedenen Rollen Christi aufführt, die er nach den
modernen Reformern einzunehmen habe, „als Reformer der Gesellschaft, als Erneuerer der Völkerpolitik und Völkerwohlfahrt, als Zerstörer des Krieges und Stifter
des Weltfriedens; oder als Enthusiast, als Schwärmer für alles Menschenglück“494.
Im zweiten Vortrag geht es um die Lehre Christi, die nach Ansicht der Neuerer
„den Höhepunkt des religiösen Wissens und der religiösen Weisheit“ bezeichne,
insofern er die richtigen Auffassungen über das Wesen der Religion bestätige und
die Offenbarung über die religiöse Wahrheit vollende.495 Auch hier knüpft Braig
wieder ausdrücklich an seine Prorektoratsrede an, wo er in drei Punkten die Funktion Christi für Religion und Menschheit nach Ansicht der Modernen kritisiert hatte.496 Hinsichtlich des ersten Punktes, der Bestätigung der Anschauung über die
Religion, wie sie nach den Modernen gesehen werde,497 referiert Braig die diesen
Theorien zugrundeliegende Religionsauffassung der Aufklärung. Diese wird dreier
Grundfehler bezichtigt, dass sie nämlich von einem unbewiesenen Entwicklungsgedanken ausgehe, dass das Wesen der Religion in der hingebenden Empfindung
des Menschengemüts gegenüber der allmächtigen Unerforschlichkeit liege, dass
sie mit der Auffassung des Glaubens als eines unabweislichen Verlangens der
praktischen Vernunft, als Gemütsforderung das falsche Philosophem des Kantia491
492
493
494
495
496
497
Vgl. Braig: Wesen des Christentums 20-30.
Vgl. Braig: Jesus Christus 283f.; „Jesus muß, soll er der Erlöser der Sünder sein, die
Sünden selber tilgen können. Seine Menschenrede bloß, die Tilgung sei möglich oder
auch wirklich erfolgt, ist gänzlich ungenügend“ (ebd. 284).
Vgl. Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 91984, 48.
Schweitzer erwähnt auch den Sammelband zur Freiburger Tagung der Marienkongregation als ein „typisches Beispiel“ für die katholische Forschung seiner Zeit (19071912), an der man sehe, „wohin der Weg führt und was aus der Gelehrsamkeit wird,
wenn sie die Anschauung und das Denken, und damit Sinn und Mut für das Wirkliche
preisgegeben hat. Sie stilisiert Figurenwerk nach historischen Motiven und redet sich
dabei ein, Geschichte zu ergründen“ (ebd. 579).
Braig: Jesus Christus 212.
Ebd. 221.
Vgl. Braig: Dogma 22-31, wo er Bestätigung, Vollendung und gewährleistete Wirksamkeit der Menschheitsreligion durch Christus unterscheidet.
Vgl. Braig: Jesus Christus 221-233.
165
nismus und Agnostizismus voraussetze. Gegen das Evolutionsparadigma stellt
Braig die Korruptionshypothese, also die Theorie von einer Entartung der Religion
im Lauf der Geschichte. Die Frage nach der Vollendung der Religion durch Christus498 sei für das Problem der Einzigartigkeit Christi gegenüber anderen religiösen
Meistern entscheidend. So unterscheidet Braig auch zwischen der Gruppe der Radikalen und der der Liberalen, für deren erste die „Vollendung“, das „Ideal“ nicht
„einen erreichbaren Terminus menschlichen Tuns oder des von uns unabhängigen
Werdens und Geschehens“499 bezeichnen könne, sondern lediglich Regel, Maßstab des Erkennens sei. Niemand könne daher mit Sicherheit sagen, ob die
Vollendung im Evangelium tatsächlich vorliege. Der Liberalismus dagegen halte an
der Einzigartigkeit Christi als des Vollenders des Evangeliums fest, was dieser dadurch gewährleiste, dass durch ihn die Menschen fühlen, Kinder Gottes zu sein,
dass ein Vater das Weltgetriebe aufrechterhalte. Ob allerdings, und darin liegt der
Grundfehler der Modernen, dieser Hoffnung und diesem Glauben ein reales Äquivalent entspreche, davon könne man nichts wissen, darüber habe auch Jesus
nichts gewusst. „Aber dadurch ist Christus der Heiland der Völker, der Erlöser der
Welt, der höchste religiöse Prophet geworden, daß er den Menschen als ihr Bestes
das Wagnis eingeredet hat, etwas zu glauben, dessen Gegenteil auch die Wahrheit sein könnte“500. Braig fasst die Ansicht der Modernen darin zusammen, dass
nach ihnen Christus nicht den Inhalt des wahren, begründbaren Glaubens (fides
quae) vermittelt habe, sondern die rechte Art des Glaubens (fides qua). Braig moniert hier die Ununterscheidbarkeit von Aberglauben und rechtem Glauben, da ein
Kriterium für die Feststellung seiner Authentizität fehle.501
Der dritte Vortrag502 behandelt die Frage nach der Stiftung Christi, der Kirche. Braig
betont die Bedeutung der Kirche als wesentliches Element im Glauben des katholischen Christentums. Demgegenüber wird nach der Auffassung der geschichtlichen
Entstehung der Kirche und der sachlich-philosophischen Bedeutung dieser Meinung im Kontext der außerkatholischen Wissenschaft gefragt. Zunächst stellt Braig
fest, dass es hinsichtlich der Fragen nach Messianität und der Lehre Christi zwischen den verschiedenen konfessionellen Kirchen weitgehend Einigkeit bestehe,
dass hier der Riss innerhalb der Kirchen selbst verlaufe, orthodoxe Protestanten
gegen Liberale, rechtgläubige Katholiken gegen Modernisten. In der Frage nach
der Kirche seien sich alle Konfessionen mehr oder weniger uneins. Nicht aber diese Uneinigkeit soll Gegenstand der Rede werden, sondern allein die Frage, „wie
sich die freigerichtete Wissenschaft der neueren Zeit die Entstehung der christlichen Kirchen vorstellt“503. Sehr breit stellt Braig die Kirchengeschichte gemäß der
Historie der Neuerer vor,504 die von einer stetigen Aufwärtsentwicklung von den ersten Christengemeinden als Vereinigungen Gleichgesinnter bis zur Höhe des aus
Rationalismus und Aufklärung gespeisten Liberalismus ausgehe, welch letzterer
498
499
500
501
502
503
504
Vgl. ebd. 233-245.
Ebd. 234.
Ebd. 243.
Vgl. ebd. 246.
Vgl. ebd. 248-291.
Ebd. 258.
Vgl. ebd. 260-271.
166
rer danach dränge, alle Kirchengemeinden letztlich durch Gemeinden freier Wissenschaft, freier Sittlichkeit, freier Kunst zu ersetzen. Im zweiten Abschnitt wird geklärt, ob und inwiefern in dieser Darstellung ein sachlich und philosophisch berechtigter Kern liege.505 Hier erklärt sich die Kirchenbildung zunächst aus dem Bedürfnis des Menschen nach dem Zusammenschluss Gleichgesinnter, aus dem dann
auch Glaubensbekenntnis und Dogma erstehen, wie Braig es ja schon öfters dargestellt hat. Durch die Betonung des individuellen Moments der Religion, deren
Wesentliches als das Seligsein der Menschenseele in der Anschauung des Absoluten aufgefasst werde, ergebe sich die Relativität und Vordergründigkeit des
Dogmas. Die Kritik der Kritik506 hebt auf die psychologischen Konstruktionen ab,
die die Kirchenbildung aus dem Begriff der menschlichen Religion und dem Christentum begreifen wollen, dann aber grundsätzlicher auch auf die von falscher Philosophie inspirierte Geschichtswissenschaft. Die Kirche als der noch unsichtbare
Menschheitsbund, der aus der sozialen Kraft der Religion einmal in seine Sichtbarkeit hervorwachsen wird, ist ein nichtiges Ideal, eine unrealisierbare Phantasievorstellung. Sie beruhe auf dem Vorurteil der Modernen, dass es keine göttliche Offenbarung geben könne, sondern nur Offenbarung innerhalb des Menschlichen.
Wieder geht es um das Kriterium, nach dem man entscheiden könnte und müsste,
ob und inwiefern in Jesus die „Blume des reinen Menschentums“ aufgeblüht sei, er
die reinste Offenbarung der echten Religion verkündet habe. Und Braig verweist
auf die soteriologische Bedeutung der Gottheit des Erlösers, der die Sündenvergebung nicht nur behauptet, sondern tatsächlich vollzogen haben müsse, wenn er
denn tatsächlich der Heiland der Menschen gewesen sein wolle. Im Anschluss
daran geht es Braig noch einmal um die Methode der modernen Geschichtswissenschaft, die nur menschliche Kräfte in der Kirchengeschichte und natürliche Faktoren am Wirken sehen wolle. Braig dagegen sieht gerade im sündigen menschlichen Treiben in der Geschichte einen „der leuchtendsten Beweise dafür, daß der
gute Weizen, den das Unkraut nicht zu ersticken vermag, von Gott ist“507, eine Argumentation, wie sie das Vatikanische Konzil auch für überzeugend befunden hatte.508 Zuletzt weist Braig auf den impliziten Personenkult der liberalen Theologie
hin, die ja nichts gelten lasse, außer wenn es von einer großen Persönlichkeit gefühlt und geschaut werde. Nach einem Kriterium zu fragen, nach welchem die
Größe des jeweiligen Subjekts gemessen werden könne, hieße nach dem Urteil
der Neuerer, einem antiquierten und überholten Intellektualismus zu verfallen.
Nach katholischer Lehre sei alle Größe allein der Gnade Gottes zu verdanken, und
Braig wiederholt einmal mehr sein autoritätskritisches Urteil: „Nicht weil ein Gedanke in der Kirche paulinisch oder augustinisch ist, ist er echt, sondern weil ein Apostel Paulus, ein Kirchenlehrer Augustinus die allgültige, die katholische Wahrheit der
göttlichen Offenbarung machtvoll, mit himmlischem Charisma gerüstet vorträgt, ist
Saulus ein Apostel, ist Augustinus eine Lehrautorität in der Kirche, der Stiftung des
505
506
507
508
Vgl. ebd. 271-278.
Vgl. ebd. 278-291.
Ebd. 288.
„[...] Ecclesia per se ipsa [...] est motivum credibilitatis et divinae suae legationis
testimonium irrefragabile“ (DH 3013).
167
Gottessohnes geworden“509. Zusammenfassend stellt Braig noch einmal klar, dass
vom Heiland der Modernen und Modernisten kein Heil zu erhoffen sei, und ihr einziges Verdienst sei es, die Sehnsucht nach der Wahrheit des Welterlösers in den
Menschen wieder wachgerufen zu haben.510
Fasst man die Ausführungen der Vorträge Braigs zusammen, so ergibt sich ein
deutliches Bild: Der Freiburger Professor zeigt, dass er nicht nur nahtlos an sein
vormaliges Wirken anknüpfen kann, sondern dass dieses Wirken gerade durch die
Ausführungen von „Lamentabili“ und „Pascendi“ in seiner Wichtigkeit und Richtigkeit bestätigt und gewürdigt wurde. Gerade was die Frage nach der wissenschaftlichen Methode und ihrer philosophischen Grundlegung und die Konzentration auf
die christologischen Probleme von Messianität und Gottessohnschaft angeht, zeigt
sich die Kontinuität in Braigs Wirken. Eine Verschiebung in Richtung auf den Umkreis des Traktats der demonstratio catholica, die ja gerade in der ModernismusKrise eine deutliche Überspitzung erfuhr,511 lässt sich mit der Thematisierung der
Stiftung Jesu und der Betonung des hierarchischen Prinzips in der schon oben
vorgestellten Studie512 zu Hugo Kochs Untersuchung zu Cyprian gleichwohl beobachten. Dass dabei das geschichtliche Moment der Theologie viel bedeutender
wird, liegt auf der Hand, dass es mit dem spekulativen verbunden werden muss,
ebenfalls.
Dass ein reiner Philosophismus, die alleinige Konzentration auf das spekulative
Moment, in die Irre geht, zeigt Braig in einer Untersuchung, die in der zweiten Auflage den ursprünglichen Vorträgen des Sammelbandes angehängt wurde und das
philosophische Pendant zur historizistischen Methode unter die Lupe nimmt. Hier
geht es Braig noch einmal um das Prinzipielle; hier soll, wiederum an einem Einzelbeispiel, der „Wert des (Pseudo-)Dogmas in der liberalen Welt- und Religionsanschauung kurz geprüft, [..] das philosophische Endergebnis gewogen werden,
durch das die Methode des Historizismus, genannt religionsgeschichtliche Betrachtung des Christentums, ergänzt werden soll“513.
Der Titel des Abschnitts „Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte“ verweist schon auf die zugrundeliegende Problematik. Das Christusdogma des
Liberalismus wird so beschrieben, dass die Steigerung jüdischer und heidnischer
Vorstellungen dazu gedient habe, den Glauben an Jesus als den Gottessohn auszubilden: „Jesus als Christus zum Gott erhöht im Glauben, durch den Glauben an
den Idealmenschen, auf daß dieser Glaube lebendig bleibe“514. Die Unterscheidung von Christus des Glaubens und Jesus der Geschichte ist auch ein wesentli-
509
510
511
512
513
514
Braig: Jesus Christus 290.
Vgl. ebd. 290f.
Vgl. Flury: Redlichkeit 124-128.
Vgl. Braig: Jesus Christus 119-169; „Es handelt sich um die Leugnung des päpstlichen
Primates, der Institution somit, ohne die es kein kirchliches Lehramt und, wenn kein autoritatives Lehramt, keine Kirche und, wenn keine Kirche, keinen göttlichen Ursprung
des Christentums und, wenn kein Christentum, keinen Christus, keinen Gottessohn,
keinen Begriff eines theistisch-trinitarischen Gottes gibt“ (ebd. 124).
Ebd. 296.
Ebd. 299.
168
ches Moment des vom Papst verurteilten Modernismus.515 Den Eindruck von Jesu
einzigartiger Persönlichkeit habe man nach seinem Tod mit Hilfe zur Verfügung
stehender und noch einmal gesteigerter Vorstellungen auszudrücken versucht.
Diese von den Theologen postulierte Entwicklung beruht nach Braig auf der schon
dargestellten Methode des Historizismus, die eine Phantasieschöpfung als wissenschaftliche Erkenntnis verkaufen wolle. Ein selbst erdachtes Ideal aber darf nach
der Erkenntnislehre Braigs in einer wissenschaftlichen Argumentation keine Rolle
spielen, weil ein objektives Kriterium zur Beurteilung eines Menschen als idealen
fehle. Braig unterscheidet zwischen einem „gemeinen Liberalismus“, der das genannte Kriterium missen lässt, und einem „philosophischen Liberalismus“, der die
Frage beantworten soll, wie und wodurch Jesus der Urheber der Bewegung des
Christentums geworden sei. Als Wahrheitskern der Christusidee wollen die philosophisch arbeitenden Kritiker die Idee der Gottmenschlichkeit im Sinn eines Monismus und Pantheismus erkannt haben.516
Die Unterscheidung zwischen Jesus der Geschichte und Christus des Glaubens
sieht Braig in dem durch Gotthold Ephraim Lessing Ausgedrückten grundgelegt:
„Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden“517. Nach diesem Ausspruch habe man versucht, die Brücke zwischen der Geschichtskunde und der wissenschaftlichen Erkenntnis abzubrechen. Man unterscheide und trenne den Jesus der Geschichte von der zeitlosen Christusidee, dem Christus des Dogmas. Braig möchte aber die
verschiedenen Quellen der Erkenntnis, Vernunft und Verstand auf der einen, die
Autorität auf der anderen Seite, nicht in dieser Weise gegeneinander ausgespielt
wissen. Auch aus der historischen Tatsache, etwa dass Pythagoras zum ersten
Mal einen bestimmten geometrischen Satz bewiesen habe, seien notwendige
Wahrheiten zu schließen, nämlich „daß das pythagoreische Axiom Theorem in sich
widerspruchslos, beweisbar sein müsse, und daß Pythagoras, wenn er den Beweis
geliefert hat, die Fähigkeit des Mathematikers hatte und haben mußte“518. Zufällige
Wahrheiten seien also doch Erkenntnismittel für notwendige Wahrheiten. Während
es auf der einen Seite der modernen Theologie die Anhänger des Historizismus
gebe, für die nur der geschichtlich-lebendige Jesus und das Verhältnis des Gläubigen zu seiner Person ausschlaggebend sei, so dass das Dogma völlig gleichgültig
werde, so gebe es auf der anderen Seite die Verfechter des Philosophismus, für
die die Existenz des historischen Jesus völlig zweitrangig sei, solange die Christusidee, das Menschheitsideal, als solches erkannt bleibe.519
Wieder entdeckt Braig in David Friedrich Strauß einen Protagonisten des theologischen Philosophismus, der sagt: „Die theologischen Wahrheiten müssen mittelst
der Vernunft allein als notwendige Denkwahrheiten aus ihr allein sich erheben lassen; ein Glaubenssatz, der sich gegen eine reine Übertragung in einen Vernunftsatz sträubt, ist, gerade wenn der Satz als übernatürlich ausgegeben wird, als et515
516
517
518
519
Vgl. etwa DH 3429: Verurteilt wird der Satz: „Concedere licet, Christum, quem exhibet
historia, multo inferiorem esse Christo, qui est obiectum fidei“.
Vgl. Braig: Jesus Christus 303.
Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1989, 441.
Braig: Jesus Christus 305.
Vgl. ebd. 312.
169
was historisch Zufälliges und Hinfälliges abzutun“520. Dagegen erhebt Braig einen
vierfachen Einwand:
1) In der straußschen Konstruktion des idealen Christus als einer Vernunftidee
sieht Braig die dialektische Methode Hegels zur Anwendung gebracht. Die
Idee des von der Gattung Menschheit bestimmten vollkommenen
Menschseins muss der Einzelmensch beleben, und durch die Negation hebe
das Individuum die natürliche, sinnliche Beschränktheit der Idee auf. Das individuelle Subjekt erhebe sich so zur Vollkommenheit der Gattung, der endliche Geist werde seiner Unendlichkeit inne. Für Braig sind dies „Nichtigkeiten
und Widersinnigkeiten“.521
2) Die Frage nach dem Ursprung der Idee werde von Strauß nicht beantwortet.
Die Behauptung, es müsse sich um eine Vernunftwahrheit handeln, werde
nicht bewiesen, könne nicht bewiesen werden, weil die Christusidee doch
eindeutig aus dem Bereich des historischen Christentums stamme.
3) Was ist der genaue Inhalt der Christusidee? Braig sieht diese Frage durch
Strauß und die Seinen nicht beantwortet. Und solange nicht klar sei, worin die
Idee bestehe, lasse sich auch nicht deren Alleinberechtigung nachweisen,
lasse sie sich nicht gegen eine Wahnidee abgrenzen.
4) Das letzte logische und ontologische proton pseudos des Philosophismus sei
die monistische Anschauung von der Identität von Gott und Mensch. Der Beweis für die monistische Weltanschauung sei das Gefühl. Braig möchte hier
nicht weiter die Unmöglichkeit jedes Monismus betonen. Vielmehr sieht er es
als erwiesen an, dass die These von der reinen Vernunftidee widerlegt sei.
„Ohne die Gesamtmasse des Zufälligen, ohne die Geschichte und ohne die
Außen- und Innenerfahrung, die dem Denken des Menschen den Stoff zu liefern haben, kann es weder Wissen noch Wissenschaft geben. So würde ohne
das lebendige Lehramt der Kirche Gottes, das den Glaubensstoff (depositum
fidei) aus der Gottesoffenbarung zu nehmen hat, auch kein Christentum sein,
weder eine christliche Lehre noch ein Christentum des Lebens. Das Vernunftchristentum, die Christusidee, der ideale Christus des Vernunftglaubens,
das Ideal der vollkommenen oder Humanitätsreligion, all die Reden davon
und darüber sind inhaltslose Spekulationen“522.
Diesen idealistischen Monismus, die Anschauung von der Einerleiheit, Wesenseinheit alles Seienden, dies macht Braig auch in der zeitgenössischen liberalen
protestantischen Theologie aus; hier wird Jesus als der Normallehrer der Christianität hingestellt, der Idee der Einswerdung, der Seins- und Weseneinheit zwischen
Menschlichem und Göttlichem. Auch in seiner über das Buch von Arthur Drews523,
„Die Christusmythe“, im „Katholik“ veröffentlichten Studie „Die jüngste Leugnung
der geschichtlichen Existenz Jesu und ihr letzter Grund“ macht Braig als Grund für
Drews Behauptungen der Ungeschichtlichkeit der Person Jesu und des Ursprungs
der Kirche in einem Christus-Mythos einen zugrundeliegenden Pantheismus aus.
520
521
522
523
Ebd. 314.
Vgl. ebd. 314ff.
Ebd. 322.
Zu Arthur Drews (1865-1935) vgl. LThK3 3, 372f.
170
Dieser sei klar als denkwidrig, also als ein logisch-formaler Irrtum zu erweisen.524
Aber auch die moralische Verwerflichkeit des Pantheismus liege auf der Hand.
„Bildet Gott mit der Welt ein Seiendes, das Eine-Seiende, dann sind auch Geist
und Stoff, Notwendigkeit und Freiheit, Wahres und Falsches, Gutes und Böses,
Gerechtes und Ungerechtes jeweils eins und dasselbe. [...] Was soll die Rede von
der Wahrheit noch, der Güte, dem Ideale, wenn alles Positive, allem Negativen
gleichgesetzt, innerlich durchaus entwertet, objektiv entrechtet ist“525?
Dieser monistische Grundzug werde durch eine falsche Erkenntnislehre verursacht, die notwendige Vernunftwahrheiten von zufälligen Geschichtswahrheiten
nicht nur unterscheide, sondern gänzlich abtrenne. Die Ideen der kritischmonistischen Theologie seien durch reine Vernunft nicht zu erweisen. Und selbst
wenn es ein dem Zahlendenken der Mathematik analoges Ideendenken der Philosophie gäbe, so bewiese doch gerade ersteres, dass die Unterschiedenheit der
Erkenntnissubjekte und die Verschiedenheit der Erkenntnisobjekte nicht aufhebbar
seien.
So sei man durch das Scheitern des Philosophismus, dem die Existenz einer geschichtlichen Figur Jesus von Nazareth im letzten gleichgültig werden müsse, wieder genau an diese Historie verwiesen. Braig interessiert, wie die freie protestantische Theologie seiner Tage die Begründung des Glaubens an den geschichtlichen
Jesus liefere. Er fordert mit der apologetischen Wissenschaft seiner Kirche eine
wissenschaftliche Begründung des Glaubens. Eine solche liefert etwa Johannes
Weiß526, evangelischer Neutestamentler, nicht, wenn er lediglich auf das Gefühl
verweise, das dem Leser des Evangeliums offenbare, wo Jesu ureigene Worte
sprechen. „Statt wissenschaftlicher Gründe werden irrationale, voluntaristische
Anwandlungen genannt, die zurückgehen auf die falsche Meinung Kants und der
Kantianer, auf den ‘Vernunftglauben’, welcher eine Leistung nicht der Vernunft, des
erkennenden Geistes, sondern der praktischen, der affektiven Seele ist und sein
will“527.
Die Versuche des liberalen Protestantismus, wissenschaftliche Gründe für den
christlichen Glauben beizubringen, sieht Braig am Ende seiner Ausführungen für
gescheitert an. Er betont die Wichtigkeit, das Christentum als Gesamt als Gegenstand der Geschichte und als Gegenstand des philosophischen Nachdenkens anzusehen. Braig wiederholt sein apologetisches Programm: „Eine falsche Philosophie [...] kann und muß philosophisch überwunden werden. Das geschieht dadurch, daß nachgewiesen wird, inwiefern sich entweder in den ersten Annahmen
oder in den Schlußketten irgendeiner antichristlichen Weltanschauung Alogien,
Denkfehler eingenistet haben. [...] Ist das Verkehrte vollständig ausgeräumt, dann
ist die eine Position der Wahrheit, das philosophische Präambulum des Glaubens,
der theistische Gottes- und Schöpfungsbegriff darzulegen und zu begründen“528.
Auf der Seite der historischen Begründung sei natürlich zunächst auf die Tatsachen und historischen Quellen zu verweisen. Bei der Beurteilung und Deutung der
524
525
526
527
528
Vgl. Braig 1911d, 183-186.
Ebd. 187.
Zu Johannes Weiß (1863-1914) vgl. BBKL 13, 659-666.
Braig: Jesus Christus 335.
Ebd. 338.
171
Tatsachen müsse die menschliche Freiheit berücksichtigt werden. Gerade aber die
Kontingenz geschichtlicher Ereignisse mache eine Geschichtsschreibung mit syllogistischer Apodiktik unmöglich. Der letzte falsche Schein aus der Geschichtswissenschaft sei nur mit Hilfe der lebendigen Überlieferung zu tilgen. Die Tradition,
„der seit dem Uranfang fließende Strom lebendiger Überlieferung, [ist] die Urnorm
und Grundregel für die Kenntnis und für die Deutung sowohl der ungeschriebenen
Traditionen als auch der schriftlich verzeichneten Fakta und Lehren des Christentums, deren Offenbarungen gleichfalls (übernatürliche) Fakta sind [...]. Und diese
Überlieferung kann nicht echt sein, wenn sie nicht verbürgt ist. Endgültig verbürgt
aber kann sie nur werden durch lebendige Zeugen, welche die berufenen Träger
und Ausleger der Gesamtüberlieferung in Sachen der christlichen Wahrheit sind
und dies bleiben durch den Lauf der Jahrtausende“529. Damit ist die Notwendigkeit
des kirchlichen Lehramtes bewiesen, aber auch die Tatsache begründet, warum
„alle dogmenlose, außerkirchliche, widerkirchliche Wissenschaft mit allen ihren Erklärungsversuchen und Ersatzversuchen gegenüber der Religion des Christentums
[...] noch immer gescheitert ist und immer wieder scheitern wird“530.
Autorität und Freiheit halten sich so in einer Spannung. Einerseits sei der einzelne
Gläubige immer an die Autorität der gegebenen Wahrheit und des Lehramtes als
authentischen Ausleger des Glaubens verwiesen, andererseits fühle er sich dazu
verpflichtet, das depositum fidei selbstständig nachzudenken und nachzuvollziehen. „Ohne die Autorität der Kirche kein Glaube! Ohne die freie Selbsttätigkeit des
erkenntnisfähigen Subjektes kein vernünftiges Glauben“531!
Auch hier ist auffallend, wie Braig sich der konkreten geschichtlichen Erfahrung als
Erkenntnisquelle für die Glaubenswahrheiten zuwendet. Die selbstdenkende Vernunft, die doch auch nach Ansicht Braigs so viel vermag, namentlich im Bereich
der Gotteserkenntnis, sei und bleibe, was die nur durch Offenbarung zugänglichen
Glaubensgeheimnisse anbelangt, verwiesen an die Erfahrung, genauer an die autoritative Überlieferung.532
Gerade aber dieser Verweis auf die Autorität mache den der Kirchenlehre verpflichteten Christen verdächtig für die, die einer unbeschränkten Autonomie der
Vernunft das Wort reden wollen. Die Auseinandersetzung mit der Auffassung, die
einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Glauben und Vernunft, zwischen
Festhalten am christlichen Dogma und freier Wissenschaft sehen will, soll im folgenden Abschnitt besprochen werden.
529
530
531
532
Ebd. 340.
Ebd.
Ebd. 341.
In seiner Studie über Arthur Drews’ Christusmythe bietet Braig auch ein immanenzapologetisches Argument für die Wahrheit des Christentums: „Der überwältigende Wahrheitsbeweis für den Christusglauben, den christlichen Theismus liegt in [... der] Tatsache, daß edler Sinn und guter Wandel die Verwirklichung des Idealsten und Erhabensten sind, das als Gesetz im innersten Heiligtum der Menschenbrust, im Gewissen lebt
und erlebt wird, und es ist die Tatsache, daß der Buchstabe des Gotteswortes von dem
gläubig Denkenden und dem denkend Gläubigen erkannt wird als die übernatürlichen
Bestätigung, als die himmlische Sanktion des natürlichen Lebensgesetzes“ (Braig
1911d, 192).
172
2.4 Die Freiheit der Wissenschaft
2.4.1 Zeitgeschichtlicher Hintergrund
In der Frage nach dem Apostolat der Dialektik und dem Verhältnis von Glaube und
Vernunft war für Carl Braig das Problem der Freiheit der Wissenschaft von aktueller und nachhaltiger Bedeutung. Die Betrachtung, wie Braig diese Frage angeht,
zeigt noch einmal von einer anderen Seite Kontinuität und Wandel der braigschen
Apologie im Verlauf seiner Wirksamkeit. Es ist die Frage, ob ein dem christlichkatholischen Glauben verpflichteter Wissenschaftler frei sei, das heißt, ob er seine
Wissenschaft ohne Voreingenommenheiten und allein den Regeln der Wissenschaft verpflichtet betreiben könne. Die Aktualität dieses Problems liegt auf der
Hand, man muss nicht geschichtliche Beispiele wie den Galilei-Fall bemühen, um
die bleibende Bedeutung einer Diskussion um die Freiheit der Wissenschaft in der
Kirche zu belegen.533 Sie bleibt solange aktuell, wie eine Spannung zwischen den
verschiedenen Erkenntnisordnungen besteht, der des Glaubens und der des Wissens, zwischen dem auf autoritative Vermittlung angewiesenen Glauben und der
sich in der Neuzeit zunehmend als autonom begreifenden Vernunft.
Dieses Problem der sich im Phänomen der neuzeitlichen Wissenschaft zeigenden
Vernunft war auch die grundlegende Frage, mit der sich das Erste Vatikanische
Konzil auseinanderzusetzen hatte.534 Hermann Josef Pottmeyer zeigt, dass im Hintergrund der Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft im vierten
Kapitel der Konstitution „Dei Filius“ die Auffassungen von der „Freiheit der Wissenschaft“ einiger deutscher Theologen wie Anton Günther und Jakob Frohschammer
standen, die beide für den Konfliktfall zwischen Offenbarungsaussagen und Erkenntnissen der Wissenschaft eine Funktion als positives Kriterium für letztere vorsahen in dem Sinne, dass durch die sicheren Erkenntnisse der Wissenschaft vorgebliche Glaubensaussagen als falsche Meinungen entlarvt würden, dass also
keinesfalls der Glaube an sich dem Kriterium der Wissenschaft unterworfen würde,
sondern nur einzelne Aussagen, deren fälschlicher Offenbarungscharakter so enttarnt werden könnte.535
Auch Johann Evangelist Kuhn hatte wiederholt auf den Autonomieanspruch der
Wissenschaft gepocht, so in seinen Kontroversen mit dem Münsteraner Philosophen Jakob Clemens536 und mit dem Freiburger Privatdozenten der Theologie
Constantin von Schäzler.537
533
534
535
536
537
Vgl. Alexander Hollerbach: Art. Freiheit der Wissenschaft in der Kirche, in: LThK3 4,
113ff.
Vgl. Pottmeyer: Der Glaube 392-431.
Vgl. ebd. 398-408.
Zu Franz Jakob Clemens (1815-1862) vgl. LThK3 2, 1229.
Vgl. Wolf: Ketzer 141-190; Franz Wolfinger: Der Glaube nach Johann Evangelist von
Kuhn. Wesen, Formen, Herkunft, Entwicklung, Göttingen 1972, 228-296; zu Johannes
Lorenz Constantin Freiherr von Schäzler (1827-1880) vgl. LThK3 9, 114f.
173
Ein Mangel an der Glaubenskonstitution des Vatikanums wird darin gesehen, dass
sie die Verantwortung für die Möglichkeit des Widerspruchs zwischen Wissenschaft und Glaube allein auf Seiten der Wissenschaft ausmacht.538 Es werde nicht
deutlich, dass der scheinbare Widerspruch oft von einer in der Kirche üblichen,
aber letztlich nicht haltbaren Deutung ausgehe.539 Wir hatten schon gesehen, wie
Braig gerade hier die Problematik der Konfrontation von Wissenschaft und Glaube
deutlicher sieht, wenn er als vorzügliche Aufgabe der Apologetik die saubere
Scheidung von Glaubensaussagen und bloßen Schulmeinungen anmahnt.540
Das Galilei-Paradigma
Insbesondere für den Fall Galilei wird die Wichtigkeit dieser Unterscheidung virulent, die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und theologischen (Schul-)
Meinungen auf der einen Seite und sicher Bewiesenem bzw. dem Dogma unveräußerlich Zugehörigem auf der anderen Seite. Die Neuherausgabe der Werke Galileis und der den Prozess betreffenden Dokumente541 nahm Braig zum Anlass, die
Behauptung der Modernisten zu widerlegen, der wissenschaftliche Fortschritt habe
sich ohne die Dogmatik der Kirche, ja sogar im Kampf mit der Dogmatik vollzogen,
welche Behauptung ja meist mit der Anführung des Galileifalles begründet wird.542
Nachdem Braig das Szenario dargestellt hat, das von zeitgenössischen Kritikern
entworfen wird, dass nämlich Galilei der sprechende Beweis dafür sei, dass das
verfasste Christentum und die freie, voraussetzungslose Wissenschaft unvereinbar
seien,543 stellt er die These auf, dass es eine dogmatische Definition gegen das heliozentrische Weltbild niemals gegeben habe.544 Hinsichtlich der Verurteilung Galileis betont Braig, dass „die qualifizierenden Ausdrücke des Gutachtens, der Wortlaut der Zensuren [...] von den obersten Persönlichkeiten und Behörden nicht formell und endgültig übernommen“ wurden.545 Gegenüber dem ganzen Gestrüpp von
Legenden und Erfindungen, das sich um den Galileifall gebildet habe, sei jetzt aber
eine kühl objektive, vorurteilslose Würdigung der Galileifrage anzustreben.546 Zur
Persönlichkeit Galileis sei zu sagen, dass sie unglückliche Eigenschaften aufge538
539
540
541
542
543
544
545
546
„Inanis autem huius contradictionis species inde potissimum oritur, quod vel fidei dogmata ad mentem Ecclesiae intellecta et exposita non fuerint vel opinionum commenta
pro rationis effatis habeantur“ (DH 3017).
Vgl. Pottmeyer: Der Glaube 425f.
S. oben Abschnitt 1.4 Die Gestalt der aktuellen Apologetik; vgl. Braig: Apologie XXV:
„Darum ist es unsere erste Aufgabe, daß wir selber genau begreifen, was wir vertheidigen wollen, daß wir unsere Lehrsätze, ihren naturgemäßen Zusammenhang, die verschiedenen Folgerungen aus ihnen, ihre Beziehungen zu der gesammten Profanwissenschaft durchschauen“; die von Ignaz Döllinger auf der 1863 in München stattgefundenen Gelehrtenversammlung getroffene Unterscheidung von dogmatischem und
theologischem Irrtum war von Seiten der Neuscholastik als bedenklich zurückgewiesen
worden (vgl. Brandt: Katholische Universität 332).
Vgl. Antonio Favaro (Hg.): Edizione nazionale delle opere di Galileo Galilei, 20 Bde., Firenze 1890-1909.
Braig 1909b.
Vgl. ebd. 50-56.
Vgl. ebd. 56.
Vgl. ebd. 57.
Vgl. ebd. 101.
174
wiesen habe, die gepaart mit seiner Neigung, das ihm wahrscheinlich Erscheinende für die formelle Wahrheit zu nehmen, einen ungünstigen Verlauf der Angelegenheit ins Werk gesetzt habe.547 Uneingeschränkt zugeben möchte Braig den bösen Missgriff der römischen Behörden, „dessen Veranlassung sich einerseits wohl
begreiflich machen läßt, mit dem anderseits das kirchliche Lehramt als solches und
das kirchliche Dogma nichts zu schaffen hat“548. Braig sieht den Fehler auf beiden
Seiten dadurch gegeben, dass man nicht unterschieden habe zwischen Meinung
und fester Überzeugung, sowohl was die wissenschaftliche Erkenntnis anging, wie
auch in Hinsicht des richtigen Bibelverständnisses. Erklärt werden könne diese
Sorge der Inquisition mit der Aussage des Trienter Konzils, niemand solle die Heilige Schrift nach seinem Sinne auslegen gegen die einmütige Auslegung durch die
Väter.549 Da nun zur Zeit Galileis angenommen wurde, die Väter verstanden die
entsprechenden Schriftstellen eindeutig im buchstäblichen Sinn, weil die „feineren
Unterscheidungen, was unantastbarer Gegenstand des Glaubens in den Offenbarungsurkunden und was Einkleidungsform, Darstellungsmittel dafür ist, noch nicht
genügend durchgebildet“ waren,550 wurde die durch die Schrift angeblich gestützte
Schulmeinung des Ptolemäus gegen die Schulmeinung des Kopernikus für wahr
genommen. Eine dogmatische Entscheidung durch Papst oder Konzil sei aber
nicht gefällt worden. Braigs Ansinnen geht dahin, trotz des Anerkennens von Fehlern der offiziellen Kirche und des dadurch entstandenen Schadens, diese zu entlasten: durch den Verweis auf die schwierige Persönlichkeit Galileis, durch den
Hinweis auf die Reformatoren und die protestantische Kirche, die in der Ablehnung
des kopernikanischen Systems noch weit schlimmer gewesen seien als die Katholiken,551 durch die Beteuerung, dass es sich nicht um eine dogmatische Entscheidung gehandelt habe.552 Wie wenig das Dogma dem kopernikanischen System
entgegenstehe, sei daran abzulesen, wie schnell die entsprechenden Werke aus
dem Index verschwunden seien, sobald die Astronomie wirkliche Beweise für die
kopernikanische Anschauung lieferte. Papst und Dogma werden entlastet; sie haben so wenig Schuld am Galileifall wie der Fürst eines Landes an einem Justizmord. Die Richter sind zur Verantwortung zu rufen, und wenn sich „eine formelle
Schuld nicht nachweisen läßt, dann wird nichts übrig bleiben als die Klage des
Weisen über die Unvollkommenheit der Menschen und der menschlichen Einrichtungen, die Klage namentlich darob, daß ein wirklich oder vermeintlich notwendiges Vorgehen trotz der zugestandenen Unvollkommenheit zu tragischen Ereignissen und Erlebnissen führen kann“553.
547
548
549
550
551
552
553
Vgl. ebd. 59; 102-106.
Ebd. 106.
Vgl. DH 1507.
Vgl. Braig 1909b, 108. Bemerkenswert ist diese Unterscheidung von Inhalt und Form
der Glaubensaussagen, wenn man bedenkt, welches Aufsehen Papst Johannes XXIII.
mit seinen Worten zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils erregte: „Eines ist
die Substanz der tradierten Lehre, d.h. des depositum fidei; etwas anderes ist die Formulierung, in der sie dargelegt wird“ (Giuseppe Alberigo [Hg.]: Geschichte des Zweiten
Vatikanischen Konzils [1959-1965], Bd. 2, Mainz/Leuven 2000, 20f.).
Vgl. Braig 1909b, 107 Anm.; 109f.
Vgl. ebd. 106-110.
Ebd. 114.
175
Braig hält daran fest: Es gibt nur eine Wahrheit und diese drückt sich in den Sätzen
der Wissenschaft ebenso aus wie in den Offenbarungssätzen. „Das leuchtende
Beispiel hiefür ist auf der einen Seite die astronomische Welterklärung der Kopernikus, der Keppler, der Galilei, welche sagt: Die Erde dreht sich um die Sonne, und
so wird es mit allen Erden und allen Sonnen sein – und auf der anderen Seite die
biblisch-theologische Welterklärung, welche sagt: Im Anfange schuf Gott Himmel
und Erde“554.
Dass sich im Fall Galilei faktisch kein Widerspruch zwischen richtig verstandenem
Dogma und gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis ergeben habe, ist allerdings
keine Gewähr dafür, dass sich dieser Widerspruch nicht doch irgendwann ergeben
könnte. Dass hier eine grundsätzliche Konfliktsituation vorliegt, davon war man in
bestimmten Kreisen des liberalen Bildungsbürgertums überzeugt. Die Diskussion
um die Freiheit der Wissenschaft war keine, die nur im Innenraum der Kirche geführt wurde, vielmehr war sie sicherlich dort auch durch die in Kulturkampfzeiten
geführte Debatte um den Stellenwert von konfessionellen „Weltanschauungen“ in
ihrem Anspruch nach unabhängiger und vorurteilsloser Wissenschaft provoziert
worden. Wenn man im übertriebenen Gebrauch von Schlagworten wie dem der
„Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft“ auch eine leere Begrifflichkeit entdekken mag, die Braig namentlich an der Philosophie des deutschen Idealismus bemängelt, und auch wenn man sich am Ende des 19. Jahrhunderts daran gewöhnt
hat, „in Begriffen, anstatt in Sätzen zu denken“555, ist der Versuch einer Versöhnung von Wissenschaft und Christentum ein sehr altes Thema. Ein unscharfes
Denken, dass sich an Schlagworten wie den genannten festmacht, kann liebgewonnene, eher emotionsgeleitete polemische Ansichten aber nur teilweise und auf
Zeit hinter einem wissenschaftlichen Deckmantel verbergen. Die zu allen Zeiten
empfundene Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit der beiden Gegebenheiten
von Glauben und Wissenschaft erfährt aber mit dem Beginn der Neuzeit eine Verschärfung, weil sich die Entwicklung der Wissenschaften zunehmend außerhalb
des Bereichs der Kirche, ja sogar gegen die Kirche selbst vollzieht. Mit dem Aufkommen des Rationalismus im 18. Jahrhundert, der sich zur höchsten Autorität aller Erkenntnis macht, herrscht bei Katholiken ein immer gespannteres Verhältnis
zur Wissenschaft, was sich in verschiedener Weise äußert: Desinteresse, Ängstlichkeit, Ablehnung, dogmatische Härte, „aber auch Initiativen und Aktivitäten, in
geistig-wissenschaftliche Konkurrenz zu treten, ja eine ‘geschlossene Sonderkultur’ zu entwickeln“556.
Dies führte die Katholiken in ein Ghetto, in dem sie von einem militanten Protestantismus und einem aggressiven weltanschaulichen Liberalismus einer kulturellen Inferiorität geziehen wurden. „Katholisch“ wurde gleichgesetzt mit geistig unfrei, au554
555
556
Ebd. 115.
Jürgen von Kempski: „Voraussetzungslosigkeit“. Eine Studie zur Geschichte eines Wortes, in: Ders.: Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart, Hamburg 1964, 174.
Heribert Raab: „Katholische Wissenschaft“ – ein Postulat und seine Variationen in der
Wissenschafts- und Bildungspolitik deutscher Katholiken während des 19. Jahrhunderts, in: Anton Rauscher (Hg.): Katholizismus, Bildung und Wissenschaft im 19. und
20. Jahrhundert, Paderborn 1987, 61-91, hier 62.
176
toritätshörig, rückständig. „Innerhalb des deutschen Katholizismus, so kann man
vereinfachend sagen, ringen im 19. und bis tief in das 20. Jahrhundert zwei Anschauungen miteinander, von denen die eine mehr oder weniger deutlich an der
Definition der Wissenschaften als ancillae theologiae et philosophiae festhält, während die andere die Autonomie der Wissenschaften, die Freiheit von Forschung
und Lehre zu gewinnen bestrebt ist“557. Diese allgemeine Fragestellung soll in diesem Kapitel erörtert werden anhand der Wortmeldungen, die Carl Braig zu diesem
Themenkomplex immer wieder in die Diskussion geworfen hat.
Im Jahr 1894 veröffentlichte Braig seine am Abend des 5. Juni desselben Jahres
gehaltene Antrittsrede. In dieser programmatischen Schrift geht es um die „Freiheit
der Philosophischen Forschung in kritischer und christlicher Fassung“. Bereits im
Titel zeigt sich die Scheidung zwischen einem wahren Freiheitsbegriff, nämlich
dem christlichen und, wie sich zeigen wird, genauer: katholischen, und dem kritischen, womit auf den Kritizismus Kants angespielt wird, der als Inbegriff der protestantischen Kultur angesehen wird. Braig nimmt sich mit der Behandlung der verschiedenen Auffassungen von wissenschaftlicher Freiheit eines Themas an, auf
das er im Verlauf seiner 26jährigen akademischen Tätigkeit immer wieder zurückkommen wird. Die Situation an der Freiburger Universität war ja auch so beschaffen, dass trotz der katholischen Majorität im Land Baden der akademische Lehrkörper sich zumeist aus Protestanten oder Juden zusammensetzte.558 Von katholischer Seite war auch dies ein eindeutiges Zeichen dafür, dass im Deutschen Reich
„der konfessionelle Charakter der Staaten – und die protestantischen waren in einer erdrückenden Mehrheit – mit politischen und administrativen Mitteln konserviert
wurde“559, auch weil man Katholiken nicht die nötige Wissenschaftlichkeit zutraute.
Bevor nun die braigsche Auffassung über das Thema der Freiheit der wissenschaftlichen Forschung analysiert werden soll, mag zunächst an einem Beispiel
gezeigt werden, von welcher Aktualität diese Fragen waren.
Am 1. März 1902 veröffentlicht Braig die Rezension zu dem Buch „Voraussetzungslose Forschung, freie Wissenschaft und Katholizismus“ von Joseph Maria
Pernter560. Dessen Ausführungen, von denen Braig sagt, sie seien ihm „aus der
Seele geschrieben“, nimmt er zum Anlass für seinen Aufsatz zum Thema „Freiheit
der Wissenschaft“. Diesen möchte er verstanden wissen als „knappes Nachwort zu
einem wenig ehrenreichen Kapitel des zeitgenössischen Denkens“561. Das wenig
ehrenreiche Kapitel hatte Theodor Mommsen verursacht, der 1901, durch den „Fall
Spahn“562 veranlasst, die Diskussion um die „voraussetzungslose Forschung“ und
die „freie Wissenschaft“ wieder aufgegriffen und aktualisiert hatte.563
557
558
559
560
561
562
563
Raab: „Katholische Wissenschaft“ 65.
Vgl. Arnold: Kulturmacht 44.
Raab: „Katholische Wissenschaft“ 66.
Zu J. M. Pernter (1848-1908) vgl. Wilhelm Kosch: Das Katholische Deutschland. Biographisch-bibliographisches Lexikon, Augsburg 1937, 3485.
Braig 1902g, 73.
Vgl. dazu Weber: „Fall Spahn“.
Vgl. zum Folgenden Stefan Rebenich: Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Berlin 1997, 414-442.
177
Der Katholik Martin Spahn564 wurde auf einen neu geschaffenen Lehrstuhl für mittelalterliche und neuere Geschichte in Straßburg berufen. Durch diese Berufung
wollte man von der Regierung in Berlin aus auch gute Voraussetzungen schaffen
für eine Verhandlung mit der römischen Kurie, die man dazu bewegen wollte, der
Einrichtung einer katholisch-theologischen Fakultät an der Straßburger Universität
zuzustimmen. Man war in Berlin von dem Straßburger Seminar, welches für die
Priesterausbildung zuständig war, überzeugt, dass es nicht nur ein vom wissenschaftlichen Standpunkt ein zu geringes Niveau einnehme, sondern auch antideutsch agiere. Gegen die Berufung Spahns und überhaupt das hochschulpolitische Handeln nach konfessionellen Grundsätzen protestierten liberal-antiklerikale
Kreise, so der damalige Rektor der Straßburger Universität Lujo Brentano565, der
„das Prinzip der voraussetzungslosen Forschung“ durch wissenschaftsferne Auswahlkriterien in Frage gestellt sah. Auch Theodor Mommsen566, der berühmte Berliner Historiker, mischte sich in die öffentliche Diskussion ein. Ihm ging es um die
prinzipielle Frage, „ob es gerechtfertigt ist, Universitätsprofessuren, außerhalb der
theologischen Facultäten, nach confessionellen Rücksichten und mit confessionellem Rechtszwang zu vergeben“567. Die politischen Erwägungen ließ er dabei, anders als etwa Adolf Harnack, außer Acht.568 In seiner öffentlichen Erklärung vom
15. November 1901, die breit diskutiert wurde, appelliert Mommsen an „Voraussetzungslosigkeit der Forschung“ und „Wahrhaftigkeit der Wissenschaft“, die er durch
die konfessionelle Bindung eines Wissenschaftlers, „dessen Forschungsfreiheit
Schranken gezogen werden“, in ernster Gefahr sah. Es ist offensichtlich, dass
Mommsen von antikatholischem und kulturkämpferischem Ressentiment eingenommen war.
Braig besteht darauf, dass es – wie Mommsen auch zugeben musste569 – in der
Wissenschaft keine absolute Voraussetzungslosigkeit gebe. Georg von Hertling,
„Chefideologe“ der katholischen gebildeten Laienwelt in der Zeit der Jahrhundertwende,570 hatte sich schon seit 1893 in seinen Grundsatzreden auf den Generalversammlungen der Görres-Gesellschaft immer wieder um eine intellektuelle Fundierung des deutschen Katholizismus bemüht. In seinem Buch „Das Princip des
Katholicismus und die Wissenschaft“ sammelte Hertling eine dieser Reden und einige Artikel und wies in ihnen die unbewiesene These und das Schlagwort von der
Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft zurück. Die Auffassung von der unüberwindbaren Gegensätzlichkeit von Glauben und Wissen lehnte er als
vordergründig, nicht durchdacht ab, weil seiner Auffassung nach jede
Wissenschaft auf vor- und metawissenschaftlichen Voraussetzungen beruhe.571
564
565
566
567
568
569
570
571
Zu Martin Spahn (1875-1945) vgl. LThK3 9, 802.
Zu Lujo Brentano (1844-1931) vgl. NDB 2, 596f.
Zu Theodor Mommsen (1817-1903) vgl. LThK3 7, 385.
Nach Rebenich: Mommsen und Harnack 427.
Vgl. ebd. 430.
Vgl. ebd. 434.
Vgl. Weber: „Fall Spahn“ 41f.
Vgl. Georg von Hertling: Das Princip des Katholicismus und die Wissenschaft. Grundsätzliche Erörterungen aus Anlaß einer Tagesfrage, Freiburg i.B. 1-41899, 16-31.
178
Die Rede, die von Hertling im Jahresbericht der Görres-Gesellschaft für das Jahr
1897 über das Thema „Gibt es eine katholische Wissenschaft?“572 veröffentlicht
hat, beurteilt Braig als „unter hohen Gesichtspunkten ebenso treffend als geistvoll“573. Es liegt ganz auf der Linie Braigs, wenn Hertling von einer absoluten Widerspruchsfreiheit zwischen Glauben und Wissen ausgeht. Braig zitiert die programmatischen Ausführungen von Hertlings, dass katholische Wissenschaftler
keine andere Methode kennen dürfen als die des allgemeinen wissenschaftlichen
Verfahrens, die aber ihrer glaubensmäßigen Überzeugung Raum geben dürfen,
wenn dies unbeschadet der wissenschaftlichen Regeln möglich oder geboten sei.
Gewarnt wird aber vor der Vermischung von Glaubenssätzen mit philosophischen
Lehrmeinungen.574
Ähnlich wie Hertling musste auch Braig die scharfe Kritik treffen, die F.X. Kraus in
einer ausführlichen Rezension über von Hertlings „Das Princip des Katholicismus
und die Wissenschaft“ dessen Gedanken angedeihen ließ.575 Kraus waren die Ausführungen Hertlings zu abgehoben, zu wenig seien die konkreten Zwänge und
Hemmnisse berücksichtigt, die katholischen Wissenschaftlern durch Kurie und Bischöfe immer wieder bereitet würden. Kraus sah in der von Hertling dargestellten
Situation eine „Idylle“, die nicht mit der tatsächlichen Lage übereinstimme. Für
Braig aber ist es charakteristisch, auf dieser abstrakten Ebene zu argumentieren.
Konkrete kirchenpolitische Auseinandersetzungen um Personen spielen in seinen
Schriften keine Rolle.
Braig stellt die Frage, ob die katholische Weltanschauung von solcher Art sei, dass
sie „ihre Jünger zwingt, einer evidenten oder durch Beweis zur Evidenz geführten
Wahrheit zu widersagen“576, das heißt ob der katholische Wissenschaftler genötigt
sei, seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen zugunsten von Glaubenserkenntnissen abzuschwören. Zunächst lasse sich feststellen, dass es in der Geschichte
niemals den Fall gegeben habe, dass das Dogma die Ablehnung einer wissenschaftlichen Wahrheit als solcher geboten hätte. Es habe immer nur den Widerstreit zwischen Meinungen gegeben. Diese Auffassung vertritt Braig, wie gesehen,
etwa in der Diskussion um den Galilei-Fall.577 Prinzipiell könne es auch gar keinen
Widerspruch geben zwischen Glaubenswahrheit und wissenschaftlicher Erkenntnis, weil das Dogma in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen nicht als solches, das heißt als verbindliche Glaubensaussage, zum Forschungsobjekt, weil ein
erwiesenes Forschungsresultat nicht zum Glaubensobjekt werden könne.
Nun gebe es aber doch einen Berührungspunkt zwischen Glaubens- und empirischer Wissenschaft, und das sei die Philosophie. „Das Grenzgebiet darf man sich
unter der Form zweier benachbarten Inseln vorstellen, welche durch eine schmale
Landenge miteinander verbunden sind. Das Verbindungsglied ist der Gottesbegriff
572
573
574
575
576
577
In: Jahresbericht der Görresgesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen
Deutschland für das Jahr 1898, Köln 1899, 14-22.
Braig 1898b, 161.
Vgl. ebd.
In: Deutsche Litteraturzeitung 21 (1900) 12-19; vgl. dazu Weber: „Fall Spahn“ 47f.
Braig 1902g, 74.
Vgl. oben; Braig 1909b.
179
des Theismus“578. Gemeint ist das „natürliche Dogma“, die Erkenntnis des einen
persönlichen Gottes, auf die nach Meinung Braigs „das rationale Denken durch die
Wirksamkeit seiner Gesetze mit Notwendigkeit geführt wird“579. Der mit den Mitteln
der natürlichen Vernunft erfolgende Gottesbeweis sei das Bindeglied zwischen den
Bereichen des Glaubens und der Wissenschaft. Widerspruch könne der Begriff des
theistischen Gottes zu keiner mit Notwendigkeit erwiesenen wissenschaftlichen
Vorstellung sein, weil erstens jede andere Fassung des Gottesbegriffs in sich logisch unzureichend und zweitens ein Beweis der Nichtexistenz des Daseins des
theistischen Gottes an sich unmöglich sei. Erst der positive Atheismus wäre der direkte Widerspruch zum christlichen Gottesglauben. – Soviel zur Frage, ob die katholische Weltanschauung der Forderung nach „Voraussetzungslosigkeit der Forschung“ gerecht werden könne.
„Der katholische Forscher ist überzeugt, daß er ein sicheres Ergebnis der Wissenschaft niemals ablehnen darf, und daß er ein bloß wahrscheinliches, wenn auch
noch so erwünschtes Ergebnis niemals gleich einem sichern bewerten darf. Auf
dieser Überzeugung ruht eine andere, die Einsicht nämlich, daß der Katholik bei
seinen Forschungen niemals auf ein Endresultat stoßen wird, das ihm wegen seines religiösen Glaubens auch nur unangenehm erscheinen müßte. Darum nehmen
wir, den Gegnern ins Angesicht widerstehend, die allein mögliche Voraussetzungslosigkeit der Forschung und die allein echte Freiheit der Wissenschaft für uns in
Anspruch“580.
Die andere Frage ist die nach der prinzipiellen Freiheit der Wissenschaft. Hat sich
der Forscher unter die dogmatisch verfügte Glaubenslehre zu beugen, wenn er
erwiesenermaßen ein dieser widerstreitendes Ergebnis seiner Forschung eruiert
hat? Solch einen Fall gebe es nicht und niemals, und wenn doch, dann stehe, wie
im Fall Galilei, immer Meinung gegen Meinung, oder Wahrheit gegen Meinung.
Hier „kann auf beiden Seiten gefehlt werden“581. Starke Worte findet Braig, wenn
es um die Abwehr einer Quasi-Dogmatisierung bestimmter Lehrmeinungen geht:
Es „könnte nur zum Unglück, zum schwersten Schaden der katholischen Weltanschauung ausschlagen, wenn man, einem unerlaubten Personenkultus nachhängend oder der unberechtigten Herrschaft einer Schule nachgebend, problematische Ansichten als apodiktische Urteile hinstellen, für noch unerwiesene Lehrmeinungen die kirchliche Autorität mit dogmatischer Verpflichtung einsetzen wollte. [...]
Es ist eine unwürdige Haltung für den Theologen, wenn das Zittern um das Dogma, falls eine hypothetische Meinung angetastet wird, sein spezifisches Charakterzeichen ausmachen soll. Und es ist um die Theologie als Wissenschaft geschehen, wenn die graue Sorge um das Alte und die blasse Angst vor dem Neuen den
einzigen Forschungsgrundsatz diktieren darf“582! Der Bezug auf Thomas von Aquin
zeigt an, in welche Richtung diese Kritik zielt: Thomas, „wenn er heute in manche
Kreise träte, die zu seiner Jüngerschaft gerechnet werden wollen, würde als erstes
Wort dies sagen: Kinder, was habt ihr mit meinen Sachen für ein Wirrwarr ange578
579
580
581
582
Braig 1902g, 76.
Ebd.
Ebd.
Ebd. 77.
Ebd. 78.
180
richtet! Seht ihr nicht, welch überaus gefährliches Spielzeug ihr unter dem Titel der
Alleinberechtigung, der alleinigen Kirchlichkeit eurer Meinungen herzugetragen
habt“583?
Im Rahmen der Debatte um Freiheit der Wissenschaft und katholische kulturelle
Inferiorität wurde auch immer wieder, seit Beginn des 19. Jahrhunderts in unterschiedlicher Intensität, der Plan zur Errichtung einer katholischen Universität diskutiert. 1863 hatte der Lehrer Braigs, J. Kuhn, eine Stellungnahme zu dieser Frage
abgegeben584 und war in ihr zu der Auffassung gelangt, einem solchen Projekt widersprechen zu müssen. Dies vor allem aus dem Grund, weil Geistes- und Naturwissenschaften als Vernunftwissenschaften frei betrieben werden müssen und die
positive Offenbarung und damit die kirchliche Autorität dafür nicht kompetent und
zuständig seien. Alle Wissenschaften seien unabhängig von Glaubensbekenntnis
und konfessionellem Standpunkt zu betreiben.
Anders als sein Lehrer meint Braig fast vierzig Jahre später zur Seite der Befürworter eines solchen Projekts hin, dass vom Anspruch der freien Forschung her einem
solchen Unternehmen nichts entgegenstehe. Zur anderen Seite hin konzediert er
die Schwierigkeit der Beschaffung der gewaltigen Mittel, die aufgebracht werden
müssten, um eine solche Hochschule einer staatlichen ebenbürtig zu machen.585
Statt sich endgültig auf die eine oder die andere Seite zu schlagen, zählt Braig auf,
was seiner Meinung nach die Gründung einer katholischen Universität entbehrlich
machen würde, nämlich all das, was die Wissenschaft wirklich zu einer freien mache: „Logik im Suchen, Prüfen und Darstellen, in den Dingen des reinen Wissens
strengste Logik, die auf Affekte nichts, auf Argumente alles giebt; [...]; die unbesiegbare Liebe zur Wahrheit, verbunden mit der unbesiegbaren Geduld gegen die
Widersacher und mit der unbesiegbaren Langmut gegen die – Brüder“586. Es ist interessant, wie Braig hier den Spieß umdreht: Es geht nicht darum, den Wissenschaftscharakter der katholischen Wissenschaft nachzuweisen gegenüber irgendwelchen Anklagen, sondern darum, dass die außerkatholische Wissenschaft sich
endlich mit der Unvoreingenommenheit bekleidet, die eigentlich von ihr gefordert
sei, und die Braig stillschweigend als in der Theologie bereits verwirklicht ansieht.
583
584
585
586
Ebd.
Vgl. dazu die Antwort von Heinrich von Andlaw: Offenes Sendschreiben an Herrn Dr.
Joh. von Kuhn, Professor der Theologie an der Universität Tübingen über die Frage der
„freien katholischen Universität“, Frankfurt a.M. 1863, 15-32; vgl. Brandt: Katholische
Universität.
Auch Kuhn hatte die materiellen Schwierigkeiten einer Universitätsgründung als schier
unüberwindlich eingeschätzt; vgl. Andlaw: Offenes Sendschreiben 27ff.
Braig 1902g, 78.
181
2.4.2 Kant und die Freiheit der Wissenschaft
In seiner programmatischen akademischen Antrittsrede versucht Braig die beiden
widerstreitenden Meinungen, die katholische und die kritische Fassung der Freiheit
der Wissenschaft, auf ihre jeweilige philosophische Grundlage zu hinterfragen.
Nicht erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird die Frage gestellt, wie man
„die Autonomie als rechtmäßig anerkennen [kann], die die Kultur für sich beansprucht, ohne daß man zu einem rein innerweltlichen, ja religionsfeindlichen Humanismus kommt“587. Es wird darin eine Gefahr gesehen, dass „der heutige Fortschritt der Naturwissenschaft und Technik [...] einen gewissen Phänomenalismus
und Agnostizismus begünstigen [kann], wenn die Forschungsmethode dieser Disziplinen unberechtigt als oberste Norm der Findung der Wahrheit schlechthin angesehen wird“588. Heißt das nun aber, dass die Freiheit der wissenschaftlichen
Forschung darin ihre Grenze finden muss, wo sie Glaubensgrundsätze der Kirche
zu berühren und zu verletzen beginnt? Das Konzil bejaht „die rechtmäßige Eigengesetzlichkeit der Kultur und vor allem der Wissenschaften“ unter Voraussetzung
der Lehre des Ersten Vatikanums von der doppelten Erkenntnisordnung von Glauben und Vernunft. Aber auch unter diesen Voraussetzungen ist ein spannungsfreies Nebeneinander von kirchlicher Autorität und Wissenschaft nicht garantiert.
Ganz im Sinne seines Versuchs, den aktuellen Tagesfragen immer auf ihren letzten philosophischen Grund zu gehen und von ihm her eine Lösung zu finden, versucht Braig in seiner Antrittsrede von 1894 die antikatholischen Voreingenommenheiten, die nicht zuletzt den Wissenschaftscharakter der Theologie in Frage stellen,
zu analysieren. Konkret geht es darum, wie das Verhältnis von Philosophie und
Glaubenswissenschaft zu denken ist, gehe doch jene scheinbar „voraussetzungslos“ an ihren Gegenstand heran, während diese von gegebenen Glaubenssätzen
auszugehen habe. So stehen sich scheinbar auf der einen Seite autonome, das
heißt freie, und auf der anderen Seite unfreie, fremdbestimmte Wissenschaft gegenüber. Eine heteronome Wissenschaft ist aber nach dem Wissenschaftsbegriff
der Zeit eine contradictio in adiecto. Wissenschaft müsse frei sein, sie müsse vorurteilslos an ihren Gegenstand herangehen und dürfe sich von keiner Autorität leiten lassen. Die Vermeidung eines „erkenntnisleitenden Interesses“ sei aber nur unter Bedingungen möglich, die das Freisein von äußerem Zwang gewährleisten.
Dies scheine für die Theologie nicht der Fall zu sein, da sie ja von der Gegebenheit
der positiven Glaubensaussagen ausgehe. Abgesehen von dieser Prinzipienfrage
bleibe das Nebeneinander von autonomer Vernunft und heteronomem Glauben so
lange unproblematisch, wie es zu keinem Konfliktfall zwischen einzelnen Aussagen
der beiden Bereiche kommt. Was aber, wenn die Philosophie zu Ergebnissen ihres
Forschens gelange, die nicht in Einklang mit gewissen Grundlagen der Theologie
zu bringen sind? Muss die freie Wissenschaft sich wider besseres Wissen gehorsam unter das von der Kirche Verfügte beugen?
587
588
Gaudium et Spes 56 (Karl Rahner/Herbert Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium.
Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister, Freiburg 31967 u.ö., 508).
Gaudium et Spes 57 (Rahner/Vorgrimler: Konzilskompendium 510).
182
Gewiss nicht, so sollte man denken. Ist also die Theologie abhängig von den Ergebnissen der freien philosophischen Forschung? Muss sich der Glaube nach dem
richten, was die Zunft der Philosophen als vernunftgemäß erkannt hat? Zwei Positionen zeichnen sich ab: Eine, die der Theologie die Philosophie als „Fackelträgerin“ vorauseilen lässt, eine andere, die Theologie und Philosophie als nebeneinander hergehende, gleichberechtigte, sich nicht in die Quere kommende Wissenschaften begreift.
Braig macht zu Anfang seines Referates auf die Undeutlichkeit des Begriffs von
der „Freiheit der Wissenschaft“ aufmerksam: Nicht die Wissenschaft oder das
Denken seien frei, sie können es nicht sein, weil nur Menschen frei zu sein vermögen, sondern der Wissende, der Philosoph sei frei. „Die Denkfreiheit des Philosophen aber besteht darin, unter den mannigfachen Wegen, die zu der einen Wahrheit führen können, den kürzesten und sichersten auszuwählen. Das Ziel des Philosophen ist, die Gesetze zu finden und zu verwenden, welche in der Wahrheit
selber liegen, nicht Gesetze, welche der Jünger der Wahrheit festgelegt sehen
möchte“589. Schon hier wird klar: eine Freiheit außerhalb des Geheges der Wahrheit zu wünschen oder zu fordern, ist nicht nur unsinnig, sondern auch unsittlich.
Braig macht die beiden unterschiedlichen Positionen an zwei Namen fest, die für
das Verhältnis von Glauben und Wissen je verschiedene Modelle entwickeln: Immanuel Kant und das Erste Vatikanische Konzil.
Kant, dessen Lehre Braig und mit ihm die ganze katholische Welt als repräsentativ
für die kulturellen Grundlagen seiner Zeit sieht, legt in seiner Schrift „Der Streit der
Fakultäten“ das Verhältnis der verschiedenen Wissenschaften dar, wie er es sah.
Den drei „oberen“ Fakultäten des Wissenschaftsbetriebs, der Theologie, der
Rechtswissenschaft und der Medizin, stehe die „untere“ Fakultät der Philosophie
gegenüber.590 Die Philosophie sei dabei die Disziplin, die allein der Vernunft verpflichtet ist, die aber auch die anderen Wissenschaften zu beurteilen vermag. Die
Theologie bestimmt Kant dabei als eine Wissenschaft, die ihre Lehren aus Schriften schöpfe, „die sich wie Statuten verhalten; sie stehen unter der Willkür eines
Obern“591. Der Philosophie, die sich um historische und Vernunfterkenntnis bemühe, stehe damit das Urteil zu, inwiefern und ob es tatsächlich Gott ist, der durch die
Bibel rede. In zehn Thesen stellt Braig das von Kant konzipierte Verhältnis von
Theologie und Philosophie zusammen.592 Religion, wie sie legitimerweise „innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“ existiere, unterscheide sich dabei von einer
durch Heteronomie bestimmten Theologie.
1) Der Philosoph sei allein dem Prinzip der Freiheit verpflichtet, das heißt, er
stützt sich auf das, was der Mensch aus sich kann und soll.
2) Die Religion ist nach Kant im Unterschied zum Kirchenglauben kein Lehrgebäude göttlicher Offenbarungen, sondern sie bestehe darin, dass wir unsere
Pflichten als göttliche Gebote betrachten.
589
590
591
592
Braig: Freiheit 13 (Braig 1894a).
Vgl. Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, in: Ders.: Werke in sechs Bänden (herausgegeben von Wilhelm Weischedel), Bd. VI, Darmstadt 1964, 261-393, hier 280ff.
Braig: Freiheit 23; vgl. Kant: Streit 285f.
Vgl. Braig: Freiheit 24-30; vgl. dazu Kant: Streit 300-315.
183
3)
Sachlich seien Moral und Religion eins, formal werde durch die religiöse Gottesvorstellung die Sittlichkeit erleichtert und verstärkt.
4) Die Grundsätze einer solcherart verstandenen Religion seien nicht erlernbar,
sondern allein aus der eigenen Vernunft zu entwickeln.
5) Offenbarung sei unmöglich. Die natürliche Vernunft entdecke die Wahrheiten
selbst; „andere als natürliche Wahrheiten vermöchte die Vernunft, auch wenn
solcherlei an sie herankommen könnte, nicht in Begriffe zu fassen: sie besässe keine dafür“593.
6) Zufällige Geschichtswahrheiten können nicht der Grund für notwendige
Vernunftwahrheiten sein.594
7) Gegenüber dieser „natürlichen Religion“ enthalte der Kirchenglaube vieles
Weitere, was als Beiwerk zu gelten hat, als „sinnliches Vehiculum“, das religiöse Pflichten nicht zu bedingen vermöge.
8) „Die Religion als Vernunftglaube ist im Menschen mit dem Bewusstsein der
Freiheit verbunden“595. Dagegen werde der Kirchenglaube zur „Sectirerei“,
wenn er aus sich mit Autorität zu sprechen beginne, „und diese übt Gewalt
gegen die Gewissen aus“596.
9) Die Deutung des Theologischen in Schrift und Geschichte sei Sache der Philosophie. Dabei gehe sie nach gewissen logischen Grundsätzen vor, die in
Punkt
10 entfaltet werden. Schriftstellen, die theoretische, aber jeden Vernunftbegriff
übersteigende Wahrheiten verkünden, können im Sinne einer Anweisung für
die praktische Vernunft ausgelegt werden. Solche Stellen, die überdies der
praktischen Vernunft zu widersprechen scheinen, müssen im Sinne dieser
verstanden werden.597 Auch der Kirchenbegriff erfahre eine neue Bewertung
durch Kant: „Der Catholicismus rationalis, im Gegensatze zum Catholicismus
hierarchicus, ist der Ausdruck dafür, dass wir alle Brüder sind unter dem einen Vater, berufen zum Gottesvolke, zum Gemeinwesen, welches nach reinen Tugendgesetzen geordnet ist“598. Innerhalb der verfassten Kirche vollziehe sich der Kampf zwischen dem Geschichtsglauben und der Vernunftreligion.
Kant unterscheide also einen Vernunft- und einen Kirchenglauben. Der Philosoph
habe darüber zu befinden, wie sich diese beiden zueinander verhalten. Richtschnur dabei sei das Gewissen, das verbietet, etwas als unbedingt wahr zu nehmen, was auf dem zufälligen Zeugnis über eine Offenbarungswahrheit beruhe. So
bestehe die Freiheit der philosophischen Forschung letztlich darin, „jederzeit, vor
593
594
595
596
597
598
Braig: Freiheit 25f.
Vgl. die Auseinandersetzung Braigs mit diesem lessingschen Axiom in: Braig: Jesus
Christus 303-312; Braig 1905a.
Braig: Freiheit 26.
Ebd.
Vgl. Kant: Streit 303-306. Kant geht es um ein Verständnis des Glaubens, der auf die
moralische Bestimmung des Menschen bezogen ist. Aus der Trinitätslehre etwa lässt
sich demnach „schlechterdings nichts fürs Praktische machen, wenn man sie gleich zu
verstehen glaubte, noch weniger aber, wenn man inne wird, daß sie gar alle unsere
Begriffe übersteigt“ (ebd. 303f.).
Braig: Freiheit 28.
184
jedermann, zu Gunsten jedermanns öffentlich und unbedingt einzutreten für das
Gewissen und für die Vernunft, für das Gesetz der Vernunft und für das Recht der
Selbstbestimmung“599.
In einem Punkt kann Braig die Ausführungen Kants ohne weiteres akzeptieren:
„Wahrheitssätze, welche durch Vernunftbeweise zu erhärten sind, lassen keine
Geschichtsbeweise zu“600. Wissenschaftliche Aussagen seien zu befragen auf ihren Grund hin, auf die logische Verkettung mit diesem der Notwendigkeit nach, wie
schon Aristoteles die Wissenschaft bestimmte.601 Der Philosoph sei gehalten, „die
logisch-formale Wahrheit des menschlichen Erkennens zu controlliren, ohne Unterlass und ohne Ansehen der Personen“602. Jeder werde dem zustimmen können
und müssen.
Braig legt dar, warum Kant aber die eigentlich schwierige Frage nicht beantwortet
hat, nämlich die, „was der Philosoph selbständig und unabhängig als Wahrheit
verkündigen darf“603. Welche inhaltlichen Leitgedanken liegen der zunächst nur
formal bestimmten Freiheit der philosophischen Forschung zugrunde? Für Kant
seien es die seiner eigenen Philosophie, die des kritischen Rationalismus.604 Inhaltlich werde Kant dem christlichen Dogma nicht gerecht, formell werde die Beanspruchung der Freiheit allein für die kritische Philosophie den Bestrebungen der
Philosophie, der philosophia perennis, nicht gerecht.
2.4.3 Das Vatikanische Konzil und die Freiheit der Wissenschaft
Das Vatikanische Konzil des 19. Jahrhunderts stellt in der Frage nach der wissenschaftlichen Freiheit einen Gegenpol zur Auffassung Kants dar. Wie schon erwähnt, war das grundlegende Problem, mit dem sich das Konzil auseinanderzusetzen hatte, und das vornehmlich in der Konstitution „Dei Filius“ behandelt wurde,
das der Vernunft, wie sie vor allem im Autonomieanspruch der Wissenschaften
dem Glauben der Kirche, der Offenbarungslehre und der kirchlichen Lehrautorität
entgegentritt. „Das Problem der Freiheit der Wissenschaft und des Verhältnisses
der wissenschaftlichen Forschung und der kirchlichen Lehrautorität ist eine der
kennzeichnendsten Fragestellungen des Katholizismus des 19. Jahrhunderts“605.
Zunächst charakterisiert Braig das Konzil so, dass es hinsichtlich strittiger Fragen
innerhalb der Theologie sich sehr zurückgehalten habe mit der Bevorzugung einer
bestimmten theologischen Richtung. Es habe nicht alle Fragen so entschieden,
599
600
601
602
603
604
605
Ebd. 32.
Ebd. 33.
Vgl. Aristoteles: Metaphysik I,1 (980a 21-982a 3).
Braig: Freiheit 34.
Ebd. 35.
Braig spielt auf die Verse Goethes an:
„Alle Freiheitheitsapostel, sie waren mir immer zuwider,
Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich.
Willst du viele befrein, so wag’ es, vielen zu dienen.
Wie gefährlich das sei, willst du es wissen? Versuch’s!“ (Hamburger Ausgabe I, 179).
Pottmeyer: Der Glaube 398.
185
dass die Lehre einer bestimmten Schule Vorrang gehabt hätte. Im Gegenteil: Es
sei dem Konzil in erster Linie darum gegangen, „diejenigen philosophischen Richtungen abzuweisen, die sich als die alleinberechtigten aufthun wollen“606. Vielleicht
möchte Braig damit betonen, gerade auch gegenüber den aus Anlass seiner Rede
versammelten Vertretern der Wissenschaft, dass auch er sich in seiner Forschung
und Lehre keineswegs auf die Methode der Scholastik festlegen wolle. Als die in
jedem Fall abzulehnenden philosophischen Richtungen spielen die Vertreter des
„Denksubjektivismus“ die erste Rolle. Deren Anliegen sei es, „die Berechtigungsgründe für ihr Forschen bittweise geltend“ zu machen und „ihre ausschliesslichen
Gesichtspunkte der fremden Forschung befehlsweise“ darzubieten.607 Diese Art
von Philosophie arbeite also mit Gründen, die nicht der Notwendigkeit nach erkannt werden können, vielmehr allein subjektive Argumente für sich haben, die aber dennoch als zwingend anzunehmende vorgelegt werden.
Braig wiederholt die Grundzüge einer christlichen Erkenntnislehre, die dem Konzil
zur Grundlage gedient hat.608 Die Lehre von der doppelten Erkenntnisordnung sei
mit dem Modell des zweistöckigen Baues gut erklärt. Das untere Geschoss umfasse das, was mit der natürlichen Menschenvernunft erkannt werde. Die „Erkenntnisgegenstände werden hier gebildet von der Gesamtheit dessen, was in den Bereich der Vernunft fallen, was von dem Strahl ihres Lichtes getroffen werden
kann“609. Das obere Stockwerk sei bewohnt von dem anderen Erkenntnismittel,
dem Glauben. Gegenstände der Erkenntnis seien hier „die Wahrheitssätze nebst
den Sinnvorschriften, welche den Inhalt der übernatürlichen, der an die Menschenvernunft ergehenden und über sie hinausgehenden Offenbarung darstellen“610.
Braig betont, dass die Lehre von der doppelten Erkenntnis keine Erfindung sei,
sondern an historische und psychologische Tatsachen anknüpfe, nämlich daran,
dass die Erkenntnis der Menschheit immer aus Glauben und Wissenschaft zusammengesetzt gewesen sei und dass die natürliche Erwerbung des Erkenntnisstoffes immer durch Glauben und Wissen vollzogen werde.611
An anderer Stelle erklärt Braig das geläufige Bild von den zwei Stockwerken, auf
die sich das menschliche Erkennen verteilt, mit dem anderen Bild zweier benachbarter Inseln, „welche durch eine schmale Landenge miteinander verbunden sind.
Das Verbindungsglied ist der Gottesbegriff des Theismus [...], er ist jenes natürliche Dogma, wenn so gesagt werden will, auf welches das rationale Denken durch
die Wirksamkeit seiner Gesetze mit Notwendigkeit geführt wird“612. Das Gefälle
606
607
608
609
610
611
612
Braig: Freiheit 37.
Ebd. 37f.
Vgl. DH 3015.
Braig: Freiheit 39.
Ebd.
Diese grundlegende Zweiteilung der Erkenntnisordnung vollzieht Braig auch in seinem
Lehrbuch der Noetik: „Das Erkennen, das sich durch den Innen- und Außensinn, durch
Verstand und Vernunft bethätigt, ist Wissen. [...] In der Mittheilung des Wissens von
Subject an Subject fließt eine neue Erkenntniß- und Wahrheitsquelle für den menschlichen Geist. [...] Mit Rücksicht darauf, daß sie dem Empfangenden gesondert gegenübersteht, kann sie die zweite, entfernte, äußere Wahrheitsquelle heißen“ (Braig: Noetik
208f.).
Braig 1902g, 76.
186
dieses Gebietes der empirischen Wissenschaften, die Schwerkraft der Denkgesetze auszumachen, hat sich Braig zur Aufgabe gemacht. So soll die Philosophie als
Vollendung und Krönung aller Einzelwissenschaft und mit dem „natürlichen Dogma“ der Gottesvorstellung den Wanderer hinübergeleiten in das Land der Glaubenswissenschaft.
Die Vertreter des Denksubjektivismus seien nun im Gegensatz dazu von einem naturalistischen und rationalistischen Erkenntnismodus überzeugt. Außerhalb der Ratio gebe es kein Erkenntnismittel, und was nicht darin erscheine, könne nicht Gegenstand einer Erkenntnis sein. Nach Kant sei die Vernunfteinsicht der einzige
Maßstab, nach dem eine Wissenschaft, auch die Wissenschaft vom Glauben betrieben werden könne. Alles jenseits der Erkenntnis der reinen Vernunft, so etwa
aus der positiven Offenbarung gewonnene Einsichten, seien für die theoretische
Wissenschaft daran zu bemessen, was von ihnen für die reine Erkenntnis gewonnen werden könne, wenn es von seiner geschichtlichen Hülle befreit worden sei.
Gerade aber diesen identischen Maßstab für Philosophie und Theologie bestreite
das Vatikanische Konzil mit seiner Lehre von der doppelten Erkenntnisordnung.
Noch andere Vorstellungen würden durch das Vatikanum zurückgewiesen: Hermes613, Schleiermacher, Gioberti614, die Auffassung von der doppelten Wahrheit,
die Heteronomie des Denkens, wie sie der Traditionalismus vertrete.
„Durch die Ablehnung der aufgeführten Philosopheme und durch die Bestätigung
früher erfolgter Verurtheilungen hat das vaticanische Concil die Freiheit der Philosophie gegen die Philosophen geschützt“615. Gegen den Versuch, einzelne Wissenszweige ausdrücklich aus der Verpflichtung zu entlassen, die ihnen das kirchliche Dogma auferlege, da ihr Forschungsbereich das heilsrelevante Dogma nicht
berühre, spreche zum einen, dass man dadurch ein zweifaches Freiheitsmaß für
das menschliche Denken postulieren müsste. Außerdem wäre die Unterscheidung
von Wissenschaften, die mit dem Glauben nicht in Zusammenhang stehen, und
solchen, deren Gegenstände sich mit dem Dogma berühren, etwas höchst Vorläufiges. Man müsste ständig neu nach dem jeweiligen Stand der Forschung entscheiden. Aber es spreche der gewichtigere Grund dagegen, dass „vor dem Geiste
sub specie aeternitatis [..] die Wissens- und Glaubenssätze in einen Begriff zusammengeschlossen“616 seien. Für die absolute Vernunft gebe es keine Verschiedenheit zwischen den von uns unterschiedenen Erkenntnisordnungen. Es gebe nur
eine Wahrheit, und dieser seien alle ohne Ausnahme verpflichtet, und daher habe
es keinen Sinn, manche Wissenschaften von dieser Verpflichtung auszunehmen.
„Vor dem einen Logos gibt es keine Freiheit des menschlichen Denkens, gar keine,
da gibt es nur das befreiende Gesetz, die lösende Macht des Logos“617. Außerhalb
dieses Kreises des Gesetzes noch Denkfreiheit zu fordern, hieße einen negativen
Begriff von Freiheit etablieren zu wollen. Dies ist die Wahrheitsauffassung, die als
Norm der Denkfreiheit des Christgläubigen zu gelten hat. Braig hebt davon die verschiedenen Auffassungen eines ungläubigen Wahrheitsverständnisses ab: „Ent613
614
615
616
617
Zu Georg Hermes (1775-1831) vgl. LThK3 5, 10ff.
Zu Vincenzo Gioberti (1801-1852) vgl. LThK3 4, 654.
Braig: Freiheit 44.
Ebd. 46.
Ebd.
187
weder läugnet man das christliche Ordnungsglied des Wissens einfach und einseitig; oder man zerschneidet die Verbindungslinien zwischen dort und hier einfach
und einseitig; oder man behauptet das Dass des Oberbaues einfach und bestreitet
die Erkennbarkeit seines Was einseitig; oder man fordert die gleichmässige Durchsichtigkeit beider Bauglieder einfach und einseitig, kann aber die Forderung nicht
stützen; oder man setzt Wahrheit und Willkür als eins in ihrer Quelle, nimmt ein
freies Absurdum zum Grunde des Denkens und eine absurde Freiheit zum Grunde
des Credos; oder endlich man versenkt das künstlich ausgeschnittene Stück
menschlichen Wissens in das uferlose Dunkel des Ignorabimus“618.
Was auf jeden Fall immer zu Tage trete, sei eine bestimmte Wahrheitsnorm, nach
der ein Denken vorzugehen habe. Jede Philosophie habe eine solche Norm, und
es stelle sich die Frage: „[W]elches Denken ist freier, jenes, das einer gegebenen,
oder jenes, das einer gemachten Wahrheitsnorm folgt in seinen Bewegungen“619?
Für Braig ist die subjektivistische Philosophie einer Wahrheitsnorm verpflichtet, die
sie sich selbst gegeben habe, während das Vatikanum von einer Gegebenheit der
Wahrheitsnorm ausgehe, ähnlich der mathematischer und physikalischer Sätze.
Das Wesen der wahren philosophischen Erkenntnis sei „das Durchschauen der
Wahrheit, ist das Erfassen des innern Grundes in einem Wahrheitssatze“, während
die „absolute Philosophie behauptet: der Philosoph durchschaut die innere Wesenheit eines Dinges und aller Dinge, oder er wird einmal zu solch durchdringendem, erschöpfendem Wissen gelangen“620.
Für das Denken der Wissenschaft gelte: „Das Recht ihrer Freiheit reicht genau so
weit als das Gewicht ihrer Gründe. Das Recht hat nur eine allgemeine Schranke,
nämlich die, dass weder ein sachlicher noch ein formeller Irrthum für etwas in sich
Gleichgiltiges ausgegeben werden darf“621.
Kann es eine christliche Philosophie geben? Kann eine christliche Philosophie frei
sein? Es stimme: „[D]er biblisch-theistische Wahrheits- und Sittlichkeitsbegriff ist
für mich die Norm des Denkens und des Wollens“. Aber es gelte auch: „[E]in gegebenes Denkgesetz behindert die Freiheit meines philosophischen Suchens mindestens ebensowenig als eine gemachte Denknorm“622.
Als Institution könne die Kirche Gehorsam verlangen, was ihre Grundsätze angehe. Alle ihr Zugehörigen müssen „den Grundgesetzen der kirchlichen Verfassung
im Handeln und im Denken folgen“623. Kann das Denken gehorchen? Zur Beantwortung dieser Frage sei festzuhalten, dass es der Kirche nicht um das Denken
der formalen Logik gehe, und dass es ihr um eine negative Orientierung des Wissens zu tun sei, nicht um eine positive (Cave! statt Crede!). Braig präzisiert diese
negative Norm: „Es ist der positiv und unzweideutig festgestellte biblischtheistische Gottesbegriff. [...] Das Christenthum macht die letzte Antwort, welche
618
619
620
621
622
623
Ebd. 47.
Ebd. 48.
Ebd.
Ebd. 51.
Ebd. 53.
Ebd. 54.
188
das logische Denken auf die philosophischen Fragen hat, zur ersten Antwort, welche der Glaube gibt auf die theologischen Fragen“624.
Die von Braig postulierte christliche Philosophie erhebt im Miteinander der verschiedenen philosophischen Strömungen durchaus eine wissenschaftliche und
freiheitliche Forderung, „wenn sie im Gewoge des Denkens der Gegenwart gleichen Raum, gleiche Luft und gleiches Licht auch für sich in Anspruch nimmt“625.
Das ist das Selbstverständnis der von Braig vertretenen Philosophie.
In der Konfrontation mit dem Kritizismus ergeben sich für den Philosophen zwei
Möglichkeiten: entweder haben die Ideen und Ideale ein reales Korrelat, oder ihnen entspreche keine Wirklichkeit. Entweder das eine oder das andere kurzerhand
anzunehmen, wäre ein Fehlschluss. Bei der vernünftigen Entscheidung der Frage
sei nicht die Lehrautorität des Christentums relevant, sondern allein „das Denkund das Seinsgesetz, das Vernunft- und das Weltgesetz des Grundes“626. „Wissenschafts- und freiheitsfeindlich“ sei die Zumutung, „an die Möglichkeit eines
grund- und ursachlosen Geschehens irgendwann und irgendwo zu glauben“627. Der
Satz vom zureichenden Grund beinhalte auch die Aussage, „dass in der Ursache
mindestens so viel Vollkommenheit vorhanden sein muss, als die Wirkung offenbart“628. Von daher verbiete sich die Annahme eines grundlosen Aufsteigens der
Ideen des menschlichen Geistes. „Die Fähigkeit meines Geistes muss ihren Grund
haben, wie der Geist selber den seinigen“629.
2.4.4 Der Modernismus und die Freiheit der Wissenschaft
Um zu einer abschließenden Bewertung des apologetischen Wirkens auch im Hinblick auf die Frage nach der Freiheit der Wissenschaft zu gelangen, lohnt es sich,
diese frühe Bearbeitung des Themas mit jener zu vergleichen, die Braig auf dem
624
625
626
627
628
629
Ebd. VII.
Ebd. 59.
Ebd. 61.
Ebd.
Ebd.
Ebd. 62. Entsprechend macht Braig es zur Aufgabe eines jeden christlichen Philosophen, nicht zuletzt sich selbst in seiner nun beginnenden akademischen Tätigkeit, „den
Nachweis eines sechsgliedrigen Satzes zu liefern“, genauerhin den Nachweis, dass erstens das Weltall einer freien, schöpferischen Ursache verdankt sei, zweitens Stoff und
Geist der Wesenheit nach verschieden seien, drittens der Geistbesitz des Menschen
nicht einer Vererbung vom Tier verdankt sei, dass viertens die Bestimmung jedes
Individuums der menschlichen Gattung sei, „das Reich des idealen Sollens, der sittlichen Freiheit, der religiösen Gemeinschaft aufzuerbauen“, dass fünftens innerhalb der
menschlichen Gesellschaft eine legitime Hierarchie herrsche, sechstens das wahre
Selbst des Menschen unsterblich sei (vgl. ebd. 62f.); es sind dies Momente, die dem
ersten Teil der klassischen Apologetik als praeambula fidei zugeordnet werden; neben
der Gotteserkenntnis gehören dazu noch etwa die „obligatio Deum colendi; spiritualitas
et immortalitas animae; voluntatis libertas; discrimen essentiale inter bonum et malum
morale“ (A. Stummer: Manuale Theologiae fundamentalis, Innsbruck 1907, 531); vgl.
dazu Flury: Redlichkeit 59.
189
Höhepunkt der Modernismus-Diskussion geleistet hat. Namentlich die Verpflichtung zur Ableistung des Antimodernisteneides im Herbst 1910 rief in Deutschland
im Namen der wissenschaftlichen Freiheit beträchtliche Unruhe aus, und schließlich wurden die deutschen theologischen Universitätsdozenten von der Eidesleistung befreit. Dies veranlasste Braig zu der Bemerkung, dass ihm der Unterschied
zwischen den autoritativen Vorschriften, die den Modernismus einzudämmen und
zu verhindern trachten, und den dogmatischen Erklärungen, die die Falschheit des
Modernismus aufdecken und verurteilen, durchaus bewusst sei.630
Gegen die Befürchtung, der Eid wider den Modernismus könne die Freiheit der
Wissenschaft gefährden, versucht Braig die Unwissenschaftlichkeit des Modernismus selbst zu erweisen, der sich somit also auch nicht einer Freiheit erfreuen dürfe. Gerade der Kampf gegen den Modernismus würde die wahre Wissenschaft retten. Ähnlich wie in seiner Antrittsrede klärt Braig zunächst den Begriff der „Freiheit
der Wissenschaft“, der offensichtlich eine Abstraktion darstellt, da die Freiheit nur
ein Merkmal des Menschen, also des Philosophen, des Wissenschaft betreibenden
Forschers sein könne. Dieser sei frei, wenn er vorurteils- und interessenlos auf die
Wahrheit dessen gerichtet sei, was in Frage stehe. Dazu gehöre die Freiheit des
Zweifels, der Skepsis gegenüber Methoden und vorgeblichen Lösungen. Der methodische Zweifel aber habe seine Grenze bei der Wahrheit selbst.631
Der Antimodernisteneid verpflichte den Gläubigen, das vom kirchlichen Lehramt
verkündete Glaubensgut anzunehmen, insbesondere das den Irrtümern des Modernismus entgegengesetzte. Braig führt als Beispiel den Glauben an die Gründung der Kirche durch Jesus Christus an, vom Eid ausdrücklich als Glaubensverpflichtung angegeben, weil die Modernisten mit ihrer Unterscheidung eines Christus der Geschichte und eines Christus des Glaubens die Identität Jesu mit dem
eingeborenen Sohn des Vaters und die Göttlichkeit der Stiftung Jesu leugnen. Die
Unhaltbarkeit der genannten modernistischen Unterscheidung sei darin begründet,
dass zum einen die Modernisten damit unbesehen Sätze Kants, Schleiermachers,
Ritschls und Harnacks übernehmen.632 Für diese Behauptungen aber die Freiheit
der Forschung in Anspruch nehmen zu wollen, stelle einen Missbrauch derselben
dar. Zum anderen können die fehlenden wissenschaftlichen Gründe gar nicht
dargebracht werden, weil solches unmöglich sei. Der Modernist nämlich setze
gemäß seines Prinzips der „vitalen Immanenz“ an die Stelle der unabweisbaren
Denk- und Erkenntnisgründe einer Aufstellung seine Empfindungen und
Gefühlsstimmungen. Auch hier könne die Wertlosigkeit des Verfahrens nicht durch
die Berufung auf die Freiheit der Wissenschaft aufgehoben werden, ganz
abgesehen von dem immensen Schaden dieser Pseudowissenschaft für das
praktische, religiös-sittliche Leben der um ihren Glauben Betrogenen.
Dass die Auffassungen der Modernisten nicht allein unwissenschaftlich seien, sondern geradezu wissenschafts- und freiheitsfeindlich, liege auf der Hand: Dem Mo630
631
632
Vgl. Karl Braig: Der Modernismus und die Freiheit der Wissenschaft, Freiburg 1911, VI
(Braig 1911c).
Vgl. ebd. 4-10.
Zur Unterscheidung von Christus des Glaubens und Christus der Geschichte vgl. die
Auseinandersetzung in: Braig: Jesus Christus 292-341; vgl. oben Abschnitt 2.3.3.2
Christologie im Zeichen des Modernismus.
190
dernisten fehle nämlich mit seiner Berufung auf sein Gefühl der objektive Maßstab,
nach dem er seine Empfindungen und Erlebnisse von Wahnideen, Träumereien
und sonstigen Täuschungen unterscheiden könne. Eine große Gefahr nämlich für
die Wissenschaft sei die Selbsttäuschung des sie Betreibenden, die alle seine
Aussagen unzuverlässig mache.633
So wie sich die Unwissenschaftlichkeit, ja Wissenschaftsfeindlichkeit des Modernismus an der Frage der Christologie leicht erweisen lasse, so sei es auch bei allen anderen modernistischen Lehrmeinungen, wie bei der Stiftung der Kirche, der
Bedeutung der Dogmen. Wieder wird der regel- und schrankenlose Evolutionismus
moniert, eine an der kantschen Philosophie orientierten Denkweise, die wegen ihrer Unbewiesenheit und Unbeweisbarkeit nur wissenschaftsfeindlich und freiheitswidrig sein könne.634
Fast unbegreiflich erscheinen Braig die Schwierigkeiten, die selbst katholischen
Gelehrten die Verurteilung wissenschaftlicher Methoden in Exegese und Geschichtsschreibung durch die Eidesformel bereitet habe. Der Schwörende habe zu
geloben, dass er einem Rationalismus in Exegese und Textkritik sich fernhalte,
dass er die historischen Quellen, auch die die Exegese und Kirchengeschichte
betreffenden, nicht unter einer auch nur vorläufigen Absehung vom übernatürlichen
Charakter der katholischen Überlieferung und dem zugesagten Beistand zur fortdauernden Bewahrung der geoffenbarten Wahrheit betrachte, wie es die moderne
Historie wolle.635 Gerade dieser methodische Zweifel war es ja, den Braig zu Anfang seiner Schrift als Signum einer freien vorurteilslosen Wissenschaft dargestellt
hat. Trotzdem weist er weit die Meinung der Modernisten und ihrer Anhänger von
sich, der Papst würde mit dieser Forderung eine ernsthafte Wissenschaft unmöglich machen. Aber auch von der Kirche treu ergebenen Gelehrten konnte Braig hören, die ihrer Sorge Ausdruck verliehen, dass die Wissenschaft durch diese Verpflichtungen zumindest eingeschränkt werde. Auch diese Auffassung weist Braig
von sich. Der Eid bekräftige ja die Auffassung des Vatikanischen Konzils, nach der
der Mensch in der Lage sei, das Dasein Gottes aus der Schöpfung zu beweisen.636
Ein Dreifaches werde damit definiert: dass der Mensch in seiner natürlichen Verfassung die Erkenntnisfähigkeit besitze, dass er diese Fähigkeit mit Sicherheit anwenden und die Wahrheit erreichen könne, dass dieses Ziel auf dem Weg des
Schließens und Beweisens vor sich gehe nach Maßgabe des Kausalitätsgesetzes.
Hier sieht Braig die Anerkenntnis der Grundbedingung aller Wissenschaft gefordert, der Möglichkeit des natürlichen, rationalen Wissens, dessen treibende Seele
das Kausaldenken, dessen leitende Vernunft das Identitätsgesetz ist. Diese Überzeugung von der Stärke der menschlichen Vernunft stehe der modernistischen
Grundüberzeugung des Agnostizismus diametral entgegen. Braig fragt jetzt: Wer
von den beiden „wird dem Wissenstrieb, der ersten Anlage für alle Wissenschaften
[...] eher, besser, sicherer gerecht, der Modernismus, der eine Vernunftanlage, die
Möglichkeit der Vernunfterkenntnis, einer denkenden Erfassung des Übersinnlichen und des Göttlichen steif wegleugnet, der die Gesamterscheinung des Religi633
634
635
636
Vgl. Braig: Modernismus und Freiheit 10-17.
Vgl. ebd. 17-24.
Vgl. DH 3546f.
Vgl. DH 3538.
191
ösen als ein wirres Spiel unlenkbarer Gefühle [...] genommen wissen will – oder
der Papst und die Kirche des Papstes, die, dem Zuge der Vernunftnatur folgend,
für das Höchste, was den Menschengeist beschäftigen [...] kann, für das Reich der
Religion und der ewigen Wahrheiten, den Vernunftgebrauch von uns allen fordert
und das Vernunftrecht für uns alle geltend macht“637!? Der zweite Satz des Eides
betone die äußeren Beweisgründe der Offenbarung, vor allem Wunder und Weissagungen, als die sichersten Beweiszeichen für den göttlichen Ursprung der christlichen Religion, die der Fassungskraft aller Zeiten und Menschen zuhöchst angemessen seien.638 Hier wird nach Braig dem objektiven Charakter der Geschichtswissenschaft in vollem Umfang Rechnung getragen, der historischen
Wissenschaft, deren erste Aufgabe es sei, die objektiven Fakten und Quellen zu
Wort kommen zu lassen. Dagegen ist die modernistische Geschichtswissenschaft
von einem unleugbaren subjektiven Faktor geprägt, von der Betonung eines inneren, immanenten Empfindungs- und Wertmaßstabes, den der Forscher von sich
aus an den Untersuchungsgegenstand heranbringe. Diese „inneren Kriterien“ werden von den modernistischen Historikern zu den eigentlich entscheidenden Maximen gemacht, und sie tragen damit ein willkürliches, unangemessenes Moment in
die Wissenschaft hinein. Dagegen sieht Braig in der antimodernistischen Betonung
der äußeren Kriterien ein Plädoyer für die wahre Geschichtswissenschaft und ihre
Freiheit. Mit diesen beiden ersten Artikeln sei also zunächst kundgetan, dass der
Papst keineswegs sich gegen Bibel- und Geschichtswissenschaft wende, dass er
vielmehr gegen die modernen Zerstörungsversuche deren wissenschaftlichen Charakter zu akzentuieren suche.639
Dies betrifft die eine Seite der Problematik, nämlich die Abweisung modernistischer
Ideen, von denen man behauptet, sie seien wissenschaftlich. Was steht aber auf
der anderen Seite; lässt sich dagegen die Ablehnung bestimmter Methoden in Historie und Exegese durch den Papst als wissenschaftsfreundlich rechtfertigen? Wird
hier nicht der Wissenschaftler geknebelt, der sich allein der autoritativen Auslegung anschließen darf?
Einmal sei zu sagen, dass der Antimodernisteneid mit seiner Forderung, die Bibel
ihrem dogmatischen Gehalt nach ausschließlich gemäß der katholischen Lehrüberlieferung auszulegen und zu verstehen, nichts Neues sage. Hier wehre man sich
gegen das Vordringen eines protestantischen Prinzips, das gegen den katholischen Grundsatz der autoritativen Schriftauslegung ein subjektives, persönliches
Recht der Bibelauslegung etablieren möchte. In der Ablehnung dieser Tendenzen
sieht Braig das Prinzip der wissenschaftlichen Objektivität gewahrt, ohne freilich zu
sagen, dass die Autorität des Lehramts dann auch tatsächlich wissenschaftliche
und nachvollziehbare Gründe für ihre Auffassung anführen muss. Aus Sicht der
Modernisten sei gerade die verworfenene Methode der Textkritik ein wissenschaftlich objektives Verfahren, den ursprünglichen Sinn eines Textes herauszutreiben.
Braig dagegen betont, dass die Textkritik außerhalb und ohne Hilfe der kirchlichen
Überlieferung außer Stande sei, den dogmatischen Gehalt eines Schriftwortes zu
ermitteln. Was zum Beispiel die Worte „Messias“, „Menschensohn“, „Gottessohn“
637
638
639
Braig: Modernismus und Freiheit 30.
Vgl. DH 3539.
Vgl. Braig: Modernismus und Freiheit 24-33.
192
in der Schrift bedeuten, sei allein mit den Mitteln der Exegese nicht auszumachen.
Dies seien vielmehr Ausdrücke des Mysteriums, das seinen übernatürlichen Sinn
nur durch die Offenbarung enthüllt und durch die autoritative Lehrüberlieferung in
der Welt fortgepflanzt werden könne.640 Für Braig ist offensichtlich, dass die Absicht des Papstes darin bestehe, erweisbar und offensichtlich falsche Meinungen
zu kennzeichen und abzulehnen. Daher hält er es auch für unter der Würde des
Apostolischen Stuhles stehend, eine ausdrückliche Erklärung darüber abzugeben,
dass eine Unterbindung der Wissenschaft durch die Bekämpfung des Modernismus nicht beabsichtigt sei.641
Wie steht es mit der geforderten dogmatischen Orientierung der Wissenschaft? Ist
es nicht geboten, vorurteilslos zu forschen unter Hintanstellung aller vorgefassten
dogmatischen Lehren? Hier bringt Braig das Beispiel des Hermesianismus an, der
für seine philosophische Methode einen positiven Zweifel forderte, der alle Glaubensvoraussetzungen zunächst als unrichtig behandeln sollte, bis er eingesehen
habe, dass die positive Bezweiflung von allem letztlich nicht möglich ist. Die Unmöglichkeit eines solchen positiven Zweifels sei evident, wenn man sich vor Augen
halte, dass es bei einer Bezweiflung von allem keinen Maßstab gibt, nach welchem
dieser Zweifel überwunden werden könne. Ähnlich sei es mit der Forderung der
Modernisten, man müsse allen positiven dogmatischen Bestimmungen abschwören, wenn man wissenschaftlich Christentum und Kirche untersuchen wolle. Braig
sieht in dieser Verneinung, etwa der Göttlichkeit des Ursprungs der Kirche, reine
Unwissenschaftlichkeit am Werk, denn „die Wissenschaft muß streng und peinlich
fragen, welche Gründe für das Nein und welche für das Ja sprechen, und sie muß
nach objektiven und logischen, historischen und sachlichen, kurz nach unanfechtbaren, zwingenden Gesichtspunkten die Entscheidung zu treffen suchen“642.
Der Unterschied also zwischen dem methodischen und dem positiven Zweifel sei
beispielsweise hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung der Kirche darin zu sehen, dass der Wissenschaftler wie der Modernist zwar beide zunächst von seiner
Göttlichkeit absehen, der Wissenschaftler jedoch nur vorübergehend, der Modernist aber von einer diese Göttlichkeit von vornherein für unmöglich erachtenden
Warte aus.
Braig versichert, dass der katholische Wissenschaftler durch sein Dogma keineswegs behindert sei, ähnlich wie der Astronom, der von der Annahme ausgehe,
dass alles in der Welt nach ewigen Gesetzmäßigkeiten ablaufe, davon in seiner
Forschung eingeschränkt sei. Wie also der Astronom die aus dem Christenglauben
gewonnene philosophische Grundüberzeugung, dass alles nach Maß, Zahl und
Gewicht geordnet sei (vgl. Weish 11,20), für seine wissenschaftliche Arbeit fruchtbar machen könne, so wenig „kann heute das Dogma, das wir mit kindlichem
Glauben bekennen, das uns aber nicht das Symbol wirrer, von Illusionen nicht unterscheidbarer Gefühle ist, sondern auf objektiven, vor der strengsten geschichtlichen und philosophischen Prüfung sich ausweisenden und bewährenden Gründen
ruht, als eine vorgefaßte, wissenschaftswidrige Meinung bezeichnet werden, die
640
641
642
Vgl. die Betonung des Prinzips der katholischen Lehrüberlieferung in: Braig: Jesus
Christus 340f.
Vgl. Braig: Modernismus und Freiheit 33-40.
Braig: Modernismus und Freiheit 45.
193
abzutun wäre, ehe ein wissenschaftliches Arbeiten einsetzen könnte“643. Das
christliche Dogma wolle also negative Orientierungsnorm für alle Einsichten des
Menschengeistes sein. Der einzige Unterschied zwischen dem Verhältnis des
Einmaleins zur naturkundlichen Einsicht und dem Verhältnis des Dogmas zu allen
wissenschaftlichen Theorien sei der, dass bei natürlichen Wahrheiten der Menschengeist die innere Notwendigkeit der adaequatio rei et intellectus einzusehen
vermöge, während dies bei religiösen Wahrheiten die Wahrhaftigkeit des offenbarenden Gottes verbürge. Orientierungsnorm für das natürliche Wissen könne aber
nicht die übervernünftige Glaubenswahrheit sein. Diese gewissermaßen nach oben
hingekehrte Seite des Dogmas könne nicht dazu dienen, Lücken in der natürlichen
Wissenschaft zu schließen. Als unverdächtige Beispiele seien genannt die Anzahl
der möglichen Gottesbeweise, wie sie nach dem allgemein gehaltenen Satz des
Vatikanum geführt werden können, aber auch die Frage, inwieweit dem Menschlichen in den Schriften der Kirchenväter Unfehlbarkeit zuzusprechen sei. Weder also der Missbrauch der positiven Glaubenswahrheiten, wenn jemand sie zum
Dienst am profanen Wissen erniedrigen wolle, noch auch die Misshandlung der
positiven Glaubenswahrheit, wenn man sie zu Erfindungen einer immanenten Gefühlsphilosophie abstempeln möchte, könne im Namen einer ernstzunehmenden
Wissenschaft geduldet werden.644
Zum Schluss645 versucht Braig den Unmut zu erklären, der sich auch unter Katholiken gegen die Maßnahmen aus Rom eine Stimme gesucht habe. Möglicherweise
sei der Grund die Abneigung, sich mit den Irrlehren des Modernismus auseinandersetzen zu müssen. Es sei der Unmut gegen den Arzt und seine Anordnungen,
und dieser Unmut äußere sich kritisch gegen die päpstlichen Maßnahmen. Hier
zeige sich das römische Lehramt weitsichtig, während all die, die gegen die Strenge und Unerbittlichkeit des logischen und dogmatischen Denkens eine dem Zeitgeschmack eher angemessene Nähe zum Gefühl, zum schönen Geist einfordern,
verraten, dass sie die führende Rolle des Denkens verkennen.
Braig führt die modernistische und liberalistische Denkrichtung zurück auf den „Irrtum von dem zweifachen Evangelium, einem doppelten Christentum, von einem
exoterischen Christentum für die Unwissenden, die die Glaubenssymbole buchstäblich hinnehmen, weil sie deren Sinn nicht zu fassen vermögen, und von einem
esoterischen Christentum für die Wissenden, denen die Glaubensdogmata nichts
mehr sein können, nachdem sie deren wahren Sinn erfühlt und erlebt haben. Es ist
dies der alte Irrtum des Gnostizismus, der vor Jahrhunderten schon nicht bloß einen Unterschied, sondern einen Gegensatz zwischen den Pistikern und Pneumatikern, den Gemeingläubigen und den wissenschaftlich Erleuchteten machte“646.
Einmal mehr geht es Braig hier um die Wahrung von Einheit und Eindeutigkeit.
643
644
645
646
Ebd. 49.
Vgl. ebd. 41-53.
Vgl. ebd. 53-58.
Ebd. 57.
194
2.4.5 Zusammenfassung
Die Frage nach der Freiheit der Wissenschaft nimmt Carl Braig zum Anlass für
grundsätzliche Erörterungen. Dabei geht es um das Verhältnis von Glaubens- und
Wissenswahrheit. Durch den Anspruch der Vernünftigkeit des Glaubens, gegen
den Fideismus, müsse es notwendigerweise Berührungspunkte zwischen den beiden Sphären geben. Hatte Carl Braig am Anfang seiner akademischen Tätigkeit
als einziges, zumindest wichtigstes Konfliktfeld zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Wissenschaft und Glauben den biblisch-theistischen Gottesbegriff
ausgemacht, das einzige Dogma, das negative Orientierungsnorm aller wissenschaftlichen Erkenntnisse sein solle, und hatte er sich zur Aufgabe gemacht, diesen Gottesbegriff als die letzte Antwort eines logischen Denkens, das diesen Namen verdiene, zu erweisen, musste er später, in der besonders von der Forderung
des Antimodernisteneides bestimmten Modernismus-Krise, das christliche Dogma,
das als negativer Orientierungspunkt fungieren soll, ausweiten auf die autoritativ
verfügte Auslegungstradition der offiziellen Kirche. Auch wenn die einzelnen Bestimmungen nicht lückenlos rational plausibel gemacht oder historisch nachvollzogen werden können, vollzog sich im Denken Braigs kein Bruch, sondern in der Betonung der Autorität geschieht das, was parallel der Konzentration Braigs auf Fragen der Christologie und Ekklesiologie bzw. der ihnen entsprechenden fundamentaltheologischen Traktaten demonstratio christiana und demonstratio catholica
entspricht. Der katholische Glaube muss sich vor der einen Vernunft, für alle Menschen gleichermaßen einsehbar, rational ausweisen lassen.
2.5 Konsequenzen der Modernismus-Krise für die Apologie
Carl Braigs
Wir hatten den Ausdruck „Modernismus“ als Leitbegriff verwendet, die apologetischen Bemühungen Braigs, sein Apostolat der Dialektik darzustellen. Es ist dabei
hinlänglich deutlich geworden, dass für Braig eine „Modernismus“-Krise schon lange vor der Veröffentlichung der einschlägigen Dokumente des Vatikans eingesetzt
hat. Gerade im Hinblick auf die Schriften Braigs ist durchaus zu betonen, dass der
„Modernismus“ und der Kampf gegen ihn nicht nur vorher schon sich abzeichneten, sondern in ihrer Vollform schon vorhanden waren, so dass „Lamentabili“ und
„Pascendi“ qualitativ keine neue Sachlage schufen. Es zeigt sich auch, dass für einen klaren Antimodernismus kein kirchenpolitischer Dezisionismus vonnöten war.
Hatte Braig am Anfang seines öffentlichen Wirkens, das heißt, seiner Veröffentlichungstätigkeit, noch das Ziel, vor allem auf dem Gebiet der demonstratio religiosa
zu wirken, die Plausibilität des Gottesbeweises und seine Voraussetzungen auf erkenntnistheoretischem und ontologischem Feld auszuweisen, so verschob sich
dieses Ansinnen in eine andere Richtung, als Braig sich zunehmend mit innerchristlichen und auch innerkirchlichen Heterodoxien auseinanderzusetzen begann.
Gleichwohl blieb Braig seinem Apostolat der Dialektik insofern treu, als er weiterhin
von einer philosophischen Warte aus argumentierte. Jetzt richtete sich die Stoßrichtung nicht mehr gegen die Leugner des theistischen Gottesglaubens oder der
195
Möglichkeit der natürlichen Gotteserkenntnis, sondern gegen eine falsche Methodik im Umgang mit den Offenbarungszeugnissen. Dabei waren aber dieselben philosophischen Prämissen der Logik und Erkenntnistheorie vorauszusetzen wie vordem. Die Thematik verschob sich aufgrund der Änderung der Gegnerschaft hin auf
Themen der demonstratio christiana und demonstratio catholica, wenn sich dies
auch mehr defensiv gestaltete aufgrund der geringeren Evidenzkraft der entsprechenden Argumente.
Vergleicht man die apologetischen Zielsetzungen Braigs vor Beginn seiner Lehrtätigkeit mit denen in der offiziellen Modernismus-Krise, so zeigt sich eine Kontinuität
sowohl in der Bedeutung, die der Philosophie und dem logischen Denken beigemessen wird, sodann auch in der Forderung, den jeweiligen Gegner auf der Höhe
seiner selbst wahrzunehmen und seinen Grundfehler ausfindig zu machen. Regelmäßig nimmt in den Schriften Braigs die Darstellung des gegnerischen Gedankens breiten Raum ein; dies scheint Braigs Auffassung von einer fairen und allein
auf rationale Argumente konzentrierten Auseinandersetzung am ehesten zu entsprechen. Eine Ausnahme bildet vielleicht der Kampf gegen den katholischen Modernismus, dem sich Braig, wohl in Ermangelung ihm vor Augen stehender Beispiele, fast ausschließlich in der konstruierten und abstrakten Form stellt, wie sie
die päpstliche Enzyklika bietet.
Die Frage, warum es in Deutschland trotz fehlender Modernisten eine so reiche
und aggressive antimodernistische Literatur gegeben habe, lässt sich zumindest
für Braig damit beantworten, dass „Lamentabili“ und „Pascendi“ für ihn wie eine
Bestätigung seiner bisherigen Tätigkeit wirken mussten. Zum Anderen sah Braig
sich genötigt, die Berechtigung des im kirchlichen Kampf gegen den Modernismus
Geforderten zu begründen.647 Ihm ging es nicht um die Verteidigung einer bestimmten Schule, einer bestimmten, an Personen gebundenen Philosophie, sondern er wollte – und dies ist der einzige Grund auch seiner Ablehnung der Immanenzapologetik648 – die Wissenschaftlichkeit der Theologie und die Vernunftgemäßheit des Glaubens retten.
Johannes Flury zählt eine Reihe von Momenten auf, die eine Überspitzung der traditionellen Fundamentaltheologie durch die Modernismus-Krise deutlich machen.649
Zum einen geriet man durch die Festlegung auf die scholastische Philosophie in
ein geschlossenes Sprachgefüge, das ein Gespräch mit dem zeitgenössischen
Denken unmöglich macht. Seiner Herkunft aus der Tübinger Schule und dem Anspruch des Selbstdenkertums ist es zu verdanken, dass Braig hier weniger festgelegt war. Ein anderer Punkt ist die Wissenschaftlichkeit der Theologie und der
Fundamentaltheologie, die in der Folge der Modernismus-Debatte verschärft wird.
647
648
649
Flury: Redlichkeit 114ff. vermutet hinter dem Missverhältnis von Modernismus und antimodernistischer Bewegung in der deutschen Theologie, „daß die traditionelle Fundamentaltheologie diese Krise weitgehend zur Bestätigung ihres effektiv schon angeschlagenen Selbstbewußtseins verwendete“ (ebd. 115). Dass „die Diskussion von einem Maximalismus und einer Engstirnigkeit geprägt [war], die das eigene System als
allein gültig erklären“ wollte (ebd. 116), ist eine Ansicht, die sich je nach eigener Position verneinen oder bestätigen lässt.
Vgl. ebd. 117-120.
Vgl. ebd. 120-131.
196
Deutlich wird dies am Beispiel der natürlichen Gotteserkenntnis, deren Möglichkeit
im Sinne einer quaestio iuris vom Ersten Vatikanum festgestellt wurde, die aber
vom Text des Antimodernisteneides dann im Sinne eines wissenschaftlichen Beweises verstanden wurde.650 Für Braig ist die Theologie und namentlich die Apologetik eine Wissenschaft, die zu Aussagen kommt, die der allgemeinen Vernunft
plausibel sind. Es zeigt sich immer wieder, dass Braig bemüht ist, zu integrieren.
Da wo sich Alternativen auftun, wie zwischen Erkenntnis aus autonomer Vernunft
und Erkenntnis durch Autorität, oder zwischen Vernunft und Gefühl, versucht er,
die Momente in einer Ordnung zusammenzuhalten.
Etwa in der Frage nach der Bewertung der Quellen des Glaubens macht er auf die
Rolle der Kirche mit ihrem Lehramt als Wahrerin der lebendigen Überlieferung
aufmerksam. Dies kann man freilich nicht mit jener Konzentration auf das unfehlbare Lehramt und die Person des Papstes gleichsetzen, die Flury als weiteres
Moment der antimodernistischen Fundamentaltheologie bei Autoren wie Ernst
Commer ausmacht. Eine mit Hypostasierung und Divinisierung des Papstamtes
operierende Ekklesiologie lässt sich bei Braig nicht ausmachen.
Den Ansatz für seine Apologetik bei der Philosophie wahrt Braig während der langen Jahre seiner apologetischen Wirksamkeit. Deswegen ist es gerechtfertigt, von
einem Apostolat der Dialektik zu sprechen. Die Philosophie ist der Ausgangspunkt,
der zunächst im Bereich der demonstratio religiosa Anwendung findet; und zwar
nicht nur defensiv, sondern sie lässt eine eigene Fassung der Gottesbeweise entstehen. Im weiteren Verlauf zeigt sich die Gegnerschaft und Herausforderung auch
und vor allem auf den Gebieten der demonstratio christiana (Christologie) und demonstratio catholica (Kirchenstiftung). Hier muss sich der apologetische Ansatz
Braigs bei der philosophischen Grundlegung auf Kritik und Abweisung der Methode der „Modernisten“ beschränken und gerät so in eine Lage, der antichristlichen
Haltung nichts Adäquates entgegensetzen zu können, sondern vielmehr in einer
reinen Abwehrhaltung zu verharren.
Es ist deutlich geworden, dass Carl Braigs apologetisches Apostolat immer wieder
auf bestimmten philosophischen Grundsätzen beharrt, die seiner Meinung nach
von den widerchristlichen Gegnern nicht beachtet werden. Welche Prinzipien das
sind, soll im folgenden Teil dargestellt werden. Dabei wird besonders auf den Ertrag dieses Teils, das heißt auf die Punkte eingegangen, die sich wiederholt in der
apologetischen Argumentation Braigs finden lassen.
650
Man vergleiche die Formulierung von DH 3004 („[...] Ecclesia tenet et docet, Deum [...]
e rebus creatis certo cognosci posse“) mit der von DH 3538 („Deum [...] per visibilia
creationis opera, tamquam causam per effectus, certo cognosci, adeoque demonstrari
etiam posse, profiteor“).
197
Dritter Hauptteil: Die Philosophie Carl Braigs
„Mehr kritisch als synthetisch, mehr dialektisch als konstruktiv, mehr apologetisch
als kontemplativ, vermochte der starke und eigenwillige Denker weder einer Schule sich einzuordnen noch eine Schule zu bilden“1. Mit diesen Worten versuchte
Friedrich Stegmüller 1953, eine zusammenfassende Beurteilung Braigs zu formulieren. Mit Blick auf das im vorangegangenen Kapitel erörtete apologetische Wirken Braigs ist diese Einschätzung gewiss nachvollziehbar. Apologie ist zunächst
ein defensives Unterfangen. Apologetik erwächst als Reaktion auf für falsch gehaltene Ansichten und Zurückweisung von Irrtümern. Das heißt aber nicht, dass der
Apologet keine positive Fassung eines dem Irrtum entgegengesetzten Gedankens
hat. Im Gegenteil, gerade die Behauptung eines Irrtums impliziert ja bereits das
Wissen um die Richtigkeit des eigenen Denkens, auch wenn dieses vielleicht nicht
hinreichend ausdrücklich gemacht werden kann.
Carl Braig hat in seinem philosophischen Werk versucht, das Grundgerüst dessen
darzulegen, was den Grundfehlern des „Modernismus“ als wahre Prinzipien gegenübersteht.2 Namentlich seine Erkenntnislehre ist dazu geeignet, den immer wieder als Grundpfeiler der verschiedenen „Modernismen“ genannten Agnostizismus
zu widerlegen und ihm eine positive, dem christlichen Glauben zugewandte und
auf ihn hinführende Lehre entgegenzustellen. In seiner Ontologie versucht Braig,
gegen den scholastischen Begriff des Seienden ein eigenes Konzept der Metaphysik zu entwerfen, das die strenge Unterscheidung oder Trennung von Form und
Materie als Grundprinzipien des Weltenbaus nicht anerkennt. Vielleicht war diese,
dem herrschenden mainstream der Theologie gegenüber kritisch eingestellte Haltung auch der Grund, warum Braig nicht schulbildend wirken konnte.
Hat Braig aus seinen philosophischen Erkenntnissen unmittelbar zunächst nur einen Gewinn für die Fragen der praeambula fidei gewonnen, nämlich genauerhin
für seinen Gottesbeweis, den er auch ausführt, so lassen sich namentlich durch die
auf einer Mischung von idealistischen und realistischen Elementen fußenden Erkenntnislehre Prinzipien ableiten, die auch später im Blick auf die historischen Methoden eines Harnack und anderer „Modernisten“ fruchtbar werden können. So hat
sich, wie gezeigt, Braig nicht auf die demonstratio religiosa beschränkt, sondern er
konnte sich, gerade durch seine Konzentration auf grundlegende philosophische
Fragen, mit methodischen Problemen abgeben, die auch die Gebiete der demonstratio christiana und demonstratio catholica berühren.
Im Aufbau dieses Kapitels möchte ich dem angedeuteten Gang folgen. Das sich in
einer intensiven apologetischen Wirksamkeit äußernde Apostolat der Dialektik vor
Augen, möchte ich versuchen, im philosophischen Schrifttum Braigs das positive
Äquivalent zur eher negativ gefassten, defensiven Apologetik zu finden. Obwohl
also Braig selbst von seinem Wissenschaftsverständnis die Philosophie der Apologetik vorangehen lässt, möchte ich in dieser Arbeit vom Standpunkt des Apologe1
2
Stegmüller: Braig 125.
„Der Hauptgewinn, welchen uns das Studium der neueren Philosophie vermittelt, ist der
apologetische“ (Braig 1884a, 160).
199
ten einen Blick auf die philosophischen Theorien Braigs werfen, weil das apologetische Wirken bei Braig dermaßen im Vordergrund steht. Hier muss zunächst die
Erkenntnislehre befragt werden, die Braig vor allem in seinem 1897 erschienenen
Grundriss der Noetik entfaltet. Für die Entfaltung eines Gottesbeweises, dessen
Möglichkeit immer wieder als die Bedingung für die Vernunftgemäßheit des christlichen Glaubens genannt wird, soll die in kritischer Stoßrichtung zur neuscholastischen Lehre entwickelte Ontologie Braigs in den Blick kommen. Schließlich soll
zumindest kurz die Problematik des Gottesbeweises angerissen werden, namentlich in seiner von Braig entwickelten Form, als dessen Voraussetzungen sich die
Klärung der erkenntnistheoretischen und ontologischen Problemkreise erweisen
werden.3 Die Frage nach der natürlichen Gotteserkenntnis, die mit der nach dem
Gottesbeweis eng verquickt ist, spielt ja gerade in der Modernismus-Krise eine
nicht zu unterschätzende Rolle. Wenn auch durch die Nachordnung der Philosophie hinter die Apologetik im Aufbau dieser Untersuchung der Eindruck entstehen
könnte, allein apologetisches Interesse habe die philosophische Erkenntnis Braigs
gelenkt, ist doch vom Selbstverständnis Braigs her davon auszugehen, dass die
(philosophische) Erkenntnis in ihrem Wahrheitsanspruch rein interesselos entstanden ist.
3
Auch aus der Lehre des ersten Vatikanums lässt sich Notwendigkeit der Klärung ontologischer und erkenntnistheoretischer Fragen ableiten, wenn es heißt, „Deum, rerum
omnium principium et finem, naturali humanae rationis lumine e rebus creatis certo cognosci posse“ (DH 3004). Wie muss das natürliche Licht der menschlichen Vernunft
beschaffen sein, dass ein sicheres Erkennen möglich ist; wie ist die geschöpfliche Wirklichkeit bestimmt, dass aus ihr Gott erkannt werden kann?
200
1
Vom Erkennen – Die philosophische Erkenntnislehre Carl Braigs
(Logik und Noetik)
1.1 Hinführung – Die Bedeutung einer philosophischen Erkenntnislehre für die Theologie
„Wollte man die philosophische Diskussion der Neuzeit in Form einer Gerichtsverhandlung rekonstruieren, wäre diese zur Entscheidung der einzigen Frage einberufen worden: wie zuverlässige Erkenntnis möglich sei“4. Die Reflexion auf das Erkennen ist ein allgemeines menschliches Vermögen. Das Bewusstsein dafür, dass
„alle Epochen der Philosophie sich durch die Art der Reflexion der E.[rkenntnis]
(wenn auch nicht erschöpfend) charakterisieren lassen“5, ist besonders im 19.
Jahrhundert gewachsen. Die Philosophie der Neuzeit, namentlich seit Descartes,
der es um die Sicherstellung des Wissens und Erkennens ging, wurde sich immer
mehr der Dringlichkeit der Frage bewusst, auf welche Weise erkennendes Subjekt
und erkanntes Objekt im Akt des Erkennens zusammenfinden.
Welche Bedeutung die Erkenntnislehre auch für die theologische Diskussion des
19. Jahrhunderts hatte, zeigt eine Gesamtschau auf die Theologie der Zeit.6 Nach
den Bestrebungen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, Religion nur noch „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ gelten zu lassen, wollte man von christlicher und besonders katholischer Seite die Vernunftgemäßheit auch des hergebrachten Kirchenglaubens zur Geltung bringen. Verschiedene theologische Ansätze versuchten in lebendiger Auseinandersetzung mit damals zeitgenössischen
philosophischen Entwürfen, etwa denjenigen Kants, Schellings, Hegels, Jacobis,
Theologie zu betreiben und neu zu beleben.
Namentlich durch das erwachende historische Interesse und Bewusstsein wurden
traditionelle Glaubensüberzeugungen zunehmend in Frage gestellt. Gerade auch
bei Braig bemerkt man, dass er gegen die Überzeugung, dass das Verständnis historischer Quellen wie des Neuen Testamentes von einer radikalen Geschichtlichkeit auszugehen hat, die Überzeitlichkeit und Unveränderlichkeit philosophischer
Wahrheiten in den Vordergrund stellt.
Als Ertrag der Untersuchung des apologetischen Wirkens Carl Braigs konnte festgehalten werden, dass auch der Freiburger Theologe sich stets auf die philosophische Seite vor allem der Methodik seiner Gegner bezog, und hier meist ein logisch-erkenntnistheoretisches Defizit ausmachen konnte. Die Relevanz erkenntnistheoretischer Fragen für den Glauben und die Theologie wird deutlich, wenn man
sich die Verurteilung entsprechender Haltungen durch das Erste Vatikanische
4
5
6
Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1973, 11.
Hermann Krings/Hans Michael Baumgartner: Artikel Erkennen, Erkenntnis I, in: HWPh
2, 643-662, hier 643.
Vgl. etwa Gerald A. McCool: Nineteenth-century Scholasticism, New York 1989, passim, bes. 6-9, 155f., 199f.
201
Konzil7 oder die Modernismus-Enzyklika8 vor Augen hält. Auch dadurch, dass ein
breiter Strom der Geistesgeschichte den Menschen durch seine Erkenntnisfähigkeit definiert hat, die ratio als die spezifische Differenz des Menschen verstanden
wurde, dass ganze Ethiken die theoria, die Anschauung Gottes von Angesicht zu
Angesicht, als Endziel des Menschen gesehen haben, auch darum mussten kirchliches Lehramt und Theologie einen radikalen Agnostizismus ablehnen.9 Für Braig
ist das Wesen der Religion im Sinne der Hinordnung des Menschen auf Gott von
einem zweifachen Grundverhältnis bestimmt, bei dem das Erkennen dem Willen
vorausgeht. Zuerst werde Gott aufgrund des Denkens des Verstandes und der
Vernunft erkannt, dann „entspringt dem Menschen ein Verhältnis des Willens und
des Gemütes dem höchsten Gute gegenüber: die Liebe zu Gott aus allen Seelenkräften auf dem Grunde der Erkenntnis und der Anerkenntnis des göttlichen Waltens“10.
Anders als bei seinem theologischen Lehrer Johann Evangelist von Kuhn, dessen
Theologie innerhalb der Tübinger Schule schon deutlich von der Konzentration auf
das erkenntnistheoretische Grundproblem geprägt ist,11 liegt bei Braig eine ausgearbeitete Erkenntnistheorie vor, so dass eine solche nicht rekonstruiert werden
muss.12 Diese Erkenntnislehre ist die Frucht seines ersten akademischen Wirkens
in Freiburg, wo er von November 1893 bis Sommer 1897 die Studenten in die Philosophie einzuführen hatte. Die Vorlesungsverzeichnisse aus dieser Zeit belegen,
dass der Schwerpunkt der jeweils vierstündig abgehaltenen Hauptvorlesungen auf
der Erkenntnislehre lag. So nimmt es nicht wunder, dass der umfangreichste der
drei Bände der „Grundzüge der Philosophie“ die Lehre „Vom Erkennen“13 ist, der
auch das „werthvollste und gelungenste der [...] philosophischen Lehrbücher“
Braigs genannt werden konnte.14 Allerdings hält Braig selbst die Wichtigkeit, die
man allgemein in seiner Zeit der Erkenntnislehre zumisst, nicht unbedingt von der
Sache selbst her gegeben. „Die Beschränkung des Philosophirens auf die Fragen
nach der Art und Zuverlässigkeit menschlicher Erkenntnis geht von den unerweisbaren, den dogmatistischen Voraussetzungen der Neokantianer, der Positivisten,
der Evolutionisten, der Agnostiker aus“15. In der Tat kann der Titel „Erkenntnistheo7
8
9
10
11
12
13
14
15
Vgl. z.B. DH 3026 (Verurteilung der Leugnung der Möglichkeit der natürlichen Gotteserkenntnis).
Vgl. Pii X. Epistola 8; 10 (DH 3475f.; Verurteilung des Agnostizismus als des ersten
Grundpfeilers des Modernismus).
Vgl. Otto Hermann Pesch: Art. Erkennen, Erkenntnis III. Systematisch-theologisch, in:
LThK3 3, 777f.
Braig 1907b, 65.
Vgl. Leo Scheffczyk: Die Tübinger Schule. Philosophie im Denken der Tübinger Schule:
Johann Sebastian von Drey (1777-1853), Johann Adam Möhler (1796-1838) und Johann Evangelist von Kuhn (1806-1887), in: Coreth: Christliche Philosophie 1, 86-108,
hier 102.
Vgl. Adrian Brants: Erkenntnis und Freiheit. Rekonstruktion der philosophischtheologischen Erkenntnislehre J. E. Kuhns, Frankfurt am Main u.a. 1989.
Freiburg i. Br. 1897 mit VIII und 255 Seiten; „Vom Denken. Abriß der Logik“ umfasst VIII
und 142 Seiten, „Vom Sein. Abriß der Ontologie“ VIII und 158 Seiten.
Ludwig Baur: Rezension zu C. Braig: Vom Sein. Abriß der Ontologie und Vom Erkennen. Abriß der Noetik, in: LR 25 (1899) 175ff., hier 176.
Braig: Noetik V.
202
rie“ im 19. Jahrhundert weithin als Kennzeichen eines philosophischen Denkens
betrachtet werden, das sich unter Absetzung von der idealistischen KantNachfolge wieder auf die genuine kantische Vernunftkritik beziehen wollte.16 Mit
dieser Einschränkung begegnete Braig schon antizipierend dem Vorwurf des Neothomisten Michael Glossner, der in der Philosophie Braigs schon darin einen
„principiellen Gegensatz zu Scholastik und Neuscholastik“ erkennen zu müssen
glaubte, dass „die Erkenntnistheorie, die doch nur aus einem Konglomerat logischer, psychologischer und metaphysischer Lehrsätze besteht, als eine specielle
und grundlegende philosophische Disciplin behandelt wird“17. Dass Braig den größeren Teil seines Buches der Widerlegung der „falschen Philosophien“, d.h. der
erkenntnistheoretischen Irrtümer, widmete, dürfte gleichwohl auch im Sinne des
Neuthomisten gewesen sein. So hatte ja auch Joseph Kleutgen den ganzen ersten
Band seiner „Philosophie der Vorzeit vertheidigt“ der Erkenntnislehre der Scholastik gewidmet, gerade im Bewusstsein, dass hier die gewichtigsten Anfragen an
die Lehre der Alten gestellt würden.18
Gerade für den Apologeten Braig und für sein Apostolat der Dialektik ist die Widerlegung der Irrtümer, die sich vor allem in der Erkenntnislehre der modernen Philosophie zeigen, ein Gegenstand von größter Wichtigkeit, da er ja immer wieder auf
das proton pseudos der falschen Noetik beim jeweiligen Gegner zu sprechen
kommt. Schon in seiner ersten Veröffentlichung aus dem Jahr 1879 hatte Braig an
der Schrift von Franz Seraph Petz über die „Philosophie der Religion“ als „Grund
recht vieler Fehlschlüsse [..] eine ungenügende Einsicht in das erkenntnißtheoretische Problem und die theilweise Mangelhaftigkeit der scholastischen Psychologie“19 ausgemacht. Und so zeigt ja auch das Ergebnis des zweiten Hauptteils
dieser Arbeit, in welcher Weise Braig die Fehler der Modernen und Modernisten
auch und vor allem in der falschen Erkenntnislehre grundgelegt sieht, wenn er immer wieder auf deren erkenntnistheoretischen Subjektivismus verweist.20
An dieser Stelle soll aber besonders die positive Fassung der braigschen Erkenntnislehre interessieren, freilich immer unter Berücksichtigung seines apologetischen
Apostolats der Dialektik, wodurch an gegebener Stelle auf Absetzungsbewegungen von antichristlichen Irrtümern hingewiesen werden soll. Hier wird sich auch
zeigen – soweit dies nicht schon im vorhergehenden Teil dieser Arbeit deutlich
wurde –, welche Bedeutung die richtige Fassung der Erkenntnislehre für einen
Theologen wie Carl Braig hat.
16
17
18
19
20
Vgl. Carl Friedrich Gethmann: Art. Erkenntnistheorie, Erkenntnislehre, Erkenntniskritik
II, in: HWPh 2, 683-690, hier 685. Braig selbst sieht die Frage nach der „Zuverlässigkeit
und der Tragweite der menschlichen Erkenntnissmittel [...] sich wie ein rother Faden
durch das kritisch gewordene Philosophiren“ ziehen, so dass dieses Problem von einer
christlichen Philosophie unbedingt erörtert werden sollte (vgl. Braig 1884a, v.a. 161f.).
Michael Glosser: Rezension zu Braig: Vom Erkennen. Abriß der Noetik, Freiburg 1897,
in: Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie 14 (1900) 204-211, hier 204.
Vgl. Joseph Kleutgen: Die Philosophie der Vorzeit vertheidigt, Bd. 1, Innsbruck 21878,
16-22.
Braig 1879a, 330.
Vgl. oben Zweiter Hauptteil, besonders den Abschnitt 2.3 Carl Braigs Kampf gegen den
„Modernismus“.
203
Nach der für das Denken Braigs naturgemäß besonders relevanten Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils gibt es eine zweifache Ordnung der Erkenntnis. In einer
Theorie der Erkenntnis muss also nicht nur die weltliche Vernunft mit ihren natürlichen Erkenntnisobjekten, sondern auch der (göttliche) Glauben mit seinen übernatürlichen Geheimnissen Berücksichtigung finden.21 Es könne zwischen diesen beiden Ordnungen nicht nur deshalb keinen Widerstreit geben, weil die übernatürlichen Wahrheiten als Gegenstände des Glaubens der natürlichen Vernunft nicht
zugänglich seien, sondern vielmehr auch deswegen, weil beide Ordnungen von
Gott gesetzt seien22 und sich wechselseitig Hilfe leisten.23 Der Glaube sei zwar eine übernatürliche Tugend, die auf die Gnade Gottes angewiesen sei, nicht also auf
das natürliche Licht der Vernunft,24 aber der Glaubensgehorsam erfolge nicht blind.
Den inneren Hilfen des Heiligen Geistes stehen äußere Kriterien der Wahrhaftigkeit des zu Glaubenden zur Seite.25 Hier erfolgt nach zwei Seiten eine Abgrenzung, nämlich gegenüber dem Rationalismus, der den Glauben in Wissen auflösen
möchte, und nach der Seite eines Fideismus, der den Glauben letztlich als blinden
Sprung ansehen möchte, als reine Willenshandlung ohne Bezug oder Berufung auf
die menschliche Vernunft. Braig sieht in der Zweiteilung der menschlichen Erkenntnisordnung eine wahre psychologische Tatsache berührt: „[S]einen Erkenntnissstoff kann sich der Mensch durch den Glauben und das Wissen erwerben, und
diese Erwerbungsart ist die naturgemässe. Die Doppelthatsache hat nun die Philosophie zu erklären“26.
Braig sucht immer die Zusammengehörigkeit und Untrennbarkeit der verschiedenen Aspekte zu betonen, die Nähe der Pole im Verhältnis von natürlichem und übernatürlichem Glauben, von Wissen/Vernunft und Glauben, von Theologie und
Philosophie.27 Nach seiner Ansicht ist der Glaube und damit die Theologie darauf
angewiesen, eine bestimmte Form der philosophischen Erkenntnistheorie voraussetzen zu können, die gewisse mit dem Glauben verbundene Sätze stützen kann
und ihnen nicht widerstreitet. Hier seien drei Aspekte genannt. Zum einen sucht
Braig immer nach einem objektiven Kriterium, durch das die Vernunftgemäßheit
des Glaubens aufgewiesen werden kann. Gerade dieses Kriteriums ermangele die
auf einem Gefühlssubjektivismus gegründete moderne Theologie. Als herausragendes Kriterium erweise sich zweitens der Gottesbeweis.28 Drittens legt Braig
21
22
23
24
25
26
27
28
„Ecclesia catholicae consensus tenuit et tenet, duplicem esse ordinem cognitionis [...]:
[distinctum] principio quidem, quia in altero naturali ratione, in altero fide divina
cognoscimus“ (DH 3015).
Vgl. DH 3017.
Vgl. DH 3019.
Vgl. DH 3008.
Vgl. DH 3009.
Braig: Freiheit 39.
Damit möchte Braig dem „Geist der leibniz’schen Philosophie“ nacheifern, der „Tendenz
nach Versöhnung der Gegensätze zwischen Deduction und Induction, zwischen
Schließen und Erfahren, Denken und Handeln, Wissen und Glauben, zwischen mechanischen und teleologischen Ursachen der Dinge und des Geschehens“ (Braig 1886e,
169).
„[W]er immer versucht, Gottes Dasein ernsthaft und gründlich zu beweisen, wird alsbald
die Notwendigkeit fühlen, die Hauptpunkte der Lehre vom menschlichen Erkennen
204
immer Wert darauf, die Nähe zwischen Glauben und natürlicher Erkenntnis zu betonen, dass es nicht zu einem Auseinanderfallen dieser beiden Ordnungen kommt.
Alle drei Momente sind durch den „Modernismus“ gefährdet. Indem er erstens auf
das Gefühl gegründet sei, auf die „vitale Immanenz“, fehle ihm der objektive Maßstab, nach dem die Vernunftgemäßheit des Glaubens erwiesen werden könne.
Zweitens lehne der Modernismus mit Kant und seinen Gefolgsleuten aufgrund deren defektiven Erkenntnislehre den Gottesbeweis der theoretischen Vernunft ab,
und drittens sei durch den agnostizistischen Grundzug des Modernismus der
Glaube gänzlich aus dem Bereich der theoretischen Vernunft verbannt. Der Glaube habe nichts mehr mit dem Wissen gemein. Da der Modernismus daher auf einer Falschheit der philosophischen Erkenntnislehre beruhe, genüge es nicht einfach, diese Falschheit aufzuweisen; Braig bemüht sich vielmehr, auch eine positive
Fassung der Erkenntnislehre zu geben, die die Aufgaben einer die Theologie stützenden Philosophie übernehmen kann.
Wie schon gesagt, ist der Aufbau seines Lehrbuches einer grundsätzlichen
Zweiteilung in Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie verpflichtet.29 Im zweiten Teil
seiner „Noetik“ kommt Braig auf die eigentliche Theorie zu sprechen, nachdem im
ersten der Nachweis erbracht wurde, dass die Theorien des Empirismus und des
Idealismus nicht zu halten seien, dass also allein die realistische Theorie Geltung
haben könne, ein Realismus, der freilich „die richtigen Elemente, die sich zerstreut
und ohne folgerichtigen Zusammenhang theilweilse bei den Empiristen und theilweise bei den Idealisten finden, aufsucht, ordnet, form- und sachgemäß verbindet“30. Hier zeigt sich schon deutlich, dass der Eklektiker Braig sich durchaus mit
positiven Elementen aus den genannten Richtungen anfreunden und sie auch rezipieren kann. Er führt als zwei große erkenntnistheoretische Irrtümer auf der einen
Seite den Empirismus mit seiner Konzentration auf den Rezeptionsvorgang, durch
den der Mensch Wissen erlangt, und auf der anderen Seite den Idealismus mit
seinen Unterformen Dogmatismus und Kritizismus an.
29
30
selbst nach ihrer Anwendung auf die Gotteserkenntnis klar und scharf ins Licht zu setzen. Ohne Kunde davon zu haben, wie das Erkennen in unserem Geist zu Stande
kommt, wo genau das Gotterkennen seinen psychologischen Ausgangspunkt hat, ist
die logische Führung des Gottesbeweises nicht möglich“ (Braig: Gottesbeweis 8f.).
Diese Aufteilung findet Braig schon 1880 in einer Besprechung in der Theologischen
Quartalsschrift die zweckmäßigste. „Um frische Theilnahme wach zu erhalten, empfiehlt
sich [...] eine schärfere Abscheidung des historisch-kritischen von dem systematischen
Theil. [...] Ueberdies möchte solch’ ein Verfahren unserer Zeitrichtung mit ihren experimentell-sichtenden Tendenzen und mit ihrer ausgesprochenen Abneigung gegen das
Konstruktive a priori sympathischer sein“ (Braig 1880a, 172); diese Kritik hält Braig in
der Besprechung einer weiteren Auflage des genannten Buches aufrecht (vgl. Braig
1894d, 338f.).
Braig: Noetik 144.
205
1.2 Die Erkenntnistheorie im Gefüge der Wissenschaften
Bevor nun aber die Darstellung der braigschen Erkenntnistheorie wiedergegeben
wird, soll zunächst etwas über Methode und Stellung der Erkenntnislehre Braigs im
Kontext der Wissenschaften gesagt werden. Wie jede philosophische Disziplin habe auch die Erkenntnislehre von der Erfahrung auszugehen. Jede Erkenntnis hebe
bei der Erfahrung an; dieses scholastische Axiom31 findet Braig auch als richtigen
Standpunkt der Positivisten wieder.32 Für die Erkenntnistheorie hat die Selbsterfahrung eine besondere Bedeutung. Nur in der Reflexion des Bewusstseins auf den
eigenen Erkenntnisakt könne die Noetik ihren Stoff gewinnen. Die Fragwürdigkeit
einer gewissen Zirkelhaftigkeit dieses Vorgehens wird dabei nicht problematisiert.
Dass das Erkennen des Erkenntnisvorganges selbst bereits unter den Bedingungen des Erkennens und als Erkenntnis statthat, damit das Explikandum immer bereits vorausgesetzt ist und sein muss, stellt eine der Aporien der Erkenntnistheorie
dar, aufgrund derer sich am Anfang des 20 Jahrhunderts die Einsicht durchsetzte,
dass die erkenntnistheoretische Fragestellung selbst wieder fundiert sei und auf
eine vorgängige Disziplin des Denkens verweise.33 Ausdruck dieser Einsicht ist
auch die braigsche Fassung der Denklehre im Sinne einer tiefer gehenden Untersuchung und genetischen Betrachtungsweise der geistigen Vollzüge des Menschen.34
Die Methode der Reflexion geht bei der Erkenntniswissenschaft analytisch-induktiv
und synthetisch-deduktiv vor, das heißt es werden zunächst „die Erkenntnisvorgänge nach Ursprung, Form und Inhalt zergliedert, um allgemeine Sätze über die
Natur und Wesenheit des Erkennens aufzufinden“35. Nach diesem analytischen
Zugang zum Stoff der Erkenntnislehre erfolgt die Synthese, welche die gefundenen
allgemeinen Sätze auf einzelne Erkenntnisvorgänge anwendet. Kriterium und Leitfaden des richtigen Vorgehens der Noetik sind „die Thatwahrheit des Selbstseins
und Selbstbewußtseins sowie die Grundwahrheit des Denkgesetzes“36. Die Anerkennung des doppelten Weges des induktiven Prüfens und des deduktiven Schließens auf der einen Seite und des zweifachen Kriteriums, nämlich das der Tatsache
des Selbstbewusstseins und das der Prinzipien des Denkens, auf der anderen Seite bestimmen die richtige Methode nicht nur der Erkenntniswissenschaft.37 Diese
Methode soll damit zugleich gegen andere Auffassungen zur Geltung gebracht
werden, die sich auf die eine oder andere Seite dieser Doppelung beschränken. So
führt Braig aus, dass der Empirismus, vom Erfahrungsstoff als einziger Quelle und
31
32
33
34
35
36
37
„Omnis cognitio intellectualis incipit a sensu“; vgl. etwa Thomas von Aquin: Summa
theologica I, q. 12 a. 13; ebd. II-II, q. 173 a. 2.
Vgl. Braig: Noetik 58. Auch an anderen Stellen betont Braig den „selbstverständlichen
Grundsatz, dass all unser Wissen auf der Erfahrung ruht und in ihr nur wurzeln kann“
(Braig: Freiheit 11).
Vgl. Gethmann: Erkenntnistheorie 688.
Die Logik habe „‘Biologie’ des Denkens zu werden, die Entstehung der geistigen Innengebilde, welche die Formen und Gesetze sowie die Werkzeuge der Wahrheitserkenntniß sind, genauer zu untersuchen“ (Braig: Logik V).
Braig: Noetik 9.
Ebd.
Vgl. etwa Braig: Ontologie 7-10; ders.: Logik 8ff.
206
der Erfahrungstätigkeit als ausschließlichem Mittel der Erkenntnis ausgehend,
konsequenterweise die induktive und experimentelle Methode der Wissenschaft
anwende, wobei aber dann sowohl das synthetische Moment als auch die Gegebenheit der ersten Denkprinzipien als wesentliche Momente der menschlichen Erkenntnis nicht beachtet würden.
Auf der anderen Seite betone der Idealismus, dass die Erkenntnis als „ausschließliches Resultat der seelischen Selbstbethätigung im Menschen“38 zu verstehen sei.
Alles Erkennen sei ausschließlich Produkt des erkennenden Geistes. Demgemäß
könne die Methode nur die der deduktiven, absoluten Spekulation sein.
Der Ausgang Braigs bei der Gegebenheit des Selbstbewusstseins und erster allgemeiner Prinzipien als unmittelbarer Kriterien ist eine Synthese des in der neuzeitlichen Philosophie gewonnenen subjektorientierten Ansatzes mit der alten aristotelischen Lehre von ersten grundlegenden, nicht hintergehbaren Axiomen. Braig
versucht auch hier zu vermitteln. Als erste Mittel der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung werden diese Momente auch bei der Diskussion um die Quellen des
Wahren einen gebührenden Platz einnehmen. Hier zeigt sich aber auch die schon
angedeutete Zirkelhaftigkeit, die nur umgangen werden könnte, wenn die Prinzipien des Denkens selbst wieder begründet würden.
Was die Stellung der Erkenntniswissenschaft im Kanon der Wissenschaften betrifft, so setze sie andere Wissenschaften, die sich ebenfalls mit dem Denken und
Erkennen beschäftigen, voraus, wie die Anatomie der Sinnesorgane, die Physiologie, die Psychophysik und die Psychologie. Hier wird einmal mehr deutlich, wie
Braig angesichts einer um sich greifenden materialistischen und von den Naturwissenschaften bestimmten Weltsicht die wissenschaftliche Durchdringung der geistigen Vollzüge nicht von der empirischen Ergründung physiologischer und psychologischer Gegebenheiten trennen möchte.39 Besonders deutlich wird dieses Bemühen in seiner Denklehre, die gewissermaßen der Erkenntnislehre vorausgeht.
Denken und Erkennen sind so eng miteinander verwoben, dass man sich ein Denken ohne jede Erkenntnis so wenig vorstellen kann wie ein Erkennen, das sich
nicht im und als Denken vollzieht. Dennoch ist in der Konzeption Braigs die Noetik
der Logik ausgegliedert, weil die Erkenntnistheorie für das 19. Jahrhundert eine
ganz eigene Bedeutung hatte, was ja auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass
sie im Werk Braigs eine zentrale Stellung einnimmt.
Zunächst soll also in kurzen Zügen die Fundamentierung der Erkenntnistheorie
vorgestellt werden, die Braig in seinem Lehrbuch der Logik als Frucht seines akademischen Schaffens vorgelegt hat.
38
39
Braig: Noetik 10.
„Sollen wir heutzutage dem Materialismus gegenüber die einzige Existenzberechtigung
unserer theistischen Weltanschauung vom wissenschaftlichen Standpunkt aus wahren,
dann muß die ganze Psychologie, vornehmlich die psychologische Grundlegung der
Erkenntnislehre im Organismus des philosophischen Systems die Stelle des Herzens
einnehmen“ (Braig 1881c, 691).
207
1.3 Vom Denken oder die Logik
Carl Braig möchte mit seiner Denklehre nicht einfach eine „Anatomie des Denkens“
liefern, das heißt die logische Wahrheit durch Beschreibung, Analyse und Synthese des „Gliederbaues unserer Begriffe“ aufzeigen, sondern er möchte zugleich eine „Physiologie des Erkennens“ und „Biologie des Denkens“ liefern, „die Entstehung der geistigen Innengebilde, welche die Formen und Gesetze sowie die Werkzeuge der Wahrheitserkenntnis sind“, genauer untersuchen.40 Damit unterscheidet
er sich von einer Tradition, die die Logik rein formal als die Lehre von den Denkgesetzen bestimmt.
Braigs Bemühen zeigt Tendenzen, die im zeitgenössischen Psychologismus der
Seelenlehre eine für andere Wissenschaften grundlegende Funktion eingeräumt
haben. „Die durch den Beginn der Neuzeit vorgezeichnete Richtung aufs Subjektive führt in Verbindung mit empiristischen Reaktionen gegen den apriorischen Rationalismus im 18. Jh. zum genetisch-erkenntnistheoretischen Rückgang auf psychisch Subjektives, das erfahren wird und sich in der Introspektion zeigt“41. Als erster so verstandener „Empirist“ unter den Logikern des 19. Jahrhunderts entwirft
Friedrich Eduard Beneke42 ein System, dem es um die „streng genetische“ Darstellung und Erklärung der verschiedenen Denkformen geht. Der Logik gehe die psychologische Erkenntnis voraus. Als wesentliche Aufgabe der Logik bestimmt Beneke die Klärung des Verhältnisses zwischen sinnlicher Empfindung und logischem Denken. Hier sollte in Reaktion auf die Abstraktion des Deutschen
Idealismus die Erfahrung wieder einen vorgeordneten Stellenwert erringen.43 Auch
Braig sagt, dass der Logik die Seelenlehre vorauszugehen habe.44 Er möchte damit aber gerade nicht einem subjektivistischen Relativismus das Wort reden, sondern aus der Allgemeingültigkeit der psychologisch-genetischen Betrachtung des
Denkens die Wesensmäßigkeit und Absolutheit seiner Gesetze erweisen.
Wenn sich drei Perioden der logischen Wissenschaft unterscheiden lassen, so beginnt deren zweite mit der Logik von Port-Royal (1602), die sich vornehmlich an
erkenntnistheoretischen und psychologischen Fragestellungen interessiert zeigte.
Die Vertreter dieser Epoche, zu denen sich auch Braig zählen lässt, waren der Auffassung, dass die Logik im engeren Sinne des Wortes, d.h. die Lehre vom formal
gültigen Schließen, schon von Aristoteles zur Vollendung gebracht worden sei. In
der zweiten Epoche kam dazu die Lehre vom richtigen Denken, das heißt die Logik
des Begriffs, des Urteils, des Schlusses und die Methodenlehre, die Methoden der
Wahrheitsfindung.45 Braigs Einteilung seiner Logik ist diesem Aufbau verpflichtet.
40
41
42
43
44
45
Vgl. Braig: Logik V.
Paul Janssen: Art. Psychologismus, in: HWPh 7, 1675-1678, hier 1676.
Zu Beneke (1798-1854) vgl. Rudolf Eisler: Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und
Lehren der Denker, Berlin 1912, 53ff.
Vgl. Frank-Peter Hansen: Geschichte der Logik des 19. Jahrhunderts. Eine kritische
Einführung in die Anfänge der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Würzburg 2000,
28-34.
Vgl. Braig: Logik 10.
Vgl. Ernst Tugendhat/Ursula Wolf: Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, 716.
208
Auch die drei Auffassungsweisen über die Logik, dass sie nämlich entweder das
Sein, das Denken oder die Sprache hinsichtlich ihrer Zusammenhänge, Regeln
und Gesetze zu untersuchen habe, findet sich in der braigschen Logik wieder, freilich nicht so, dass eines dieser Momente in einer Ausschließlichkeit den anderen
vorgeordnet wäre, vielmehr in einer parallelen Gleichwertigkeit. Braig bestimmt
seine Logik so, dass sie in einem engen Zusammenhang mit der Lehre vom Sein
zu stehen kommt, denn auch die res cogitans, das selbstbewusste Sein mit seinen
Denkregeln und Erkenntnisgesetzen, ist ein Seiendes. Alles Seiende sei bestimmt
durch sein Wirken, das nach bestimmten Regeln und Gesetzen ablaufe. Alles was
ist, wird unterschieden nach innerer Beschaffenheit und äußerem Verhalten. Das
Wesen eines Seienden sei nicht ohne Weiteres zu erkennen, nur mittelbar über
sein Wirken, und dieses lasse das Reich aller Seienden in drei Sphären aufteilen,
deren Glieder je unter bestimmten Gesetzen stehen, festen Regeln des Wirkens:
a) Die Masse des toten Seins, die Materie, unterstehe dem Gesetz des Beharrens der Elemente und ihrer Verbindungen. Sie unterliege somit einem Naturzwang.
b) Das belebte Sein sei dem Gesetz der Entwicklung unterworfen, das sich in
Wachstum, Abnehmen, Auflösung zeige. Die Entwicklungsgesetze wirken als
Naturtrieb, der das Einzelwesen dazu bestimme, sich zu gliedern und zu
bauen nach einem vorgegebenen Plan.
c)
Das selbstbewusste Sein sei hinsichtlich seiner Wirksamkeit gekennzeichnet
durch das Denken, welches Naturzwang und -trieb überwinde. Das Denken
beherrsche das eigene und fremde Sein nach den jeweiligen Gesetzen. Der
Mensch verhalte sich selbstbestimmt.
Der Mensch wird also klassisch als animal rationale bestimmt. Wenn auch noch
nicht gesagt ist, was dieses ihn auszeichnende Denken nun genauerhin ist, so wird
doch deutlich, dass es sich um eine herrschaftliche Betätigung handelt, die sich
das unter ihm Stehende unterwirft. Auch die zweite Gruppe des Seienden mache
sich das unter ihr Liegende, das Reich des materiellen Seins, zu Nutze. Der
Mensch als animal rationale aber beherrsche auch das eigene Sein. Das Denken
gehe auf sich selbst, und in dieser reflexiven Beugung erst sei die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu bestimmen und auch die Gesetze dieser Denk-Bewegung zu
ergründen.
Anstatt einen grundsätzlichen Dualismus zwischen res extensa und res cogitans
zu postulieren, legt Braig eher eine gewisse organische Dynamik in seine Wirklichkeitsaufassung. Die drei Stufen des Seins als totes, belebtes und selbstbewusstes
Sein sind gleichwohl hinsichtlich der Weise ihrer Betätigung unterschieden. Wenn
das Verhalten des unbelebten Seienden als Beharren, das des belebten Seienden
als Entwicklung gekennzeichnet wird und das des Menschen als denkende Selbstbestimmung,46 so liegt dem doch die in der Ontologie herausgearbeitete Gemein-
46
Auch die Verstellungskünste etwa des Rebhuhns, das sich verwundet stellt, um die
Aufmerksamkeit des Jägers von den Jungen abzulenken, sieht Braig nicht als selbstbestimmte List des Individuums, sondern als Ausdruck des Selbsterhaltungstriebs der
Gattung (vgl. Braig 1890a, 101f.).
209
samkeit der Tätigkeit des Unterscheidens zu Grunde.47 Seiendes ist sich Unterscheidendes. Die Tätigkeit des Unterscheidens ist das Gemeinsame, das die Seienden verbindet, das es ermöglicht, dass allem in analoger Weise das Sein zugesprochen wird. Das Ziel einer solchen Auffassung ist klar: man möchte den strengen Dualismus von Materie und Geist überwinden, natürlich aber auf die Gefahr
hin, in der Konsequenz ein monistisches Missverständnis heraufzubeschwören. So
wurde Braig verstanden von Michael Glossner, der die Reihe von unbelebten zu
belebten und geistigen Seienden, die durch das gemeinsame Merkmal des Unterscheidens gekennzeichnet werden, sich also nicht durch einen wirklich wesensmäßigen Sprung voneinander absetzen, fortsetzen wollte zu Gott hin, wodurch sich
eine monistische Weltanschauung ergeben würde.48
Auch das Denken sei wesentlich Unterscheiden. Die Logik als die Lehre vom Denken beginnt mit einer genetischen Betrachtung des Denkens aus seinen Voraussetzungen heraus. Das logische Denken sei ein ideales Denken, ein richtiges Denken. Die Logik „wird als Gesetzgeber, Wächter und Richter jeder Denkbethätigung
wie etwas Selbstverständliches vorausgesetzt“49. Sie habe eine deskriptive und eine praeskriptive Aufgabe, die Formen und Regeln des Denkens zu untersuchen
und ihren gesetzmäßigen Gebrauch vorzuschreiben.
Was nun ist das Denken, aus welchen Anfangsgründen entsteht es? Wenn Braig
schon in einer seiner ersten Veröffentlichungen hinsichtlich der Frage nach dem
Ursprung des Denkens auf das Vorbewusstsein verweist, das zudem für die individuellen Charaktereigentümlichkeiten des Menschen verantwortlich zeichne, dann
knüpft er damit an eine leibnizsche Auffassung an, die die Seele als Monade versteht, „der Vorstellen bzw. Denken – nur schwach bewußtes bis unmerkliches Perzipieren und Apperzipieren im Sinne bewußten Vorstellens/Wahrnehmens – sowie
Streben nach Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen als wesentliche Attribute
zugeschrieben werden“50. Mit der Ansicht, das bewusste Denken entfalte sich organisch aus dem Unbewussten, kann Braig die zwei geistigen Vermögen des Erkennens und des Fühlens eng aneinander binden.51
47
48
49
50
51
Die Tätigkeit des „Unterscheidens“ wird zum universalen Terminus, der das Sein alles
Seienden umschreibt; vgl. Braig: Ontologie passim und unten Abschnitt 2.3.4 Von der
Wesenheit.
„[Es] ergibt sich ein Parallelismus des realen und idealen Seins oder vielleicht noch genauer eine gewisse Stufenfolge des Seins, in welcher auf höherer Stufe das reale Unterscheiden sich in ideales (in Erkennen-Urteilen) umsetzt. Die dieser Anschauung entsprechende Auffassung des Verhältnisses zwischen göttlichem und geschöpflichem
Sein würde in der Richtung liegen, dass das göttliche Sein als absolute, das geschöpfliche als relative Selbstsetzung zu denken wäre, und zwar in der Art, dass nur das geistige Sein als wahres Sein, das körperliche aber als eine bloße Abschattung des geistigen zu gelten hätte“ (Glossner: Braig, Vom Sein 59f.).
Braig: Logik 4.
Margret Kaiser-el-Safti: Art. Unbewußtes, das Unbewußte, in: HWPh 11, 124-133, hier
125; vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie §§ 14ff., 22ff.
„Auch der höchstentwickelte Geist wird bei allem Thun und Denken durch seine verborgenste Anlage an den embryonalen Anfang seiner Vermögen, Fähigkeiten und Kräfte
gemahnt. Diese Anlage, welche wir das psychische Individuations-Prinzip nennen
möchten, heißt bei den Neueren Gefühl oder Gemüth. An sich schwer und kaum bestimmbar, präformirt das Gemüth alles Denken, Wollen und Handeln in seiner Weise;
210
Braig fasst das Wesen des Denkens wie alles Seienden als „Unterscheiden“. In der
allgemeinsten und in jeder Form sei das Denken Unterscheiden, das heißt das
„Greifen von Etwas: das Etwas wird von anderem, das ergriffen ist oder ergriffen
werden kann, abgesondert, und beide Etwas werden aneinandergehalten“52. Der
Akt des Unterscheidens äußere sich in vielfacher Weise: im Trennen und Beziehen, Lösen und Binden, Abgrenzen und Begrenzen. Hinsichtlich der Eindringlichkeit des Unterscheidungsaktes ergibt sich eine genetische Stufenfolge des Denkens, die sich wie folgt darstellt:53
a) Am Anfang stehen die Reizungen der Sinnesnerven, durch die vermittelt die
Seele gestimmt werde. „Der Mensch fühlt, unterscheidet unwillkürlich seine
Zustandsänderungen als angenehme oder unangenehme Erregungen“54.
Durch die sich damit kundgebende Verwiesenheit des Gefühls auf körperliche
Gegebenheiten zeige sich die grundlegende Abhängigkeit des Geistes von
den leiblichen Bedingungen.
b) Dadurch dass die Gefühle dazu anregen, die ersten Eindrücke näher zu unterscheiden, ergebe sich die Empfindung als folgende Stufe des Denkens.
Verschiedene Eindrücke werden gegeneinander abgegrenzt, nämlich die
Sinneseindrücke des Sehens, Hörens, Tastens, Riechens und Schmeckens.
c)
Beim Wahrnehmen unterscheide man sich selbst und den die Erregung verursachenden Gegenstand als wirklich. Der Mensch nehme etwas außer sich
wahr. „Wahrnehmen ist Vernehmen von der Wirklichkeit eines Etwas, dessen
Wirksamkeit auf den Leib der Seele Empfindungen aufgezwungen, die Seele
genöthigt hat, Zustände des Leibes in ihre Zustände zu übersetzen“55.
d) Auf die Wahrnehmung folge die Anschauung als nächstklarere Stufe des Unterscheidens. Hier werde nicht mehr bloß die äußere Wirklichkeit eines
Gegenstandes, sondern seine Bestimmtheit aufgenommen, in der Weise,
dass z.B. etwas Leuchtendes oder Farbiges so gefasst werde, „daß es mit
einem anders Leuchtenden, anders Gefärbten nicht mehr und noch weniger
mit einem Tönenden, Schweren, Riechenden, Schmeckenden verwechselt
werden kann“56.
e) Die nächste Stufe, die der Vorstellung, sei auf die Gedächtniskraft angewiesen. So können verschiedene Wahrnehmungen eines Sinnes und die
Wahrnehmungen verschiedener Sinne miteinander kombiniert werden. An
einem Gegenstand würden so die verschiedenen Seiten unterschieden und
die Bestimmtheiten in ein Bild zusammengefasst.57
f)
Die schon sehr distinkte Form des Denkens als Begreifen vollziehe sich darin,
dass sie den Grund unterscheide, welcher die immer gleichen Merkmale ei-
52
53
54
55
56
57
namentlich die Freiheit der Selbstbestimmung scheint hier grundgelegt, und die individuelle Karaktereigenthümlichkeit ist auf die Gemüthsanlage zurückzuführen“ (Braig:
Gotteserkenntnis 512f.).
Braig: Logik 2.
Vgl. Braig: Logik 2; 13f.
Ebd. 13.
Ebd. 14.
Ebd.
Vgl. ebd. 14-30.
211
nes Gegenstandes trägt, und den Zweck, der seine Zusammensetzung bestimmt. Der Verstand suche das, was verschiedenen Vorstellungen gemeinsam ist und fasse dieses als das Allgemeine, den Begriff.58
g) Im Urteilen bringe sich der Unterscheidende zu Bewusstsein, inwiefern sein
Unterscheidungs-Verfahren richtig und notwendig sei. Urteilen bedeute, zwei
Begriffe entweder zu verbinden oder zu trennen, den Grund für das Trennen
und das Binden zu unterscheiden.59
h) Beim Schließen unterscheide man den Grund für das Verhältnis zweier Begriffe durch einen dritten Begriff. Im Allgemeinen sei das Schließen „die Auffindung neuer Beziehungen unter den Begriffen mittelst der verschärften
Beurtheilung derselben. Im Verfolg werden auch neue Begriffe aus gegebenen erschlossen“60.
i)
Im Beweis schließlich werde der Grund für das Verhältnis zweier oder mehrerer Begriffe mit Hilfe mehrerer Urteile unterschieden. „Einen Satz beweisen
heißt, die Verbindung oder Trennung zweier Begriffe mit Hilfe mehrerer
Urtheile für das Unterscheiden sicherstellen, heißt, den Satz allseitig und abschließend begründen“61.
Denken ist in jeder dieser Stufen als Unterscheiden gekennzeichnet. Ausdrücklich
handelt es sich nicht um Wesens-, sondern lediglich um Gradunterschiede des Unterscheidens hinsichtlich der Verdeutlichung und Verschärfung dessen, was auf
der jeweils niederen Stufe unvollendet geblieben ist.
Auch wenn der Begriff des Unterscheidens in Braigs Systematik eine herausragende Stellung einnimmt, konnte er doch nicht auf eine solche Bedeutung in der
Philosophiegeschichte zurückgreifen.62 Clemens Baeumker63 wies in seiner Rezension zu Braigs Logik64 darauf hin, dass die Anschauung des Denkens als Unterscheiden dennoch nicht neu sei. Er deutete auf Hermann Ulrici65, für den das
Unterscheiden als wesentliches Moment des Denkens eine entscheidende Bedeutung gewinnt. In seinem „Compendium der Logik“ von 1860 setzt dieser die unterscheidende Tätigkeit der Seele als Grund des Bewusstseins. Dem Denken, so Ulrici, gehe es um gewisses Erkennen und Wissen. Dabei gebe es eine doppelte
Gewissheit: „Die erste ist die unmittelbare, die, mit dem Gedanken, der Anschauung oder Vorstellung (Auffassung) der Sache selbst anscheinend unmittelbar verknüpft, auf dem bloßen Gefühl der Denknothwendigkeit beruht und daher ihre volle
Stärke und Klarheit erst gewinnt, wenn uns dieß Gefühl und damit die
Denknothwendigkeit selbst zum deutlichen Bewußtseyn kommt“66. Die zweite Art
58
59
60
61
62
63
64
65
66
Vgl. ebd. 30-46.
Vgl. ebd. 47-65.
Vgl. ebd. 66-102, hier 66.
Vgl. ebd. 103-141, hier 103.
Vgl. Sven K. Knebel: Art. Unterscheiden, Unterscheidung, in: HWPh 11, 308ff.
Zu Clemens Baeumker (1852-1924) vgl. LThK3 1, 1351.
Vgl. Clemens Baeumker: Rezension zu Braig: Vom Denken, in: LR 23 (1896) 233-236.
Zu Hermann Ulrici (1806-1884) vgl. Mario Rossi: Art. Ulrici, Hermann, in: Enciclopedia
Filosofica Bd. 4, Firenze 1967, 673f.; Ludwig Fränkel: Art. Ulrici: Hermann U., in: ADB
39, 261-269; Eisler: Philosophen-Lexikon 774f.
Hermann Ulrici: Compendium der Logik. Zum Selbstunterricht und zur Benutzung für
Vorträge auf Universitäten und Gymnasien, Leipzig 1860, 7.
212
der Gewissheit sei die vermittelte, die auf Beweisführung und Argumentation beruhe. Die Denknotwendigkeit selbst sei wiederum zweifach unterschieden. Zum einen beziehe sie sich auf die ganzen seelischen Aktivitäten, die sich uns aufdrängen, für die wir rein empfangend sind. Die zweite Denknotwendigkeit betreffe unser
Denken im engeren Sinne, das heißt die Selbsttätigkeit der Seele, alles das, was
sie mit Bewusstsein tue. Es drängt sich die Frage auf, was denn dieses Bewusstsein sei, woher und wie es zustande komme. Aus den mechanisch-chemischen
Reizungen der Nerven lasse sich kein Bewusstsein ableiten. Für Ulrici steht fest,
dass das Bewusstsein oder Bewusstwerden „nicht, wie das Gefühl oder Selbstgefühl, auf einer bloßen Affection und dem damit verknüpften Reagiren und Percipiren der Seele beruhen kann, sondern eine besondre Kraft oder Thätigkeitsweise
voraussetzt, welche zwar der Anregung von anderswoher bedarf und unter Umständen sich vollziehen muß, doch aber immer eine selbsteigne Thätigkeit der
Seele bleibt, die sogar bis auf einen gewissen Grad unter die Botmäßigkeit unsres
Willens gestellt ist“67. Diese Tätigkeit sei das Unterscheiden. Es ermögliche einerseits die Einheit des Bewusstseins, andererseits die Vielheit der Inhalte dieses
Bewusstseins. Ulrici sieht die unterscheidende Tätigkeit nicht als die einzige Voraussetzung des Bewusstseins, denn diesem gehe das Sein der vielen Seienden
voraus, wie auch der Wille oder die Gefühle, die das Unterscheiden bestimmen.
Das Unterscheiden bedürfe eines Hebels, durch den es in Bewegung gesetzt werde, es sei kein von selbst wirkendes Tun. Und nur so werde ein spezifisch menschliches Handeln möglich. „Nur durch die unterscheidende Thätigkeit wird ein bewußtes Handeln möglich, und nur ein bewußtes Handeln kann ein freies Handeln
seyn“68. Diese unterscheidende Tätigkeit gewinne aber eine globale Dimension,
wenn jeder Inhalt des Bewusstseins, „alle unsre Vorstellungen, alle Wahrnehmungen und Anschauungen [...] auf der unterscheidenden Thätigkeit [beruhen] und erhält nur durch sie seine Bestimmtheit für das Bewußtseyn“69.
Braig hatte Ulrici auf seiner Studienreise durch die deutschen Länder im Sommer
des Jahres 1883 in Halle an der Saale kennengelernt, und er sprach mit Wohlwollen von dem Philosophen, der ihn so väterlich empfangen hatte.70 Mit Ulrici hat ihn
aber trotz dessen protestantischer Konfession mehr als die gegenseitige Achtung
und die Poesie verbunden. Ulrici gehörte auch zu denen, die Erkenntnisse der
neueren Naturwissenschaft nicht nur zur Grundlage ihres theistischen philosophischen Systems nahmen.71 Es ist offensichtlich, dass Braig von Ulrici die Anregung
gewonnen hat, die verschiedenen geistigen Vollzüge des Menschen unter dem
Begriff des Unterscheidens zusammenzufassen.
Braig bringt die Definition des Denkens in eine Systematik, in der die Stufen der
menschlichen Geistestätigkeit mit Hilfe des Begriffs des Unterscheidens in eine
bestimmte Ordnung gebracht werden. Die Fassung des Wesens des Denkens als
Unterscheiden ist eine sehr weite. Sie hat den Vorteil, sehr viele menschliche Gei67
Ebd. 19.
Ebd. 28.
69
Ebd.
70
Vgl. Braig 1893a, 376.
71
Vgl. Erich Bammel: Hermann Ulricis Anschauung von der Religion und von ihrer Stellung zur Wissenschaft, Birkenfeld 1927.
68
213
stestätigkeiten unter sich fassen zu können, und wie sich später zeigen wird, hat
diese nichtspezifische Unterscheidung der verschiedenen Geistesvollzüge für die
Erkenntnistheorie die Folge, sinnliches und verstandesmäßiges Erkennen eng beieinander ansiedeln zu können, wodurch alle Erkenntnisorgane in größerer Einheit
betrachtet werden können und keine grundsätzliche Diastase zwischen Empirie
und Vernunft entsteht. Freilich wird der Begriff des Denkens zunächst sehr unscharf. Und es ist zu fragen, ob unter dieser Bestimmung des Denkens als Unterscheiden nicht ein nur mehr rein gradueller Unterschied zwischen menschlichem
und tierischem und gar unbelebtem Seienden gefasst wird. Wird diese Bestimmung im Sinne der leibnizschen Monadenlehre aufgefasst,72 so ergäbe sich eine
Stufenfolge „seelischer“ Substanzen, die zunehmend klareres Unterscheiden zeitigten. Die oben genannte siebenstufige Reihe des Denkens wäre nach vorne
ausweitbar und schlösse so auch rein materielle Substanzen ein. Die Lehre vom
Denken erschiene als Untergebiet der umfassenderen Lehre vom Sein.
Indem Braig das Gefühl so fasst, als wäre es eine zu überwindende Größe des
menschlichen Geisteshaushalts, indem es von selbst danach drängt, klarer und distinkter erfasst zu werden und sich damit in die rationalen Formen des Begriffs
aufzuheben, hat er zwar den engen Zusammenhang zwischen Gefühl und verstandesmäßiger Erkenntnis betont, damit aber den Eigenwert des Emotionalen,
was er in seiner frühen Schrift über die Gotteserkenntnis bei Thomas von Aquin
noch als das ureigene Individuelle der menschlichen Seele würdigen konnte, nicht
mehr adäquat bewertet.73 Es erklärt sich hierdurch auch die Ablehnung des „modernistischen“ Gefühlsglaubens, da sich dessen Wahrheit immer an den höheren
Stufen des menschlichen Denkens zu messen habe.
Im Bewusstsein der Unschärfe des Denkbegriffs sucht Braig nun ein spezifischeres
Denken, das Gegenstand einer eigenen Wissenschaft werden kann. Logisches
Denken sei begründetes Urteilen, das Urteilen, das vollzogen werde mit dem Bewusstsein innerer Berechtigung, Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Gegenstand einer Logik seien daher nur die oberen, schon bestimmteren Formen des
Denkens, nämlich Begreifen, Urteilen, Schließen und Beweisen. Die Logik sei die
Lehre vom Denken, und zwar vom Denken, wie es sein soll. Sie untersuche die
Regeln und Formen des Denkens und die Anweisung zum gesetzmäßigen Gebrauch dieser Formen. Ziel des Denkens sei das Wissen. Wissen bestehe aus
Handlungen des Verstandes, beziehe sich auf Dinge und drücke sich aus mittels
Sprachzeichen.74
Ziel des Erkennens wiederum sei die Wahrheit, der Inhalt des Wissens, der Abdruck der Wirklichkeit und Wesenhaftigkeit des Seienden im Erkennenden. Das sei
das Hauptziel der Denklehre, welches aber nur mittelbar erreicht werden könne.
Unmittelbar stehe zunächst die Denkrichtigkeit im Vordergrund, die logische Wahrheit. Daher könne die Logik sich erst vollenden in der Erkenntnis, die die formale
72
73
74
Vgl. etwa Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain,
Darmstadt 1959, VI-LVIII.
Vgl. Braig: Gotteserkenntnis 512f.
Vgl. Braig: Logik 4-8; auch hier sind die drei Momente des Seins, des Bewusstsein und
der Sprache erkannbar.
214
Denkrichtigkeit mit der dem Erkannten eignenden ontologischen Wahrheit zusammenführe zur noetischen Wahrheit.
1.4 Vom Wahren und Falschen75
1.4.1 Wahrheit
Als Ziel und Zweck des Erkennens sieht Braig die Wahrheit.76 Schon der Wahrheitsbegriff werde unterschiedlich bestimmt: Für den Empirismus sei sie eine Größe der Erfahrung, dem Idealismus eine des Gedankens. Nach der Auffassung des
kritischen Idealismus beruhe die Wahrheit auf der Verbindung der Vorstellungen
nach ein und derselben Regel, die für alle Erkennenden gültig sei. Definition der
Wahrheit sei demnach die „Übereinstimmung des Begriffs mit den Gesetzen der
Denkkraft“. Gegen diesen seiner Auffassung nach falschen, in subjektivistische
Fahrwasser schiffende Wahrheitsbegriff hält Braig die Wahrheitsauffassung des
Realismus aufrecht: „Die Erkenntnißwahrheit ist die Uebereinstimmung des Erkenntnißinhaltes mit dem Erkenntnißgegenstande, sei dieser ein Seiendes oder ein
Zustand an Seiendem oder ein Verhältniß zwischen Seienden“77. Damit macht sich
Braig die klassische Adäquationstheorie zu eigen.78
Ganz allgemein gesprochen sei Wahrheit adaequatio, Übereinstimmung. Braig unterscheidet verschiedene Wahrheitsbegriffe. Ontologische Wahrheit bezeichne die
Übereinstimmung des Dinges mit sich selbst. Psychologische Wahrheit sei die
Übereinstimmung des Seelenlebens mit dem Seelenwesen, d.h. der seelischen Offenbarungen mit den Gesetzen und Zwecken der Seelennatur. Logische Wahrheit,
die Denkrichtigkeit, sei die Übereinstimmung der psychischen Vorgänge mit den
Gesetzen, die für das Denken gelten. Diese drei Begriffe der Wahrheit haben etwas Vorläufiges und Unfertiges an sich, da sie nur implizit berücksichtigen, dass es
immer ein unterscheidendes Subjekt sei, das die Übereinstimmung vollziehe oder
feststelle. Die Feststellung der Übereinstimmung geschehe durch das Unterscheiden des denkenden Geistes. So sei der Vollbegriff der Wahrheit erst die noetische
Wahrheit, die vollzogene Gleichung des Sachverhalts mit dem Erkenntnisinhalt,
das heißt „die psychologische Wahrheit, erfüllt mit dem Gehalte der ontologischen
und geordnet nach den Gesetzen der logischen Wahrheit“79.
75
76
77
78
79
Vgl. Braig: Noetik 146-151.
Gegen die Forderung nach einer „voraussetzungslosen“ Wissenschaft betont Braig als
Ausgangspunkt des Forschens immer wieder die Annahme, „daß es eine Wahrheit
giebt und daß sie auffindbar ist“ (Braig 1902e, 304; vgl. auch die Rede Braigs auf dem
Katholikentag 1902: Braig 1902d).
Braig: Noetik 145f. (im Text hervorgehoben).
Vgl. zum Wahrheitsbegriff Lorenz Bruno Puntel: Art. Wahrheit I. Begriff, in: LThK3 10,
926-929.
Braig: Noetik 147.
215
Schon hier macht sich der auf das Subjekt und seine Möglichkeiten konzentrierte
Zug des Denkens von Carl Braig bemerkbar, ein Zug, der sich in der Betonung des
Selbstbewusstseins als erster Quelle der Erkenntnis noch weiter entfaltet.
Die Einteilung der Erkenntnislehre ist bestimmt von der Unterscheidung dreier
Momente der Adäquation, nämlich der Sache, „was übereinstimmt, die Weise, wie
dies geschieht, den Umfang, inwieweit die Uebereinstimmung statthat“80, kurz
durch die Fragen nach der Wahrheit, der Gewissheit und den Grenzen des Erkennens.
1.4.2 Die Stufen der Wahrheit
Spricht Braig von Stufen der Wahrheit, dann ist klar, dass damit nicht ein relativierendes Element in den Wahrheitsbegriff getragen werden soll.81 Die Wahrheit als
Übereinstimmung lasse nur zwei Möglichkeiten zu; entweder bestehe die Übereinstimmung, oder sie bestehe nicht. Tertium non datur. Braig führt als Beispiel die
mathematische Gleichung an. Das Gleichheitszeichen stehe eindeutig für eine Adäquation, und diese lasse keine graduelle Unterscheidung zu. Wohl aber seien die
Glieder dieser Verbindung vieldeutig. Auf der einen Seite der Wahrheitsgleichung
stehe der Erkenntnisinhalt, der nach der Weise seiner Entstehung unterschieden
werden könne, je nachdem ob sich die entsprechende geistige Tätigkeit als Empfinden, Wahrnehmen, oder Begreifen und Urteilen, oder als Schließen und Beweisen äußere. So gebe es hinsichtlich der vielen Schärfegrade des Unterscheidens
eine Reihe von Graden der Wahrheit, die von „unbestimmt“ bis „notwendigbestimmt“ reiche.
Auch hinsichtlich der anderen Seite der Wahrheitsgleichung gebe es Gradunterschiede, je nach Vollständigkeit der Gesichtspunkte, unter denen ein Objekt betrachtet werde. Es sei beispielsweise möglich, nur einzelne Merkmale oder Wirkungsweisen eines Gegenstandes in Betracht zu ziehen. So gebe es eine Reihung
von „unvollständig“ bis „begründet“.
Festzuhalten ist das universale Erkenntnisideal, das Braig hier postuliert. So wie
alles geistige Regen und Denken auf die oberste Stufe des Unterscheidens, den
Beweis, hingeordnet ist, gilt für die Erkenntnis und jede Erkenntnis das Ideal der
vollständigen und klaren Erfassung eines Erkenntnisobjektes. Indem die mathematische Gleichung als Prototyp jeder Erkenntnis hingestellt wird, bleibt kein Raum
mehr für andere eigenständige und nicht ableitbare Formen des Erkennens, wie
die Intuition, das Gefühl, die „vitale Immanenz“ der „Modernisten“. Diese Erkenntnisformen bleiben vielmehr auf einer niederen Stufe, die es zu überwinden gelte.
80
81
Ebd. 145; vgl. ebd. 8.
Die „Logik gebietet uns, die Wahrheitserkenntniß und den Erkenntnißgegenstand
strengstens zu unterscheiden und festzuhalten: die Ergründung der Wahrheit, nicht die
Wahrheit selber, sei es im mathematischen, sei es im metaphysischen Gebiet, ist entwicklungsfähig“ (Braig 1896d, 108); vgl. auch Braigs Polemik gegen den vermeintlich
relativistischen Wahrheitsbegriff Herman Schells (Braig 1907e).
216
1.5 Vom Wahren und seinen Quellen82
Ist Wahrheit die Übereinstimmung von Sachverhalt und Denkverhalt, so ist die
Frage nach den Quellen, aus denen die Erkenntnis der Wahrheit geschöpft wird,
verwiesen an die Seite der zu erkennenden Gegenstände und an die Seite der
Momente im erkennenden Subjekt, die das Erkannte vermitteln. Die Seite des
Sachverhalts (obiecta, media quae) soll für die Erkenntnislehre nicht interessieren,
sondern nur die „Mittel und Wege, durch die und auf welchen dem Wissen sein Inhalt in Form von wahren Vorstellungen und begründeten Urtheilen zugeht“83 (media per quae).
Die Frage nach den Quellen, aus denen der Geist die Objekte seiner Erkenntnis
schöpft, hat im Laufe der Geschichte viele, auch sich widersprechende Antworten
erhalten. So verstandener Quellen des Wahren gebe es fünf, die im Folgenden erläutert werden sollen:
1) das Selbstbewusstsein, dem die Innenerfahrung entspricht;
2) der Sinn, durch den die Außenerfahrung vermittelt ist;
3) der Verstand für die Begriffsvermittlung;
4) die Vernunft mit ihren Prinzipien und Ideen;
5) die Autorität für den Glauben.
1.5.1 Das Selbstbewusstsein84
„Ausgangspunkt des Wissens ist das Wissen des denkenden Subjektes von sich
selbst. Das Wissen des Geistes von sich selber ist reine Unmittelbarkeit, wahre Ursprünglichkeit und vollkommene Voraussetzungslosigkeit“85. Dass das Selbstbewusstsein an die erste Stelle der Wahrheitsquellen zu stehen kommt, ist kein Zufall. Mit René Descartes86 wird das Selbstbewusstsein zu einem grundlegenden
Begriff der Philosophie, in der Funktion als Bedingung und Prinzip von Erkenntnis.87 Es ist bezeichnend, dass der Ausdruck „Selbstbewusstsein“ auch in seinen
fremdsprachigen Entsprechungen erst im 17./18. Jahrhundert geprägt wurde als
zentraler Terminus der aufkommenden Subjektphilosophie. Dieser Philosophie der
Subjektivität und des Subjektivismus, die „die Selbstreflexion des denkenden Ich
zum Prinzip aller Erkenntnis schlechthin erhebt und deswegen S.[elbstbewusstsein] überhaupt reflektiert“88 und vermeintlich antichristliche Konsequenzen, etwa
im Idealismus und Empirismus, zeitigt, möchte Braig nicht dadurch entgehen, indem er gleichsam hinter sie zurückgeht, hin auf einen vorkritischen scholastischen
Realismus. Braig erkennt den grundsätzlichen Standpunkt der Frage nach der
Möglichkeit von Erkenntnis an und möchte von ihm ausgehen, um von dort aus die
82
83
84
85
86
87
88
Vgl. Braig: Noetik 151-216.
Ebd. 151.
Vgl. ebd. 152-156.
Braig-Beck: Propädeutik 42.
Zu René Descartes (1596-1650) vgl. LThK3 3, 104-107.
Vgl. etwa Harald Korten: Art. Selbstbewußtsein, in: LThK3 9, 420f.
Art. Selbstbewußtsein I. Antike und Mittelalter, in: HWPh 9, 350ff., hier 350
217
Möglichkeit des christlichen Glaubens zu erweisen, ohne in die Falle des „Subjektivismus“ zu geraten.
Als „Subjektivismus“ bezeichnet Braig eine erkenntnistheoretische Option, die davon ausgeht, dass das Empfinden, das Erkennen durch die Sinnenbetätigung, das
Kriterium, der Maßstab für das Sein sei.89 Namentlich in seiner Diskussion der historischen Methode eines Harnack und anderer kommt Braig immer wieder auf das
proton pseudos dieser Vorgehensweisen zu sprechen. Die fehlerhafte Aussage
des Protagoras kann Braig aber durchaus auch positiv würdigen, im Sinne der kriteriologischen Funktion des Selbstbewusstseins des Menschen.90 Hinsichtlich einer der Hauptformen des Empirismus, als die Braig die Lehre der Subjektivisten
bezeichnen kann und zu denen als klassischer Vertreter Protagoras zählt mit seinem berühmten Diktum „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, dass (wie)
sie sind, der nicht seienden, dass (wie) sie nicht sind. – Sein ist gleich jemandem
Erscheinen“91, betont Braig die Richtigkeit der Auffassung, dass die Aussagen unserer Sinnlichkeit „sowohl von Gegenständlichem außer uns, als auch von Zuständlichem in uns handeln [...]. Die charakteristische Formung erhalten die Eigenschaftsworte für die Gegenstände nicht von diesen allein, sondern mit von unserer
Stimmung, die durch die Eindrücke auf uns erzeugt wird. So bezeichnet jedes Beschaffenheitswort für die Außenwelt [...] ein Doppeltes: eine Eigenschaft, einen Zustand am aufgefaßten Dinge, und eine Eigenschaft, einen Zustand am auffassenden Subjekte. Insofern ist der Mensch in der That das ‘Maß der Dinge’, nimmt er
den Wirklichkeitsmaßstab für die Dinge von sich, beurtheilt er alles nach sich, legt
er von sich etwas in alles außer sich hinein“92. Den in katholischen Kreisen weit
verbreiteten Vorwurf, der dem Ansatz Descartes’ bei der eigenen Vernunft gemacht wurde, dass hier nämlich eine Parallele zum subjektivistischen Prinzip des
Protestantismus bestehe,93 versucht Braig dadurch zu entschärfen, dass er den
entsprechenden Gedanken bereits bei den Sokratikern, bei Augustinus und Thomas nachweisen zu können glaubt.94 Braig erkennt durch seinen Ausgangspunkt
beim Selbstbewusstsein die Bedingungen an, unter denen in seiner Zeit Philosophie betrieben wird, möchte aber unter Anerkennung dieser Bedingungen zu einem anderen Ergebnis als mancher Verfälscher des Christentums kommen.
Was ist das Selbstbewusstsein, welches so große Bedeutung hat für eine Theorie
der Erkenntnis? Braig unterscheidet drei Bewusstseinsbegriffe. Zunächst sei das
Bewusstsein die Anlage und Fähigkeit höherer Lebewesen, des Menschen, aber
auch des Tieres, Kenntnis zu erlangen von der eigenen Befindlichkeit, wie sie sich
89
90
91
92
93
94
Vgl. Braig: Noetik 37-52.
„Trotz des richtigen Grundsatzes, dass unsere Selbsterkenntniss ein Wahrheitskriterium
alles Erkennens bildet – pantwn metron anqropoj – musste der hoffnungslose methodische Fehler, welcher Mittel und Object verwechselt, das Philosophiren zu Traum und
Wahn verurtheilen“ (Braig 1890e, 306).
Vgl. Hermann Diels/Walther Kranz [Hgg.]: Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, Berlin 81956, 263.
Braig: Noetik 45f.
Vgl. Walter: Neuscholastische Philosophie 141; McCool: Scholasticism 40, 213.
Vgl. Braig-Beck: Propädeutik 43f.; zur Verteidigung der „Thatsache einer ersten unmittelbaren Gewißheit im Selbstbewußtsein des Geistes“ durch Augustinus vgl. Braig
1883a, v.a 281f.
218
aufgrund verschiedener, innerer und äußerer Reize zeigt. In einem zweiten, resultativen Sinne sei „Bewusstsein“ dann das Ergebnis dieses Unterscheidungsvorgangs, nämlich die Bewusstheit eines bestimmten Zustandes. In einem noch weitergehenden Sinne bezeichne „Bewusstsein“ die Kenntnis des Unterscheidungsaktes selbst, durch den ihm ein Zustand bewusst geworden sei.95
Das Selbstbewusstsein sei dann das reflexive Zusichgekommensein des Bewusstseins. Der Mensch nehme in einem reflexiven Bewusstseinsakt wahr, dass er
selbst es ist, der den eigenen Zustand als den seinen unterscheidet. Beim Menschen sei das Bewusstsein nicht vom Selbstbewusstsein zu trennen, denn in jedem seiner Bewusstseinsakte sei das Bewusstsein davon mit enthalten, dass er
selbst es sei, der diesen Akt vollzieht. Im Unterschied also zum Bewusstsein von
äußeren Dingen stehe das Selbstbewusstsein für das Selbstverhältnis des denkenden und wollenden Ich, das sich selbst zum Objekt haben kann.
Bewusstsein und Selbstbewusstsein entspringen der immanenten Unterscheidungsfähigkeit des Menschen. In einem Urteil werde zu dem Prädikat das Subjekt
(Ich) gesucht, oder zu einem Subjekt das Prädikat (z.B. sehend). Dies sei ein unmittelbares Unterscheiden, eine Grunderkenntnis, die jeder anderen notwendig vorausgehen müsse und die auch die einzige streng unmittelbare Erkenntnis ist.96
Das Selbstbewusstsein sei ein unmittelbares Unterscheiden und so auch der Anfang alles Unterscheidens. Nicht der zeitlichen, aber der ontologischen Ordnung
nach sei das Selbstbewusstsein die eigentliche Grunderkenntnis.
Was aber ist nun konkret der Inhalt des Wissens, das aus dem Akt des Selbstbewusstseins entsteht? Welche Erkenntnis ergibt sich, wenn das Selbstbewusstsein
eine Quelle des Wahren sein soll? Der Erkenntnisinhalt des Selbstbewusstseins
seien die Innenvorgänge des Empfindens, von Lust und Leid. Darauf lerne der
Mensch das Sehen als Sehen zu begreifen, im Unterschied zum Schmecken. Das
Selbstbewusstsein sei nicht eine weitere Stufe auf der Leiter der Unterscheidungsgrade des Denkens, sondern die jede dieser Stufen begleitende Selbstreflexion,
die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von konkreter Erkenntnis. Weiterer
Unterscheidungstätigkeit folge die Erkenntnis der Vorstellungstätigkeit, der Gefühlsäußerungen, der Strebebewegungen, und schließlich lerne man sich selbst zu
begreifen als die Einheit, die all diese Momente in sich fasst.97 Braig verweist auf
die Grenzen der Selbstbewusstheit, auf die vor- und unterbewussten Regungen,
die ontologische Individualität, das Herz, den Charakter.98
Die Bedeutung der aus dem Selbstbewusstsein geschöpften Erkenntnis sei ganz
entscheidend. Braig spricht von der „Typik“ des Bewusstseins für jede andere Erkenntnis. Der Inhalt der Erkenntnis, die aus dem Selbstbewusstsein entspringt, sei
95
96
97
98
Vgl. Braig: Noetik 152-156.
Braig betont gegenüber einer vermeintlich cartesianischen Auffassung, dass das
Selbstbewusstsein ein unmittelbar gegebenes Wissen ist, also nicht aus einem Schluss
resultiert (Braig 1881a).
Nur am Rande sei erwähnt, dass die Frage nach der Einheit des Seelenlebens eine
zeitgenössisch umstrittene war; vgl. Hermann Lotze: Mikrokosmus I 175-187; Vincent
Berning: Das Denken Herman Schells. Die philosophische Systematik seiner Theologie
genetisch entfaltet, Essen 1964, 21-45.
Vgl. auch Braig: Gotteserkenntnis 512f.; ders.: Ontologie 49ff.
219
„vermittelnd, maßgebend, ur- und vorbildlich [..] für die Ausgestaltung unseres gesamten Wissens“99. Auf dem Grund der Innen- und Eigenerlebnisse und aus deren
Elementen bilden wir die Vorstellungen und Begriffe als Bestandteile der Erkenntnissätze, und auch die Zeichen, mit deren Hilfe die Erkenntnisse ausgesprochen
werden. Jedes Ding und Vorkommnis werde nach unserem Verständnis orientiert.
Was nicht irgendeine Ähnlichkeit mit uns und dem von uns im Inneren Erlebten
aufweise, könne auch nicht begriffen werden. Selbst wenn wir von etwas sagen, es
sei unbegreiflich oder unaussprechlich, „so fällt auf das Gemeinte doch immer
noch ein Lichtschimmer von dem her, was uns an Begreifbarem und Aussagbarem
in uns schon vorgekommen ist“100. Wollte man nämlich das Unbegreifliche und
Unaussprechliche wirklich im Sinne einer absoluten Unvergleichbarkeit zu Begreiflichem und Aussprechbarem verstehen, müsste das Gemeinte als sinnlos und absurd, als denk- und seinsunmöglich erkannt werden. Menschliche Erkenntnis sei
Anthropomorphismus, und sie müsse es sein! Wenn Braig dabei betont, dass
„Subjektivität“ und „Idealität“ dieser Erkenntnis und damit jeder Erkenntnis hinsichtlich ihres Ursprungs die Realität und Objektivität ihrer Bedeutung nicht schmälern,
so will er damit natürlich dem Verdacht zuvorkommen, er lehre eine subjektivistische Erkenntnistheorie, deren Falschheit er ja gerade den „Modernisten“ verschiedenster Couleur immer wieder vorhält. Für Michael Glossner ist die braigsche Reservation eine „völlig wirkungslose ‘Versicherung’“101, da besonders im Hinblick auf
die Gotteserkenntnis die Typik des Selbstbewusstseins zu einem anthropomorphistischen Gottesbegriff führen müsse. Glossner meint, „[d]ieser Bewußtseinstheorie
[...] entschieden widersprechen zu müssen. Das beschränkte, individuelle Ich des
Menschen kann nicht der Typus alles Erkennens sein. [...] Der denkende Menschengeist [..] ist selbst auf eine bestimmte Gattung und Art des Seienden eingeschränkt und kann aus diesem Grunde nicht als Typus und Quelle idealer oder
überhaupt objektiver Erkenntnis gelten“102. Nach Braig ist die Erkenntnis auf dem
Grund des Selbstbewusstseins eine Analogie für alle weitere Erkenntnis, während
diese nach Analogie der Selbstbewusstseins-Erkenntnis gebildet werde.103
An anderer Stelle macht Braig klar, dass beispielsweise die Vorstellungsform des
„Dings mit Eigenschaften“ unserer eigenen Innenanschauung entspreche und entspringe,104 auch die Kategorien von Raum und Zeit105 und die Kausalitäts- und Finalitätsvorstellung.106 So liegen in der Selbsterkenntnis, gleichsam wurzelhaft an99
100
101
102
103
104
105
106
Braig: Noetik 155; „[S]ollen die ‘Kriterien’ (des Selbstbewußtseins, der Sinneswahrnehmung, Vernunft und Auktorität) nicht rein formalistische Klassifikationen sein, dann
müssen sie auf Eine, im Wesen des Denkens (Selbstbewußtseins) ursprünglich gründende Norm zurückgeführt werden“ (Braig 1880a, 174; vgl. auch Braig 1884a, 153).
Braig: Noetik 155.
Glossner: Braig, Abriß der Noetik 209.
Ebd. 210f.
Braig folgt damit seinem frühen Lehrer Matthias Hamma: „Psychologisch entsteht der
Begriff des Seienden dadurch, daß sich das Ich selbst wahrnimmt, sich selbst ergreift
als seiend, und allem, was es in ähnlicher Weise ergreift, das Attribut seiend beilegt“
(Hamma: Philosophie II 15)
Vgl. Braig: Logik 16; ders.: Ontologie 52f.
Vgl. Braig: Ontologie 68-76; 88; 90-95.
Vgl. ebd. 129ff. und 146ff.
220
gelegt, wichtige Begriffe, die fundamentale Bedeutung für unser Erkennen haben:
„Sein und Dasein, Existenz und Realität; Wesen, Wirken, Zweck; Kraft, Ding mit
Eigenschaften, Substantialität, Causalität, Bewegung und Ruhe; Gesetz, Gesetzmäßigkeit, Zweckmäßigkeit; Einheit und Vielheit, Ausdehnung, Raum und Zeit“107.
Für seine Apologetik hat das Selbstbewusstsein Bedeutung, insofern es die agnostizistische Leugnung der Erkenntnis des Dinges an sich widerlege. In einer unmittelbaren Erkenntnis erkenne das Ich sich selbst als Ding mit Eigenschaften und
wirke so strukturbildend für jede weitere Erkenntnis. Andererseits geht Braig bei
seiner Betonung des subjektiven Anteils an jeder Erkenntnis die Gefahr ein, missverstanden zu werden, im Sinne eines „Subjektivismus“, den er selbst ja immer
seinen „Modernisten“ vorhält. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dieses Moment der Erkenntnistheorie in seinen späteren apologetischen Schriften kaum
mehr auftaucht.
1.5.2 Der Sinn108
Nach einem scholastischen Axiom beginnt jede Erkenntnis bei der Sinneswahrnehmung. „Nihil est in intellectu, quin prius fuerit in sensu“109. Der empirische
Grundzug des Denkens Braigs wird auch deutlich, wenn man sich vor Augen hält,
dass Braig der Philosophie die experimentelle Naturwissenschaft als Bedingung
voraufgehen lässt, sowohl die Physik der Metaphysik, wie die Psychologie der Logik und Erkenntnislehre.110
Ähnlich wie hinsichtlich der Frage nach dem Selbstbewusstsein versucht Braig
auch hier zwischen Extremen zu vermitteln. Wenn er die Wichtigkeit der sinnlichen
Erkenntnis gegenüber gewissen idealistischen Anschauungen heraushebt, möchte
er aber zugleich eine Überbewertung dieses Moments vermeiden, wie sie in den
verschiedenen Erkenntnistheorien des „Empirismus“ gegeben sei, deren Gefahr
darin bestehe, dass sie sich gegen eine wahre metaphysische Erkenntnis stellen.111 Man habe sich zu hüten vor dem Irrtum der Materialisten, die allein die Materie, ihre Kraft und ihr physikalisch-gesetzmäßiges Wirken als wirklich annehmen
und den Geist als Epiphänomen der Materie ansehen.112 Auf die Frage nach dem
apologetischen Ertrag, den eine Erörterung der Rolle der sinnlichen Erkenntnis zeitigt, zeigt sich für Braig zum einen immer wieder, entgegen dem Anschein, der von
107
108
109
110
111
112
Braig: Noetik 156; mit Hermann Lotze meint Braig, dass die Abgrenzung dieser obersten Begriffe die erste Aufgabe der Philosophie ist (Braig 1885a, 26); diese Liste erinnert an die Aufzählung von angeborenen Ideen bei Leibniz, welcher fragt, ob, wenn
man zugebe, dass die Ideen, die nicht der sinnlichen Empfindung entstammen, aus der
Reflexion kommen, dann leugnen könne, „qu’il y a beaucoup d’inné en nostre esprit,
puisque nous sommes innés, pour ainsi dire, à nous mêmes? et qu’il y a en nous
mêmes: Estre, Unité, Substance, Durée, Changement, Action, Perception, Plaisir, et
mille autres objets des nos idées intellectuelles?“ (Leibniz: Nouveaux essais XVI).
Vgl. Braig: Noetik 156-167.
Vgl. z.B. Thomas von Aquin: Summa theologica I q. 12 a. 13.
Vgl. Braig: Ontologie 8; Noetik 13f.; Logik 10.
Vgl. Braig: Noetik 17f.
Vgl. ebd. 18-37.
221
positivistischer Seite ins Feld geführt werde, dass die empirischen Wissenschaften
nicht nur keinen Widerspruch zu den Glaubenswahrheiten bilden, sondern vielmehr diese unterstützen. Dieses Argument bietet auf der anderen Seite Handhabe
gegen einen auf die reine eigene Innerlichkeit gestützte Glaubensanschauung, wie
sie sich in den verschiedenen „Modernismen“ zeigt.
Die sinnliche Erkenntnis erfolge aus den unteren Stufen des Denkens als Unterscheiden. In seinem Interesse am Ursprung des Denkens versucht Braig auch die
Sinnenhaftigkeit aus dem Unbewussten und Unvordenklichen zu deduzieren. „[D]ie
Seele ist thätig, lange bevor sie wissend ist“113. Die Wurzeln dessen, was als logisches, reines Denken bezeichnet wird und dessen Ziel die klare Erkenntnis ist und
als solches Gegenstand einer wissenschaftlichen Darstellung werden kann, liegen
im „Vorbewusstsein“. Das Bewusste, das ja auch das Reich der Sprache ist, dringe
nicht bis zu dem vor, wovon es letztlich ausgeht.
Die Abhängigkeit des Geistes vom Körper wird vom realistischen Denken Braigs
ohne Umschweife anerkannt. Die Geistesäußerungen des Erkennens, Wollens und
Fühlens seien notwendig auf die leiblichen und sinnlichen Gegebenheiten hingeordnet. Menschlicher Geist sei nicht anders als in leiblicher Verfassung anzutreffen, wenn diese beiden Gegebenheiten auch von sehr verschiedener Art sind. Der
Geist „besitzt seine eigenen Kräfte. Deren Bewegungen erfolgen nach eigenen
Gesetzen, sind aber in ihrem Ursprung und Verlauf an die Dienstleistungen des
Leibes gebunden“114. „Die Sinnlichkeit bezeichnet den Beitrag des Leibes und bedeutet die Abhängigkeit des Geistes von den leiblichen Bedingungen“115.
Das sinnliche Erkennen fange damit an, dass Nervenfasern gereizt werden und ins
Schwingen geraten.116 Mechanische und chemische Änderungen in den Zellen
lassen in Gehirn und Rückenmark Eindrücke entstehen. Die interessante und
hochbrisante Frage nach dem Übergang von materieller zu geistigen Bewegtheit
wird von Braig nicht problematisiert.117 Die Seele werde gestimmt, der Mensch fühle. „Fühlen“ sei ein unwillkürliches Unterscheiden der eigenen Zustandsänderungen in angenehme und unangenehme. Damit sei es bereits ein geistiges Geschehen, ein zwar unwillkürliches, aber dennoch im weitesten Sinne bewusstes Unterscheiden zwischen Lust und Unlust. Auf der nächsten Stufe gehe es der Seele
darum, die empfangenen Eindrücke gegeneinander abzugrenzen, sie den einzelnen Sinneswerkzeugen zuzuordnen und auf diese Weise distinkt zu sehen, zu hören, kurz zu empfinden. In einem weiteren Schritt unterscheide die Seele die Erreger der Sinnesreizungen, sie nehme etwas außerhalb ihrer selbst wahr. „Wahrnehmen ist Vernehmen von der Wirklichkeit eines Etwas, dessen Wirksamkeit auf
den Leib der Seele Empfindungen aufgezwungen, die Seele genöthigt hat, Zu-
113
114
115
116
117
Braig: Gotteserkenntnis 512.
Braig: Logik 13.
Ebd.
Ebd.
Ähnlich zurückhaltend verhält sich Braig gegenüber der Frage nach dem Wesen der
Wechselwirkung der Seienden untereinander (vgl. Braig: Ontologie 120); hinsichtlich
des Problems der Einwirkung von Materiellem auf Geistiges betont er lediglich deren Irreduzibiltät und Wesensverschiedenheit (vgl. etwa Braig 1886 passim).
222
stände des Leibes in ihre Zustände zu übersetzen“118. Die Wahrnehmungen werden schließlich noch weiter und genauer unterschieden, so dass die äußeren Dinge damit in ihrer jeweiligen Bestimmtheit aufgefasst werden, in ihrer eigenen jeweiligen Unterschiedenheit.
Die Gedächtniskraft der Seele ermögliche es ihr, von jedem Sinneseindruck eine
Spur zu bewahren. So vermag sie mehrere Empfindungen eines Sinnes und die
Empfindungen mehrerer Sinne zu verbinden. Dafür werde ein Zeichen geformt.
Das Fassen dieses Zeichens und die Unterscheidung seiner Teile sei das Vorstellen. „Vorstellen ist die Thätigkeit des Gemeinsinnes, des innern Sinnes in der Seele. So heißt die Einbildungskraft, welche, die Einheit aus Gedächtnis und Erinnerung, das Empfinden, Wahrnehmen, Schauen der äußern Sinne selbständig leitet
und beurteilt“119. Das Vorstellen sei entweder gebunden oder frei, je nachdem, ob
das Bild in der Seele die Sache bedeute, gleichsam Gegenwärtiges schaue und
gestalte, oder ob es Abwesendes für unser inneres Auffassen vergegenwärtige,
zur freien Stellvertretung der Wirklichkeit werde.
Das Vorstellen vollziehe sich in den Regeln der Anschauungsformen von Raum
und Zeit und der Vorstellungsform des Dings mit Eigenschaften. Diese Formen
seien ausschlaggebend für die Richtigkeit der Bilder, die der Gemeinsinn von der
Wirklichkeit aufnehme.
Die Empfindungen kommen zusammen und folgen sich in den drei Ausdehnungen
des Raumes und den drei Ekstasen der Zeit. In dieser Ordnung werden sie zu
Vorstellungen geformt. Diese Ordnung könne nicht missachtet werden, denn der
Mensch sei dieser Ordnung selbst mit seiner Sinnlichkeit eingeordnet. Allerdings
bedürfe es des anderen Maßstabes, nämlich dessen der Vorstellungsform des
Dinges mit Eigenschaften, um das zufällige Nacheinander der Sinneseindrücke
vom Objekt selbst her gefordert erscheinen zu lassen. Diese Vorstellungsform sei
„die Innenform unseres Vorstellens selbst, der schematische Grundriß, welchen
die Seele von sich aus den Vorstellungen unterlegt“120. Hier wird die „Typik des
Selbstbewusstseins“ deutlich: In der inneren Vorstellung vom Ding mit Eigenschaften gewahre die Seele den Grund für die Zusammengehörigkeit der einzelnen Sinneseindrücke. Wir müssen nach dieser Vorstellungsform verfahren, weil wir selbst
Dinge mit Eigenschaften seien und uns als solche wahrnehmen.
Das sinnliche Vorstellen sei Vorbereitung des rein geistigen Urteilens. Es sei insofern typisch für dieses, weil in ihm auch schon dieselbe Denkbewegung des auffassenden Unterscheidens und unterscheidenden Auffassens am Werke sei. Psychologisch sei das Vorstellen von folgenden Elementen gekennzeichnet: Aufmerksamkeit und Wille lenken das Unterscheiden auf den Erkenntnisgegenstand. Die
Tätigkeit der äußeren Sinne sei schon von Analyse und Synthese bestimmt, denn
das Empfinden analysiere einzelne Beschaffenheiten, und diese werden von der
Wahrnehmung an das zugehörige Ding geheftet. Der Gemeinsinn sammle und
überschaue die Eindrücke, erstelle eine Versuchssynthese, die mit der äußeren
Vorlage verglichen werde. Das Abstraktionsvermögen der Einbildungskraft sei die
Voraussetzung, vom gebundenen Gestalten zum freien Vorstellen zu gelangen.
118
119
120
Braig: Logik 14.
Ebd.
Ebd. 16.
223
Leitender Maßstab des Vorstellens sei die Innenanschauung des Dinges mit Eigenschaften, das Erstgewusste sei das Ding mit seinen Eigenschaften, das schon
von Fühlen, Empfinden, Wahrnehmen, den vorbewussten Regungen der Seele,
aufgenommen werde. Der Mensch vermöge aber auch das eigene Wesen, die eigenen Akte und deren Grund, zum Gegenstand des Unterscheidens zu machen.
„Die Abstraction der Einbildungskraft schafft die Selbstvorstellung, das Selbstbewußtsein“121. Die reflexive Abstraktion, die Fähigkeit, sich selbst zum Gegenstand
der Unterscheidung zu machen, sei der Vorzug des Menschen und in ihm sei der
Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier begründet. Braig sieht nicht erst im
Bereich des höheren Denkens den Unterschied zwischen Mensch und Tier, sondern schon beim sinnlichen Vorstellen. Das Tier sei unfähig, „durch eine Handlung
reflexiver Abstraction zu erfahren, wie die Vorstellungsthätigkeit sich macht“122.
Auch auf der Anfangsstufe sei das Vorstellen bereits ein geistiges. „Das Geistige
ist nicht Entwicklung des Sinnlichen, sondern es ist dem Sinnlichen eingesenkt und
seine Entwicklung ist vom Sinnlichen abhängig, wie die Sinnenthätigkeit durch den
Geist mitbewirkt ist“123.
Das Abstraktionsvermögen sei der Sinn für das Allgemeine, ohne das es kein Erkennen, keine Wissenschaft geben könnte. „Daß das Allgemeine von uns vernommen, nicht gemacht wird, daß es in der Welt der Dinge, nicht bloß in unserem
Vorstellungsvermögen Bestand hat, ist uns durch unser Wesen, ein Stück von der
Wirklichkeit, ontologisch und ist uns durch die Innenanschauung unseres Wesens
wie seiner Kräfte psychologisch bewiesen“124. Dieser Zwang bezeuge die „Congruenz zwischen dem logischen und dem metaphysischen Allgemeinen, bezeugt
uns die Beurtheilbarkeit und Erkennbarkeit der Dinge [,...] zeigt uns die Einheit der
psychologischen, logischen und ontologischen in der noëtischen Wahrheit“125.
Nach Fühlen, Empfinden, Wahrnehmen und Anschauen sei das Vorstellen die Zusammenfassung des angeschauten Äußeren. Der Form nach sei es die vollendete
Sinnenbetätigung, dem Inhalt nach werde durch das Vorgestellte der Träger der
durch die Sinneneindrücke vermittelten Beschaffenheiten vergegenwärtigt. Dies sei
die höchste Leistung des sinnlichen Unterscheidens, denn hierdurch werde das innere Seelenbild nach außen übersetzt: die Dinge werden nicht nur als so und so
beschaffen erfahren, sondern sie werden als so und so wirklich beschaffen gewusst. Dies sei also der Punkt, an dem aus dem subjektiven Erkennen die Erkenntnis des Objektiven, das Wissen um die Wirklichkeit gewonnen werde.
Gleichwohl muss betont werden, dass eine sichere Erkenntnis von Braig an dieser
Stelle nur behauptet werden kann. Es ist zwar richtig, dass ein Träger der Beschaffenheiten, welche die Sinneseindrücke hervorgerufen hatten, im erkennenden Bewusstsein „repräsentiert“ wird, ob diesem aber wirklich subjektunabhängige Realität zukommt oder nicht, ist zunächst unentscheidbar.
Es zeigt sich aber deutlich, dass die Sinnenfähigkeit nicht rein passives Aufnehmen ist, sondern aktives, plastisches Vermögen. Bereits die rezeptorische Auf121
122
123
124
125
Ebd. 18.
Ebd.
Ebd. 19.
Ebd. 22.
Ebd.
224
nahme der Umwelt sei untrennbar mit kategorisierend-interpretatorischen Leistungen verbunden. Dies betont Braig gegen die Auffassung Kants, dem er einen
dogmatistischen Grundzug vorwirft, insofern dieser die Sinnlichkeit als reine Rezeptivität bestimme. Gegen diesen grundsätzlichen Dualismus zwischen passiver
Sinnlichkeit und spontaner Verstandestätigkeit setzt Braig eine bloß graduelle Unterscheidung der Schärfe des Unterscheidungsaktes.126
Fragt man nach dem Ergebnis der Sinnenerkenntnis, nach ihren Möglichkeiten und
Grenzen, so tritt auch die Frage nach dem Ding mit seinen Eigenschaften in den
Blick. Fünf Momente seien der Sinnenwahrnehmung zugänglich. Erkennbar sei erstens die Tatsächlichkeit, das Dass der Außendinge und die Verschiedenheit von
Ich und Nicht-Ich, dann zweitens die Brauchbarkeit und Unentbehrlichkeit der Dinge für das Ich.127 Drittens werde eine Spezifikation der sinnlichen Eindrücke erreicht durch die Vielzahl unserer Sinne, und dann auch eine Identifikation, wenn
mehrere Sinne dieselbe Eigenschaft fassen. Es werde viertens die Verschiedenheit der Dinge und ihre Verbindbarkeit wahrgenommen. Vom sinnlichen Erkennen
werde schließlich wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass das Vorgestellte dauernd sich gleich ist, die Einheit und Selbstgleichheit des Unterschiedenen und Unterscheidbaren.
Nicht erkennbar für die sinnliche Wahrnehmung sei die Wesenhaftigkeit der Außendinge. Das gelte erstens für den Wesenskern der Dinge wie auch zweitens für
die Natur der Eigenschaften der Dinge, ob das Verhältnis der Eigenschaften der
Dinge zu diesem selbst dem Verhältnis entspreche, wie es zwischen der Form der
Empfindung und dem Empfindenden obwalte. Unerkennbar sei auch drittens der
Vorgang, wie die Seienden aufeinander einwirken und die Seinsordnung begründen, z.B. der Erkenntnisvorgang selbst.
Die Bedeutung des sinnlichen Erkennens lässt sich damit abschließend benennen.
Oben war von der „Typik“ der Erkenntnis aus dem Selbstbewusstsein die Rede:
vom „Anthropomorphismus“ all unserer Erkenntnis aufgrund seiner notwendigen
Analogizität mit dem ursprünglich aus dem Selbstbewusstsein geschöpften Wissen. Ähnlich verhalte es sich mit der Sinneserkenntnis. Das hervorstechendste
Merkmal der Sinneseindrücke werde substantiviert. Wo ein solches Merkmal nicht
auffindbar sei, finde auch keine Erkenntnis statt. Auch die Abstrakta seien auf sinnliche Analoga angewiesen. Die Sinneserkenntnis sei typisch für alles Wissen, und
das Denken in den reinsten Begriffen komme nicht über Analogien der sinnlichen
Wahrnehmungen hinaus.
Fragt man nach der Bedeutung, die die Betonung der sinnlichen Erkenntnis für eine Apologie gegen den „Modernismus“ hat, so erfolgt sie bei Braig besonders im
Blick auf einen unfruchtbaren Begriffsrealismus, den er nicht nur einem Hegel vorwerfen kann und manchem scholastischen Epigonen, sondern auch gegen die „vitale Immanenz“ des Modernismus, aus der die Grundbegriffe des Religiösen angeblich allein ableitbar seien. Die Sinnlichkeit verankert die menschliche Erkenntnis fest mit dem Wurzelgrund der Erfahrung.
126
127
Vgl. ebd. 139f.
Dies erinnert an das, was Heidegger später die „Zuhandenheit“ als die Seinsart des
„Zeugs“ nennen sollte (vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 171993, 66-72).
225
1.5.3 Der Verstand128
Der Verstand umfasst nach Braig die höheren Stufen des Denkens, also Begreifen,
Urteilen, Schließen. Das Vorstellen als höchste Leistung des sinnlichen Erkennens
bestehe darin, dass entweder die Eigenschaft an einem Ding vorgestellt wird, oder
ein Ding mit Eigenschaften. Im ersten Fall werden die Eindrücke der Sinne einzeln
beurteilt, im zweiten miteinander verbunden. Diese Vorstellungen gehören in den
Bereich der natürlichen Sprachlogik, die die empirischen Begriffe erzeuge und
ausdrücke, in den Bereich des alltäglichen Lebens und Handelns des Menschen,
in den vorwissenschaftlichen Raum. Das wissenschaftliche Denken hingegen wolle
den Grund sehen, „warum die Vorstellungen allgemein verständlich, wann sie
nothwendig und allgiltig sind“129.
Durch den tätigen Verstand werden die durch die sinnliche Erfahrung zugeführten
Gegenstände dem Begreifen im engeren, eigentlichen Sinne zugeführt. Wie der
Gemeinsinn abstrahiere der Verstand die Vorstellungen so lang, bis das verschiedenen Vorstellungen Gemeinsame gefunden sei, nämlich das Allgemeine. Dieses,
in einem Verstandesbild geformt, sei der Begriff. Hinsichtlich der Merkmale der
Vorstellungen werde nicht das Allgemeine gesucht, sondern das Gleichbleibende,
das, wodurch ein Merkmal beständig bleibe. „Beidemal ist der Begriff gefunden,
wenn dort das Allgemeine, hier das Dauernde als die Erklärung mitgedacht ist für
eine Zusammenfassung von Vorstellungen“130.
Die Bildung des Begriffs sei eine Abstraktion. Abstrahieren und Unterscheiden bedeute entweder etwas von einem herausziehen oder aber von etwas absehen. Bei
den ungleichen Merkmalen eines Körpers z.B. werde nicht von diesen abgesehen,
sondern nur von den unterschiedlichen Graden ihrer Bestimmtheit. „Die Merkmale
selber werden verallgemeinert und in einer gemeinsamen Bestimmtheit, als Constanten, zum Begriffe zusammengesetzt“131. Am Anfang einer wissenschaftlichen
Untersuchung stehe ein erstes, unmittelbares Allgemeines, der Umriss eines empirischen Begriffs, „das Ziel ist das letzte, vermittelte Allgemeine, der wissenschaftliche Begriff. [...] Der Endzweck sämtlicher Wissenschaften ist die Gewinnung vollkommener Begriffe“132.
Auch hier ist wieder zu bemerken, dass die organische Anbindung des Verstandes
an die Sinnlichkeit die kantische Trennung dieser beiden Momente aufheben
möchte, im Sinne des leibnizschen Grundgedankens eines allmählichen Übergangs der verständigen und vernünftigen Grundfunktionen aus ihren sinnlichen
Vorstufen.
Der Verstand sei also ein rein formales Vermögen, nämlich das Unterscheiden an
sich. Materiell gewinne der Verstand keine neuen Erkenntnisobjekte. Das Unterscheiden des Verstandes vollziehe sich in der Weise der Abstraktion. Die Bewegungen des Unterscheidens werden durch ein Gesetz geregelt, die Sprachlogik im
Erkennenden und die Logik der Tatsachen im Objekt. Ergebnis sei der natürliche
128
129
130
131
132
Vgl. Braig: Noetik 167-179.
Braig: Logik 31.
Ebd. 32.
Ebd.
Ebd. 33.
226
Empfindungsverlauf, die psychologische Wahrheit. Aufgabe des Verstandes sei es,
die Gründe einzusehen, warum die verschiedenen Vorstellungen in bestimmter
Weise zusammengehören müssen. Der Sinn ist die weniger genaue, der Verstand
die präzisere und schärfere Unterscheidungsinstanz.
Die Verstandesbetätigung sei abstraktives Unterscheiden. Abstrahieren sei Unterscheiden, positives Begrenzen eines Etwas in sich und negatives Abgrenzen von
anderem, dadurch dass der bleibende Kern des Erkenntnisobjekts abgezogen und
für sich betrachtet wird. Der Verstand knüpft an dem Einen im Vielen des Gemeinsinnbildes an, an den Grundstock und Mittelpunkt, der sich aus der Vielheit der
Wahrnehmungen eruieren lässt. Dieses Eine wird zu einem Begriff, entweder zum
Begriff eines Dings oder zu dem einer Eigenschaft.
Großen Wert legt Braig auf die Gesetze, nach denen das Unterscheiden abläuft.
Wie alles andere bewege sich auch der Verstand gemäß seinen immanenten Gesetzen. Die Gesetze der Identität und des Widerspruchs seien schlechthin gegebene. Ja und Nein können nicht zugleich gedacht werden. Das Formalprinzip der
Verstandesbewegung sei die Identität, nach der durch das Ja das Wesentliche gefasst sei, das Nein als Unwesentliches. Die beiden möglichen, sich ausschließenden Bewegungen des Verstandes, Ja ist Ja, und Nein ist Nein, zeigen die grundlegende Bedeutung des Widerspruchgesetzes. Man könne von einem formalen Dualismus des Denkens sprechen, dem ein materialer Dualismus des Erkennens
unmittelbar folge. Die Aufgabe der Verstandeserkenntnis sei die Feststellung der
Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der Begriffe. Ferner werden die Gründe dafür
gesucht, das heißt Gründe für die Möglichkeit der Tatsache, ferner die Gründe für
die Unmöglichkeit des Gegenteils, womit dann die Notwendigkeit und auch die Gesetzlichkeit des Tatbestandes für die Vorstellungen und für das Vorgestellte nachgewiesen sei.
Wenn Braig hier hinsichtlich der Gültigkeit der ersten unabweisbaren Prinzipien,
der Gesetze der Identität und des Widerspruchs, die „aus der Unmöglichkeit entgegengesetzter Denkversuche abgeleitet“ werden, von Michael Glossner vorgeworfen wird, dass so „die subjektive Denknotwendigkeit das höchste Kriterium der
Wahrheit bilde“, dann versucht dieser zugleich, dem ein objektives, unmittelbares
Erkennen der obersten Prinzipien entgegenzuhalten: „Der Satz des Widerspruchs
selbst aber wird durch unmittelbare Einsicht in seine Wahrheit erkannt, nicht durch
die Unmöglichkeit des Versuches, das Gegenteil davon, d.h. einen Widerspruch
als wahr zu denken“133. Braig möchte mit seinem „subjektivistischen“ Ansatz keiner
Willkür das Wort reden. Er spricht von der „Naturbestimmtheit der Verstandesbewegung“134, die das Formalprinzip des Denkens sei, nicht also von einer individuell-subjektiven Gestimmtheit, aus der die Wahrheit der Prinzipien folge. Die Naturbestimmtheit sei eine der Erkenntnisordnung vorgeordnete seinsmäßige Bedingung, die allerdings in der Erkenntnisordnung erst sekundär erkannt werde.
Was wird nun durch das Verstandeserkennen erkannt? Objekt des Erkennens sei
der Begriff in der Vorstellung und die Wesensform in den Dingen, also das begrifflich und sachlich Allgemeine. Braig thematisiert sowohl den Nominalismus als auch
133
134
Glossner: Braig, Abriß der Noetik 205f.
Braig: Noetik 170 (Hervorhebung von mir).
227
den „excessiven Realismus“ als falsche erkenntnistheoretische Grundoptionen.135.
Im Mittelalter kam man über die Frage nach dem ontologischen Status des Allgemeinen zu sehr differenzierten Lösungen, gemäß den verschiedenen Anschauungen, die das Allgemeine nach Art der platonischen Ideen, als ausschließlich in
Verbindung mit konkretem Seienden existierend oder als reine Begriffe oder bloße
Namen auffassten.136 Für Braig gibt es weder ein reales „Allgemeines“ neben oder
über, vor oder außer den Seienden. Es gebe auch keine Erkenntnis von Allgemeinem, das nicht durch die Erkenntnis des Einzelnen gewonnen wäre. Andererseits
sei das Allgemeine nicht einfach nur das Einzelne in der Form der leeren Unbestimmtheit. Das Abstraktionsverfahren dürfe nicht einfach nur das negative Moment berücksichtigen, das Abscheiden von Einzelnem, sondern müsse das Allgemeine als positiv Gegebenes extrahieren. Andernfalls sei das Gewissheitskriterium
für die Erkenntnis in Gefahr. Es sei der Gegensatz zu dem vom Sinn aufgefassten
Einzelnen, das so eins sei, dass es in vielen Seienden sein und von jedem eindeutig ausgesagt werden könne. Braig unterscheidet zwischen einem direkten und einem indirekten (reflexen) Universale, hinsichtlich Inhalt und Form des Allgemeinen.
Dies geschehe, um die Frage nach der Realität des Universale zu entscheiden:
„Seiend ist das Allgemeine, sofern sein Inhalt in vielen Seienden verwirklicht ist;
nichtseiend, ein bloßes Gedankending ist die Form seiner Allgemeinheit“137.
Gegenüber einem überspannten Begriffsrealismus betont Braig, dass das Allgemeine als Erkenntnisgegenstand nicht aus der Analyse des Begriffs entsteht. Reale Erkenntnis sei nur dann möglich, wenn der Verstand sich an die Unterscheidungen der Sinneswahrnehmungen halte.
Nach den verschiedenen Stufen des Denkens und Erkennens des Verstandes,
nämlich Begreifen, Urteilen und Schließen, unterscheidet Braig drei Allgemeine.
Das erste Allgemeine sei die Wesensform im Seienden, das Bleibende im sich
Verändernden. „Es muß wirklich sein, wenn und weil es dem erkennenden Subjecte gegenüber wirksam ist“138. Der Verstand unterscheide weiterhin das Verhältnis
des Wesens zu seinen Eigenschaften und umgekehrt und der Eigenschaften untereinander. Die Entwicklung des Inhalts im ersten Allgemeinen durch die Form eines vollzogenen Urteils S Ù P bilde das zweite Allgemeine; seine Formulierung
finde es im Denk- und Seinsgesetz der Identität.
Bei schärferer Unterscheidung untersuche der Verstand die Auswirkung der
immanenten Kausalität des Wesens auf seine Eigenschaften. Aber auch das
Wechselverhältnis der Seienden untereinander werde untersucht, die transeunte
Kausalität. Dieses Verhältnis bilde das dritte Allgemeine, das im Satz des
zureichenden Grundes seine gültige Formulierung finde.
Ontologische Ordnung und Erkenntnisordnung laufen parallel: Wie das Wesen das
Wirken bedinge, und das Wirken der Wesen die Seinsordnung begründe, so
bedinge der Begriff das Urteil, das Urteil aber den Schluss. Dem Allgemeinen
entsprechen die Prinzipien; das materiale Prinzip, das Seiende an sich, und zwei
135
136
137
138
Vgl. Braig: Noetik 41-45, 48f.
Vgl. Sven K. Knebel: Art. Universalien I. Antike; Mittelalter, in HWPh 11, 179-187; Christoph Kann: Art. Universalien, Universalienstreit, in: LThK3 10, 416ff.
Braig: Noetik 173.
Ebd.
228
formale Prinzipien, die Einheit des Seienden und sein Sich-Unterscheiden. „Die
beiden letztern sind im ersten identisch, sofern das Wesen des Seienden sein
Sichauswirken ist im Unterschied von und im Zusammenhange mit allen andern
Seienden“139. Der Verstand sei habitus primorum principiorum, das
Erkenntnisvermögen des Begriffs und der zwei Denk- und Seinsgesetze, die das
Verhältnis des Wesens zu sich selbst und das Wechselverhältnis der Seienden
unter sich bestimmen.
Die Verstandeskraft ist also die rein formale Seite der Erkenntnis, sie ist
unabdingbar auf die Erfahrung der Sinne und des Selbstbewusstseins
angewiesen. Der Verstand will die Verhältnisse des objektiv Gegebenen
unterscheiden, er sucht die Gründe in der Dingwelt herauszufinden. Dem Inhalt
nach ist das Verstandeserkennen das System der Begriffe, die richtig gebildet und
zutreffend sind. So ist der Verstand seinem Inhalt nach „typisch“ für alles Wissen,
wie auch der Sinn, nur noch schärfer und bestimmter. Was der Analogie mit
eigenen Erlebnissen entbehrt, ist nicht vorstellbar, was keine Analogie mit der
Außenerfahrung durch die Sinne aufweist, ist nicht in Begriffe zu fassen, was aber
keine Analogie mit einem unserer Begriffe enthält, ist schlechthin unerkennbar.
Der Verstand kann materiell das Wissen nicht erweitern, sondern nur klären und
ausdeuten. Der Zuwachs an Erkenntnis bestehe darin, dass das Seinmüssen
eingesehen wird, die Verbindbarkeit und Zusammengehörigkeit, das GesetzlichNotwendige dargetan, das Apodiktische herausgestellt wird. Das Wissen wird
bereichert, insofern neue Unterscheidungsakte vollzogen werden, das bisher
Unbeachtete eines Dings beleuchtet wird.
1.5.4 Die Vernunft140
Die Vernunft gilt im alltäglichen Sprachgebrauch als Unterscheidungsmerkmal des
Menschen vom Tier. Wenn der Mensch animal rationale sei, stelle die Vernunft die
spezifische Differenz, das herausragende Merkmal des Menschen dar, um ihn von
einem Zustand der sittlichen Unzurechnungsfähigkeit, der geistigen Umnachtung,
der Unreife zu unterscheiden. In diesem Vernunftbegriff steckt das Moment der
Freiheit, die den Menschen befähigt, sich aus sich selbst zu bestimmen, die ihm
innewohnenden natürlich gegebenen Zwecke autonom sich zu eigen zu
machen.141 Vernunft werde zum sittlichen Charakter, wenn der Mensch dauernd
geübt sei in der Verfolgung des Seinsollenden. Vernunft unterscheide den
Menschen nicht nur vom Unvernünftigen nach unten hin, sondern auch nach oben
zum Übervernünftigen, dem Übernatürlichen, dem, was durch den Glauben erfasst
werde.
Was fehlt noch an der Erkenntnis durch Selbstbewusstsein, Sinn und Verstand?
Die Vernunft setze den Verstand als Anlage und Vollzug, Verständnis und
Verständigkeit voraus. Sie sei das Vermögen der Beurteilung und die Fähigkeit,
139
140
141
Braig: Noetik 175; vgl. Ontologie passim.
Vgl. Braig: Noetik 179-208.
Vgl. auch Braig: Logik 1.
229
den rechten Wertmaßstab anzulegen. Braig unterscheidet theoretische, praktische,
ästhetische und religiöse Vernunft, das Vermögen der Beurteilung auf
verschiedenen Feldern. Vernunft sei also nach Sinnlichkeit und Verstand eine
weitere Form des Erkenntnisvermögens. Die Einführung einer weiteren
Erkenntnisquelle neben dem Verstand sei der Überlegung verdankt, dass es die
unableitbare Erfahrung des Soseinsollens gebe, weil „[a]lles Soseinsollen [..] eine
Urbildlichkeit voraus[setzt], zu welcher sich die Wirklichkeit als noch nicht oder
noch nicht ganz soseiend verhält“142.
Die Betonung der Vernunft mit ihrer Fähigkeit, auch die obersten Sätze des
Wissens aufzuspüren, wehrt sich gegen eine „Heteronomie des Denkens, die
letztlich auch auf Willkür hinausläuft, [... den] sogenannte[n] Traditionalismus [...,
der] die höchsten philosophischen Wahrheiten, wie den Gottesgedanken, aus der
Vererbung und Ueberlieferung erklären will“143. Der erkenntnistheoretische
Traditionalismus, der vor allem Anfang des 19. Jahrhunderts in der katholischen
Theologie einen Weg aus der Sackgasse des Rationalismus heraus suchte, ging
von der Schwäche der menschlichen individuellen Vernunft aus, so dass
Erkenntnis der Ideen, vor allem die Gottes, nicht autonom, sondern allein durch die
Vermittlung einer Uroffenbarung über die Tradition erfolgen kann.144 Braig würdigt
zwar den richtigen Ansatz der Traditionalisten, die die Wichtigkeit der Sprache und
der Gedankenmitteilung durch das Wort unterstreichen, lehnt aber die
Überschätzung des erkenntnistheoretischen Autoritätsprinzips ab. Wieder ist die
Gefahr, dass man sich eines objektiven Kriteriums für die Beurteilung der
Glaubenswahrheiten begibt. Die Zuverlässigkeit von Autoritätszeugnissen
bemesse man doch vielmehr nach der Evidenz der eigenen Einsicht.145
Was also ist das Vernunftvermögen? Im Allgemeinen sei die Vernunft die
Fähigkeit, auf Grund der Sinneswahrnehmung und der Verstandesleistung die
Wesensformen der wirklichen Dinge anzuschauen, gegenüber der Erkenntnis aus
Sinn und Verstand, die lediglich die Gestalten des Wirklichen oder die Verhältnisse
am Wirklichen herausstelle. Erkenntnis sei damit ein unlösbares Ineinander von
Sinn, Verstand und Vernunft.
An jedem Erkenntnisvermögen können die Anlage, die Fähigkeit auf der einen und
die Tätigkeit, der ausführende Akt auf der anderen Seite unterschieden werden;
bezogen auf die Vernunft heiße das: Unterscheidung der Vernunftanlage als
Fähigkeit und des Einsehens als der vollzogenen Tätigkeit des Vernunfterkennens.
Entsprechend seien der Sinn, der Begriff und das Verständnis für etwas die
rezeptive Seite, die Aufnahmefähigkeit des Geistes für die Eigenschaften eines
Dings, während das wirkliche Erkennen das Suchen und Finden des
142
143
144
145
Braig: Natürliche Gotteserkenntnis 583.
Braig: Freiheit 44.
Vgl. Herman H. Schwedt: Art. Traditionalismus, in: LThK3 10, 159f.; der Grundgedanke
des Traditionalismus lautet nach Braig: „Der Einzelgeist ist unvermögend, die übersinnlichen Wahrheiten von sich aus mit Gewißheit zu erkennen; die Sondervernunft muß die
höhern Erkenntnisse erfahren, durch eine von außen wirksame Ueberlieferung in sich
aufnehmen; die Tradition ist der einzige Wahrheitsquell und mit ihrem Fundamente die
letzte Erkenntnißautorität“ (Braig: Noetik 69).
Vgl. Braig: Noetik 68-79.
230
dazugehörigen Subjektes sei. Zwischen Erkenntnissinn und Erkenntnisenergie,
zwischen Vermögen und Aktuierung müsse jeweils eine Verbindung hergestellt
werden, was durch die Bildungskraft der Seele geschehe: im Abbilden des
Wirklichen in der Seele für den Sinn, im Einbilden für den Verstand, im Vorbilden
der Ideen in der Vernunft.
Dabei gebe es ein veranlassendes und ein anleitendes Vermögen. Veranlassung
sei ein Gefühl für den Wert oder Unwert einer Betätigung oder Beruhigung der
Erkenntniskraft, Anleitung seien die notwendigen Prinzipien und allgemeinen
Ideen. Die Vernunft sei das Vermögen der Prinzipien und der Ideen, und dieses
Vermögen werde aktualisiert durch das „Vernunftgefühl“.
Sind diese Ideen nun fester Bestandteil der Vernunft im Sinne eines angeborenen
Inhalts, oder stammen die Ideen aus Abstraktionen, für die dann aber auch zu
fragen wäre, nach welchen Kriterien sie verliefen? Gerade auch hinsichtlich des
Problems der angeborenen Gottesidee, die im Denken J.E. von Kuhns eine große
Rolle spielt, ist die Frage nach dem Ideenbegriff im Verständnis Braigs interessant.
Nach Braig erfolgt die philosophische Bestimmung der Idee aus der Erkenntnis
heraus, dass kein Wissen zustande komme ohne das Idealisieren, das Nachbilden
und Einbilden einer Vorlage und des Maßstabes, der die Treue zwischen Ding und
Bild verbürge. Besonders drängend ist dabei die Frage, wie sich die Idee zum
Begriff verhält und wie sie entsteht. Jenseits der platonischen und kantischen
Unterscheidung möchte Braig eine eigene Differenzierung zwischen Begriff und
Idee einführen.
Der Begriff werde festgestellt, wenn das Wesentliche eines Gegenstandes
herausgehoben und in einem beharrenden Vorstellungsgebilde verbunden sei. Die
Begriffsbildung durchlaufe selbst mehrere Stufen. Der psychologische Begriff
werde durch den Geschmack normiert, der logische Begriff durch die
Naturbestimmtheit der menschlichen Gattung, wodurch man vom subjektiven zum
objektiven Urteil übergehe. Der ontologische Begriff orientiere sich an der
Naturbestimmtheit des Objekts, des Korrelates der psychologisch-logischen
Anschauung. Schließlich sei die Norm des noetischen Begriffs die Harmonie und
Einheit zwischen der Naturverfassung des Objekts und der des unterscheidenden
Subjekts. Diese genetische Realdefinition sei die Höhe des Begriffs, auf der die
Begriffsbildung zu ihrem Abschluss kommt.
Die Ideen dagegen seien die Naturanlage, durch die der Mensch befähigt sei, die
Begriffsbildung zu vollziehen. Sie seien die Urnormen für das Unterscheiden des
vernünftigen Geistes. In einem ersten Sinne seien die Ideen Ausstattungsstücke
des Geistes, durch die er sinnen-, verständnis- und erkenntnisfähig sei. In diesem
Sinne könne man die Ideen verstehen als Inbegriffe der Verständigkeit und
Vernünftigkeit des menschlichen Unterscheidungsvermögens. In einem zweiten,
reflexen Sinne bedeuten die Ideen ein Wissen des Menschen um seine
Verstandes- und Vernunftanlage. Dreifach sei dieses Wissen gegliedert: ein
Erkennen dessen, dass der Geist sei, wie er sei (rein ideales Wissen), ein
Anerkennen, dass das Wesen des Geistes so sein solle, ein Bekennen, dass das
231
Wesen des Geistes so sein müsse: idea docet, movet, delectat.146 So finden sich
vier Grundideen in unserer Vernunft:
1) die theoretische Idee an sich sei die logische Natur des Geistes, der Habitus
der Denkgesetze vor ihrer Anwendung auf Gegenstände. In einem zweiten
Sinne sei die theoretische Idee der Reflex unserer Verstandesverfassung. Auf
der theoretischen Idee ruhe das logische Ideal des durchgebildeten
Wahrheitsbaus, des gegliederten Begriffssystems der Erkenntnis.
2) Die ethische Idee sei die sittliche Natur des Geistes, sein Habitus der reinen
Moralprinzipien. Im zweiten Sinne sei sie der Reflex dieser Willensverfassung, das unmittelbare Wissen um die Unvereinbarkeit von Gut und Böse.
Dieser Idee entspreche das moralische Ideal.
3) Die ästhetische Idee an sich sei die künstlerische Natur des Geistes, im
zweiten Sinne das Wissen um die Unvereinbarkeit von Schön und Hässlich,
wofür das Fühlen maßgeblich sei. Dieser Idee entspreche das poetische
Ideal.
4) Die religiöse Idee sei die Bedingtheit des Menschen, seine Abhängigkeit und
seine Hinordnung auf das Vollkommene. Im zweiten Sinne sei die religiöse
Idee das reflexe Wissen um seine Abhängigkeit und Bedingtheit, was
wiederum die Idee des Unendlichen, die Gottesidee bedinge. Diese enthalte
a) den Gedanken von der Notwendigkeit einer ersten unbedingten Ursache,
b) das Verlangen des Willens nach dem höchsten Gut, c) die Beseligung des
Herzens im Genuss der mangellosen Vollkommenheit. In der religiösen Idee
wurzele das Ideal schlechthin, das Ideal des Absoluten.
Das Vermögen dieser Ideen werde aktualisiert durch die entsprechenden Gefühle,
die so ans Bewusstsein vermittelt werden. Durch das Wahrheits-, Sittlichkeits-, das
Schönheits- und das diese drei umfassende religiöse Gefühl werden die
entsprechenden Ideen bewusst. Die Offenbarungen durch die Gefühle geschehen
auf dem Weg des Lustgefühls, der Erhebung und Auslösung der jeweiligen
Gefühle, oder durch das Unlustgefühl, der Verletzung des jeweiligen Gefühls. Das
Lustgefühl weise das Vorstellen auf die Ideen hin als auf die Regulative des
Denkens, Wollens, Schaffens und Genießens. Die Verletzung der Gefühle weise
auf die Einheit der Ideen und das Untrennbare der Ideale hin. In dieser Unlust
werde noch deutlicher, dass die Verletzungen der Ideen Versündigungen am
Vernunftwesen selbst seien. Das Unsittliche, Unschöne und Unlogische sei
identisch mit dem Vernunftwidrigen. Am deutlichsten sei die Verletzung des
religiösen Gefühls. Die Gottesidee spreche sich am deutlichsten im Gewissen, im
Gottessinn des Menschen, im unfehlbaren Wertgefühl aus. Das Gewissen sei
Sehnsuchts- und Glücksgefühl, das ihm die Erkenntnis vermitteln solle, dass der
Mensch getragen sei von der Macht und Güte des Unendlichen, dass er von
dessen Wahrheit und Heiligkeit berührt, dass er zur Liebe des Unendlichen
berufen sei. Das Gewissen offenbare die Gebundenheit des Denkens an das
Wahrheitsgesetz, des Wollens an das Sinnengesetz, des Herzens an das
Schönheitsgesetz. Auch in Bezug auf die Dinge, die seinem freien Belieben
146
„Docere, movere, delectare“ – dies ist auch die von der klassischen Rhetorik vertretene
Aufgabenstellung.
232
entzogen seien, habe der Mensch ein „Gewissen“, etwa ein logisches,
mathematisches, ästhetisches Gewissen. Die beiden Grundforderungen des
Gewissens, „Du sollst!“ und “Du darfst nicht!“ seien die Naturgesetze des Geistes
in der Spiegelung seiner Vernünftigkeit. Dass dieses Gewissen ursprünglich
gegeben sei und nicht etwa durch Kondition erworben, mache deutlich, dass auf
eine Verletzung des Wahrheits-, Sittlichkeits- und Schönheitsgefühls „die Seele
des Kindes instinktartig, unwillkürlich und unabweislich reagirt. Ohne daß ein Kind
die Worte ‘Wahr, Gut, Schön’ gehört, jedenfalls bevor es deren Begriffe verstanden
hat, fühlt es sich unglücklich, mißmuthig, verstimmt über erfahrene Täuschung,
Beschädigung, Beschimpfung“147. Insofern seien die Ideen angeboren.
Das Was, der Stoff, auf den die Vernunftnormen anzuwenden seien, komme
dagegen nur aus der Erfahrung. Die Ideen selbst als Urnormen des menschlichen
Unterscheidungsvermögens geben uns nur Allgemeines zu erkennen, den
Unterscheidungsmaßstab für Gut und Böse, Richtig und Falsch, Schön und
Hässlich, Heilig und Profan. Auch gegen die falsche Auffassung, es gebe
angeborene Ideen im menschlichen Geist im Sinne konkreter Inhalte, betont Braig,
dass man zwar durchaus von einer „angeborenen Idealität“ des Geistes sprechen
könne, da den Maßstab für die Beurteilung eines Satzes als eines der allgemeinen
Wahrheit entsprechenden der Geist aus sich selbst schöpfe.148 Gegen die
Annahme von angeborenen Ideen im Sinne etwa der Platoniker oder der Kritizisten
betont er aber auch, dass die Idee nicht etwas sei, das gewusst werde, sondern
etwas, wonach und wodurch etwas gewusst werde. „Die Ideen sind die
Musterweisen, wie Sinn, Verstand und Vernunft die Denk- und
Erkenntniswerkzeuge handhaben müssen, um richtiges und wahres Wissen zu
erzielen“149. Die Vernunft sei das Vermögen der Ideen, sofern sie formal für das
Richtige und Schöne, material für das Wahre und Gute, formal und material für
Gott veranlagt sei. Erst im zweiten, reflexiven Sinne werden die Ideen
Erkenntnisgegenstände. So bilde nicht etwa die Gottesidee in der menschlichen
Vernunft den Nerv des Gottesbeweises, sondern der Schluss aus der Tatsache,
dass die Vernunft ideal ausgestattet und für das Ideale veranlagt sei, auf einen
entsprechenden Urheber. Weiter unten soll deutlicher werden, worin sich diese
Fassung der Idee, insbesondere der Gottesidee, von der etwa Kuhns
unterscheidet.150 Für Braig entwickelt sich diese so: Der Mensch frage nach dem
Grund der immanenten Gegebenheit der unabweisbaren Ideen. Es „gebietet uns
die Kausalität des Geistes, das Wahre, das Gute, das Schöne auf ein wahr, gut ,
schön (heilig) Seiendes zu begründen. Sofern dieses [...] absolut gefaßt werden
muß, nennen wir es die Idee des Göttlichen. Die Gottesidee ist gewissermaßen die
147
148
149
150
Braig: Gotteserkenntnis 580f.
Vgl. Braig: Noetik 81-89.
Braig: Noetik 202; die Idealität des menschlichen Erkennens bringt Braig in Verbindung
mit dem scholastischen Grunsatz: Cognitum in cognoscente per modum cognoscentis
(vgl. Braig 1883e, 705).
Vgl. unten Abschnitt 3.1 Die angeborene Gottesidee. Die Gottesidee ist ein Moment,
das für die ganze Tübinger Schule charakteristisch ist (vgl. Scheffczyk: Tübinger Schule
97).
233
metaphysische Einheit der Vernunftideen im Geiste“151. Gegen eine
intuitionistische Gotteserkenntnis betont Braig aber mit Nachdruck: „Wie es aber
mit dem objektiven Sein und Inhalte dieser Idee beschaffen, was Gottes Wesen,
wo sein Walten, wievielfach seine Zahl sei, all’ das vermag ich schlechterdings
durch die bloße Idee nicht zu erkennen. Als oberster Wissenskeim ist sie mir
angeboren; die Gotteserkenntniß als die Summe der an der Hand der Erfahrung zu
beweisenden und zu entwickelnden Merkmale des Gottesbegriffes ist schlechthin
vermittelt“152.
Gleichwohl betont Braig, „daß es im Wesen der Vernunft selber gelegen ist,
innerhalb ihrer Naturgrenzen sich lange nicht zufrieden zu geben, sondern über
dieselben ‘hinauszuahnen’“153.
Auch bei der Behandlung der Vernunft wird deutlich, wie Braig zwischen Extremen
zu vermitteln versucht. Die formale Bedingung der Möglichkeit des Erkennens ist
im Menschen selbst gegeben, das Material aber kann ausschließlich aus der
sinnlichen Anschauung gewonnen werden.
1.5.5 Die äußere Wahrheitsquelle: die Autorität154
Mit der Frage nach der Wahrheitsvermittlung aufgrund von Autorität betritt man ein
Gebiet, das ganz offensichtlich eng mit der Theologie verbunden ist. Wenn man
heute fragt, ob der christliche, oder allgemein religiöse Glaube in einer
philosophischen Erkenntnislehre Raum findet, dann ist man sich bewusst, dass
dies nicht die einzige Frage ist, die an eine Verhältnisbestimmung von
Wissenschaft und Glaube gestellt werden sollte. Der theologale Glaube reduziert
sich ja nicht auf sein Erkenntnismoment. Für Braig war dies gleichwohl
entscheidend.
Carl Braig unterscheidet zwischen einem inneren und einem äußeren Erkennen.
Das innere Erkennen, das sich durch die Sinne, den Verstand und die Vernunft
vollziehe, sei das Wissen. Das Wissen sei gekennzeichnet durch verschiedene
Merkmale, wie die Intentionalität des Bewusstseins, die Auffassung des
Bewusstseinszustands durch den Träger dieses Bewusstseins, die Eindeutigkeit
dieser Auffassung, schließlich die Eigeneinsicht des Bewusstseinsträgers. Der
Mensch sei aber nicht nur dieser inneren, subjektiven Erkenntnismittel fähig,
sondern er könne auch anderen von seinem Wissen mitteilen und von anderen
Wissen empfangen. Nur bei ihrem ersten Urheber müsse dieses Wissen auf
sinnenfällige, verstandes- und vernunftgemäße Weise entstanden sein, bei allen
Weiteren gehe es nur um die Vermittlung des Inhalts, ohne dass das erkennende
Subjekt alle Erkenntnismittel anzuwenden brauche. Dieses Aufnehmen von
151
152
153
154
Braig: Gotteserkenntnis 589.
Ebd. 590f.
Braig 1880a, 175; für Michael Glossner ist die Ablehnung des Gottesbeweises aus der
Gottesidee bei Braig nicht konsequent; sein Vergleich zwischen den Konzeptionen der
Gottesidee bei Kuhn und Braig findet keinen wesentlichen Unterschied (vgl. Glossner:
Braig, Abriß der Noetik 206-209).
Vgl. Braig: Noetik 208-216.
234
Erkenntnis aufgrund fremder Mitteilung, aufgrund von Autorität, werde „Glauben“
im formalen Sinne genannt. Glauben sei das Zustimmen zu einer Vorlage, die von
einer Autorität, die sich als glaubwürdig erwiesen habe, kundgegeben sei. Dies ist
die alte augustinische Auffassung des Glaubens als cum assensione cogitare.
Die Vernünftigkeit dieses Glaubens gründe sich auf einer Doppelreihe von
Gründen: im empfangenen Subjekt liege sie in der Naturgemäßheit und
Notwendigkeit des Glaubensaktes. Der Mensch ist auf Vermittlung von
Glaubensinhalten angewiesen, über die er sich Gewissheit nicht selbst verschaffen
kann. Im mitteilenden Subjekt seien das rechte Wissen und Wollen, die Logik und
die Ethik klarzustellen. Hinsichtlich des Glaubensobjektes, also der vermittelten
Inhalte, sei die innere Verträglichkeit der Glaubenssätze zu überprüfen, ihre
Verträglichkeit mit erkannten Wahrheiten, ihre Tatsächlichkeit. Diese letztgenannte
„Metaphysik des Glaubens“ sei die Aufgabe der Theologie als
Glaubenswissenschaft, die nach Möglichkeit das Glauben in Wissen überzuführen
habe. Was Braig hier dichtgedrängt als das Programm einer wissenschaftlichen
Theologie vorführt, bietet Stoff zur Diskussion. Einmal wird der Glaube als ein
defizienter Erkenntnismodus hingestellt, der nach Aufhebung im Wissen drängt.
Daraus ergibt sich die Motivation der Theologie. Zu bedenken ist hier auch, wie
Braig die Untersuchung dreier Momente als gleichwertig nebeneinander ordnet. So
sehr die beiden letzteren Elemente, die Frage nach der Glaubwürdigkeit der
Zeugen und der Wahrheit des Materials in Braigs Apologetik eine Rolle spielen, so
sehr bleibt doch das Anliegen einer Immanenzapologetik, die Frage nach der
Empfänglichkeit
des
empfangenden
Subjekts
für
die
mitgeteilten
Glaubenswahrheiten, unterbelichtet, was dann etwa bei Herman Schell und
Maurice Blondel so wirkmächtig werden sollte.155
In zwei Fällen vor allem sei der Mensch auf die fremde Hilfe beim
Zustandekommen von Erkenntnis angewiesen, nämlich bei zeitlich und räumlich
Entferntem. Gegenstand des Glaubens seien tatsächlich und am Anfang alle
Dinge, weil der Mensch nur durch Lernen zur Erkenntnis gelange. Es gebe
Wahrheiten, über die der Mensch sich selbst Gewissheit verschaffen kann, die
Sinnen-, Verstandes- und Vernunftwahrheiten. Hierbei dürfe der Glaube nur ein
anfängliches Kenntnisnehmen sein, er müsse zum Wissen anleiten, dürfe dieses
aber nicht ersetzen. Es gebe aber auch Erkenntnisse, die dem Menschengeist
nicht erfassbar seien, die so genannten übernatürlichen Wahrheiten, wie
Mysterien, theologische, positive Dogmen. Die Gedanken des Unendlichen über
sich selbst seien, wenn er sie dem Geschöpf mitteilen wolle, nach Ursprung und
Inhalt Offenbarungen Gottes, die nur durch das Kenntnismittel des Glaubens
aufgenommen werden können. Die natürliche Voraussetzung des übernatürlichen
Glaubens sei die philosophische Erkennbarkeit von Gottes Dasein und die
historische Erkennbarkeit der Tatsache der göttlichen Offenbarung. Ersteres werde
durch das innere Erkennen gewährleistet, letzteres durch das Erkennen aufgrund
äußerer Autorität.
155
Vgl. dazu Joseph Doré: Art. Immanenzapologetik, in: LThK3 5, 430ff.; zu Maurice Blondel (1861-1949) vgl. LThK3 2, 528f.
235
Zwischen den rein vernünftigen und den rein übernatürlichen Wahrheiten stehen
die Geschichtswahrheiten im umfassenden Sinne, für deren Erkennen der Glaube
das einzige Mittel ist. Abgesehen von einer philosophischen Betrachtung, etwa in
einer Auffassung der Geschichte als einheitlichen Plans des einen Welturhebers,
sei die Historie nach Form und Gegenstand eine positive, kritische, induktive
Wissenschaft.
Gerade hier bei der Behandlung der äußeren Wahrheitsquelle wird angesichts der
Vielschichtigkeit der Momente, die Braig berücksichtigt, sehr deutlich, wieviele und
welche Impulse von hier für die Theologie hätten ausgehen können, wenn die Zeit
danach gewesen wäre.
1.6 Der Irrtum und die Grenzen der Erkenntnis156
Zu einer Erkenntnistheorie gehört auch eine Diskussion über die Möglichkeit einer
irrenden Erkenntnis und die Grenzen des Erkennens, gerade auch in dem apologetischen Kontext, in dem die Philosophie Carl Braigs zu stehen kommt. Hatte
nicht gerade die kantische angeblich zu enge Grenzziehung der Möglichkeiten der
reinen Vernunft die verschiedenen „Modernismen“ auf den Plan gerufen? Und ist
ein Irrtum, gerade auch in dieser Frage, allein auf die Neuerungssucht und den
Stolz der Irrenden zurückzuführen, wie es etwa die Enzyklika „Pascendi“ nahezulegen scheint?157
Braig unterscheidet zunächst formale und materiale Irrtumsquellen. Die formale
Seite des Irrtums betreffe die Zusammen- oder Entgegenstellung von Subjekt und
Prädikat, die richtig oder unrichtig sein könne. Die materiale Seite bestehe in dem
Inhalt des Subjekts- oder Prädikatsbegriffes, in dem ein Irrtum stecken könne.
Formale Irrtümer seien die Denkfehler, die in der Logik behandelt werden. Die materialen Irrtumsquellen seien die Erkenntnisfehler, die wiederum unterschieden
werden in theoretische und praktische, je nachdem ob sie auf dem Gebiet des reinen Erkennens oder dem des Wollen und Handelns anzutreffen seien.
Die Möglichkeit des Irrtums liege nicht im Erkenntnisvermögen selbst beschlossen.
Ein Wesen, das mit seiner Bestimmtheit zum Wahren immer zugleich auch dem
Falschen ausgesetzt wäre, wäre ein ontologischer Widerspruch, eines, dessen Natur sich widersprechende Eigenschaften besäße. Dies würde den Begriff der
Wahrheit und der Erkenntnisfähigkeit zerstören. Die genaue Untersuchung von
Möglichkeit und Bedingungen des Irrtums bieten auch Handhabe gegen den Skeptizismus.
Der wirkliche Grund für die Möglichkeit des Irrens bestehe in der Beschränktheit
der Erkenntniskraft, entweder außerhalb des Erkenntnisvermögens in einer anderen Beschaffenheit der Menschennatur, oder außerhalb des Menschen in den Umständen seiner Umgebung. An sich nämlich könne weder das Selbstbewusstsein
an sich und im ersten Akt sich über sich selbst täuschen, noch gebe es eine Sin-
156
157
Vgl. Braig: Noetik 216-224, 241-255.
Vgl. Pii X. Epistola 88.
236
nestäuschung, eine Verstandestäuschung, eine Vernunfttäuschung im ersten Akt
und an sich.
Unser Wissenwollen könne seinen Zweck verfehlen wegen der Unvollkommenheit
des begrenzten Erkenntnisvermögens. Innerhalb des erkennenden Subjektes unterscheidet Braig zwischen verschiedenen Irrtumsquellen, nämlich der Blindheit
des Geistes, dem Mangel an logischer Schärfe, der Untreue des Gedächtnisses,
dem Hang des Denkgeistes zu Einseitigkeiten, der Neuerungssucht, der Vorliebe
für das Vergangene, weiter der Verkehrtheit des Willens, dem verderbten Herz.
Außerhalb des Erkennenden biete die Autorität vielfachen Anlass, den an sich belehrbaren und glaubenswilligen, ja auf den Glauben notwendig angewiesenen
Menschen in den Irrtum zu stürzen.
Veranlasst werden irrige Urteile durch ungenügendes Unterscheiden, so dass ein
Urteil anders vorgenommen wird, als es der Tatbestand gebietet.
Unwissenheit, Irrtum und Zweifel offenbaren die Begrenztheit des menschlichen
Erkenntnisvermögens. Einerseits sei die Tatsache der Erfahrung des Irrtums ein
Beweis für die Ungültigkeit der materialistischen und idealistischen Anschauung,
nach der Schranken des Erkennens geleugnet werden, weil einerseits die durch
und durch erkennbare Materie das einzige Wirkliche sei, weil andererseits der
Menschengeist in seiner Vollendung als Inbegriff alles Seienden vorgestellt werde.
Wichtiger aber ist es Braig, die wirklich vorhandenen Grenzen des Erkennens richtig zu ziehen. Braig spricht von der „Typik“ des Selbstbewusstseins, der Sinnlichkeit usw. und meint damit, dass Erkenntnis nur dann gegeben sein könne, wenn
etwas nach Analogie der verschiedenen Erkenntnisorgane erscheine. Was etwa
keine Entsprechung zu irgend einem Sinnenfälligen besitze, könne nicht vorgestellt
oder benannt werden. Jede Erkenntnisquelle habe ihre Grenzen, die nach oben
durch die Vernunft mit ihrer Auslegung der reinen Ideen markiert ist. Dabei bleibt
die Vernunfterkenntnis immer auf das Material angewiesen, das ihr von den Sinnen zugeführt wurde. Braig hält es für unmöglich, dass der Mensch jemals das
Wesen von Stoff und Kraft, den Ursprung der Bewegung, die Entstehung des bewussten Empfindens oder der Willensfreiheit aus mechanischen und dynamischen
Voraussetzungen erkenne.158 Die Grenzen der Erkenntnis werden auch dadurch
deutlich, dass jeder für die Entstehung von Erkenntnis auf die Beihilfe anderer angewiesen ist; auch sei es unmöglich, dass der Mensch sich selbst durch und durch
erkenne.
Die Grenzen des Erkennens haben nicht die Bedeutung, dass es neben dem Erkennbaren auch schlechthin Unerkennbares geben könnte. Der braigsche Seinsbegriff ließe das nicht zu. Alles was ist, sei prinzipiell unterscheidbar, denkbar,
fassbar. Was nicht denkbar sei, sei überhaupt nicht, sei das Nichts.159 Braig zeigt
sich skeptisch gegenüber dem Wissensfortschritt der Menschheit, gerade aufgrund
der individuellen Grenzen des Erkennens.
Ein Wissen um das Transzendente jenseits der Erkenntnisgrenzen ist gegen die
Annahmen des Agnostizismus möglich, weil es ein Wissen um ein Dass, um die
Möglichkeit eines Seienden sei, und nicht das Begreifen der Wirklichkeit und We158
159
Vgl. auch „Die Grenzen des Naturerkennens“ in: Braig: Apologie 114-146.
Vgl. weiter unten Abschnitt 2 Vom Sein.
237
senheit dieses Seienden. Das Anerkennen der Grenzen mache den positiven
Atheismus unmöglich, denn dieser müsste die Unmöglichkeit der Existenz Gottes
beweisen können. Andererseits sei die Möglichkeit der Existenz Gottes philosophisch nachweisbar, und auch das tatsächliche Dasein Gottes sei beweisbar. Die
Tatsächlichkeit der Offenbarung dieses Gottes müsse dagegen historisch festgestellt werden.
Braig bietet hier eine ausgearbeitete Begründung seines theologischen Wirkens
auf der Grundlage einer philosophischen Erkenntnislehre.
Die Grenzen des Erkennens bilden nach Braig also kein Hindernis, und das sei an
dieser Stelle festgehalten, wesentliche Inhalte des Glaubens durch Verstandesund Vernunftkraft einzusehen, und damit ein objektives Kriterium für die Wahrheit
dieses Glaubens in der Hand zu haben.
1.7 Zusammenfassung: Erkenntnistheorie als apologetische Hilfswissenschaft
Die ausführliche Darstellung der verschiedenen Momente und Akzente in der philosophischen Erkenntnistheorie Carl Braigs hatte die Absicht, den mehr oder weniger unmittelbaren Zusammenhang dieser Theorie mit dem apologetischen Grundzug des braigschen Denkens deutlich zu machen. Wie reagiert Braig auf die erkenntnistheoretischen Irrümer der „Modernisten“ bzw. von welcher philosophischen
Grundlage geht er aus, diese Irrtümer zu widerlegen? Zusammenfassend ist zunächst die hohe Komplexität zu würdigen, das wirklich an die ersten Voraussetzungen gehende Denken, das dem christlichen Glauben den Weg bereiten will.
Braig verarbeitet verschiedenste Gedanken, um zu einer organischen Erkenntnistheorie zu gelangen. Die Bedeutung des Selbstbewusstseins für das menschliche
Erkennen stellt er ebenso heraus wie den Ausgang alles Erkennens bei der sinnlichen Erfahrung, das Erkennen nach Ideen genauso wie die Grenzen der menschlichen Erkenntnis. Folgt man Braig in seiner philosophischen Darlegung, so wird
man überzeugt, dass der menschliche Geist grundsätzlich zur Gotteserkenntnis
fähig sei, dass die Vernunft objektiv über Inhalte des christlichen Glaubens urteilen
könne. Damit ist die Möglichkeit von vernunftmäßiger Begründung des Glaubens in
Fundamentaltheologie und Apologetik dargetan.
Trotz der anspruchsvollen, möglichst alle Momente berücksichtigen wollenden
Theorie ergeben sich gewisse Einseitigkeiten, die man aus heutiger Perspektive
anders gewichten würde. Wenn Braig etwa für die menschliche Erkenntnis das
Ideal der mathematischen Erkenntnis hochhält, die Erkenntnis der logischmathematischen Gliederung am Denkgegenstand,160 dann stellt sich die Frage, ob
diese Auffassung etwa angesichts des Bewusstseins für die Geschichtlichkeit
sprachlicher Aussagen noch diese Geltung beanspruchen kann. Oder warum konzentriert sich Braig in seiner Apologetik so sehr auf die äußeren Beweise für den
160
„Der eminente Theil des Denkens und seine reinste Form ist das Rechnen“ (Braig
1885a, 26).
238
Glauben, wenn doch von seinem erkenntnistheoretischen Ansatz her die Rolle des
Subjekts für jeden Erkenntnisprozess eine so gewichtige Rolle spielt?
Ist in der Erkenntnistheorie die subjektive Seite des Erkenntnisaktes untersucht,
muss nun die objektive Seite, das Seiende nach Wirklichkeit und Wesenheit betrachtet werden. Lässt sich von seiner Beschaffenheit aus mit den Mitteln des
menschlichen Erkenntnisvermögens auf eine transzendente Wirklichkeit Gottes
schließen?
239
2
Vom Sein
2.1 Carl Braig und die Theologie seiner Zeit
2.1.1 Die Neuscholastik
Nachdem es im 19. Jahrhundert zahlreiche theologische Aufbrüche gegeben hatte,
die Anstöße des säkularen Denkens, wie es besonders in der zeitgenössischen
Philosophie und dem immer stärker werdenden historischen Bewusstsein sich niedergeschlagen hatte, aufnehmen wollte, und nachdem viele dieser Aufbrüche an
den Klippen des Lehramtes zerschellt waren, versuchte man zusehends, an die
Philosophie und Theologie der „Vorzeit“ anzuknüpfen, an die Scholastik, mit deren
Hilfe man den als zerstörerisch erachteten Einfluss der Reformation und der aus
ihr angeblich entsprungenen subjektivistischen und rationalistischen Strömungen,
die schließlich in Aufklärung und Französischer Revolution gemündet hatten, zu
hintergehen versuchte.
Bereits die Texte des Ersten Vatikanums (1869/70) lassen den großen Einfluss
neuscholastischer Theologie erkennen, erst 1879 aber, mit der programmatischen
Enzyklika „Aeterni Patris“ Papst Leos XIII., erreichte die Neuscholastik durch die
Festlegung aller Theologen auf die Lehre des Thomas von Aquin ihre relative Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Nach Vorstellung des Papstes sollte die Neuscholastik, hier besonders der Neuthomismus, die denkerische Basis für die Errichtung einer christlichen Gesellschaft abgeben, zu welchem Zweck die katholischen
Lehranstalten gegen Ende des 19. Jahrhunderts faktisch gleichgeschaltet wurden
und die katholische philosophische und theologische Literatur fast ausschließlich
neuscholastisch ausgerichtet war.181 Inhaltlich bedeutete dies, dass man die Möglichkeit einer wahren katholischen Theologie und Philosophie nur im Rückgang auf
die klassische Tradition der Kirche gewährleistet sah, insbesondere auf die des 13.
Jahrhunderts. Philosophie wäre demnach nur als ancilla theologiae zu akzeptieren,
die sich dem kirchlichen Lehramt unterzuordnen habe. Ein wesentlicher Grundzug
dieser Neuscholastik war demgemäß auch ihre Ablehnung der neuzeitlichen Philosophie und des modernen Geisteslebens, das sie als einen durch den Protestantismus verursachten Irrweg ansah. Damit zusammenhängend betrachtete sie die
menschliche Natur nur im Licht der Errettung durch die Gnade, so dass weltlicher
Eigenstand nicht gewürdigt wurde. Weil Leo XIII. die Neuscholastik nicht einfach
zur Rekapitulierung zu Zwecken der katholischen Apologetik verordnet hatte, sondern dazu einlud, das Alte durch das Neue fruchtbar zu machen, zu erweitern und
zu vervollkommnen, war dieses Programm allgemein akzeptabel.182
181
182
Vgl. Peter Walter: Art. Neuscholastik, Neuthomismus, in: LThK3 7, 779-782.
Vgl. Heinrich M. Schmidinger: „Scholastik“ und „Neuscholastik“ – Geschichte zweier
Begriffe, in: Coreth: Christliche Philosophie 2, 23-53, hier 50f.
240
Zur Zeit der Wirksamkeit Carl Braigs machte sich zudem immer mehr der intolerante Charakter vieler neuscholastischer Theologen bemerkbar, die abweichende
Meinung rigoros bekämpften, und dies nicht erst in der Auseinandersetzung um
den Modernismus. Gerade auch die Tübinger Schule, aus der Braig entstammte,
als einer von Spätaufklärung, Romantik und Deutschem Idealismus beeinflussten
theologischen Richtung, war in den Augen vieler ausschließlich an Thomas orientierter Theologen verdächtig. Es nimmt daher nicht wunder, dass auch Braig gerade in dieser Hinsicht kritisch beäugt wurde.183
Wir haben Braig nicht nur im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den
„Modernismus“ als einen streitbaren Theologen kennen gelernt. Gleichwohl kann
man den verschiedenen Streitigkeiten, die er führte, nicht die Bedeutung zumessen wie etwa denen seines Lehrers Kuhn. Vielleicht war auch die Zeit vorbei, in
denen Diskussionen von der Tragweite derer zwischen Kuhn und Clemens um die
Autonomie der Philosophie und der Profanwissenschaft oder der zwischen Kuhn
und Schäzler um die Gnadenlehre geführt werden konnten, ohne dass eine der beteiligten Parteien Schiffbruch erleiden musste. Braigs Polemik gegen Paul von
Schanz war zu offensichtlich von persönlichen Ressentiments getragen, als dass
sie weitere Wellen schlagen konnte.184 Es ist auch keine Antwort Schanz’ auf die
Angriffe Braigs bekannt. Eine andere strittige, schon eher inhaltliche Frage war die
nach der Zahl der möglichen Gottesbeweise. Braig hatte in seiner Schrift „Gottesbeweis oder Gottesbeweise?“ die Ansicht vertreten, es gebe nur einen einzigen
solchen Beweis. Dies vertrat er ausdrücklich gegen Constantin Gutberlet, der sich
dann auch ausführlich zu Braigs These äußerte.185 Bei der Diskussion um den
braigschen Gottesbeweis weiter unten soll diese Auseinandersetzung näher beleuchtet werden. Diese relativ unspektakuläre Frage wird von Braig ausdrücklich
als eine solche benannt, die vom Lehramt nicht entschieden sei und daher der
Diskussion von Theologen offen stehe.186
Besonders ein Mann hat jahrelang eine Polemik gegen Braig geführt, die sich tiefgehend mit dessen philosophischer Lehre auseinandersetzte und ihr nachzuweisen versuchte, dass sie im Letzten am Dogma scheitern werde. Carl Braig konnte
trotz seiner zumindest scholastikkritischen Einstellung unbehelligt weiter lehren,
die streitbaren und scharfen Angriffe eines Michael Glossner haben ihn aber dennoch sicher nicht in Ruhe gelassen.
Der dezidierte Neuthomist veröffentlichte in den Jahrgängen 15 bis 17 (1901ff.)
des von seinem Freund und Mitstreiter Ernst Commer herausgegebenen „Jahrbuchs für Philosophie und spekulative Theologie“ eine Abhandlung in vier Fortsetzungen über „Die Tübinger katholisch-theologische Schule, vom spekulativen
Standpunkt kritisch beleuchtet“. Behandelt wurden Johann Sebastian Drey, „der
Apologet“, Johann Evangelist Kuhn, „der Dogmatiker“, Franz Xaver Linsenmann,
183
184
185
186
Vgl. die Querelen um die Neubesetzung des Münsteraner dogmatischen Lehrstuhles
1892/93 (siehe oben Erster Hauptteil: Das Leben von Carl Braig, Abschnitt 4 Als Stadtpfarrer von Wildbad).
Vgl. Braig: Gottesbeweis passim.
Vgl. Constantin Gutberlet: Gottesbeweis oder Gottesbeweise?, in: Philosophisches
Jahrbuch 1 (1888) 369-395.
Vgl. Braig: Modernismus und Freiheit 51.
241
„der Moralist“, und schließlich die „Epigonen (Dr. Schanz, Dr. Braig, Dr. Schell)“.187
In dieser letzten Folge fasste Glossner zusammen, was seiner Ansicht nach an der
braigschen Philosophie irrig sei.
2.1.2 Carl Braig und die Neuscholastik
Auch wenn Braig nach 1883, nach seinem Weggang von Tübingen, auf gewisse
Distanz zur Tradition der Tübinger Schule geht, so heißt dies nicht, dass er kritikloser Anhänger eines wie immer gearteten Thomismus wird. Seine von der Tübinger
Tradition unterstützte Nähe zur modernen Philosophie bleibt und auch seine kritische Distanz zu gewissen Lehren seiner neuscholastischen Kollegen. Diesen Abstand stellt namentlich auch die erste größere Veröffentlichung Braigs her, die sich
mit der „Natürlichen Gottererkenntniß nach dem hl. Thomas v. Aquin“ beschäftigt.
Hier hebt der Verfasser die Punkte hervor, die ihn zu einem Kritiker der Scholastik
machen. Von wesentlichen Punkten dieser Kritik weicht Braig, wie wir sehen werden, auch in späterer Zeit nicht ab, wenn auch damit zu rechnen ist, dass die Ausführungen aus der frühen Zeit davon beeinflusst waren, eine Nähe zu seinen theologischen Lehrern, namentlich zu J. E. von Kuhn, herzustellen.
1) Das Denken der Scholastik habe ein Interesse am Allgemeinen, Objektiven und
Gattungsmäßigen, was auf Kosten der Berücksichtigung des Individuellen gehe.
Das Individuelle des Menschen sieht Braig im dunklen Seelengrund verwurzelt,
dem Sprache und Denken entwachsen, hinter den Sprache und Denken aber nicht
zurückkommen. Daher bleibe dieses „Vorbewußtsein“ unbegriffen; dazu bleibe es
aber in der Scholastik auch völlig unbeachtet, außer in den aus der platonischen
Tradition übernommenen Vorstellungen von der scintilla animae der Mystik und der
synteresis der Moraltheologie. In der einseitigen Konzentration auf die Dialektik
sieht Braig den Grund für das Übermaß an „abstrakten Verstandesdistinktionen“188,
worin ja auch ein von höherer Stelle eingeräumter Mangel besteht.189
Gerade dadurch, dass die geistige und innerliche Sprache beispielsweise der Mystik eine so große Vieldeutigkeit und einen solchen Beziehungsreichtum an den
Tag lege, zeige sie, dass „sprachliche Uebereinstimmung sich nicht als mathematisch exaktes Wahrheits-Kriterium Geltung verschaffen“190 könne, und dies um so
187
188
189
190
Michael Glossner: Die Tübinger katholisch-theologische Schule, vom spekulativen
Standpunkt kritisch beleuchtet. I. Drey, der Apologet; II. Kuhn der Dogmatiker; III. Linsenmann, der Moralist; IV. Die Epigonen (Dr. Schanz, Dr. Braig, Dr. Schell), in: Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie XV (1901), 166-194; XVI (1902), 1-50;
309-329; XVII (1903), 1-42.
Braig: Gotteserkenntnis 513.
Vgl. DH 3140: „[S]i quid enim est a Doctoribus scholasticis vel nimia subtilitate vel parum considerate traditum [...] id nullo pacto in animo est aetati nostrae ad imitandum
proponi“.
Braig: Gotteserkenntnis 514.
242
weniger, je tiefer man den unerschöpflichen individuellen Seelengrund erkennen
wolle.191
Schon hier lässt sich sagen, dass diese Kritik an der Vernachlässigung des individuellen Momentes auch ein Punkt ist, an dem schon Duns Scotus und mit ihm seine im Franziskanerorden verwurzelte Schule einen anderen Akzent gesetzt hatte
mit der Annahme eines über die spezifische Wesensform hinausgehenden, diese
konkret-individuell fortbestimmenden Seinsprinzips, der wie auch immer bestimmten „haecceitas“.192 Trotz seiner Betonung der Individualität bestimmt Braig aber
später den Geltungsbereich des mathematischen Erkenntnisideals weiter, um ein
eindeutiges Kriterium für die Wahrheit einer Erkenntnis in der Hand zu haben.
2) Der zweite Unterschied bestehe in der Einschätzung des Gewissheitsgrades der
Vernunfterkenntnis, das heißt der Erkenntnis der Welt des Idealen, „das anzuerkennen die Vernunft durch ihr selbsteigenes Kausalitätsprinzip genöthigt wird“193.
Die Evidenz des Verstandes, das Merkmal der mathematischen Wahrheit, ihre Einfachheit, Fasslichkeit, logische Folgerichtigkeit, reiche nicht hin für die Sphäre der
höheren Wahrheit, die Spekulation. Die Vernunft habe für ihre Erkenntnis ein eigenes, wenn auch nur negatives Kriterium zur Hand. Die Scholastik aber habe für die
höhere Vernunfterfahrung auch nur Klarheit und Einfachheit gefordert. Braig geht
es darum zu zeigen, dass die Vernunfterfahrung, das Wahrnehmen der obersten
Wahrheiten nicht mit derselben Evidenz erfasst werde wie deduktive Wahrheiten,
weil jene diesen vorausliegen, weil diese jene notwendig voraussetzen. Es sei dabei nichts gesagt über den Wert der jeweiligen Art der Evidenz, nur über ihre Verschiedenheit, die anerkannt werden müsse, um vorschnelle Gewissheiten zu vermeiden.194
Diesen Punkt wird Braig in dieser Weise nicht aufrecht erhalten. Zwar betont er
neben dem Verstand die Existenz einer weiteren geistigen Instanz in der Vernunft,
nicht aber mehr in dem Sinne, dass sie eine eigene Erfahrung und Erkenntnis neben der des Verstandes generiere, sondern immer nur mit ihm.195
3) Das dritte Unterscheidungsmerkmal zwischen der „Philosophie der Vorzeit“ und
der der Moderne benennt Braig als einen Unterschied der Methode. Die Scholastik
gehe eher deduktiv vor, gemäß ihrem Standpunkt, der von der absoluten Harmonie
von Wissen und Glaube ausgehe. So werden bei Thomas – Braig zufolge – der
theologische und der philosophische Stoff zusammen behandelt, unter dem einen
höheren Gesichtspunkt, dem transzendenten Konvergenz- und Einheitspunkt der
theistischen Metaphysik und christlichen Theologie, von dem aus alles synthetisiert
werde. Alles nehme Bezug auf das Höchste. Dies mache es den Modernen, die ja
in der Philosophie von der innerweltlichen Gegebenheit induktiv ausgehen, schwer,
unter Absehung der „Hypothese Gott“ die verschiedenen Materien zu unterscheiden, die in der Scholastik als zwar unterschiedene, aber doch ungeschiedene ne191
192
193
194
195
Vgl. ebd. 513f.; Braig bemängelt die „gemüthlose Dialektik“ der Scholastiker gegenüber
dem „harmonische[n] Zusammenwirken von Gemüth und Verstand in Augustins Denkrichtung“ (Braig 1883a, 280).
Vgl. Coreth: Schulrichtungen 405f.
Braig: Gotteserkenntnis 515.
Vgl. ebd. 514-518.
Vgl. Braig: Noetik 179-308 und oben Abschnitt 1.5.4 Die Vernunft.
243
beneinander stehen.196 Braigs Anspruch einer induktiven Philosophie lässt sich
von dieser Seite her verstehen.
Diese dreifache These versucht Braig anhand der Untersuchung der Lehre über
die natürliche Gotteserkenntnis, wie sie bei Thomas entfaltet ist, zu untermauern
und zu rechtfertigen. Nachdem er die entsprechende thomasische Lehre dargestellt hat, auch in Rücksicht auf die Genese des Denkens von Thomas,197 wodurch
ein geschichtliches Moment zum Tragen kommt, was von vielen Neuscholastikern
und z.B. in Aeterni Patris auch nicht berücksichtigt wird, kommt er zu dem Schluss,
dass die thomasische Lehre aufgrund ihres zu starren Festhaltens an Aristoteles
an ihrer Vollendung gehindert worden sei. Diese Behauptung wird durch die Gegenüberstellung der platonischen und der aristotelischen Erkenntnislehre aufgewiesen.198 Die Darstellung der aristotelisch-thomasischen Erkenntnistheorie erweise deren Unzulänglichkeit hinsichtlich der Erkenntnis des theistischen Gottes.
Zusammenfassend kann Braig seine Kritik an der Scholastik so formulieren: „Wir
finden diese Philosophie in keinem wesentlichen Punkte unwahr, erkennen sie aber in nicht unwesentlichen Stücken als unvollständig“199. Diesem Gedanken
stimmt inhaltlich auch Joseph Kleutgen zu, wenn auch mit anderem Akzent.200
2.1.3 Michael Glossners Kritik an Carl Braig
Wenn im folgenden der allgemeinen Kritik Braigs an der Scholastik eine allgemeine Antikritik gegenübergestellt wird, dann ist damit der Rahmen gespannt, in dem
sich die Auseinandersetzung Braigs mit der Neuscholastik bewegt. Die von Michael Glossner verfasste Reihe über die Theologie der Tübinger Schule ist aber nur
ein Teil der Kontroverse, die der streitbare Neuscholastiker gegen alle von seiner
thomistischen Linie abweichenden philosophischen und theologischen Auffassungen führte, und die auch Braig stark zu spüren bekam. Diese Auseinandersetzung
wirft ein Licht auf die Stellung Braigs in der zeitgenössischen Theologenlandschaft.
Es soll deutlich werden, dass es hier in erster Linie nicht bloß um die kirchen- und
wissenschaftspolitischen Fragen der Auseinandersetzung geht, sondern um die inhaltlichen, wie auch Carl Braig die Frage nach der „richtigen“ Theologie niemals
zur Frage des Gehorsams gegenüber einer Autorität gemacht hat, sondern sie als
Frage nach der Wahrheit aufgefasst hat.
196
197
198
199
200
Vgl. Braig: Gotteserkenntnis 518f.
Vgl. ebd. 519-547.
Vgl. ebd. 547-562.
Ebd. 595.
Kleutgen spricht davon, dass die „in der Kirche seit Jahrhunderten, ja von den ersten
Zeiten des Christenthums anerkannte Speculation einer wahren Grundlage nicht entbehren, daß sie zwar unvollständig, aber, wenigstens in den wichtigeren Fragen, nicht
irrig sein, daß also auch eine richtige Kritik des Erkenntißvermögens mit dieser kirchlichen Speculation nicht in Widerstreit gerathen könne“ (Joseph Kleutgen: Die Philosophie der Vorzeit vertheidigt, Bd. 1, Münster 21878, 14).
244
Die Grundtendenz der Tübinger Schule bestehe nach Glossner aus der „Fühlung
mit dem Zeitgeist“, darin, „sich in die jeweiligen wissenschaftlichen Richtungen anzulehnen“.181
Während der frühere Konkurrent Braigs um die Nachfolge Kuhns, Paul Schanz,
von Glossner so charakterisiert wird, dass er „unter Festhalten des glaubensphilosophischen Standpunktes das Moment der Erfahrung im Anschlusse an die
Naturwissenschaft schärfer betont, sowie gemäßigt ontologistische und traditionalistische Anschauungen zum Ausdruck bringt, überhaupt einem von dem dialektisch verarbeiteten und sozusagen organischen seines Lehrmeisters verschiedenen Eklektizismus huldigt“182, wird Braig selbst als der „spekulativ ungleich begabtere Freiburger Dogmatiker“ bezeichnet, der, von Leibniz und Lotze beeinflusst,
auch einen thomistischen Einfluss gelten lasse, welcher aber „über eine äußerliche
Verbindung disparater Ingredienzien nicht hinausführt“183.
Braig begründe seine Metaphysik durch die Psychologie, und dies zeige sich zuerst in der ontologischen „Bestimmung des Seins als Tätigkeit (Sein gleich
Tun!)“184. Die Auffassung, dass Metaphysik nur als so verstandener Abschluss und
Krönung aller philosophischen Einzeluntersuchungen betrieben werden könne,
muss Glossner ablehnen, weil nichts von seinem Wesen her Tätigkeit sei, außer
Gott, und Metaphysik darin bestehe, den Blick auf das Seiende als solches zu richten.
Nach Glossner sei die Auffassung Braigs von den zwei parallel laufenden Erkenntnisreihen, der ideellen und der realen, die im Bewusstsein intuitiv als übereinstimmend anerkannt werden sollen, eine höchst unsichere Sache. Dieser Vernunftglaube fahre selbst in das Fahrwasser des Subjektivismus ein, denn es sind immer
nur subjektive Gründe, keine sicheren Beweise, die die Übereinstimmung der Ordnungen des Denkens und des Seins nahelegen können.
Der „psychologische Maßstab, an die Metaphysik gelegt, erzeugt notwendig einen
anthropomorphistischen Gottesbegriff“185, und dieser ende im idealistischen und
naturalistischen Monismus oder Pantheismus.
Glossner fühlt sich durch die psychologische Begründung der Ontologie durch
Braig an die Deduktionen Fichtes erinnert. Wie dieser aus der Analyse des Bewusstseins zum Resultat eines idealistischen Pantheismus gelange, so müsste
Braig bei Anwendung derselben Methode zum nämlichen Ergebnis kommen. Er
befinde sich aber in einem großen Irrtum, wenn er meine, den monistischen Pantheismus umschiffen zu können.
Den Unterschied zu seiner eigenen Auffassung verdeutlicht Glossner an der braigschen Begründung für das Widerspruchsgesetz. Braigs Argumentation gehe dahin
zu sagen, dass erst die psychologische Unmöglichkeit, Ja und Nein zugleich und
identisch zu denken, mit logischer Notwendigkeit darauf schließen lasse, dass die
ontologische Beschaffenheit des Seins ebenso geprägt sei. Für Glossner ist hier
das wahre Verhältnis auf den Kopf gestellt. „Nicht die Gewißheit des ontologischen
181
182
183
184
185
Glossner: Tübinger Schule IV 3.
Ebd.
Ebd. 4.
Ebd. 18.
Ebd. 23.
245
Gesetzes, sondern umgekehrt durch die unmittelbare Einsicht in die Wahrheit und
Notwendigkeit des letzteren sind wir gewiss, dass jedes Sein, also auch das des
Ich, obgleich an sich von nur tatsächlicher, zufälliger Wahrheit, doch sofern es ist,
notwendig ist und das Nichtsein ausschließt“186. Nach Glossner müsste die Einräumung der Notwendigkeit, die Gewissheit der objektiven Prinzipien durch die
Selbstgewissheit des Ich zu begründen, notwendig zu der Ansicht führen, dass die
Notwendigkeit der Prinzipien in dem alle einzelnen konkreten Iche übergreifenden
reinen Ich begründet sei, das ein unpersönlicher Geist sei. Der theistische Gottesbegriff sei hier nicht aufzeigbar.
„Man gebe also endlich den Versuch auf, die Wahrheit aus dem menschlichen
Selbstbewußtsein heraus konstruieren zu wollen, und gestehe mit der Tradition der
christlichen Schulen zu, daß der menschliche Geist der Wahrheit gegenüber nicht
tätig und bestimmend, sondern, leidend – aufnehmend – und durch sie bestimmt
sich verhält“187. Glossner sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem anthropomorphistischen Gottesbild der Theosophie und dem Gottesbegriff, der nach
der Analogie des Denksubjektes gebildet werde. Die Meinung, dass der Gottesbegriff nach der Analogie des Denksubjektes als absoluter Geist geschaut werde, im
Sinne der kuhnschen eingeborenen Gottesidee, stellt Glossner gegen seine Auffassung: „Der wirklich und wahrhaft wissenschaftliche Gang einer theistischen Dialektik besteht nicht darin, die Idee eines persönlichen Gottes gleichsam ‘aus der
Pistole zu schießen’, sondern in dem von der christlichen Philosophie stets eingeschlagenen Verfahren, zunächst aus der Betrachtung der Weltwesen [...], deren
Endlichkeit, Beweglichkeit, Unvollkommenheit usw. auf die Existenz eines
schlechthin aktualen, vollkommenen, unendlichen Seins zu schließen, um dann
erst weiterhin eine Erkenntnis der Beschaffenheit dieses Seins auf dem Wege der
Analogie (via causalitatis, negationis, eminentiae) zu gewinnen“188.
In diesen Ausführungen Glossners klingen die wesentlichen Punkte an, die auch
die Auseinandersetzung Braigs mit neuscholastischen Philosophoumena bestimmen. Glossner hatte für seinen Artikel allerdings nur solche Schriften Braigs herangezogen, deren Abfassung noch in unmittelbare Nähe mit dessen Tübinger Zeit
fiel, nämlich seine Schrift gegen Eduard von Hartmann, „Die Zukunftsreligion des
Unbewußten“ von 1882, und „Über das philosophische System von Hermann Lotze“ von 1884. Hätte er auch das Buch „Gottesbeweis oder Gottesbeweise?“ von
1888 herangezogen, so hätte er die Kritik Braigs an der Tübinger Schule und zumal an deren Ablehnung des Gottesbeweises in der von Glossner zuletzt vorgetragenen Fassung berücksichtigen müssen. Dies hätte ihn dennoch gewiss nicht gehindert, bei der grundsätzlichen Ablehnung der braigschen Philosophie zu bleiben,
wie man an den Rezensionen Glossners zu den zwei Lehrbüchern Braigs zur Erkenntnislehre und zur Ontologie sehen kann. Hier entspann sich eine wirkliche
Kontroverse, wobei allerdings auffällt, dass die beiden Antworten Braigs sich durch
eine bemerkenswerte inhaltliche Dürftigkeit auszeichnen.189
186
187
188
189
Ebd. 25.
Ebd. 26.
Ebd. 28.
Vgl. Braig 1899a; Braig 1899b.
246
Anstatt die Kontroverse in ihren einzelnen Kritikpunkten nachzuzeichnen, scheint
es eher geboten, die Seinslehre Braigs in ihrem Zusammenhang darzustellen und
so gelegentlich auf die strittigen Punkte einzugehen.
2.2 Die Bedeutung der empirischen Wissenschaften für die Philosophie
Als einen der Punkte, die Braig an der Philosophie der Vorzeit bemängelt, stellt er
deren fast ausschließliches Interesse am Allgemeinen, Gattungsmäßigen heraus.
Wendet man sich demgegenüber mehr dem Besonderen, Einmaligen zu und verbindet dies mit einer konstruktiven Kritik an einer einseitig deduktiven Wissenschaftlichkeit, kommt man nicht umhin, die naturwissenschaftliche empirische Forschung zu berücksichtigen. Während in klassischer Zeit die Naturphilosophie immer zunächst das Sein der Natur dargestellt hatte, um damit das Fundament auch
der positiven Wissenschaften zu legen, kehrte sich dieses Verhältnis im 19. Jahrhundert um.190 Als nach Hegels Tod bald die idealistische Philosophie kraftlos
wurde, zogen sich die Naturwissenschaften auf ihr positives Wissen zurück und
bestimmten so den Maßstab für Erkenntnis und Wissen. Wenn so die Erkenntnisse
der empirischen Wissenschaften selbstverständlich für die philosophische Erkenntnisgewinnung nutzbar gemacht wurden, vermied man zum einen ein noch
stärkeres Auseinanderfallen zwischen den geistes- und naturwissenschaftlichen
Disziplinen.191 Zum anderen aber ließen sich nur so die vielen vereinzelten empirischen Erkenntnisse in eine umfassende Perspektive einfangen. Wenn Braig etwa
auf die Bedeutung der Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie im
Kosmos durch Robert Mayer eingeht,192 spiegelt sich darin die Überzeugung wider,
dass in der Natur die Idee der Einheit walte.193
Diese auch bei Braig wirksamen Mechanismen lassen sich bei ihm zum einen an
dem Einfluss festmachen, den die empirische Psychologie auf Logik und Erkenntnislehre hat (s.o.), vor allem aber daran, wie die Ontologie verstanden und das
Sein gefasst ist. Bei der damals gängigen „induktiven Metaphysik“ kam es darauf
an, „auf der Basis positiv wissenschaftlicher und empirischer Einzelforschung Wege zur Erkenntnis des Ganzen, Umfassenden der Natur einzuschlagen“194. Wenn
zu den Vertretern einer induktiven Metaphysik Denker wie Eduard von Hartmann,
190
191
192
193
194
Vgl. dazu Franz Kaulbach: Art. Naturphilosophie V. Von Kant bis zur Gegenwart, in:
HWPh 6, 548-560.
Bezeichnenderweise stammt auch diese Unterscheidung von Wilhelm Dilthey aus der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Vgl. Braig 1904b, 541f.; „Robert Mayer, geleitet von dem Axiom: Ex nihilo fit nihil; nihil in
nihilum redigitur; causa aequat effectum, wurde der Galilei des 19. Jahrhunderts“ (ebd.
542 Anm.).
An dem historisch-kritischen Gebaren der zeitgenössischen Philosophie bemängelt
Braig das Fehlen eines „geschlossenen Gedankencomplexes“, der die vielen Einzelheiten und Äußerlichkeiten zu einer Einheit zusammenführen könnte (vgl. Braig 1884a,
149f.).
Kaulbach: Naturphilosophie 556.
247
Wilhelm Wundt und Rudolf Lotze gezählt werden, fällt auf, dass Braig sich gerade
mit diesen intensiv auseinandersetzt.195 Und wenn Michael Glossner Braigs „Metaphysik durch Psychologie begründet“196 sieht, oder Franz Träger vom „empirischen
Denken Carl Braigs“197 spricht, dann macht sich darin das Bemühen Braigs kund,
die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit für die Philosophie nutzbar zu
machen.
Hier handelt Braig auch im Sinne seiner frühen Kritik an der Scholastik, die seiner
Auffassung nach allzu sehr deduktiv vorgegangen sei, nicht orientiert an der vorfindbaren Individualität, sondern an einem vorgefassten Prinzip, aus dem die für
die Ontologie relevante Wirklichkeit quasi deduziert wird.198
Und so beginnt Braig in seiner Metaphysik auch mit einer Inventur der vorfindlichen
Auffassungen über das Sein. Das allgemeine vorwissenschaftliche Bewusstsein
habe einen selbstverständlich vorausgesetzten Begriff des Seienden: Seiend seien
Dinge mit Eigenschaften, die in Beziehungen zueinander stehen und Wirkungen
aufeinander ausüben, in Raum und Zeit ausgespannt sind und einem Zweckplan
eingeordnet erscheinen. Das wissenschaftliche Bewusstsein unterscheide die Dinge, die Veränderung der Eigenschaften, die Regeln, nach denen der Ablauf der
Erscheinungen sich vollzieht.
Die Methode der Wissenschaften bestehe darin, zunächst die Begriffe des gemeinen Bewusstseins einfach zu wiederholen, um sie dann einem Prozess der Unterscheidung und begrifflichen Verschärfung zu unterziehen. Die allgemeinsten Bezeichnungen wie Ding, Eigenschaft, Beziehung, Wirkung, Raum, Zeit usw. werden
dadurch allerdings nicht viel klarer, auch nicht das Sein im Allgemeinen. Es gelte
allerdings, sich darüber Rechenschaft abzulegen. Einmal deswegen, um zu klären,
wie man dazu komme, scheinbar Widersprüchliches zu verbinden, wenn man an
einem Gegenstand das Ding und seine Eigenschaften unterscheide, auch wenn in
Wirklichkeit das eine ohne das andere nicht und niemals vorkomme. Zum anderen
zeigen die verschiedenen Wissenschaften zum Teil widersprüchliche Anschauungen von ein und derselben Sache, wenn beispielsweise die Mathematik den Raum
als unendlich betrachte, die Physik dagegen als endlich.199 Zur Klärung dieser
scheinbaren Widersprüche bedürfe es einer Untersuchung über die Natur des allgemeinen Seins.
„Die Nothwendigkeit, die bezeichneten Voraussetzungen zu machen; die Unmöglichkeit, sie als ungelöste Widersprüche stehen zu lassen; die Unfähigkeit der einzelnen Wissenschaften, klarzulegen, wie die unabweislichen Vorstellungen vollzogen werden können und vollzogen werden müssen: all dies zwingt das natürliche
195
196
197
198
199
Vgl. Braig: Zukunftsreligion; Braig 1885a; Braig 1907b.
Glossner: Tübinger Schule IV 18.
Vgl. Träger: Das empirische Denken.
Vgl. Bernard Kälin: Lehrbuch der Philosophie. Einführung in die Logik, Ontologie, Kosmologie, Psychologie, Kriteriologie, Theodizee. Sarnen 41950, 61: „Die Metaphysik
verwendet das deduktive Verfahren“.
Ein anderes Beispiel ist das unterschiedliche Verständnis von „Materie“, je nach der
angefragten Disziplin (Astronomie, Physik, Chemie); vgl. Braig 1890f; Braig 1891a.
248
Denken, bei einer überragenden, allumfassenden Wissenschaft die Hebung der
Schwierigkeiten zu suchen“200.
Diese Wissenschaft vom allgemeinen Sein, die die Idee der Einheit der Natur klar
voraussetzt, habe im Lauf der Geschichte eine vielfältige Begriffsbestimmung erhalten: sie wurde als Philosophie, als Metaphysik, Theologie, Ontologie, erste Philosophie gefasst. Untersucht werden von ihr die unsinnlichen Dinge, das Intelligible
im abstrakten und im positiven Sinne, das Wesen, der Grund, die Zusammengehörigkeit des Seienden.
Eingeteilt werde die Metaphysik in allgemeine und spezielle, die Behandlung der
Universal- und Spezialformen, in welchen alles Sein ist und sich bewegt, ferner in
reine und angewandte: die reine Metaphysik gliedere sich in Eidologie (Wesen),
Nomologie (Wirken) und Teleologie (Zwecke), und entsprechend werden dadurch
die Allgemeinformen, die Allgemeingesetze, die Allgemeinziele des Seins ergründet.201
Hinsichtlich der Methode der metaphysischen Wissenschaft seien zu unterscheiden ein materiales, ein formales und ein normatives Erkenntnisprinzip: Das erste,
das Materialprinzip, sei die Quelle des Stoffs, an dem die Untersuchung stattfinde:
es könne grundsätzlich jedes Seiende sein, wäre der Mensch nicht darauf angewiesen, mittels Abstraktion das Gesamt der Erfahrungswelt in das Vorgehen einzubeziehen. Wieder heißt es, dass es eine absolute, schlechthin a priori erkennende und voraussetzungslose Metaphysik nicht gebe und auch nicht geben könne.
Sie müsse immer am konkreten Seienden und dessen Erkenntnis anknüpfen, und
von dorther lege sich die Bedeutung der Wissenschaften, der Erkenntnis a posteriori, für die Philosophie nahe.
Nun ist Braig aber weit davon entfernt, den gegenteiligen Fehler zu begehen, nämlich das synthetische Moment zu vernachlässigen, wie er es etwa dem erkenntnistheoretischen Empirismus vorwirft.202 Das Formalprinzip der ontologischen Erkenntnis seien die Methoden des analytisch-induktiven Forschens und die des synthetisch-deduktiven Schließens, und zwar nur in dieser gleichwertigen Verbindung.
Die Unterscheidungskraft des Geistes sei dabei das Einheitsvermögen für Induktion und Deduktion.203
Gerade an der „gottlosen“ Wissenschaft des 19. Jahrhunderts bemängelt Braig,
dass „das Gebiet der ‘zweiten Ursachen’ der Bereich der sciences, [..] mannigfach
durchforscht“ sei; „über die ‘ersten Ursachen’, über die Gegenstände der Philosophie, des eigentlichen Wissens im Unterschiede von dem Besitz der Kenntnisse,
hat man wohl selten weniger gewußt und mehr vergessen als im 19. Jahrhundert“204. Dass eine Weltanschauung aus rein induktiver Wissenschaft so in die Irre
gehen könne, versucht Braig aufzuzeigen, wenn er den pantheistischen Gottesbegriff seines Gewährsmannes Hermann Lotze, der auch zu den induktiven Metaphysikern gezählt werden kann,205 erklären will: „Eine wissenschaftliche Weltan200
201
202
203
204
205
Braig: Ontologie 4.
Vgl. Braig: Ontologie 1-7.
Vgl. Braig: Noetik 10.
Vgl. Braig: Ontologie 7-10.
Braig 1885c, 33.
Vgl. Kaulbach: Naturphilosophie 556.
249
schauung mag noch so präcis und solid sein im Bereich des Natürlichen, noch so
gewissenhaft im Gebiete des Menschlichen, noch so harmonisch in der Auffassung
des Kosmos: sie bleibt unfertig in der Beurtheilung des Uebersinnlichen“206. Auch
Lotze gelinge es nicht, sich von der monistischen Dialektik zu befreien, die seine
sonst anregenden und richtigen Erkenntnisse verfälsche. Braig betont gerade den
lotzeschen Gedanken, dass der „Mechanismus des exacten Wissens durch die Teleologie des speculativen Erkennens vollendet“207 werden müsse, ein Gedanke,
der als „Geist der leibniz’schen Philosophie“, als die „Tendenz nach Versöhnung
der Gegensätze zwischen Deduction und Induction, zwischen Schließen und Erfahren, Denken und Handeln, Wissen und Glauben, zwischen mechanischen und
teleologischen Ursachen der Dinge und des Geschehens“208 gewürdigt wird.
Braig führt zur Untermauerung seiner metaphysischen Methodik noch einmal die
Grundsätze seiner Erkenntnistheorie an. Was sind die Prinzipien der Philosophie,
die den genannten Methoden zugrunde liegen? Zunächst das Gewissheitskriterium, das mir sagt, dass etwas seiend sei. Dies sei die Tatsache des Selbstbewusstseins. „Was mir ebenso unabweislich entgegentritt, wie mein eigenes Empfinden und Wollen, wie mir das unmittelbare Innewerden meiner selbst und meines
Selbst gegeben ist, von dem sage ich: es ist, es existiert, es ist wirklich“209. Was
mir nicht in der Weise meines Selbstgegebenseins begegnet, dessen Sein ist nicht
sicher.210 Das zweite seien die Prinzipien der Notwendigkeit, durch die das Denken
positiv zur richtigen Auffassung des Seins gelangen könne. Es seien dies die
Denkgesetze der Identität, schärfer gefasst im Kontradiktionsprinzip, und das der
Kausalität. Die Identitätsformel wolle die Notwendigkeit der Seinsmöglichkeit aussagen: Was in sich widerspruchsfrei, mit sich und seinen Eigenschaften vereinbar
sei, dessen Existenz müsse möglich sein. Die Kontradiktion sage etwas über die
Seinsnotwendigkeit selbst: wenn in Bezug auf ein Seiendes die innere Widersprüchlichkeit aller seiner Gegensätze festgestellt werde. Das Kausalgesetz stelle
die Notwendigkeit einer zureichenden Wirkursache für jedes Seiende fest. Es gehe
auf die Wirklichkeit eines Seinsmöglichen, auf die Notwendigkeit eines Wirklichen.211
Die Bedeutung der Empirie für die Philosophie wird ganz deutlich, wenn Braig von
der Stellung der Metaphysik im Konzert der Wissenschaften spricht. Die Ontologie
habe als Universalwissenschaft zu gelten. Sie gehe mit allen übrigen Wissenschaften vom empirisch Gegebenen aus, aber doch über es hinaus. „Keine Sonderwissenschaft kommt nach der Metaphysik, während sie den sämtlichen nachfolgt, an
allen sich orientirend und alle corrigirend“212. Sie knüpfe an die Ergebnisse der
Einzelwissenschaften an, umfasse dann aber alles Seiende und prüfe seine letzten
206
207
208
209
210
211
212
Braig 1885a, 24.
Ebd. 25.
Braig 1886e, 169.
Braig: Ontologie 9; es kann nicht die Rede davon sein, dass das Selbstbewusstsein
hier zur höchsten Norm des Seienden gemacht wird. So lautet zumindest der Vorwurf
Glossners, der darin die Quelle des bei Braig angeblich unterschwellig vorhandenen
Monismus entdecken will (vgl. Glossner: Braig, Vom Sein 60f.); s.u.
Vgl. Braig: Ontologie 9; ders.: Noetik 152-156; vgl. auch Hamma: Philosophie II 11ff.
Vgl. Braig: Ontologie 9f.
Ebd. 10.
250
Gesetze und seinen letzten Grund und Zweck. Dabei weise sie auf das All, sie biete den Wissenschaften eine größtmögliche Sicherheit, sie schaffe ein einheitliches
Weltbild.
Dies wird auch ganz dezidiert gesagt in einer kritischen Haltung gegenüber der
Neuscholastik. In der Besprechung eines in dieser Geistesrichtung liegenden
Lehrbuches bemerkt Braig, dass es seiner Ansicht nach notwendig sei, „sich methodologisch auf den Boden der Experimentalpsychologie zu stellen und ihn gründlich zu bearbeiten. [...] Niemand wird heute die Kraft der thomistischen Philosophie
etwa in den Argumenten für die generatio spontanea, für die Thätigkeit der Sphärengeister (intelligentiae motrices) und in ähnlichem finden wollen. [...] Wenn irgendwo, muß bezüglich dieser und verwandter Wissensaufgaben die Gesamtphysik aller und jeder Metaphysik vorausgehen“213. Eine so verstandene Philosophie
würde den Fehler nicht vermeiden, den Braig auch einer idealistischen Noetik vorhält, nämlich die Erkenntnis zu sehr an erdachten Begriffen zu orientieren.214 Insofern hat die induktive Metaphysik, auch wie Braig sie betreiben will, einen ideologiekritischen Impetus.
Die Ontologie als die Fundamentalphilosophie sei eine theoretische Wissenschaft,
die allen anderen Wissenschaften unentbehrlich sei. Theoretisch sei sie, weil sie
auf reine Erkenntnis abziele, überragend, weil sie die Prinzipien aller anderen Disziplinen eigentlich und letztlich begründe.
Wenn Braig in einem Aufsatz aus dem Jahr 1890 „Zum Begriffe der Materie“215
nach dem eigentlichen Wert der Astronomie fragt, dann deshalb, um zu einem exakten Begriff der Materie zu gelangen. So könne man in einem Dreischritt aus der
wissenschaftlichen Beschreibung des Begriffs über eine an ihm gemessene Kritik
der traditionellen naturphilosophischen Auffassung über die Materie zu einer Fassung und Erfassung des Materiebegriffs kommen, die dem jetzigen Stand der Erkenntnis angemessen sei.216
Braig wendet sich gegen die „Zerstörer und Läugner“ der Metaphysik, an erster
Stelle Kant, der durch seine Verneinung der Möglichkeit einer Erkenntnis des „Dinges an sich“ die Unerreichbarkeit des eigentlichen Gegenstandes der Ontologie
feststellen wollte, so aber nach Braig gerade Zeuge sei für die Unzerstörbarkeit
des metaphysischen Triebes im Menschen. Des Weiteren geht Braig auf Fichte,
Hegel und Schelling ein, die durch ihre Setzungen die Metaphysik zerstörten durch
die Überspannung des Begriffs. Gegen die idealistischen Hirngespinste stehe der
Realismus mit seiner Möglichkeit, vom Äußeren der Wirkungen in der Wirklichkeit
auf das Innere des Seienden nach Wesen, Grund und Zweck zu schließen.
Zu dem anderen Feind der Ontologie, dem Positivismus, sei nur so viel gesagt,
dass er einen Widerspruch beinhalte, wenn er einerseits die Realität auf die
schlichte Gegebenheit der Gesamtheit der atomaren Teilchen festlege, andererseits aber von unsinnlichen Gesetzen sprechen müsse, nach denen die Mechanik
213
214
215
216
Braig 1897d, 108.
Vgl. Braig: Noetik 10f.; vgl. auch Braig 1880a, 172f., wo er die Zirkelhaftigkeit des Begründungsverhältnisses moniert, wollte man aus der Metaphysik den Begriff des Geistes für die Psychologie herleiten.
Braig 1890f.
Vgl. ebd. 577f.
251
dieser Teilchen sich vollziehe. „Ohne die Wirklichkeit des Unsinnlichen wäre die
Läugnung des Unsinnlichen, welche selber keineswegs ein Sinnliches ist, nicht
wirklich und nicht möglich“217.
Durchaus kritisch gegenüber einer neuscholastischen Verfahrensweise merkt
Braig in einer Rezension zur Naturphilosophie des freilich Eigenständigkeit gegenüber Thomas und Suarez wahrenden Péter Pázmány218 an: „Statt, wie der Naturphilosoph muß, auf die Beobachtungen der Natur selber, auf die Ergebnisse der
Physik in erster Linie ein- und auszugehen, hält sich Pázmány vorzüglich [...] an
das, was Aristoteles vorgetragen [...]. Daß übrigens Pázmány den rechten Weg
zum rechten Ziele sehr wohl kannte, beweist gleich im Anfange seiner Vorlesungen die Betonung des aristotelischen Grundsatzes: Principia rerum naturalium indaganda et cognoscenda esse a posteriori; a confusa cognitione totium ad principiorum et elementorum cognitionem deveniendum [...]. Nur fehlte der Cardinal mit
vielen andern darin, [...] daß er manchmal dessen [sc. Aristoteles’] vermeintliche
Endbegriffe von den Dingen statt der Dinge selber zergliedert hat“219.
Nur am Rande soll hier erwähnt sein, dass Braig auch für die Apologie des Christentums eine Methode, die als „metaphysisch, philosophisch“ bezeichnet wird, für
überlebt hält, wenn damit gemeint sein solle, „die Vorbedingungen und die Voraussetzungen des christlichen Glaubens, die wissenschaftliche Unterlage der christlichen Weltanschauung rein mit Hilfe speculativer Constructionen und ontologischer
Abstractionen erstellen [zu] wollen“220. Auch in sich sei eine solche Beweisführung
ganz unzulänglich.
Dass Braig diesem induktiven Grundzug seines Philosophierens sein Leben lang
treu geblieben ist, zeigen die Auseinandersetzungen um den Modernismus und
dessen „vitaler Immanenz“, in denen Braig auch immer wieder auf diesem Prinzip
bestanden hat.221
2.3 Vom Sein
2.3.1 Hinführung
Von allen Werken Carl Braigs hat seine Ontologie (Vom Sein. Abriß der Ontologie,
Freiburg 1896) bis heute am meisten Beachtung gefunden. Zum einen Teil ist diese Beachtung untrennbar mit dem Namen Martin Heideggers verbunden, der vor
seiner vollständigen Hinwendung zur Philosophie in Freiburg vier Semester Theologie studierte und dabei von den Vorlesungen des Dogmatikers Braig und dessen
217
218
219
220
221
Braig: Ontologie 15.
Zu Péter Pázmány (1570-1637) vgl. LThK3 7, 1537f.
Braig 1897b, 14f.
Braig 1898b, 163.
Vgl. etwa Braig 1907b, 105; ders.: Modernismus und Freiheit 48f.; 52; u.ö.
252
Philosophie viel Stoff zur Anregung empfangen hat.222 Ein Großteil der Literatur,
die über Carl Braig erschienen ist, beschäftigt sich daher mit dem Verhältnis Braig
– Heidegger und versucht, Einflüsse des einen auf den anderen ausfindig und
kenntlich zu machen. Naturgemäß geht es dabei um die Rolle der Ontologie, die
das Werk Heideggers deutlich bestimmt. Da er nach eigenen Angaben die Seinslehre Braigs bereits als Gymnasiast gelesen hat, liegt es nahe, Verbindungslinien
zwischen den beiden Philosophen zu untersuchen. Das soll hier nicht geschehen,
nur gelegentlich soll auf die Literatur eingegangen werden, die dem Kreis der genannten Problematik zuzurechnen ist. Heidegger behielt Braig auch deswegen in
Erinnerung, weil er von ihm in die „Bedeutung Schellings und Hegels für die spekulative Theologie im Unterschied zum Lehrsystem der Scholastik“223 eingeführt wurde.
Damit ist ein weiterer Punkt angesprochen, den die Ontologie Braigs kennzeichnet.
Sie ist nämlich in einer gewissen Distanz „zum Lehrsystem der Scholastik“ geschrieben worden. Aus diesem Grund hat Michael Glossner in deutlich kritischer,
wenn nicht gänzlich ablehnender Art und Weise sein Verhältnis zu dem genannten
Werk bestimmt. Seine Rezension führte zu einem kleinen Schlagabtausch zwischen ihm und Braig.224 Die Darstellung der braigschen Ontologie soll daher immer
die Frage im Blick behalten, wie das Verhältnis seines Denkens zu dem eines dezidiert neuscholastischen oder neuthomistischen beschaffen ist. Die Kritik Glossners an der Metaphysik Braigs eignet sich als leitendes Formalkriterium der Darstellung besonders, den grundsätzlichen Unterschied zwischen beiden Denkweisen aufzuzeigen. Gleichzeitig soll die oben angeführte grundsätzliche Kritik Braigs
an der Philosophie der Schule so Berücksichtigung finden, dass zu gegebener Zeit
einzelne Elemente der braigschen Metaphysik von dorther begründet werden können. Es soll aber auch versucht werden, das Neue und Originelle, aus dem Heidegger die vielfältigen Anregungen empfangen konnte, wahrzunehmen. Die Bezugnahme auf das Werk des früh verstorbenen Tübinger Repetenten Matthias
Hamma, von dem Braig im ersten Jahr seines Studiums gelernt hat, macht deutlich, wie viel er dieser ersten Zeit seiner Theologie verdankt.225
Anhand des Aufbaus und des Inhaltsverzeichnisses der braigschen Ontologie lassen sich erste Besonderheiten erkennen. Nach der Einleitung, die in die Materie
und in Methode und allgemeine Voraussetzungen einer Metaphysik einführt, glie222
223
224
225
Vgl. Casper: Heidegger; vgl. oben Erster Hauptteil: Das Leben von Carl Braig, Abschnitt
12 Braig im Urteil seiner Zeitgenossen.
Martin Heidegger: Mein Weg in die Phänomenologie, in: Ders.: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, 81-90, hier 82.
Vgl. auch Träger: Das empirische Denken; Träger hält Braigs Werk für eine „mißglückte
‘induktive Metaphysik’“ (ebd. 356), wobei fraglich ist, ob seine Argumentation schlüssig
ist. Schon die Eindordnung des Werkes in die Anfänge der Neuscholastik (vgl. ebd.
341) kann nicht überzeugen. Träger behauptet, die braigsche Ontologie arbeite von Anfang an mit einem nicht expliziten Vorgriff auf Gott. Das diesbezügliche Zitat, die Philosophie müsse „den Inhalt der Theologie zur Orientirung nehmen“ (Braig: Ontologie 12)
reißt Träger allerdings aus dem Zusammenhang, der lediglich eine negative Orientierungsnorm der Offenbarung für die Metaphysik postuliert, nicht aber eine positive inhaltliche Bestimmtheit.
Vgl. Hamma: Philosophie II.
253
dert sich das Buch in drei große Abschnitte. Der erste „Vom Wesen des Seienden“
untersucht die beiden Aspekte des Seienden, nämlich seine Wirklichkeit (Existenz)
und seine Wesenheit (Essenz). Hinsichtlich der Wirklichkeit fällt auf, dass für eine
klassische Metaphysik entscheidende Begriffe wie „Stoff und Form“, „Akt/Potenz“
oder „Möglichkeit“ zumindest in den Überschriften nicht auftauchen. Die AktPotenz-Lehre wird von Braig in ihrer aristotelisch-scholastischen Form abgelehnt,
und daher ist der Begriff der Möglichkeit sehr untergeordnet behandelt. Weiter fällt
auf, dass bei der Behandlung der Eigenschaften besonders, fast ausschließlich,
die Akzidentien der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit Berücksichtigung finden. Der
zweite Abschnitt „Vom Wirken des Seienden“ behandelt die Problematik des Werdens, der Veränderung und Bewegung. Im dritten und letzten Abschnitt „Vom
Zwecke des Seienden“ wird die teleologische Verfassung des Seienden dargestellt, die insbesondere für den Gottesbeweis entscheidende Bedeutung gewinnen
soll.
Diese Dreiteilung226 begründet Braig mit seinem Kategorienbegriff. Alles Seiende
ist. Das heißt, jedes Seiende sei ein Ding mit Eigenschaften, Substanz mit Akzidentien. Das sei die Überzeugung des Alltagsverstandes, so funktioniere die Sprache, davon gehen die Wissenschaften aus. Braig spricht von der allumfassenden
Kategorie von Substanz und Akzidens. Dieser Grundkategorie des Dings mit Eigenschaften lassen sich verschiedene Nebenkategorien zur Seite stellen. Deren
Zahl sei aber nicht unbestimmt, hänge vielmehr davon ab, wie genau man die
Hauptkategorie durchdenken wolle.227 Gemäß den drei Fragen nach dem Wie des
Seienden in seiner Wesensauswirkung, nach dem Wirken des Seienden auf Anderssein, nach dem Ziel des Wirkens des Seienden auf sich und anderes teilt sich
die Untersuchung Braigs in drei Problembereiche, die das Seiende als (auf anderes) Wirkendes jeweils unter einem anderen Gesichtspunkt befragen. Das Wesen
des Seienden kommt in der Eidologie zur Sprache, die fragt, was das Seiende sei,
sofern es sei. Seiendes sei, weil es wirke. Die Nomologie fragt dann nach dem
Wirken des Seienden, das mit anderem Seienden zusammen ist. Die Gesetzmäßigkeit diese Wirkens wird dann in der Teleologie bedacht, in der Lehre von dem
Zweck des Seienden. „Was kommt heraus an dem Wesen durch das Wirken des
Seienden?“ So kommt es zur Dreigliedrigkeit der Ontologie und so „gelangen die
Allgemeinformen, die Allgemeingesetze, die Allgemeinziele des Seins zur Darstellung“228.
2.3.2 Die Frage nach dem Sein
Braig stellt seinem Buch ein Motto aus dem Itinerarium mentis ad Deum des Bonaventura229 voran, in dem es unter anderem heißt: „Wie das Auge, wenn es sich den
226
227
228
229
Diese Dreigliederung findet sich bereits in der Schrift „Gottesbeweis oder Gottesbeweise?“ von 1888 und auch noch 1912 in der von Braig als Manuskript herausgegebenen
„Gotteslehre“.
Vgl. Braig: Ontologie 54.
Braig: Ontologie 7.
Zu Bonaventura (um 1217-1274) vgl. LThK3 2, 570ff.
254
vielfältigen Unterschieden der Farben zuwendet, das Licht nicht sieht [...], so bemerkt auch das Auge des Geistes, wenn es sich auf die Seienden im Einzelnen
und im Ganzen richtet, das Sein selbst [...] nicht, [...] obgleich nur durch das Sein
alles andere ihm begegnet [...]. Das Auge unseres Geistes [...] hat den Eindruck,
nichts zu sehen [...], ebenso wie der, der das reine Licht sieht, nichts zu sehen
meint“230.
Richard Schaeffler sieht in dieser programmatischen Voranstellung des Textes von
Bonaventura schon wesentliche Motive angedeutet, die nicht nur die Ontologie
Braigs, sondern auch später die Heideggers bestimmen.231
1) Er führt zum einen die Verbindung von Ontologie und transzendentaler Fragestellung an. „Das Sein ist unserer Vernunft eine unumgängliche Voraussetzung für
die Wahrnehmbarkeit der Erfahrungsgegenstände, desgleichen für die Möglichkeit
des Denkbaren“232. Aller Erkenntnis des Seienden liege also unthematisch233, nicht
reflektiert, die Erkenntnis des Seins voraus. Für Bonaventura ist dies allerdings das
absolute Sein.234 „Dies ist, was als erstes in unser Verstehen fällt, nämlich kein
230
231
232
233
234
Der von Braig zitierte Abschnitt lautet in voller Länge: „Ipsum esse adeo in se certissimum, quod non potest cogitari non esse, quia ipsum esse purissimum non occurrit nisi
in plena fuga non-esse, sicut et nihil in plena fuga esse. Sicut igitur omnino nihil nihil
habet de esse nec de eius conditionibus, sic e contra ipsum esse nihil habet de nonesse, nec actu nec potentia, nec secundum veritatem rei nec secundum aestimationem
nostram. Cum autem non-esse privatio sit essendi, non cadit in intellectum nisi per esse; esse autem non cadit per aliud, quia omne, quod intellegitur, aut intellegitur ut nonens aut ut ens in potentia aut ut ens in actu. Si igitur non-ens non potest intellegi nisi
per ens, et ens in potentia non nisi per ens in actu, et esse nominat ipsum purum actum
entis: esse igitur est, quod primo cadit in intellectum [...] Mira est caecitas intellectus,
qui non considerat illud, quod prius videt et sine quo nihil potest cognoscere. Sed sicut
oculus, intentus in varias colorum differentias, lucem, per quam videt cetera, non videt,
et si videt, non advertit: sic oculus mentis nostrae, intentus in entia particularia et
universalia, ipsum esse extra omne genus, licet primo occurrat menti et per ipsum alia,
tamen non advertit. Unde verissime apparet, quod, ‘sicut oculus vespertilionis se habet
ad lucem, ita se habet oculus mentis nostrae ad manifestissima naturae’: quia
assuefactus ad tenebras entium et phantasmata sensibilium, cum ipsam lucem summi
esse intuetur, videtur sibi nihil videre, non intellegens, quod ipsa caligo summa est
mentis nostrae illuminatio, sicut, quando videt oculus puram lucem, videtur sibi nihil
videre“ (Bonaventura: Itinerarium mentis V, 3f.; vgl. Braig: Ontologie Vf.;
Hervorhebungen von Carl Braig).
Vgl. Schaeffler: Frömmigkeit 1-10.
Braig: Ontologie 19.
Vgl. Emerich Coreth: Grundriß der Metaphysik, Innsbruck/Wien 1994, 48f.
Braig hat in seinem Zitat folgenden Abschnitt aus Bonaventura fortgelassen, in dem
dieser erklärt, was dieses Sein sei, welches aller gegenständlichen Erkenntnis zuvorkommt: „[...] et illud esse est quod est actus purus. Sed hoc non est esse particulare,
quod est esse arctatum, quia permixtum est cum potentia; nec esse analogum, quia
minime habet de actu, eo quod minime est. Restat igitur, quod illud esse est esse divinum“ (Bonaventura: Itinerarium mentis V, 3). Hier sind scholastische Lehren berührt,
denen Braig ausdrücklich oder implizit widersprechen muss, etwa die angedeutete
Akt/Potenz-Lehre. Für Braig ist das Sein jedes Seienden reines Sein, wenn man so will,
actus purus.
255
partikuläres und begrenztes S.[ein], sondern das göttliche S.[ein]. Wir sind uns dieser Bedeutung nur nicht bewußt“235.
Auch das Thema der Seinsvergessenheit klingt an: Umso verwunderlicher sei daher, so fährt der folgende, von Braig auch noch zitierte Abschnitt aus dem „Itinerarium“ fort, die Blindheit des Verstandes, der das ihm zunächst Liegende nicht erkennen könne. Es sei so, wie das immer wieder zitierte Gleichnis des Aristoteles
sage: „Denn wie sich die Augen der Fledermäuse dem Tageslicht gegenüber verhalten, so auch die Vernunft in unserer Seele den Dingen gegenüber, die von allen
der Natur nach die offenkundigsten sind“236.
2) Zum anderen werde in dem Motto bereits die ontologische Differenz betont.
Durch die transzendentalphilosophische Fassung des Seins kann es nicht mehr als
Seiendes erscheinen, als ein möglicher Gegenstand unseres Denkens und Erkennens. Für Braig kann ein explizites Bewusstsein von dieser „ontologischen Differenz“ noch nicht behauptet werden, wenn er etwa in seiner Erkenntnislehre noch
formuliert: „Das Sein als Subjekt ist ein Sammelwort. Es begreift unter sich die Seienden“237. Andererseits sieht er nicht nur die Schwierigkeit einer Definition des
Seins, wenn das Wesen der Definition darin bestehe, dass „dem Inhalte seines
nächsthöheren Gattungsbegriffes das letzte wesenseigenthümliche Merkmal des
Subjectes beigefügt“238 werde. Das Sein sei bereits der höchste aller Gattungsbegriffe, und da es zu den allerersten Elementen gehöre, „aus welchen die Definitionen der Axiomata bestehen“239, lasse sich das Sein nicht definieren. Das Sein sei
der höchste der Begriffe, dessen Verständlichkeit für das Verständnis der übrigen
immer verdeckterweise vorausgesetzt werde. Auch eine genetische Erklärung des
Seins wird für unmöglich erklärt. Das Sein sei immer, es werde nicht aus etwas
Früherem, von dem wir auch sagen müssten, dass es sei. Auch Gott, der Schöpfer, sei ein Seiendes. Fehlerhaft und widersprechend seien alle versuchten Begriffsbestimmungen für das Sein: Man habe das Sein als Position, Setzung, Tun,
Energie, Bejahung, Grund der Möglichkeit zu fassen versucht.240 Diese Definitionen verwechseln das erste Erkennungszeichen am Seienden mit dem Wesensmerkmale vom Sein.
Es gebe aber auch eine beschreibende Definition, die mittels wesentlicher oder zufälliger Merkmale das zu Definierende umschreibe. Es gebe Mittel, den Seinsbegriff eindeutig festzustellen: es seien dies die Mittel der Beschreibung und Schilderung, Erörterung, Erläuterung und Entwicklung, der Worterklärung usw., die Formen also, die einer logischen Definition normalerweise vorausgehen.241
235
236
237
238
239
240
241
Albert Zimmermann: Art. Sein; Seiendes, III. Mittelalter, in: HWPh 9, 186-197, hier 189.
Aristoteles: Metaphysik 993b 9f.
Braig: Noetik 1.
Braig: Logik 106.
Ebd.
Hier nimmt Braig seinen ersten Lehrer der Metaphysik, Matthias Hamma, beim Wort:
„[D]as Seiende ist seiner Natur nach Tun, Setzung, Position und zwar reine Position
gegen Nichtsein“ (Hamma: Philosophie II 17); Hamma kennt allerdings noch nicht die
Sensibilität für die Unterscheidung von Sein und Seiendem. So findet sich bei ihm der
von Braig abgelehnte Satz „Sein ist Tun“ (ebd.).
Vgl. Braig: Logik 104f.; vgl. die Schwierigkeit der Definition des Seins auch mit den Ausführungen in Heidegger: Sein und Zeit 4.
256
3) Schaeffler findet so auch eine Parallele zwischen Heideggers und Braigs Vorgehen in ihrem Ausgang der Untersuchung des Seins bei dem ausgezeichneten
Seienden, dem Dasein. Bei Braig äußert sich dies etwa, wenn er den Ursprung
wichtiger relevanter Begriffe des Seinsverständnisses im Selbstbewusstsein festmacht. Um dem Wesen des Seins auf die Spur zu kommen, müsse die Untersuchung auf das Seiende gehen. Die Frage lautet: Was ist das Seiende, indem es
ist? Was kann so allgemein von jedem Seienden ausgesagt werden, dass es als
Äußerung des Seins angesehen werden kann? Absicht ist, die Wesenheitszüge
des Seienden aus den Wirklichkeitsformen der Prädikate zusammenzulesen.
Braig geht ganz im Sinne seiner empirischen Methode der psychologischen Entstehung des Seinsbegriffs auf die Spur. Durch die Unterscheidungstätigkeit der
Sinne und des Verstandes werde das Ding von seinen Eigenschaften abstrahiert,
aber es werde auch festgestellt, dass in allen Prädikaten ein verborgenes Merkmal
stecke, was sie untereinander gemeinsam, und auch gemeinsam mit dem Subjekt
haben: sie sind. Das Sein sei unserer Vernunft – wie es ja auch der Vorspruch des
Bonaventura betont – eine unumgängliche Voraussetzung für die Wahrnehmbarkeit der Erfahrungsgegenstände, desgleichen für die Möglichkeit des Denkbaren.
Das allgemeine Sein sei die allererste Bestimmtheit, die ein Seiendes haben müsse, um zu sein; es bezeichne „gleichsam den Schatten von Wirklichkeit, welchen
sein Wesen vor sich her wirft“242. Es sei die erstmögliche Aussage. Es sei das Mindestmaß von Einwirkung eines gänzlich Unbekannten auf seine Umgebung, wenn
wir gerade noch von ihm sagen: Es ist wenigstens. Später wird man sehen, dass
diese Bestimmung des Seins als (auf seine Umgebung) Wirkendes die Metaphysik
Braigs so charakterisiert, dass hier der kritische Beitrag liegt, der auf heftigen Widerstand gestoßen ist.
Es ist aber noch ein weiterer Gedanke zu benennen, der Braig vermutlich viel stärker als die zuvor genannten umgetrieben haben dürfte. Bonaventura thematisiert
das Sein als etwas, dessen Nichtsein nicht gedacht werden könne. Denn auch das
Nichts könne nicht anders als vom Sein her, nämlich als nicht seiend, verstanden
werden. Bonaventura möchte sich mit der Betrachtung des Seins zur Gottesschau
aufschwingen, denn es müsse jenes Sein geben, „das reine Wirklichkeit ist. [...] Es
bleibt also nur, dass jenes Sein das göttliche ist“. Braig hat allerdings diese letzten
sich auf Gott beziehenden Sätze aus seinem Zitat herausgehalten. Er möchte sich
lediglich von der Überlegung angeregt wissen, dass das Sein es sei, das als erstes
unmittelbar dem Verstand einleuchte und das so beschaffen sei, dass es nichts
von Nichtsein an sich trage, d.h. sich aktiv gegen das Nichts hält, in das es sonst
zurückzusinken drohe (vgl. unten).
Die Analogie243
Eine für die Metaphysik entscheidende Frage ist die, in welchem Sinn das Sein
aussagbar ist. Es zeige sich, dass das menschliche Denken nur einen einzigen
Seinsbegriff bilden kann, und dass es diesen Seinsbegriff nur vielfach aussagen
kann. Das Sein sei das höchste Merkmal in allen zu abstrahierenden Begriffen.
242
243
Braig: Ontologie 19.
Vgl. Braig: Ontologie 23f., 26f.
257
Abstrahiert werden sie aber auf Grund der Bestimmtheit, in welcher alle Seienden
und deren Zustände übereinkommen. Diese Bestimmtheit (est, esse) werde substantiviert. Der Begriff für das Substantiv (das esse, ens) sei im Verstand nur einmal vorhanden, werde aber so viele Male ausgesagt, wie es Seiende gebe oder
geben könne. Von jedem Seienden sei nur sein eigenes Sein aussagbar, kein allen
gemeinsames Sein. Diese Prädikation sei nicht so zu verstehen, dass den individuellen Bestimmtheiten, wie etwa Weisesein, Sokratessein, eine allgemeinste Bestimmtheit, nämlich „sein“, noch zugefügt wäre, als wäre sie etwas sachlich Trennbares, sondern Sokrates sei dadurch, dass er diese Person, dass er Mensch, dass
er weise sei. Die Dinge und ihre Realitäten seien nur, insofern und weil sie die Bestimmtheit des Seins in sich tragen.
Es gibt nur einen einzigen Seinsbegriff, sein Inhalt sei aber nicht ein-, sondern
vieldeutig, nicht im Sinne einer Äquivokation, sondern analogisch: Es werde nicht
ein und dasselbe Sein von allen Seienden gleichermaßen ausgesagt, aber es werde von allen das Sein gleicher- und gemeinsamerweise ausgesagt. In Hinsicht auf
das Sein der Wirklichkeit werde das Sein bei allen Seienden, beim ersten wie beim
letzten, genau nach der Weise (ana logon) des Seins im Ersten und Unendlichen
verstanden. Das Unendlichsein sei ein anderes (aliud) als das Endlichsein, nicht
jedoch sei es anders (aliter).
Diese Fassung der Analogie ist nach Glossner eine Verkennung der scholastischen Analogielehre. Er bemerkt: „In scharfem Gegensatz gegen thomistische Bestimmungen heißt es: ‘Es muß mehr im eindeutigen Sinne das Sein von Rose und
Rot, in der Substanz und im Accidens, als das Lebewesen von Mensch und Pferd
ausgesagt werden, welch letzteres eher nur per analogiam von beiden gilt’“244. Die
neuscholastische Analogie-Lehre ist nicht eindeutig; sie baut auf verschiedenen Interpretationen der thomasischen Doktrin, einer entweder durch Caietan oder durch
Suárez forcierten Deutung.245 Glossner, der vermutlich eher einer cajetanisch verstandenen Proportionalitäts-Analogie anhängt, bemängelt wohl in erster Linie das
mangelnde Verständnis Braigs für eine abgestufte Seinsteilhabe, welche die Seienden bestimmt. Dadurch dass für Braig Sein sich immer in aktivem Wirken äußert, so dass es also den verschiedenen Seienden eher univok zugesprochen
werden kann, hat er keine Möglichkeit, zwischen actus purus und in unterschiedlichem Maße am Sein Teilhabendem zu unterscheiden.
Glossner untermauert damit seinen Monismus-Vorwurf. Denn wenn das Sein, das
wir Gott zusprechen, dasselbe ist, das wir uns selbst auch zusprechen, dann
scheint auch behauptet, dass in der ontologischen Ordnung der Seinswirklichkeit
der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf aufgehoben ist.246
Braig möchte allerdings, wenn er eine metaphysische Analogizität auch der Allgemeinbegriffe („Mensch und Pferd sind Lebewesen.“) behauptet, wohl deutlich machen, dass es keine reale Existenz dieser Allgemeinbegriffe außerhalb ihres Ursprungs in der Idealität der menschlichen Abstraktion gebe. Substanz und Akzi244
245
246
Glossner: Braig, Vom Sein 61 (vgl. Braig: Ontologie 27).
Vgl. Wolfgang Kluxen: Art. Analogie I., in: HWPh 1, 214-227; Rudolf Teuwsen: Art. Analogie I. Philosophisch, in: LThK3 1, 577ff.
Vgl. Emerich Coreth: Metaphysik. Eine methodisch-systematische Grundlegung, Innsbruck u.a. 1961, 363ff.
258
dens der roten Rose (Rot und Rose) hingegen seien enger über den Seinsbegriff
verbunden als Mensch und Pferd über den Begriff „Lebewesen“.
Gleichwohl hat diese Form der Analogizität, richtig verstanden, auch für Braig einen Sinn, wenn man nämlich eine Rangfolge in die Analogate einträgt: analogatum
primum ist Gott (ho ontos on), analogatum medium ist die Substanz, analogatum
ultimum ist das Akzidens.
„Diese Reihenfolge der Seinsanalogien mit Rücksicht auf die Seienden selbst (ordo ontologicus) kehrt sich um in Rücksicht auf unsere Erkenntniß des Seins (ordo
logicus)“247. Wenn also in der Seinsordnung das Sein auch zuerst Gott zukomme,
erkennen wir zunächst nur das Sein der Akzidentien,248 wovon eine Ontologie daher auch immer auszugehen habe.
2.3.3 „Ist Sein gleich Thun?“249
Der Anfang des Unterscheidens ist das des Subjektes und seiner vollzogenen Tätigkeit.250 Die braigsche Ontologie ist getragen von dem Gedanken, dass das Seiende ein durchweg positiv bestimmtes ist; es hält sich gegen das Nichts am Sein,
es ist ein bestimmtes Seiendes gegenüber anderem Seienden. Ein dynamischer
Grundzug bestimmt dieses Seinsverständnis. Die „Seele des Seienden ist Thun,
Thätigkeit, und zwar ist sie für jedes Seiende individuell bestimmte Thätigkeit, eben
jene, durch welche es ist, was es ist und unterschieden ist von jedem anders Seienden und anders Thätigen“251.
Die Untersuchung über das Wesen des Seienden252, von Braig der „Eidologie“ zugeordnet,253 beschäftigt sich mit dem einen und gleichen Bild in allem Seienden,
von der Frage geleitet: Was ist das Seiende, indem es ist?
An jedem Seienden wird die Wirklichkeit (existentia), mit welcher das Seiende ist,
von der Wesenheit (essentia), durch die es ist, unterschieden, je nachdem ob man
innerhalb der Aussage „Etwas ist“ mehr den Nachdruck auf das „Etwas“ legt oder
auf das „ist“. Braig ordnet der Erörterung der Wirklichkeit254 abstrakte und allgemeine Bestimmtheiten des Seienden zu, wie sein Sosein, sein Einssein im Unter247
248
249
250
251
252
253
254
Braig: Ontologie 27.
Vgl. Coreth: Schulrichtungen 404f.
Diese Überschrift eines Artikels von Michael Glossner erinnert an die faustische Suche
nach dem Anfang aller Dinge:
„Geschrieben steht: ‘Im Anfang war das Wort!’
Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen [...]
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh’ ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ (Johann Wolfgang von Goethe: Faust,
Verse 1224-1227; 1236f.).
Vgl. Braig: Noetik 152f.
Braig: Ontologie 101.
Vgl. Braig: Ontologie 18-99.
Vgl. ebd. 18; 20.
Vgl. ebd. 21-44.
259
schiedensein, seine Zählbarkeit, seine Individualität. Das Sein des Seienden sei,
insofern es sich gegen Nichtsein halte, insofern es ein bestimmtes Seiendes sei,
usw. Diese Betrachtung hinsichtlich der Wirklichkeit des Seienden sei aber abstraktiver, tautologischer Struktur.255 Die Bedeutung, die diese Bestimmungen dem
Begriff des Wesens zutragen, sei der Untersuchung vorbehalten, die das Wesen
des Seienden, unterschieden nach Substanz und Eigenschaft, betrachtet.
Die schärfste formale Bestimmung des Seins ist dessen Unterscheidung gegen
das Nichtsein, welchen Gedanken Braig schon bei Bonaventura ausgedrückt findet.256 Braig leitet den Begriff des Nichts psychologisch her. Die Vorstellung des
„Nichts“, „nein“, „Nicht“ gehe aus der Unterscheidungstätigkeit des Denkens hervor: Um das Etwas gegen anderes abzugrenzen, schiebe es ein Nichts zwischen
sie. So haben Nein, Nicht, Nichts lediglich eine psychologische, subjektive, logische Bedeutung, nicht aber einen objektiven, ontologischen Gehalt. Das Nichtsein
ist nicht. Jedes Seiende sei positiv, keines mit Nichtsein gemischt. Diese Aussage
steht gegen die scholastische Akt-Potenz-Lehre bzw. den Hylemorphismus, die
das endliche Seiende immer schon vom Nichts durchwirkt sehen.257
Die Sätze „Das Sein ist, das Seiende ist, das Wirkliche ist“ meinen daher mehr, als
sie sagen: nämlich dass das Sein nicht unterscheidbar wäre für uns, noch sein
könnte an sich, wenn es sich nicht im Sein erhielte, „gleichsam das Nichtsein von
sich fern hielte, wenn es nicht diese seine beharrende Wirksamkeit ausübte“258.
Unmittelbare Trägerin in der Seinswirksamkeit sei die Wesenheit des Seienden.
„Alles wirkliche, reale, actuale Sein ist der erstmögliche Erfolg, die unmittelbare Offenbarung der Wesensenergie im Seienden“259. Ein Sein, das nicht Zeugnis eines
Tuns sei, ein totes, leeres Sein, ein Wirklichsein ohne Wirklichsein, gebe es nicht,
davon gebe es nur Scheinbegriffe. Die anscheinende Ruhe des Seienden, die
Gleichgewichtslage seiner Wirksamkeit könne mit rein wirkungsloser Wirklichkeit
verwechselt werden und letzterer würde so ein Scheinsein unterlegt werden.
Die Wirksamkeit des Seienden halte es nicht nur gegen das Nichtsein, es bewirke
auch das Bestimmtsein gegenüber anderem Seienden, sein Sosein.260 Sosein sei
dem Denken nur fassbar auf Grund einer Unterschiedenheit von anderem Seienden. Diese Unterschiedenheit sei nur möglich wegen des Unterschieden-Seins des
Seienden an sich. Etwas ist anders als etwas anderes auf Grund seines eigenen
allseitig und eindeutig bestimmten Soseins.
Ist in der klassischen Metaphysik das einzelne Seiende also dahingehend bestimmt, dass es ein Konkretum aus passivem Stoff und aktiver Form ist, ist bei
255
256
257
258
259
260
Vgl. Braig: Ontologie 45.
„[I]psum esse adeo in se certissimum, quod non potest cogitari non esse, quia ipsum
esse purissimum non occurrit nisi in plena fuga non-esse, sicut et nihil in plena fuga
esse“ (Bonaventura: Itinerarium V,3; zitiert bei Braig: Ontologie V); vgl. Braig: Ontologie
21-27; vgl. dazu Hamma: Philosophie II 15ff.; Braig würde sich allerdings dagegen
wehren, der Ungegenständlichkeit des Seins den Namen „Nichts“ beizulegen; das
Seiende sei gerade dadurch, dass es sich vom Nichts abhebe (vgl. Schaeffler:
Frömmigkeit 7f.).
Vgl. auch Braig 1881a, 331f.
Braig: Ontologie 25.
Ebd.
Vgl. ebd. 27-32.
260
Braig das Konkrete durchgängig als Aktives, Tätiges bestimmt. „Das Seiende ist
nur dadurch, daß es durch die ihm wesenseigene Kraft thätig ist“261. Sein ist energisch, das Zeugnis eines Tuns.262
Die Kritik des Neuthomisten Michael Glossner hat daher auch besonders und in
erster Linie den Seinsbegriff im Auge. Nach der in drei Artikeln im „Jahrbuch für
Philosophie und spekulative Theologie“ geführten Kontroverse schrieb Glossner
einen Aufsatz mit dem Titel „Ist Sein gleich Thun? Ist Sein durch Thun?“263, ohne
explizite Nennung der Metaphysik Braigs, aber durchaus angeregt von ihr.264
In seinem Aufsatz stellt Glossner fest, dass die als Überschrift gestellte Frage in
der modernen Philosophie eine bejahende Antwort gefunden habe. Dagegen stelle
die aristotelisch-scholastische Philosophie ihre Auffassung, dass dem Tun immer
ein Sein vorausliegen müsse. Gehe man nämlich von der Tatsache des Werdens
in allem vorfindlichen Sein aus, so finde man einerseits den Wechsel, ein tätiges
Element, andererseits aber auch ein festes Sein, ruhende Punkte, in denen das
Denken Fuß fassen könne. „Nur in Gott [...] fallen Sein und Thätigkeit in eins zusammen. Denn da alles endliche, gewordene und werdende Sein aus Möglichkeit
und Wirklichkeit zusammengesetzt ist, aus jener in diese übergeht, kein mögliches
Sein aber durch sich selbst sich zu verwirklichen vermag, so folgt, daß das erste
Sein als reine Aktualität gedacht werden muß, als Aktus, der in keiner Weise in
Thätigkeit übergeht, sondern durch sich selbst thätig ist, oder mit anderen Worten
seine letzte Vollkommenheit unmittelbar durch sein Wesen besitzt“265.
Der entscheidende Punkt also, der mit der Lehre von einem dem Tun vorausgehenden Sein betont werden solle, sei die prinzipielle Unterscheidung von göttlichem und geschöpflichem Sein. Während jenes actus purus sei, nicht vermischt
mit Potentialität irgend einer Art, sei die Schöpfung das „mit Potentialität behaftete[]
Sein, in welchem das Dasein außerhalb des Wesens und die Thätigkeit außerhalb
der Kraft und des Vermögens zur Thätigkeit fällt“266.
Andere Unterscheidungen zwischen Gott und Welt wie unendliches und endliches
Sein, oder absolutes und relatives Sein führen leicht zu dem Missverständnis, als
261
262
263
264
265
266
Ebd. 26.
Vgl. die nahezu gleichlautenden Formulierungen bei Hamma: Philosophie II 17, 22;
Braig bezieht sich wieder auf die Naturwissenschaft: „Die Chemie zeigt überall die
‘Kraft’ als an den ‘Stoff’ gebunden, als demselben immanent, ja als das specifische Kriterium eines bestimmten Stoffes, als dessen ‘substanzielle Form’, wenn wir wollen
(Braig 1881a, 332).
In: Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie 15 (1901) 129-146.
Dass den Anlass für die Verfassung dieses Artikels die Auseinandersetzung mit Braig
geboten hat, beweisen die Briefe Glossners an Ernst Commer: „Die Abneigung gegen
jede persönliche Polemik teile ich mit Ihnen vollkommen; ich gedenke deshalb den Aufsatz : ‘Ist Sein = Tun?’ streng objektiv und ohne jede besondere Rücksicht auf Braig [...]
zu behandeln“ (Brief Glossners an Commer vom 2. September 1899, in: Buschkühl:
Glossner 200); vgl. auch den Brief Glossners an Commer vom 11. März 1900 (Buschkühl: Glossner 212).
Glossner: Ist Sein gleich Thun? 130.
Ebd.; Glossner wirft Braig vor, er konzipiere eine monadologische Ontologie, der „eben
der richtige Begriff des Stoffes, noch allgemeiner der realen Potenz“ fehle (Glossner:
Braig, Vom Sein 61).
261
sei das geschöpfliche Sein lediglich eine Einschränkung, Selbstbegrenzung oder
Verendlichung des göttlichen Seins.267
Die von Glossner herangezogenen Stellen aus den Schriften Thomas’ versuchen
diese Argumentation zu untermauern. Schon Thomas habe der Darstellung Glossners zufolge hellsichtig die Irrtümer der neueren Philosophie antizipierend widerlegt, indem er darauf hingewiesen habe, dass die Identifizierung von Tätigkeit und
Sein zwangsläufig zur Vermischung göttlichen und kreatürlichen Seins, das heißt
zum Monismus führe. Als Beweis dafür werden die Denkrichtungen von Descartes
und Fichte herangezogen, die deutlich machen, wohin ein falsches Denken führe.
Bei Aristoteles ist der Begriff des Möglichen eng mit dem der Materie verbunden.
Das Problem des Werdens lässt Aristoteles auf die Ursachenlehre kommen, und
so ist das Konkretum zusammengesetzt aus den Elementen der Form und der Materie. Die Materie ist dabei nicht etwas schlechthin Nichtseiendes, sondern das,
was der Möglichkeit nach ein bestimmter Gegenstand ist. Die Materie ist für sich
betrachtet nichts sinnlich Wahrnehmbares, sondern unbestimmt, ungeformt.268
Thomas selbst hatte ja in der Tat die aristotelische Anschauung von den drei Bedeutungen des Möglichen übernommen und christlich überformt. Dabei bezieht
sich die reale Möglichkeit einerseits auf ein passives Vermögen in den Dingen
(Materialprinzip), andererseits auf ein aktives Vermögen (Form-, Wirkprinzip).269
Joseph Kleutgen übernimmt in zweiten Band seiner „Philosophie der Vorzeit“ die
scholastische Lehre vom wirklichen und möglichen Sein.270 Er zeichnet die aristotelische Schwierigkeit nach, die scheinbare Ausschließlichkeit der Alternative von
Sein und Nichtsein durch das Möglichsein zu durchbrechen. Im Körper sei die substanziale Form der actus, während der Stoff die potentia passiva sei. Das mit „actus“ gemeinte Wirklichsein sei ebenso wie das einfache Sein selbst nicht durch andere Begriffe bestimmbar. Kleutgen benennt die Eigenart der Scholastik dahingehend, dass in ihrer Lehre „jeder Körper aus einem Stoffe, der an sich
bestimmungslos, und daher des Daseins unfähig, und einer Form, welche das gesammte substanziale Sein des Körpers bestimmend, Theil seiner Wesenheit
sei“271. Im Gegensatz zur atomistischen Auffassung haben Aristoteles und die
Scholastiker nicht an die Genügsamkeit der Erklärung geglaubt, die die Eigentümlichkeit eines bestimmten Seienden lediglich an der Beschaffenheit der ihm
zugrunde liegenden Atome festmachen wollte. Der Umstand, dass der Stoff, der
durch die Form bestimmt werde, an sich und für sich betrachtet „zu gar keiner Art
einfacher Körper gehört, sondern ein Etwas ist, das zu jeglicher Art einfacher und
267
268
269
270
271
Der Vorwurf Glossners geht ausdrücklich gegen den Grundgedanken der braigschen
Ontologie, „er impliziert die Einheit des Aktiven und Passiven, die Identität von Grund
und Folge, von Ursache und Wirkung, und muss in konsequenter Ausführung notwendig zu einer monistischen Auffassung des Verhältnisses von Gott und Welt führen“
(Glossner: Braig, Vom Sein 65).
Vgl. Wolfgang Detel: Art. Materie I. Antike, in: HWPh 5, 870-880, hier 875.
Vgl. Horst Seidl: Art. Möglichkeit, in: HWPh 6, 72-92, hier 81f.
Vgl. Joseph Kleutgen: Die Philosophie der Vorzeit vertheidigt, Bd. 2, Münster 21878, 4658.
Ebd. 227f.
262
gemischter Körper bestimmt werden kann“272, lasse auch nicht zu, dass man diese
„Materie“ mit der neuzeitlichen, atomar strukturierten Materie identifizieren könne.
Wie Glossner in der Vernachlässigung der Akt-Potenz-Lehre, so sieht Braig gerade
in der Betonung der Potentialität das Einfallstor eines falschen Gottesbegriffs.
Braig kritisiert seit seinen frühesten Veröffentlichungen den scholastischen Materie-Begriff, der aus der aristotelischen Philosophie stamme und noch nicht gänzlich
von seinem heidnischen, dualistischen Ursprung gereinigt werden konnte. In einer
frühen Rezension273 schreibt Braig: „Von ‘Potentiellem’ z.B. kann im Grunde nur
geredet werden unter Voraussetzung eines ‘Potenten’. Indem aber diese nothwendige Subjektsbezugnahme außer Acht gelassen wird, kommt es auf das ‘Möglichsein’ (dunamei on) als auf ein metaphysisches Princip hinaus. Dieses heißt ‘Materie’. Ihr Begriff als reine Allgemeinheit, Starrheit, Unbewegtheit, Unbegrenztheit,
Passivität u.s.w. ruht lediglich auf einer Erschleichung. Man denkt an kein Subjekt
mehr, dem genannte Prädikate inhärerieren könnten, und man bedenkt nicht, daß
ohne ein wirkliches Subjekt die Prädikate objektiv selbst unmöglich, daß sie bloße
Scheinbegriffe sind, denen kein metaphysisches Element mehr entspricht. Mutatis
mutandis gilt dasselbe von der ‘reinen Form’“274.
Materie, der der sinnlichen Welt zugrunde liegende Urstoff, ist für Braig dagegen
selbst schon immer dynamisch, weil auch immer konkret; Stoff und Form sind zwar
als Ideen unterscheidbar, nicht aber als reale Gegebenheiten an einem Seienden.275 Möglichsein, Potentialität ist ihm kein metaphysisches Prinzip, sondern erwächst erst aus der Vorstellung vom Zählbarsein. Braigs Verständnis vom Sein ist
klar getragen von der leibnizschen Monadenlehre, welche die einheitlichen Substanzen nicht nur von einem wesentlichen Dynamismus bestimmt sein lässt, sondern auch die kontinuierliche Abstufung der Monaden von den schlummernden
Monaden mit nur verworrenem Bewusstsein bis hin zu Tier- und Geistmonaden
impliziert, von der sich die braigsche Denk- und Erkenntnislehre beeinflusst
zeigt.276 Diese Gradation bezieht sich aber nicht auf den Seinsbegriff. Eine gestufte
Teilhabe der verschiedenen Seienden am allgemeinen Sein etwa kommt bei ihm
ebenso wenig vor wie eine graduelle Seinsintensität. Das Sein des Seienden ist
immer das eine Einssein im Unterschiedensein.277
Wie ist die Unterscheidung zwischen Gott und dem geschöpflichen Seienden bei
Braig bestimmt, wenn bei ihm jedes Seiende gewissermaßen actus purus ist? Einen Hinweis gibt die Unterscheidung von So- und Anderssein, an der sich eine
weitere Grundbestimmtheit des Seienden ablesen lässt, nämlich dessen Einssein
in und mit sich. Erste und unmittelbare Folge aus dieser ursprünglichen Seinsbestimmtheit sei das Unterschiedensein, die Individualität des Seienden von allen
anderen. Die Einheit des Seienden wolle im eigentlichen Sinne besagen, dass das
272
273
274
275
276
277
Ebd. 229.
Vgl. Braig 1879a.
Ebd. 328f.; vgl. auch Braig 1881a, 332.
Vgl. Braig 1881a, 333ff.
Vgl. Hans Poser: Art. Monade II. Von Leibniz bis Kant, in: HWPh 6, 117-121.
Vgl. die Kritik Braigs an einem komparations- und gradationsfähigen Seinsbegriff in:
Braig 1879a, 329: „[W]ahre ‘Metaphysik’ [ist] nur möglich auf Grund eines vollkommen
universalen Seinsbegriffes“.
263
Seiende so mit sich identisch sei, dass es teillos ist. Die Menschenseele sei eins in
sich, aber vielfach in den Richtungen ihres Wirkens. Nur Gott sei eindeutig mit sich
eins, „der durch sein ewiges Wirken Seiende, durch sein Sein allein Wirkende,
durch Sein und Wirken mit sich Einige“278. Dem gegenüber wirke das endliche Seiende niemals nur allein durch sein Sein, sondern immer nur im Zusammensein mit
anderen Seienden. Der Begriff des Unterschiedes sei der Versuch, die Einheit
durch negative Abgrenzung zu fassen.279
Das Problem der Individuation
Das von Michael Glossner angesprochene Philosophoumenon von der aus Aktualität und Potentialität zusammengesetzten Konkretion des Seienden deutet ein weiteres Problem an, das innerhalb der vielfältigen Strömungen der Neuscholastik
umstritten war, das der Individuation. In der klassischen Lehre ist das einzelne
Seiende zusammengesetzt aus der unbestimmten Materie und der es bestimmenden allgemeinen Form. Nach Thomas ist das Prinzip der Individuation dabei die
„materia prima quantitate signata“, so dass die Einmaligkeit des verwirklichten Seienden durch die schon irgendwie bezeichneten Materie konstituiert ist. Dass diese
Lehre ihre Schwierigkeiten hat, liegt auf der Hand.280
Da Braig den Hylemorphismus ohnehin ablehnt, ist zu fragen, wie er die Möglichkeit zur Individuation begründet sieht. Ausdrücklich geht Braig darauf im Zusammenhang mit der Frage nach der Realdistinktion von Existenz und Essenz ein:
„Wenn kein sachlicher Unterschied zwischen dem Wesen und Dasein im einzelnen
Seienden, dann gibt es auch nicht ein reales Etwas, welches, der Wesenheit beigefügt, diese zur individuellen macht, sie individualisirt“281. Die verwirklichte Wesenheit selbst sei es, die ein Seiendes als bestimmtes Sosein, als Individuum hinstelle.282
Auf dem Einssein in sich und dem Unterschiedensein allem anderen gegenüber
beruhe die Vorstellung von der Individualität des Seienden. Ontologisch sei das
Seiende Individuum durch seine erste Seinsbestimmtheit, durch sein Sosein. Im
Reiche des endlichen Seienden sei jedes Seiendes physisches Individuum, auf
Grund seiner metaphysischen Individualität und durch Bewirkung anderer Seiender. Erkennungszeichen der physischen Individuen seien die individuellen Bestimmtheiten oder Unterschiede.
Die Einheit jedes Seienden verweist auf seine mathematische Bestimmtheit.283
Psychologisch entspringe das Zählen der beim Unterscheiden einzelner Seiender
getätigten Feststellung von Nein und Ja und der Übergehung der Nein und Festhalten allein der Ja.
278
279
280
281
282
283
Braig: Ontologie 29.
Schon früh bemerkt Braig, dass seine Auffassung missverstanden werden kann. Schon
1881 schreibt er: „Gegen den pantheistischen Monismus aber müssen wir uns a priori
verwahren“ (Braig 1881a, 334).
Vgl. Coreth: Schulrichtungen 405f.
Braig: Ontologie 50.
„Das Individuationsprinzip ist somit die Wesenheit selbst“ (Hamma: Philosophie II 19).
Vgl. Braig: Ontologie 32-35; vgl. auch Braig 1879a, 329f.
264
Ontologisch ist jedes Seiendes als Sosein und Sondersein ein „Einssein“ und
„Zählding“. Damit ist die metaphysische Einheit des Wirklichen und seine Einbarkeit mit jedem anderen Wirklichen ausgesagt. Jedes Seiende ist mathematisch und
sein Sein reiche so weit wie seine Mathematizität.284 Die Zahl sei freilich nicht das
Wesen der Dinge, wohl aber ein wesentliches Erkennungszeichen desselben.
Dass es in Zahlenbeziehungen gebracht, dass es in Zahlenformeln dargestellt
werden könne, sei dem Seienden wesentlich.
Die mathematische Zahl sei aber dennoch eine reine Abstraktion, die außer im
Denken keine Existenz für sich habe. Die erste Eins, der arithmetische Name für
das erste Unterscheidungs-Ja, sei der logische Maßstab für das ganze Verfahren
des Zählens. Den verschiedenen, quantitativ bestimmten arithmetischen Operationen komme keine ontologische Bedeutung zu.
Es fällt auf, wie Braig den Begriff des Möglichen sehr zurücknimmt.285 Er taucht bei
ihm an untergeordneter Stelle auf, wenn er die Vorstellung und den Begriff des
Möglichen sich aus der Mathematizität des Seienden entwickeln lässt. Die Potentialität sei also ein nachgeordnetes Derivat, wie die reine Zahl nur ein Gedankending, keineswegs ein Prinzip. Braig lehnt die reale, inhaltliche Bedeutung der Potentialität ab, der die aristotelische Materialursache entspricht, lässt also nur die logisch-formale Seite des Möglichen gelten.
Die allgemeinen Vorstellungen vom Zählen, der Zahl und dem Zählbaren wecke
die Begriffe des Möglichen, Unmöglichen und Notwendigen. Die abstraktive Gedankenkraft könne das einmal ergriffene Seiende beliebig oft wiederholen. In ihrer
Wurzel sei die psychologische Möglichkeit die Denkfähigkeit in der Seele. Die logische Möglichkeit sei die Norm des Denkvollzugs. Die ontologische Möglichkeit sei
die Bestimmbarkeit des Seienden durch das Unterscheiden, die Aufnahmefähigkeit
im Seienden für die logischen Unterscheidungen, für die unterscheidenden Zählungen.
Der Begriff des Möglichen ist für Braig also kein Prinzip der Metaphysik, sondern
erst abgeleitet aus der Tatsache der Mathematizität des Seienden. Dies erklärt
sich aus dem Misstrauen, das er dem Begriff der reinen Potenz entgegenbringt
(s.o.). Das psychologisch Mögliche sei also die Kraft der Denkfähigkeit, das logisch
Mögliche die Form der Denkwirklichkeit und -richtigkeit, das ontologisch Mögliche
sei der Inhalt der Denkbarkeit.
Wichtig ist dabei, dass die Bedeutung der Begriffe „möglich“, „wirklich“, „notwendig“
und die Seinsgesetze als die Inhaltsmerkmale der Begriffe vom Möglichen und
Notwendigen nach Maßgabe des wirklichen Seienden und des wirklichen Denkens
gebildet werden. Da das Mögliche der notwendige, abstraktive und multiplikable
Begriff des Wirklichen sei, kommen dem Möglichen dieselben notwendigen ewigen
Eigenschaften zu wie dem Wirklichen. Hieraus ergebe sich u.a. folgende Aussage:
„Eine leere Möglichkeit, die reine Potentialität als Substantivierung der reinen Widerspruchslosigkeit, der schlechthinigen Aufnahmefähigkeit, die ‘erste Materie’ [...]
hat so wenig Dasein als das rein allgemeine Sein und das Nichts“286.
284
285
286
„Alles Seiende ist mathematisch, da die Zahl aus dem Wesen des Seienden hervorfließt“ (Hamma: Philosophie II 23).
Vgl. Braig: Ontologie 36-43.
Braig: Ontologie 40.
265
Das Mögliche werde erkannt material durch das wirkliche Seiende, formal durch
die Denknorm des Unterscheidens. Das Mögliche ist letztlich formal das Denken
Gottes, inhaltlich die Selbstanschauung Gottes, sein ewiges Erkennen der eigenen
Wesenheit.287 Auch hiernach ergebe sich eine Reihe von Sätzen: die Denkgesetze
Gottes und des Menschen seien inhaltlich dieselben, formal unterschieden wie Urbild und Abbild. Die Gesetze, nach denen gedacht werden müsse, seien die Normen der ewigen möglichen und notwendigen Wahrheiten. Sie seien aber auch die
Normen des göttlichen und menschlichen Seins. Die Seinsgesetze und die entsprechenden Denkgesetze der Identität und des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten usw. gehen auf eine einzige Grundwurzel zurück. Dieses Axiom der
Axiome sei das Prinzip des Widerspruchs, das es unmöglich mache, das bestimmte Ja zugleich als Nicht-Ja zu denken, dass das bestimmte So-Sein eines Unterscheidbaren zugleich auch nicht sein So-Sein sei. Die logischen und ontologischen
Prinzipien seien gegründet in der Seinswirklichkeit Gottes; sie seien die ewige
Selbstaussprache, der Ausdruck der ewigen Selbstbejahung, das ewige Wort der
Gottheit, wodurch das Mögliche von Ewigkeit her und in Ewigkeit möglich, der
Verwirklichung fähig, und wodurch das Wirkliche musterbildlich Wirkliches sei. Der
Inbegriff der Urwahrheiten sei aber kein vorgängiges Prinzip, wonach sich das göttliche Sein zu richten habe. Unsere endliche Anschauungsweise sei nicht das Maß
des ewigen Seins.
2.3.4 Von der Wesenheit288
Nach der Betrachtung der Existenz des Seienden bleibe noch zu untersuchen, wie
„ein Seiendes als Wesen die allgemeinen Seinsweisen genauer für sich zur Anwendung bringt, wie es sich zeigt in seinen Wirklichkeitsformen, welche Bedeutung
den vielfachen Aeußerungen für den Begriff des Wesens zukommt“289. War im ersten Kapitel von der Wirklichkeit, das heißt von der Existenz des Seienden die Rede, so soll jetzt der andere Aspekt der Aussage „Etwas ist.“ hervorgehoben werden, das Etwas, das ist oder sein kann. Wenn auch die bisherige Untersuchung zu
einer bestimmten Erkenntnis über das Wesen des Seienden geführt hat, über seine Einheit, Unterschiedenheit, Individualität und Zählbarkeit, so waren dies doch
tautologische Bestimmungen. Durch die enge Anbindung der braigschen Ontologie
287
288
289
Wenn Franz Träger hier einen für eine „empirische Metaphysik“ eigentlich unzulässigen
Rückgriff auf eine transzendente Grundlage des Seienden und seiner Gesetze entdeckt, der erst die normative Kraft und Sicherheit dieser Prinzipien verbürge (vgl. Träger: Das empirische Denken 341f.), dann beachtet er m.E. zu wenig, dass Braig durchaus zwischen Seins- und Erkenntnisgrund unterscheidet; die Notwendigkeit der Prinzipien wird nicht positivistisch hingenommen, wie Träger es suggerieren will, sondern aus
ihrer unmittelbaren und nicht hintergehbaren Gegebenheit im Bewusstsein erschlossen
(vgl. Braig: Noetik 167f.); man habe zwischen einem materialen, metaphysischen Kriterium und einem Formalkriterium der Wahrheit zu unterscheiden (vgl. Braig: Gotteserkenntnis 563f.).
Vgl. Braig: Ontologie 44-99.
Ebd. 45.
266
an das konkrete Seiende ergibt sich, dass die Trennung von Sein und Wesen nicht
so scharf gefasst werden kann.
In der klassischen, von Aristoteles herkommenden Philosophie wird zwischen der
Existenz und dem Wesen eines Seienden unterschieden. Das endliche Seiende ist
durch Sein (esse) und Wesen (essentia) konstituiert. In der näheren Bestimmung
dieser beiden Elemente und ihres Verhältnisses gingen schon im ausgehenden
Mittelalter, dann auch in der Scholastik des 19. Jahrhunderts die Meinungen der
verschiedenen Schulen auseinander. Gehen strenge Thomisten von einer Realdistinktion aus, einer Unterscheidung von Sachen also, die sich wie Akt und Potenz
zueinander verhalten, so spricht die Schule des Duns Scotus von einer Formaldistinktion, die des Suárez von einer Virtualdistinktion.290
2.3.4.1 Vom Wesensding291
Zunächst sei das immer umstrittene Verhältnis von Existenz und Wesen zu untersuchen, wobei Braig damit überrascht, dass er von einem objektiv-realen Unterschied zwischen Wesenheit und Wirklichkeit eines Seienden spricht. Dies gelte
aber nur, wenn die Wesenheit selbst als rein ideale gefasst werde. Wenn, und davon geht Braig aus, dem Wesen Existenz nur als Gedankengebilde zukomme,
dann bestehe zwischen Wesen und Sein in der Tat ein objektiv-realer Unterschied
wie zwischen Gedachtsein und Seiendsein.
Ein lediglich logischer Unterschied bestehe zwischen der Wesenheit und der Wirklichkeit einer realen, individuellen Substanz. Da das Wesen nur gedankliche Wirklichkeit besitze, sei das Argument, dass die Ewigkeit und Notwendigkeit der Essenzen bei einer fehlenden Unterscheidung von Wesen und Sein auch für das
konkrete Seiende gelten müsste, hinfällig. „Im Reiche des endlichen Seins berührt
die ideale Unbedingtheit des Wesens die physische Bedingtheit des Daseins gar
nicht“292.
Die logische Unterscheidung zwischen Wesen und Dasein sei aber keine leere,
sondern eine solche zwischen Begriffsinhalten, denn wenn man sich das Wesen
einer Sache vorstelle, sei in dieser Vorstellung die Wirklichkeit dieses Wesens
nicht mitausgedrückt.
Interessanterweise führt Braig gegen die in der Lehre Matteo Liberatores293 vertretene Realdistinktion den spanischen Thomisten und Dominikaner Domingo de Soto294 an, der die Frage nach der Realdistinktion unentschieden lassen wollte, solange die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf gewahrt bleibe.295
Braig geht von der Erfahrung aus. Das Ding als Seiendes in seiner gleichbleibenden Einheit aus vielen unterschiedlichen und wechselnden Bestimmtheiten, das
290
291
292
293
294
295
Vgl. Coreth: Schulrichtungen 403f.
Vgl. Braig: Ontologie 45-51.
Braig: Ontologie 50.
Zu Matteo Liberatore (1810-1892) vgl. LThK3 6, 892.
Zu Domingo de Soto (1495-1560) vgl. LThK3 9, 745.
„Non est res tanti momenti hanc distinctionem aut concedere aut negare, dummodo
non negetur differentia inter nos et Deum, quod esse sit de essentia Dei et non sit de
essentia creaturae. [...] Esse exsistentiae numquam intellexi esse aliquam entitatem
distinctam a subiecto, tamquam aliam rem“ (zitiert nach Braig: Ontologie 51).
267
Ding in seiner Dinglichkeit sei seine äußere Bestimmtheit als seine Abgrenzung zu
allen anderen Dingen durch seine geschlossene Einheitsform. Die Möglichkeitsbedingung für die einheitliche Geschlossenheit des Dings sei sein „Wesen“. Die innere Begrenztheit des Dinges für sich sei bezeichnet, wenn seine innere Einheit benannt sei, als Gesetz, welches die Bestimmtheiten des Dings zusammenhalte, als
der Zweck, welcher sie dauerhaft verknüpfe, also als das, was das Ding zum Ding
mache, sein Wesen.296 Aufgrund der dynamischen Grundbestimmtheit des Seienden als vornehmlich von Tätigkeit bestimmten wird das Wesen dieses Seienden
nicht wie in der klassischen Metaphysik als statische Substanz gekennzeichnet,
sondern als Gesetz und Zweck, die die Einheit des Seienden gewährleisten.
„Die unmittelbare Trägerin der Seinswirksamkeit ist die Wesenheit des Seienden.
[...] Wie das Nichts gegenüber dem allgemeinen Sein convertirt werden kann, ähnlich kann die anscheinende Ruhe des Seienden, die Gleichgewichtslage seiner
Wirksamkeit mit rein wirkungsloser Wirklichkeit verwechselt und letzterer eine
Scheinsein unterlegt werden“297.
Unter dem Aspekt des tragenden Grundes, der die unterschiedlichen Bestimmtheiten des Dinges trägt, als das Einende im Einbaren, werde das Wesen des Seienden als Substanz bezeichnet. Substanz sei das letzte Subjekt der Zustände und
Eigenschaften des Seienden. Im Gegensatz zu diesen Zuständen und Eigenschaften sei die Substanz für sich (subsistens). Substantialität sei daher In- und Fürsichsein, natürliche Unmitteilbarkeit an irgend etwas anderes, seine Unaussagbarkeit von jedem anderen Seienden. Die erste Substanz sei wirkliches, die zweite
gedachtes Sein.298
Hinsichtlich der Erkennbarkeit der Wesenheit sei zu bemerken, dass das individuelle Wesen an sich nicht erkannt werden könne, dass unsere Erkenntnis der Naturen keine intuitive und vollkommen adäquate sei, dass es keine absoluten Definitionen gebe. Dennoch aber seien die Wesenheiten erkennbar, erschließbar, und
die Stufen der Erkenntnis seien in den Stadien der Begriffsbildung erkennbar. Dies
sei wichtig gegenüber einer empiristisch-positivistischen Philosophie zu betonen,
die den Begriff einer Substanz ablehne, weil diese nichts sinnlich Wahrnehmbares
sei. Braig wendet sich gegen den empiristischen, idealistischen und positivistischen Skeptizismus. Hier werde die Erkennbarkeit der Einzelsubstanz geleugnet,
auf Grund der Meinung, die Substanzialität der einzelnen Seienden sei seinswidrig.
Alternative Auffassungen seien aber letztlich nichts anderes als eine oberflächliche
Verhüllung des Fehlschlusses: „es gibt ein allgemeines Sein, den substantivirten
Rückstand unendlich vieler Prädikate ohne seiende Subjekte; es gibt eine unendliche Zahl ohne die Eins; es gibt einen ontologischen regressus in infinitum, welcher
alles Bewegte von anderem bewegt sein läßt“299.
296
297
298
299
Vgl. Braig: Ontologie 45f.
Braig: Ontologie 25f.
Vgl auch Braig 1899c; übrigens der einzige (mir bekannte) Lexikonartikel Braigs.
Braig: Ontologie 48.
268
Für Braig läuft die Leugnung der Erkennbarkeit der Einzelsubstanz darauf hinaus,
dass man annehmen müsse, es gebe ein vom konkreten Seienden abtrennbares
Prinzip des Seins, das Maßgabe des Erkennens sei. Wenn die Substanz als Wesenheit das Gesetz des Zusammenhalts der Einzelbestimmungen eines konkreten
Seienden ist, dann ist damit nicht gesagt, dass nach Abzug aller Einzelbestimmungen real ein Rest bleibt, der dann die Substanz ist. Würde man derart die Substanz
bestimmen, so wäre Braig der erste, der diesen Substanzbegriff ablehnen würde.
In der scholastischen Metaphysik wird das Verhältnis von Akt und Potenz auf das
von Sein und Wesen angewendet. Wenn Thomas Sein und Wesen des Seienden
als Akt und Potenz versteht, dann „ist das Sein (esse) als ‘Seinsakt’ (actus essendi) das Prinzip der Seinswirklichkeit, d.h. nicht nur des Daseins (Existenz), sondern
auch aller im Seienden aktuell gesetzten Seinsgehalte oder Seinsvollkommenheiten (perfectiones essendi), daher aller Positivität und Aktualität, die dem Seienden
zukommt“300.
Es ist offenbar, dass Braig aufgrund seiner Konzeption dem Wesen ontologisch
nicht einfach nur reine Potentialität zusprechen kann. Er verlegt daher den Begriff
der Möglichkeit, auch hinsichtlich der Wesenheit, in die rein ideelle Sphäre. Die
formale Seinsmöglichkeit sei die Zahl, die angibt, wie oft die Seinsgesetze denkbar
seien. Die ideale Wesensmöglichkeit seien die gedachten Subjekte, auf die die
Seinsgesetze anwendbar seien. Die göttliche Wesenheit sei zwar unbedingt notwendig, die Erkenntnis des Gottesbegriffs aber schließe noch nicht die Erkenntnis
seines Daseins ein, wie Braig auch gegen Anselm betont.
2.3.4.2 Von der Wesenseigenschaft301
Was das Seiende ist, komme zu Tage dadurch, wie das Seiende sich zu anderem
Seienden verhält. Wassein und Wiesein seien Wechselbegriffe. Wiesein sei Inbegriff der Wesenseigenschaften eines Dinges, und wie für das Wassein die Substanz der entsprechende Ausdruck sei, so für das Wiesein die Akzidentien. Deren
gebe es absolute, an sich seiende, und relative. Ein Wesen könne ohne relative,
nicht aber ohne absolute Akzidentien sein und gedacht werden. Weiters unterscheide man zwischen notwendigen und zufälligen Akzidentien. Ein reines Akzidens gebe es nicht, es wäre die Substantivierung des Nichts in Bezug auf die Eigenschaft, wie das reine Sein die Substantivierung des Nichts in Bezug auf die
Substanz.302
So wie jede Erkenntnis aus und nach dem Maß der Selbsterkenntnis gewonnen
werde, so solle auch der Eigenschaftsbegriff auf seinen psychologischen Ursprung
befragt werden. Psychologisch entstehe er aus der Erinnerung an die Eindrücke,
die die Gegenstände auf unseren einzelnen Sinne hinterlassen. Wir selbst sind
Dinge mit Eigenschaften, wesentlichen, wie Vermögen, Fähigkeiten, Anlagen, und
relativen.
Aus dieser psychologischen Betrachtung ergeben sich folgende Erkenntnisse hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Wesen und Eigenschaften: Wesen sei der
Mittelpunkt S, der die Bestimmtheiten a, b, c ausstrahle, durch sie sich auswirke.
300
301
302
Emerich Coreth: Grundriß der Metaphysik, Innsbruck/Wien 1994, 77f.
Vgl. Braig: Ontologie 51-99.
Vgl. ebd. 51f.
269
Wesen sei nicht bloß die Summe der Eigenschaften, sondern die sich selbst erhaltende Einheit. Die Eigenschaften sind nicht bloß die Summanden, sondern die
Funktionen der Konstanten S.
„Nach der Analogie mit unserem Wesen und seinen Eigenschaften bezeichnen wir
alles Sein um uns als seiend, mag es über uns, das Unendliche, mag es neben
uns und unter uns sein“303. Was immer die Anwendung dieser Analogie nicht gestatte, sei nicht andersartig, sondern sei überhaupt nicht. Die nächste Seinsmöglichkeit ist der Grad seiner Vergleichbarkeit mit unserem Wesen.304
Das unmittelbar zugängliche Seiende wird in seiner Vielfalt auf bestimmte Seinsklassen oder Kategorien zurückgeführt. Die wirkliche Anwendung der Analogie
nach dem menschlichen Wesen schafft die logischen Kategorien. Sie seien die allgemeinsten Bestimmungsformen, Auffassungs- und Aussageweisen des Denkens,
und hinsichtlich ihres psychologischen Ursprungs sind die Kategorien die „allgemeinsten Möglichkeitsweisen des Unterscheidens, die allgemeinsten Bewegungsformen des Denkens in Gemäßheit seiner Seinsgesetze“305.
Das, worauf sich die Aussageformen stützen, sind die allgemeinsten Bestimmtheitsformen, die ontologischen Kategorien. „Die Congruenz zwischen logischer
und ontologischer Kategorie bedingt die Möglichkeit der Erkenntniß und beruht
darauf, daß die Seinsgesetze des Denkens die des denkenden Wesens, die Gesetze des Seins, des Seienden und aller Seienden sind“306.
Hier zeigt sich einmal mehr die Parallelität der Denk- und Seinswirklichkeit, die
letztlich postuliert werden muss, um die Sicherheit und Gewissheit des Erkennens
zu gewährleisten.
Die allumfassende Kategorie, logisch wie ontologisch, sei die des Dinges mit Eigenschaften (Substanz und Akzidenz). Diese für Michael Glossner befremdliche
Aussage307 wird wie folgt begründet: Wie das allgemeinste Urteil laute: „Das Seiende ist“, so bedeute dies, dass jedes Seiende ein Etwas, ein Wesen ist, das sich
aktiv als Substanz und Akzidentien verwirkliche. Wenn die klassische Ontologie
Substanz und Akzidens als getrennte Kategorien behandele und überhaupt eine
bestimmte Anzahl solcher Kategorien kennt, so sei damit nicht eine unumstößliche
Lehrmeinung verbunden.
Auch für Braig ist die Zahl der Kategorien variabel je nach Grad der Genauigkeit,
mit dem das Wesen im Seienden unterschieden werde. Nebenkategorien seien die
Kategorien des Akzidens, die Summe der Möglichkeiten für das Wiesein am Seienden. Man könne diese Nebenkategorien vielfach bestimmen, auch mit den drei
Fragen, die für Braigs Ontologie strukturbestimmend werden: Wie ist das Seiende,
indem es sein Wesen auswirkt?, Wie hält sich das Seiende, indem es auf das An-
303
304
305
306
307
Ebd. 53.
Vgl. Braig: Noetik 152-156 und oben Abschnitt 1.5.1 Das Selbstbewusstsein.
Braig: Ontologie 53; vgl. ders.: Logik 40, wo die Kategorien als die „allgemeinsten Vollzugs- oder Aussageweisen des Denkens“ charakterisiert sind.
Braig: Ontologie 54.
„Diese frappante Behauptung erhält Licht, wenn wir bedenken, daß nach dem Verf. das
Seiende sein Wesen und was damit für gleichbedeutend gesetzt wird, seine Eigenschaften und Accidentien auswirkt“ (Glossner: Braig, Vom Sein 62).
270
derssein einwirkt?, Was erzielt das Seiende an sich und an andern durch sein Wirken?: Wesen, Wirken, Zweck.
Wenn Braig also die umfassende Kategorie als die von Substanz und Akzidens
bestimmt, dann auch deswegen, um die Einheit des einen wirkenden Seins des
Seienden zu betonen. Wie wir schon gesehen haben, ist für Braig jede Dichotomie,
jeder Dualismus, wie sie in der klassischen (neu)scholastischen Philosophie zwischen Akt und Potenz, zwischen Substanz und Akzidens, zwischen Sein und Wesen besteht, suspekt.
Um noch einmal die Einheit des einen, sich in Wesen und Eigenschaften äußernden Seienden zu betonen, charakterisiert Braig die Verschiedenheit von Wesen
und Eigenschaften. Der Unterschied zwischen Wesen und Eigenschaft könne in
verschiedenen Weisen gefasst werden. Beispielsweise sei die Substanz das Was
am Sein, während das Akzidens das Wie am Sein sei, das Sein der Substanz sei
Fürsichsein, Subsistieren, das der Eigenschaft Emanieren bzw. Inhärieren.
Interessanter ist aber die Frage, von welcher Art der Unterschied zwischen Substanz und Akzidens ist. Auf der einen Seite werde die Meinung vertreten, dass es
einen sachlichen Unterschied zwischen Wesen und Eigenschaft gar nicht gebe.
Die Scotisten vertreten z.B. die Auffassung, die Unterscheidung „Substanz und
Akzidens“ existiere nur gedanklich. Auf der anderen Seite, bei den Thomisten werde dieser Unterschied so sehr betont, dass die Eigenschaften als trennbar vom
Subjekt erscheinen.
Braig entscheidet diesen Streit so, dass er Wirklichkeit der Eigenschaft und Realität des Wesens gewahrt sein lassen will. Es existiere aber nicht eine reale Trennbarkeit, sondern nur die Möglichkeit einer idealen Trennbarkeit zwischen dem
Dass, dem Was und dem Wie des Seienden. Gleichwohl sei die Unterscheidung
nicht eine rein ausgedachte, leere Formel, sondern sie habe Anhalt im Seienden
selbst und in seinen Bestimmtheiten; der jeweilige Unterschied zwischen Wesen
und Sein auf der einen, und Substanz und Akzidens auf der anderen Seite „bedeutet, daß der Inhalt der einen Seinsbestimmtheit nicht schon ausdrücklich in dem
Inhalte der andern gedacht ist; er bedeutet aber nicht, daß die Seinsbestimmtheiten sich zum Wesen wie Theile zum Ganzen und untereinander wie Theilstücke zu
Theilstücken verhalten“308.
Abschließend findet Braig ein Bild für das Seiende: „Das Wesen des Wirklichseienden ist somit vergleichbar einem untheilbaren, elastischen Krystalle, der eine
bestimmte Zahl Flächen haben muß, um zu sein, und welcher diese Zahl mannigfach vervielfältigen kann und sie verändert, je nachdem er seiner Umgebung gibt
oder von ihr empfängt. Die Eigenschaften des Seienden, die absoluten und die relativen, sind alsdann die Flächen selber. Ihre unmittelbare Offenbarung wie die
hiedurch vermittelte Kundgebung des Wesens im Seienden ist bedingt durch das
Wirken des Seienden, und zwar durch sein Wirken innen, nach innen und nach
außen (Immanenz, Receptivität, Activität)“309.
308
309
Braig: Ontologie 56.
Ebd.
271
Raum und Zeit als Eigenschaften des Seienden310
Die Fragen nach Raum und Zeit gehören klassischerweise nicht zur Ontologie,
sondern in die Naturphilosophie, die Kosmologie.311 Raum und Zeit erweisen sich
nach Braig aber nicht als an sich Seiendes, sondern als Bestimmtheiten am Seienden selbst, genauer als Verhältnisbestimmtheit des Seienden zu anderem Seienden. Raum und Zeit sind im Seienden, nicht dieses in Raum und Zeit.
Als eine der schwierigsten philosophischen Fragen bezeichnet Braig die nach dem
Raum, der Räumlichkeit der Dinge.312 Ist der Raum eine unabhängig von in ihm
Seienden bestehende Substanz, oder ist der Raum nur als Verhältnisbestimmung
der von ihm umschlossenen Dinge zu betrachten? Braig möchte den psychologischen Ursprung des Raumbegriffs empirisch ermitteln, um dann zum eigenen metaphysischen Raumbegriff vorzustoßen.
Wichtig scheint hierbei, dass die Seele auf Grund und in Kraft der Sinneswahrnehmung sich das Bild von der Räumlichkeit der Dinge konstruiert. Maßgabe hierfür ist „die Innenanschauung vom Grundgesetze des Widerspruches“313. Aufgrund
der psychologischen Analyse erhebt Braig die ontologische Bedeutung des Raumbegriffs. Hierzu unterscheidet er einen psychologischen Raumbegriff, „gefaßt als
die reine Ausdehnung, als die Leere, worin nach allen Richtungen hin Gebilde nebeneinander sein können“314, von einem metaphysischen Raumbegriff, der dem
Raum ein vom Denken unabhängiges Sein „als Eigenschaft der Seienden, welche
materiell heißen“315, zugestehe. Abstrakt genommen sei daher der psychologische
Raum nicht existent, „ist er wie das allgemeine Sein, dessen objective Darstellungsform er sein will, einem negativen Begriffe gleich, ist er nicht, ist er ein
Nichts“316.
Die Realität des Raumes sei also abhängig von dem in ihm Seienden, sei Funktion, Bestimmtheit des Körpers. Raumsein sei eine Eigenschaft des Seienden, soweit es körperlich ist, und so erklärt sich auch, dass Braig diese Frage unter die
Eigenschaften des Seienden rechnet. „Das Irgendwosein ist für den Körper [..] unvermeidlich mit seinem Dasein gegeben [...] Irgendwosein ist ontologisch für den
Körper dasselbe was Geformtsein, dieses dasselbe was Sosein, dieses dasselbe
was Etwasssein, dieses dasselbe was Sein im Unterschiedensein oder Unterschiedensein durch Sein“317.
Michael Glossner meint hier feststellen zu können, dass Braig Ausdehnung mit
Raum (Ort) verwechsele, „wenn er den letzteren als Eigenschaft der Dinge er-
310
311
312
313
314
315
316
317
Vgl. ebd. 58-99.
Vgl. Glossner: Braig, Vom Sein 62; Kälin: Philosophie, 167-173; 179ff.
Vgl. dazu Braig: Ontologie 58-83; vgl. auch Hamma: Philosophie II 23-27.
Braig: Ontologie 72.
Ebd. 76f.
Ebd. 78.
Ebd. 77.
Ebd. 79; „[D]em Raum [ist] überhaupt keine Eigenrealität nachzuweisen [..]. Raum, Materie (ulh prwth), Unendlichkeit u.ä. Begriffe bezeichnen nichts Substanzielles, sondern
sind annähernde Werthbestimmungen, in welchen wir Universalgesetze des Seienden
ausdrücken; andere nennen sie Grenzbegriffe des Denkens“ (Braig 1882b, 143).
272
klärt“318. Dies gilt allerdings nur, wenn man den Raum als eine eigenständige Größe erkennen will, was Braig ja ausdrücklich nicht tut. So ist es auch im eigentlichen
Sinne nicht angemessen zu fragen, wie die Seienden im Raume sein können, sondern man müsse korrekt fragen: „Wie ist der Raum an und in dem Seienden?“319
Man frage ja auch nicht: Wie ist die Sonne im Licht? – womit man eine Abtrennbarkeit des Lichtes von der Sonne implizieren würde –, sondern man frage richtig:
Wie geht das Licht von der Sonne aus?
Ähnlich wird der Zeitbegriff erhoben.320 Die Zeit als die leere Form des Sichfolgens
habe für sich nicht ein wirkliches, sondern nur ein eingebildetes Sein. Wirkliches
Sein habe die Zeit als Eigenschaft des endlichen Seienden. Sie sei aber nichts den
Seienden Abtrennbares.
Für Glossner hängt die Erklärung, die Braig vom Raum- und Zeitbegriff gibt, „ganz
und gar von seiner monadologischen Grundanschauung ab und scheitert an der
Unmöglichkeit, das Kontinuum aus dem Diskreten abzuleiten“321.
2.3.5 Vom Wirken des Seienden322
Einleitung
Das Problem des Werdens und der Bewegung ist eine der großen Fragen der
abendländlischen Geistesgeschichte.323 Das Leben, die Wirklichkeit, ist immer und
überall von Bewegung und Veränderung geprägt. Und dieses ständige Wechseln
von einem Zustand in den anderen tritt in einen Widerspruch mit dem Gleichbleibenden, Beharrenden, von dem wir gleicherweise immer ausgehen. Das Denken
ist hier herausgefordert, die Wirklichkeit gegen ein ständiges Fließen und Zerfließen im Sinne Heraklits und gegen die bewegungslose Starre des parmenideischen
Seinsbegriffs zu bewahren.
Der aristotelische Ausgang vom Problem der Bewegung, d.h. der Veränderung im
weitesten Sinne, fühlt sich von diesem Widerspruchsproblem herausgefordert.
Veränderung ist ein Mittleres zwischen Identität und Nichtidentität: Etwas bleibt
gleich und verändert seine Eigenschaften. Diese aber betreffen sein inneres
Selbstsein. Dasselbe ist dasselbe und doch nicht dasselbe. Das Eine, Seiende, in
sich derart widersprüchlich, wird bei Aristoteles in sich so differenziert, dass es eins
ist und bleibt, aber in Zusammensetzung aus Elementen, die so den Widerspruch
auflösen. Das Konkrete ist das aus Stoff und Form Zusammengewachsene. Aus
Möglichem kann Wirkliches werden, Wirkliches muss aus Möglichem geworden
sein. Substanz und Akzidens sind so bestimmt.
318
319
320
321
322
323
Glossner: Braig, Vom Sein 62.
Braig: Ontologie 81.
Vgl. ebd. 83-99; vgl. auch Hamma: Philosophie II 28f.
Glossner: Braig, Vom Sein 63.
Vgl. Braig: Ontologie 100-133.
Vgl. Heinz Heimsoeth: Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und
der Ausgang des Mittelalters, Stuttgart o.J., 131-171.
273
Wie stellt sich die Frage bei Braig dar, gerade angesichts seiner Ablehnung des
Hylemorphismus? Er schreibt bei der Behandlung des Soseins: „Ein mittleres Sein
zwischen dem Sosein und dem Sosein eines wirklich Seienden gibt es nicht. Darum gibt es auch keine natürliche Verwandlung oder Entwicklung von einem Seienden in ein anderes“324. Wie verträgt sich aber diese Ansicht mit der augenscheinlichen Verwandlung von vielem in vieles?
Drei Formen des Wirkens lassen sich unterscheiden: die Veränderung, die Bewegung, das Werden. Diese Formen des Wirkens lassen sich aber nicht streng gegeneinander abschließen. Ein Gedanke vor allem ist es, welcher der bisherigen
Untersuchung zugrunde liegt: „Wirklich ist ein Seiendes dann und so lange, wenn
und wielange seine Wesenheit wirksam ist; die Bestimmtheiten eines Seienden,
vom Dasein bis zur letzten Eigenschaft, sind Kennzeichen des Wesens, weil Ausflüsse seines Wirkens; die Seele des Seienden ist Thun, Thätigkeit, und zwar ist
sie für jedes Seiende individuell bestimmte Thätigkeit, eben jene, durch welche es
ist, was es ist und unterschieden ist von jedem anders Seienden und anders Thätigen“325.
Die Tätigkeit des Seienden, wodurch es ist und bleibt, was es ist, kann analog der
bewussten Tätigkeit des Denkens Unterscheiden genannt werden.326 Für das Seiende heiße dies: sich halten gegen Nichtsein, sich als sich selbst behaupten gegen
das Anderssein. Gemäß der beim Subjekt ansetzenden Methode Braigs, durch die
unmittelbare Selbstanschauung, „durch die Bethätigung unseres Thuns erfahren
wir unabweislich, was das Thun überhaupt ist“327. Dieses Wirken setze nach innen,
immanent, die absoluten Eigenschaften im Wesen des Seienden. Transeuntes
Wirken sei Setzung der relativen Eigenschaften.
Das Wirken selbst ist nicht erklärbar, undefinierbar wie das Sein selbst. Durch die
unmittelbare Selbstanschauung aber erfahren wir, was das Tun überhaupt ist. „Unterscheidend gewahren wir, daß unser individuell bestimmtes Thun in seiner Einfachheit eben das Unterscheiden ist. Durch unser Wirken, durch das Wirken in uns
wissen wir, daß das Wirken ein Regen und Bewegen ist in der von den Seinsgesetzen vorgezeichneten Richtung“328.
1) Die Veränderung329
Braig entwickelt den Begriff der Veränderung aus der Selbstwahrnehmung der
menschlichen Seele. Der Begriff der Veränderung sei psychologisch zusammengesetzt aus drei Bestandteilen: der Selbigkeit des Tuns, nämlich dem Unterscheiden der Seele, der Reihe von anderem und anderem, der Stetigkeit des Überganges von einem Reihenglied zu den weiteren. Wo immer wir in der Außenwelt etwas
wahrnehmen, was der Abfolge der drei Momente entspreche, der Beharrlichkeit
des Dinges, des Wesens, der Substanz, der Vielfachheit der bewirkten Zustände
324
325
326
327
328
329
Braig: Ontologie 28.
Ebd. 101.
Vgl. Braig: Logik 2.
Braig: Ontologie 102.
Ebd. 103.
Vgl. ebd. 106-109.
274
und der Stetigkeit des Zusammenhangs zwischen den Zuständen, so nennen wir
dies Veränderung.
Aus dieser psychologischen Bestimmtheit der Veränderung wird auf den ontologischen Begriff der Veränderung geschlossen. Die Tatsache der Veränderung bedeute nicht, dass an einem Seienden sein Sosein durch ein Eigensein bestimmt
wäre, das abgelöst und durch ein anderes Sosein ersetzt werden könnte. Vielmehr
bedeute die Veränderung eine Wirklichkeit, die die Wirksamkeitsform seines Wesens sei. „So lautet die ontologische Bestimmung unseres individuellen Seins, Daseins und Wasseins nicht bloß: Einssein im Unterschiedensein von dem Anderssein, sondern: Einsbleiben in ständigem und stätigem Sichunterscheiden von allem
anderen Sein. Durch das Sichunterscheiden wird der Gesamtinhalt dessen, was in
mir ist, wird die Möglichkeitssumme meiner Zustände, meiner Unterschiedenheiten
von dem, was ich nicht bin, mir selber und meinem Gegenüber im Flusse der Zeit
offenbar. Mein Veränderlichsein ist sonach mein Sein selber in seinem Thätigsein“330.
Auch die äußeren Dinge verändern sich infolge ihres wirkenden Verhaltens gegeneinander. Nach außen hin sei der Kreis der Veränderlichkeit eines Seienden begrenzt durch die Relationspunkte seiner auf ihn wirkenden Umgebung. Nach innen
bestimme der Grad der Unterscheidungsfähigkeit eines Dings, das Maß seiner
Wirkungskraft, die Zahl seiner möglichen Veränderungen seinen Platz in einem der
Reiche, in der Hierarchie des Seienden. Die Veränderlichkeit habe ihre Schranke
an der Unveränderlichkeit des Seins und Wesens eines Seienden, an seinem
Einssein mit sich selbst. Für jedes Seiende gelte, dass es nicht in alles verwandelt
werden kann. Das Sichverändern sei damit seiner Innenseite nach nicht erklärt,
wohl aber ist die Außenseite näher beschrieben.
Wichtig scheint es hier festzuhalten, dass das Problem der Veränderung, der
Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz, von Braig nicht dazu benutzt wird, verschiedene Dimensionen in einem konkreten Seienden anzunehmen, die real voneinander getrennt wären. Auch hier verfolgt Braig eine konsequente Verteidigung
der Einheit des Seienden. Die verschiedenen Zustände, die aufgrund der Einwirkung auf ein Seiendes an diesem sichtbar werden, müssen aus dessen Eigenwirksamkeit und „Selbstverwirklichung“ erklärt werden. Jeder denkbare Zustand eines
Seienden ist die Verwirklichung seines tätigen Wesens.331
2) Die Bewegung332
„Weil das Seiende seinem Wesen nach Thätigsein ist, muß alles in beständiger
Bewegung sich befinden“333. Eine absolute Ruhe gebe es gar nicht. So ist es nach
der Ontologie Braigs nicht so sehr die Bewegung, deren Erklärung Schwierigkeiten
bereitet, sondern vielmehr die Ruhe. Sie wird als eine relative bestimmt, wenn
330
331
332
333
Braig: Ontologie 108.
„Das Reale zeigt uns Veränderung. Veränderung ist Anderssein, als es bisher war; das
Anderssein aber ist begründet im Unterschiede. Weil das Seiende Unterschied ist, trägt
es das Anderssein und damit die Veränderlichkeit in sich“ (Hamma: Philosophie II 29).
Vgl. Braig: Ontologie 110.
Ebd.
275
nämlich mehrere Seiende ihre Bewegungen auf eine mittlere Gleichgewichtslage
gebracht haben.
Die Bewegung im engeren Sinne sei definiert als die Tastbarkeit und Sichtbarkeit
von Zustandsänderungen an den Seienden. Auch die Bewegung beruhe auf der
unterscheidenden Tätigkeit des Seienden, denn das Wirken des Wesens schaffe
die ursprüngliche Lage eines Dings im Verhältnis zu anderen Seienden. Die Veränderung sei dann bloß die Fortsetzung dieser Tätigkeit des einzelnen Seienden
unter Mithilfe seiner Umgebung. Veränderung und Bewegung seien real, wirklich
an Wirklichem, wie der Raum am Räumlichen, die Zeit am Zeitlichen. Aber es gebe
keine reine Veränderung, keine reine Bewegung, wie es auch keine Zeit ohne Zeitliches, keinen Raum ohne Räumliches gebe.
3) Das Werden334
Für das Werden im eigentlichen Sinne, das heißt die Neuentstehung von Seiendem selbst, benennt Braig eine entscheidende Problematik:335 Man müsste das
Nichts als einen realen Durchgangspunkt annehmen, durch den das alte Seiende
ginge, das zugleich Ausgangspunkt für das neu Werdende wäre. Damit wäre die
sinnwidrige Identität von Sein und Nichts angenommen und auch die Identität von
Wirken und Nichtwirken. So lasse sich die Realität des Werdens nur in einem uneigentlichen Sinne behaupten. Solches seien die Bewegung und das Verändern.
Relatives Werden lasse schon Daseiendes, Grund- und Angelegtes am Seienden
zum Vorschein kommen. Ein absolutes Werden, ein Neuentstehen innerhalb der
Veränderungen an einem Seienden, könne es am Stofflichen nicht geben. Das
Repertoire von möglichen Umänderungen an einem Seienden sei gegeben und
lasse sich nicht vermehren oder vermindern. Das sei der metaphysische Sinn des
physikalischen Satzes von der Erhaltung der Kraft, der besagt, dass die Summe
der Energieverwandlungen in der Welt eine konstante Größe sei. Braig macht hier
auf den Wert der deduktiven und induktiven Methode aufmerksam. „Der Satz von
der ‘Erhaltung der Kraft’ ist aus dem richtigen Begriffe vom Seienden und der Veränderung, vom Seienden als stätig wirkendem Wesen, ist aus der richtigen
Vorstellung von der Causalität ableitbar und durch die Erfahrung bestätigt für die
sämtlichen Gebiete der Physik; oder besser, die metaphysischen Begriffe des
Seins, Wesens und Wirkens sind nur aus der innern und äußern Erfahrung zu
erheben“336. Analog schließt Braig von der Tatsache, dass es innerhalb des
geschaffenen Seienden ein absolutes Werden nicht gibt, auf den Satz von der
Erhaltung der Masse, oder umgekehrt: Der empirisch belegbare Satz von der
Erhaltung der Massen im All ziehe notwendigerweise den richtigen Seinsbegriff
nach sich. „Die beiden Fundamentalsätze der neuern Naturwissenschaft [sc. der
Satz von der Erhaltung der Kraft und der Satz von der Erhaltung der Masse] sind
Correlatsätze, von welchen der eine den andern in sich schließt, wie Sein und
Wirken Correlatbegriffe sind, zumal im Wesen des Seienden enthalten. Der eine
Satz lehrt die Bestimmtheit und Selbstgleichheit der Summe für das Wirkliche; der
andere lehrt die Bestimmtheit und Selbstgleichheit der Tragweite für das Wirken im
334
335
336
Vgl. ebd. 111-114.
Vgl. auch Braig 1879a, 328.
Braig: Ontologie 111.
276
Wirklichen“337. Die physikalischen Bestimmtheiten der Materie müssen nach Braig
aus dem richtigen Seinsbegriff ableitbar sein.
Die Träger des Wirkens
Auch mit seinen Anschauungen über das Wirken setzt sich Braig in Widerspruch
mit herrschenden aristotelisch-scholastischen Philosophumena. Für Braig kommen
als Träger des Wirkens die Seienden, und nur diese in Frage. Unhaltbar sei daher
für ihn der „aristotelisch-scholastische Gemeinplatz: Illud in entibus est extreme distans a Deo, quod est in potentia tantum, scilicet materia prima; unde eius est pati
tantum et non agere“338.
Auch die aristotelische Unterscheidung von Material- und Formalursache, nach der
„Ansicht, die Seienden enthalten Stoff und Form als ihre constituierenden Principien“, muss von Braig anders gedeutet werden: „Die Bezeichnungen können auf die
beiden Seiten am Seienden, auf das Sein und auf das Wassein (Thätigsein), freilich nur in bildlichem Sinn, angewandt werden“339. Und auch die Gegenüberstellung von Wirk- und Zweckursache stellt Braig in Frage: „Wirkend, wirksam ist jede
Ursache“340.
Auch Braig kann das Wirken letztlich nicht erklären. Es lasse sich nicht definieren,
wohl aber erleben und empfinden.341 Das Wechselwirken der Seienden bleibe da337
338
339
340
341
Ebd. 113; vgl. Klaus Mainzer: Art. Erhaltungssätze, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Mannheim u.a. 1980, 572f.
Braig: Ontologie 122; Zitat aus Thomas von Aquin: Summa contra gentiles 3, 69 (Thomas von Aquin: Summe gegen die Heiden, Bd. 3/2, herausgegeben und übersetzt von
Karl Allgeier, Darmstadt 1990, 298); Sinn hat die Unterscheidung nur als Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte: „Um dem Dualismus von Natur und Geist einerseits und von Absolutem und Bedingtem andrerseits gerecht zu werden, genügt u.E.
vollauf die spekulative, nicht abstrakte, die dialektische, nicht logisch-formalistische Geltendmachung folgender Reflexion: Metaphysisch ist jedes Seiende eine reale Einheit
und das Urseiende die absolute Einheit. Jedes Seiende aber, auch das Absolute per
analogiam, muß von uns unter doppeltem Gesichtspunkt aufgefaßt werden, nach Seite
seines Wirkens auf andere und nach Seite des Wirkens anderer (oder seiner selbst) auf
es selber. In letzterem Betracht erscheint uns das Seiende im allgemeinen als Passivität, Potentialität, Materie, Stoff, Sein schlechthin, im ersteren als Wirken, Aktualität
(‘Wirklichkeit’), Form, Kraft, Thun schlechthin. An und für sich aber ist jedes Seiende
Substanz-Einheit in und mit einer Vielheit von Accidentien, und jede subjektiv doppelte
Beziehungsweise rücksichtlich des Einen Seienden zu objektiv zweien Seinselementen
stempeln, ein ‘durch Zusammensetzung gespaltenes Wesen’ konstruiren [...] – ist dichtender Formalismus“ (Braig 1881a, 333f.).
Braig: Ontologie 121.
Ebd.
Nach Ansicht Franz Trägers (Das empirische Denken) bestimme der empirische
Grundzug des Denkens Braigs dessen phänomenalen Zugang zu dem Problem des
Wirkens. Dadurch werde aber auch der Mensch als Ding unter Dingen einem mechanistischen Weltbild eingeordnet, dem Freiheit und Bewusstsein abginge. In einer m.E.
sehr gewagten Interpretation versucht Träger darzulegen, dass namentlich das „Dunkel
zwischen Wissen und Handeln“ (Braig: Ontologie 120) nur dadurch zu erklären sei,
dass sich ein Wirklichkeitsverlust bezüglich des Denkens einstelle. „Eine folgenschwere
Freiheit des Denkens, die diesem aus einer realen Potenz, einem Noch-Nicht hätte zukommen können, hat hier keinen Ort [...] Ein selbstbewußtes, des Seins fähigen Den277
durch im Dunkel, so wie zwischen Wissen und Handeln, dem erkannten und dem
ausgeführten Willensentschluss ein unerklärlicher Zusammenhang bestehen bleibt.
Das Gesetz des Wirkens (die Kausalität)342
So sehr Braig für den Gottesbeweis die Annahme eines ohne Ausnahme geltenden Kausalgesetzes für notwendig erachtet,343 so sehr sieht sich eine solche Auffassung nicht erst seit den Erkenntnissen der modernen Physik einer zunehmenden Skepsis ausgesetzt.344 Das Kausalitätsgesetz in der Form „Nichts ist ohne zureichenden Grund; alles muß seinen zureichenden Grund haben“345 ist für Braig
ein evidentes, ein analytisches Urteil. Im Begriff der Wirkung, der alles Seiende unter sich fasst, nämlich sei der Korrelatbegriff der Ursache schon enthalten. Gibt es
aber, und dies ist die entscheidene Frage, wie den Zusammenhang der Begriffe,
die Korrelation von Folge und Grund, Gründendes und Gegründetes, einen ähnlichen Zusammenhang der Dinge? Gibt es zu dem logischen Postulat eine Entsprechung in der Natur der Dinge?
Braig versucht den Kausalitätsbegriff psychologisch herzuleiten. Aus der Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge von Zuständen erwache der Gedanke der Notwendigkeit. Notwendigkeit bedeute die Zusammengehörigkeit von Ursache und
Wirkung. Das sinnlich nicht wahrnehmbare Zusammengehören verlange einen
Grund. Das Denken sehe als Grund eine beständige und unveränderliche Verhaltensweise der Dinge gegeneinander, ein Gesetz des Wirkens. Dieses Kausalgesetz sei die „Generalgleichung der Welt, ausdrückbar in einer Formel mit allgemeinsten Zahlen, welche die Einzelformen mit Zahlen von bestimmten Werthen in
sich begreift, die Zeichen für die Einzelthaten der Dinge und für die Einzelthatsachen zwischen den Dingen“346.
Das Denken vermute das Wirken eines solchen Gesetzes, weil es sich ein grundund ursachenloses Geschehen nicht vorstellen könne. Der Nachweis für das Kausalitätsgesetz, den Braig führt, hebt beim Subjekt an, das vom Wirken ein so eindeutiges Bewusstsein habe, weil es dieses in sich unmittelbar erlebe.347 Unbestreitbar sei die Tatsache, dass man ohne den Kausalitätsgedanken nicht auskomme; selbst die Annahme, dass die Kausalität eine Illusion sei, müsste noch
einmal nach dem Grund dieser Illusion fragen, die Kausalität mithin wieder voraussetzen. Unbestreitbar sei weiterhin, dass das Denken einem unumstößlichem
Denkgesetz folge, der Natur und Wesenheit des Unterscheidens. Das Bewusstsein
342
343
344
345
346
347
ken gibt es für Braig nicht, denn dieses müßte sich selbst in den Blick bekommen, sich
selbst als seiend verstehen, mithin reflexiv sein“ (Träger: Das empirische Denken
352f.). Träger argumentiert auf einer zu schmalen Textbasis, wenn er etwa die Erkenntnistheorie oder andere Schriften Braigs nicht beachtet und meint, allein aus den
Ausführungen der Ontologie eine Anthropologie extrapolieren zu können.
Vgl. Braig: Ontologie 123-133; Hamma: Philosophie II 31-39.
Vgl. Braig: Gottesbeweis 156.
Vgl. Peter Mittelstaedt: Philosophische Probleme der modernen Physik, Mannheim u.a.
5
1976, 148-171.
Braig: Ontologie 129.
Braig: Ontologie 124.
Auch der Kausalitätsbegriff liege im Fundus der Selbsterkenntnis vor (vgl. Braig: Noetik
156).
278
erlebt, dass Gedanken einander bedingen und wie sie einander bedingen, dass
Gleiches sich gleich, Verschiedenes sich verschieden verhalte, dass Besonderes
aus Allgemeinem zu folgern sei, kurz es erlebe logische Identität und Kausalität.
Ohne Kenntnis von diesem Denkverhalt lasse sich auch kein Verständnis für die
Gesetzmäßigkeit eines Sachverhalts gewinnen. Aufgrund der Kausalitätsverhältnisse der Gedanken lassen sich auch die Abfolge von Wollen und Handeln in die
Form eines Gesetzes fassen. Das Grundgesetz unseres immanenten Wirkens laute demnach: Keine Wirkung (Handlung) ohne Ursache (Willensentschluss).
Die Gewähr für die Richtigkeit des Überstiegs von der Denk- auf die Sachebene
biete folgender Gedanke: „Die Bürgschaft, daß unser Denk- und unser WirkGesetz sich entsprechen, das Zeugniß für die Einheit beider liegt darin, daß das
Bewegende der Denkhandlungen und der Willenshandlungen ein und dasselbe
Thun ist, die reale Selbstunterscheidung unseres Seelenwesens. Die Bestimmtheit
unseres Selbst, die objective Gesetzlichkeit unserer Natur ist Grund, Rückhalt und
Wurzel, ist Norm und Form unserer Selbstbestimmung, ist das ontologische Gesetz unserer denkenden, strebenden und werthabschätzenden, unserer logischen,
sittlichen und ästhetischen Betäthigung“348.
Die Entsprechung von Denk- und Wirkgesetz werde also bezeugt von der Einheit
der Denk- und Willenshandlungen hinsichtlich ihres handelnden Trägers, der realen Selbstunterscheidung des Seelenwesens. „Weil unser Wesen Thun ist, deshalb
ist die Causalität unseres Innenlebens real, und weil unser Thun, entgegen dem
Principe des Unterscheidens, des Widerspruches, anders als in der Gleichheit unseres Wesens mit sich selber nicht vorangehen kann, daher ist das Gesetz unseres Wirkens real“349.
Soweit sich von der Außenwelt Entsprechendes herandränge, so sei, soweit die
Einstimmigkeit herrsche, das Wirken und das Gesetz des Wirkens in der Außenwelt real. Braig konnte noch behaupten, dass die Wissenschaft, soweit sie in der
Außenwelt vorgedrungen sei, auch die ausnahmslose Geltung der Kausalität durch
den Zwang der Zahlen und des Experimentes bestätige.350
Als Fazit der Untersuchung hält Braig fest: „Die Causalität und ihr Gesetz sind ebenso weitgreifend als das Reich des Seienden: Ontologie und Nomologie sind
Wechselbegriffe wie Daseiendes, Wasseiendes, Wieseiendes. Das Seiende als
solches erhält sich, mit sich Eins und von jedem Anderssein unterschieden, in seiner gesetzmäßigen Wirklichkeit, und das Seiende als solches erhält sich, mit sich
Eins und von jedem Anderssein sich unterscheidend, in seiner gesetzmäßigen
Wirksamkeit“351.
Für die Apologie wird sich diese durchgehende Geordnetheit des Seienden insofern als entscheidend erweisen, weil auf der Geltung des Kausalgesetzes die Möglichkeit des Gottesbeweises beruht, auf der Anschauung vom ungebrochenen
Kausalnexus, in dem die Wirklichkeit ruht.
348
349
350
351
Braig: Ontologie 131.
Ebd. 132f.; Michael Glossner sieht hier einem nicht zulässigen Subjektivismus gehuldigt
(Ders.: Braig, Abriss der Noetik 206).
Zur Grenze, an die die Geltung des physikalischen Kausalitätsgesetzes namentlich im
Bereich der Quantenphysik stößt, vgl. Mittelstaedt: Philosophische Probleme 157-162.
Braig: Ontologie 132.
279
2.3.6 Vom Zweck des Seienden352
Die Kategorie des Zweckes möchte ein weiterer Aspekt sein, unter dem das Gesamt des Seienden als geordnete Einheit betrachtet wird. Auch die Frage nach der
teleologischen Verfasstheit der Wirklichkeit wird sich als entscheidend für den
braigschen Gottesbeweis erweisen. Der Zweckbegriff gehört zunächst ausschließlich dem Geltungsbereich des menschlichen Handelns an, dem des absichtsvollen
Tuns. So wenig der Begriff hier zunächst Probleme bereitet, so sehr erscheint es
fraglich, den Zweck auch als eine Ding-Kategorie anzunehmen.353 Ähnlich wie
beim Problem der Kausalität ist auch hier die Frage, was am Seienden der Hilfsfigur des menschlichen Denkens, nämlich der des Zweckes, entspricht. Ist der
Zweck real oder bloß ideal? Oder ist das, was ich als Zweck ansehe, vielleicht nur
das zufällige Nebenergebnis des Wirkens, wobei sich die Seienden in ihrem Beieinander gegenseitig abschleifen, sich einander anpassen müssen und so zweckvoll geordnet erscheinen? Das ist die entscheidende Frage, ob der Unabweisbarkeit des Zweckgedankens eine teleologische Verfasstheit des Seienden entspricht.
Wenn auch der Zweckbegriff zunächst dem Bereich des menschlichen Handelns
zugehört, soll mit seiner Anwendung auf alles Seiende nicht von vornherein mit einer anthropomorph-theologischen Deutung der Wirklichkeit verbunden sein. Nach
Braig bilden Wirklichsein, Wirksamsein und Bezwecktsein einen unauflösbaren Zusammenhang, so dass ohne die Frage nach der Teleologie des Seienden eine
Seinslehre nicht abgeschlossen werden könne. Bei den Fragen: Ist das Seiende?
– Was ist das Seiende und wie zeigt es sich? – Wohin zielt das Seiende? – sei die
jeweils nachfolgende Frage immer verhüllt in der vorhergehenden eingeschlossen.354
Braig muss gegen die Leugner der Wirklichkeit des Zweckes und seine Verfälscher
dessen Tatsächlichkeit nachweisen.355 Die mechanistische Weltanschauung in der
darwinistisch-monistischen Fassung verneine eine Zwecktätigkeit des Seienden.
Alles folge aufeinander, ohne dass jemals ein Seinsollendes seine Forderung erhebe. Dieser Bestreitung liege die Einsicht zu Grunde, dass es bezüglich eines
Gewirkten niemals auszumachen sei, ob es einem Spiel des Zufalls zu verdanken
sei oder einem teleologischen Prinzip.
Den Fundamentalfehler dieser Bestreitung macht Braig darin aus, dass die behaupteten zwei Möglichkeiten für den Grund der Entstehung eines scheinbar
zweckmäßig Gefügten, nämlich der Zufall auf der einen und eine zweckgerichtete
Absicht auf der anderen Seite, zunächst nicht gegen das teleologische Prinzip und
nicht für das Gegenteil sprechen. Es sei ein Fehlschluss, deswegen das automati352
353
354
355
Vgl. ebd. 134-158; ders.: Gottesbeweis 62-72, 197-227.
Vgl. Hans Brockard: Art. Zweck, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe 6, 18171828.
Braig verweist gerade in Hinsicht auf den Zweckgedanken gerne auf Hermann Lotze,
der in seiner „Vereinbarung der idealistisch-teleologischen und der empiristischmechanischen Welterklärung“ die philosophische Erkenntnis dadurch vollendet sehen
will, dass „sie das Wie und das Wozu, die Ursache und die Idee des Seins und Geschehens begreift“ (Braig 1883e, 703f.); vgl. auch Braig 1885a, bes. 25.
Vgl. Braig: Ontologie 141-146.
280
sche Entstehen der Seienden aus dem Zufallsprinzip zu behaupten. Außerdem sei
es ein Anthropomorphismus, wenn der Kasualismus zu einer Macht verdichtet und
als Triebwerk der mechanischen Ursachen ausgegeben werde. Wie können sich
ferner mechanische Zweckformen in organische entwickeln? Es sei auch eher die
entscheidende Aufgabe, zu erklären, warum sogar rein zwecklose Elemente mindestens einmal ein sinn- und planvolles Zusammen ergeben können. Die Behauptung, dass der Zweckgedanke eine reine Konstruktion des Menschenhirns sei, erkläre weder die Entstehung dieser Konstruktion, noch auch die Tatsache, dass
manche Phänomene diesem zu entsprechen scheinen, andere aber nicht.
Der Zweckgedanke könne nicht nur geleugnet, sondern auch gefälscht werden. So
etwa vom Kritizismus Immanuel Kants, der behaupte, dass das Ding an sich nicht
ausgemacht werden könne, so auch nicht der Umstand, ob die unbelebte Natur
tatsächlich, wie wir annehmen, teleologisch aufgebaut sei. Das Zweckprinzip gebiete der Urteilskraft, sich an die Regel zu halten, dass sich ein Besonderes immer
nach seinem Allgemeinen richten solle. Wir seien also gezwungen, die Erzeugnisse der Seienden so zu beurteilen, als seien sie zweckgerichtet hervorgebracht. Der
Zweck sei kein Konstitutiv der Natur, sondern ein Regulativ unseres Auffassungsvermögens.
Braig konstatiert ein Grundsophisma, das der kantischen Philosophie zu Grunde
liege: Wenn das Innere des Ich, so wie jedes Ding an sich, unzugänglich sei, dann
brauche man auch nicht die Erkenntnisbedingungen des Subjekts zu erörtern. Für
Braig ist damit das Ich das Ding an sich, zu dem man unmittelbaren Zugang habe,
wodurch der kantische Kritizismus hinfällig werde.356 Das subjektive Telos sei etwas gänzlich Müßiges, wie der Glaube an ein zwecksetzendes Urwesen, der in
Aberglauben enden müsse.
Mit diesem Ansatz bei der Typik des Selbstbewusstseins will Braig auch den
Zweckgedanken begründen. Man erlebe in seinem Bewusstsein die Tatsache des
Wirkens, wobei man einen Erfolg des Handelns vorausdenke, um das Wollen in
eine bestimmte Richtung lenken zu können. Hier zeige sich unsere Fähigkeit zum
freien, abstraktiven Unterscheiden. Die Seele besitze nicht nur die Fähigkeit zum
bewussten Unterscheiden, sondern auch die des zielbewussten Unterscheidens,
nämlich zu einem gegebenen Unterschied einen nicht gegebenen zu konstruieren.
Auch die Behauptung, das Zwecke-Setzen sei eine Illusion, müsse nach dem
Grund dieser Täuschung fragen, und dieser Grund finde sich in der ontologischen
Bestimmtheit der Menschenseele. Das Selbst der Seele sei der Grund; das Unterscheiden sei die Ursache und das Mittel; das Bewusstsein sei die Wirkung und die
Folge; das Selbstbewusstsein, das in der Selbstvorstellung ausgeprägte Was des
Selbst, sei der Erfolg, das Endergebnis, der Zweck des psychischen Selbstvermittlungsprozesses. Zweck- und Mittelsein sei die Seele, weil ihr Wirklichsein, ihr Einsund Unterschiedensein, Wirksamsein ist, Unterscheiden, Tun, Energie, also durch
und durch real, die Seele der Seele.
Nach der Wesensform unseres Selbst erfassen wir alles Seiende. Seiendes, das
nicht den unserem Selbst analogen Charakter hätte, nämlich Einssein im Unter356
„Die Einheit des Selbstbewußtseins ist die Widerlegung der kriticistischen Hypothesen“
(Braig: Noetik 142).
281
schiedensein, wäre weder seins- noch denkmöglich. Daher sei klar, dass alles teleologisch bestimmt sei: Im Wassein des Seienden finde sich der Grund für jede
weitere Bestimmtheit, das Einssein und Einsbleiben sei der nächste Zweck, das
Unterschiedensein und Unterscheiden sei das Mittel zum Endzweck der Selbsterhaltung.
Weil das menschliche Handeln final, zweckgerichtet vorgehe, darum werde vom
gemeinen Bewusstsein angenommen, dass wirkende Ursachen sich so und so betätigen, damit dieses oder jenes Resultat heraus kommt. Die Annahme einer blinden Konsekution widerstrebe dem gemeinen Verstand, weil der Erfolg dem Streben vorausgedacht werden müsse. Die Naturwissenschaft bestätige die Zweckkategorie des gemeinen Bewusstseins. Sie lebe von der leitenden Vorstellung, dass
es zwischen den Weltdingen zahlenmäßige Beziehungen geben müsse, damit das
All seinen Zweck erfüllen, sich selbst erhalten könne. Hier gebe es eine ganze
Reihe von Beispielen, wie Naturwissenschaftler auf ihre großartigen Entdeckungen
kamen durch die Annahme, dass die Natur ihren Zweck erfüllen müsse. In der
Wissenschaft spielt der Zweck eine heuristische Rolle, denn nach der Erkenntnis
der immanenten Zweckform eines Seienden lassen sich bestimmte Wirkursachen
in bestimmter Gruppierung erschließen. Dies ist ein bei Braig immer wiederkehrende Gedanke, dass die Naturwissenschaft von den unsinnlichen Seinsgesetzen
ausgehen müsse, um wahre Erkenntnis zu erreichen.
Das philosophische Bewusstsein versucht, das Wie der Zwecke zu ergründen.
Gegen Leugner und Verfälscher des Zweckgedankens sei festzuhalten, dass das
Zwecksein unwidersprechbar in der belebten Natur anzutreffen, aber auch schon
in der unbelebten auszumachen sei. Dem Seienden sei demnach der Zweck immanent, die Wesensform des Wirklichen in ihrer Verwirklichung.
Das Zwecksein sei nicht ein Etwas, was zur Tätigkeit eines Wesens hinzukäme,
sondern es sei die Naturbestimmtheit, das Unterschiedensein des Seienden, die
Zwecktätigkeit sei die Naturenergie des Seienden, das Sichunterscheiden. Im Unterscheiden werde der Erfolg mitgedacht, das immanente und transeunte Wirken
des Seienden. Damit das Was ganz sei, was es sein könne, gebe es dem Wirken
die Richtung vor, setze es ihm den Zweck.
Das anorganisch Seiende sei passiv und rezeptiv zweckmäßig, weil die Teilchen
der Materie in einer Wechselwirkung stehen und fremder Einwirkung zugänglich
seien. Sie haben mit jedem ihrer Akte bereits ihr Ziel erreicht und kein Akt sei ohne
seinen Zweck. Grund und Zweck fallen daher zeitlich zusammen. Beim Organischen hingegen liegen Grund und Zweck manchmal ineinander, manchmal auseinander: Pflanzen und Tiere seien rezeptiv, aktiv und reaktiv zweckmäßig. Der
Mensch, die Welt der Selbstbestimmung, sei reaktiv, spontan und reflexiv zweckmäßig, Grund und Zweck seien hier trennbar. Bei Gott seien Denken, Wollen und
Handeln eins in und mit seinem Wassein: er sei absoluter Selbstzweck.
Wirksamsein und Zwecksein verhalten sich im Seienden wie Bewegung und Bewegungsrichtung. Daher sei das Gesetz der Kausalität auch das der Finalität. Das
Zweckprinzip sei das retrospektive Kausalprinzip, dieses das prospektive Zweckprinzip. Vorbedingung für beide sei das logische Prinzip von Grund und Folge. Die
Zweckformel lässt sich dahingehend bestimmen, dass jeder Grund um einer Folge
willen ist, jede Ursache um einer Wirkung willen. Dies ist das rückwärts gewandte
282
Kausalitätsaxiom. Das Kausaldenken schließe vom Allgemeinen auf das Besondere, das Zweckdenken formt das Besondere nach dem Allgemeinen.
Von Hermann Lotze übernimmt Braig die Auffassung, dass die Einsicht in das
Seinsollende erst die Wahrheit über das Seiende offenbart.357 Daher ist mit der
Vorstellung des Seienden als zweckmäßig ausgerichteten auch die Idealität des
Seienden verbunden.358 Wesen, Wirken und Zweck stehen in Zusammenhang mit
den metaphysischen Fundamenten der drei Grundvorstellungen, Ideen des Wahren, Guten und Schönen, die den Inhalt, den Gehalt und die Gestalt der Seinsordnung bedingen. So werden die klassischen Transzendentalien auch noch berücksichtigt. Die Wahrheit als Inhalt der Seinsordnung sei die Summe der Merkmale,
die den ontologischen Subjekten einwohnen, sofern diese wirklich, wirkend,
zweckmäßig seien, der Urteile, die sich von den ontologischen Subjekten im Urteilen aussagen lassen. Die Güte als Gehalt der Seinsordnung ist die Summe der
Merkmale, die den Subjekten eignen muss, wenn sie zum Eigenhandeln tauglich
und für das Handeln anderer brauchbar sein sollen. Die Schönheit ist als Gestalt
der Seinsordnung die Summe der Merkmale, die die ontologischen Subjekte haben
müssen, wenn sie als Proben und Beispiele erscheinen sollen von dem reinen
Aufgehen der drei Bestimmungsstücke ineinander, der Wesensform, des Wirkungsgesetzes, der Zwecknorm. Die Schönheit ist Beweis dafür, dass eine Einheit
zwischen Wesen, Wirken und Ziel, eine Kongruenz zwischen Ursachen, Mitteln
und Zwecken, ein Sichdecken von Kraft, Tätigkeit und Erfolg, von Sein, Wollen und
Sollen, von Müssen, Können und Wünschen möglich ist.
2.4 Zusammenfassung der Grundzüge der braigschen Ontologie
Als grundlegende Seinsbestimmtheiten alles Seienden haben sich Wesensein,
Wirklichsein und Zwecksein erwiesen. Von der erkenntnistheoretischen Grundlegung auch dieser Ontologie her erfahren entscheidende Begriffe der Seinslehre
aus der Selbstanschauung des Subjekts ihre Begründung. Die drei ontologischen
Bestimmungen des Seienden sind eins durch das Wirksamsein. Diese ontologische Dreieinheit lässt sich in mannigfachen Ausdrücken wiedergeben, die alle zusammenkommen in dem einen Gedanken: das Seiende ist Einssein in sich durch
Unterschiedensein von anderem. Die drei Momente des Seienden verursachen also kein Chaos, sondern sind geeint und bilden eine Ordnung in dem einzelnen
Seienden. Seiendes ist eins und einfach im Wesen, Vieles und vielfach durch sein
Wirken, seine Eigenschaften, Einheit in Vielheit und Einfachheit in Vielfachheit als
sein Zweck.
Wie die ontologischen Momente innerhalb der Seienden eine Ordnung darstellen,
so auch die Seienden in ihrem Zusammenhang: sie bilden durch ihr Wechselwirken und ihre Zweckbeziehung einen Kosmos. Diese Ordnung kommt zu Stande
357
358
Vgl. Rudolf Eisler: Philosophen-Lexikon 425.
„Was keinen idealen Sinn hat, sagt einer der sinnigsten modernen Philosophen (Hermann Lotze), das existirt nicht; denn kein Ding ist nur dazu vorhanden, Beispiel eines
starren, ideenlosen Gesetzes zu sein“ (Braig 1884a, 153).
283
durch Unterordnung mehrerer Seiender unter wenige und endgültig aller unter ein
Prinzip.
Die Bedeutung des „Apostolats der Dialektik“, unter welchen Begriff wir die Untersuchung gestellt haben, hat sich noch einmal ausgeweitet. Das Unterscheiden
(dialegesthai) hat sich auch für die braigsche Ontologie als ein Schlüsselbegriff erwiesen. Vom denkend-unterscheidenden Selbstbewusstsein ausgehend, das sich
als typisch für jede weitere Erkenntnis darstellt, kommt auch das Seiende in jeder
Form nur als unterscheidend-tätiges vor.
Diese Fassung des Seinsbegriffs ist ein entscheidender Punkt, in dem sich die
braigsche Philosophie von der der Neuscholastik unterscheidet. Allerdings war
diese Frage nicht so entscheidend, dass Braig in seiner diesbezüglichen Frontstellung gegenüber der Theologie der Vorzeit mit Konsequenzen rechnen musste.
Dies wohl auch deswegen, weil die Neuscholastik, auch wenn sie mit dem Anspruch der Geschlossenheit und Einheitlichkeit auftrat und sich in ihrer Gesamtheit
auf Thomas, den Protagonisten der Scholastik, berief, dennoch neben dem Thomismus oder Neuthomismus im engeren Sinne andere Schulrichtungen umfasste,
besonders Scotismus und Suarezianismus, die von speziellen Thomasinterpretationen her auch innerhalb der großen Bewegung der Neuscholastik wieder aufblühten und zu innerscholastischen Kontroversen führten. Bekannt ist ja vor allem die
im 16. und 17. Jahrhundert geführte Auseinandersetzung zwischen Molina und
Bañez um die Frage nach der Mitwirkung Gottes im Wirken der Geschöpfe, die
auch im 19. Jahrhundert wieder als Frage der richtigen Thomas-Interpretation wiederbelebt wurde.359
Für die Apologetik Braigs spielt indes dieser Seinsbegriff keine entscheidende Rolle. Wenn auch wesentliche Momente der Ontologie wie der Kausalzusammenhang
alles Seienden für den Gottesbeweis wichtig sind, so aber nicht mit der Implikation
des bestimmten Seinsbegriffs, auch wenn beim „ontologischen“ Argument die Frage nach der durchgängigen Bewegtheit des Seienden gestellt wird.360 In seiner
Gotteslehre von 1912 wiederholt Braig die Fassung des Seienden als schlechthin
Wirkenden nicht.361 So wird auch gegenüber dem „Modernismus“ nicht dessen irriger Seinsbegriff moniert, sondern Braig beschränkt sich auf die erkenntnistheoretische Seite der Problematik, von der er gleichwohl ontologische Fragestellungen
angeht, wie etwa die nach der teleologischen Verfasstheit des Seienden oder nach
der globalen Geltung des Kausalitätsgesetzes.
Bei aller selbst von Braig eingestandenen Vorläufigkeit seiner Überlegungen362
wurde doch durch die breite Darstellung das hohe Reflexionsniveau deutlich, auf
dem sich sein Denken bewegt.
Die Metaphysik als Krone der Philosophie findet ihren Abschluss im Beweis des
Daseins Gottes, mit dem die theistische Weltanschauung begründet und wissenschaftlich untermauert werden soll.
359
360
361
362
Vgl. Coreth: Schulrichtungen.
Vgl. unten Abschnitt 3.2.2 Das „ontologische“ Argument.
Vgl. Braig: Gotteslehre 13-16; Stegmüller 123.
„Eine objektiv mustergiltige Ontologie indeß ist bisher kein philos. Resultat, sondern
immer noch Postulat und bleibt dies wohl für immer“ (Braig 1881a, 335).
284
3
Gottesbeweis oder Gottesbeweise?
3.1 Die angeborene Gottesidee
Um wissenschaftlich den Gottesgedanken zu begründen, muss man die Lehre vom
Menschen und seiner Erkenntnis und die Lehre von der Welt voraussetzen. Wenn
beim spekulativen Theismus der Angelpunkt zu einer Welt- und Gottesauffassung
die Anthropologie und der Geistbegriff ist, wird klar, welche Voraussetzungen zuerst geklärt werden müssen. Wird die Möglichkeit der Gotteserkenntnis behauptet,
kann dies in verschiedener Weise verstanden werden. Ist diese Erkenntnis im Sinne einer unmittelbaren Erfahrung, einer intuitiven Einsicht oder eines syllogistischen Schlusses zu verstehen? Einen grundsätzlichen Unterschied kann man vielleicht zwischen intuitiver und aposteriorischer Gotteserkenntnis feststellen. Wenn
Braig immer wieder von der Gottesidee spricht, dann stellt sich die Frage, wie er
das Verhältnis von intuitiven und vermittelten Elementen bei der Art von Gotteserkenntnis bestimmt, die er als die eigentlich wissenschaftliche und philosophische
ansieht.
Dass Braig es für notwendig erachtet, den Gottesbeweis nicht nur – wie die Scholastik und Neuschalostik – aus dem Naturgrund zu entfalten, sondern auf dem Weg
der Gottesidee und den Tatsachen des menschlichen Geisteslebens die Existenz
Gottes nachzuweisen, lässt sich auch aus seiner Herkunft erklären. Die Betrachtung der Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis bei den Theologen im Umkreis der Tübinger Katholischen Fakultät kann ein Licht auf die Lehre Carl Braigs
werfen. Insbesondere das Denken Johann Evangelist Kuhns soll hier Beachtung
finden, da sich zeigen lässt, dass Braig von diesem beeinflusst ist, sich aber von
diesem Ursprung zu lösen versucht.
„Der Glaube an Gott, an ein überweltliches höchstes Wesen, von dem die Welt ins
Dasein gerufen, getragen und regiert ist, bildet den Gegenstand des ersten Theils
der Dogmatik. Derselbe entspringt zunächst aus dem eigenen unmittelbaren Bewußtsein des vernünftigen Geistes und der von diesem geleiteten Betrachtung der
Welt“363.
Mehreres ist auffällig an diesem Anfang der theologischen Gotteslehre in der
kuhnschen Dogmatik. Zum einen definiert Kuhn gleich zu Beginn Gott als den theistischen Gott, in klarer Absetzung von allen pantheistischen und monistischen Anschauungen. Zum anderen sticht die Bedeutung der eigenen unmittelbaren Gottesidee ins Auge, von der die Betrachtung der Welt geleitet sein müsse, soll sie zum
Glauben an Gott gelangen. Es liegt auf der Hand, dass solches im Gegensatz
steht zu einer Meinung, die die Gotteserkenntnis aus einer rein philosophischen
Betrachtung der Welt im Sinne einer voraussetzungslosen Forschung erheben will.
Kuhn bestreitet die „stricte Demonstrabilität des Daseins Gottes“, ein von allem
Glauben unabhängiges Wissen von seiner Existenz, nicht nur, weil das Glaubensbekenntnis dann nur noch Sache derer sein könnte, die sich nicht zur Wissens363
Johann Evangelist Kuhn: Katholische Dogmatik, Bd. 1/2, Tübingen 21862, 535.
285
schau aufzuschwingen vermögen.364 Er unterscheidet die spekulative von der demonstrativen Erkenntnis. Die Erscheinungen auf dem Gebiet der sinnlichen Erfahrung zeigen ein ganz anderes Verhältnis zum Wesen der hinter ihnen liegenden
Dinge, auf die „im Sinne der Immanenz von Ursache und Wirkung“ zurückgeschlossen werde, als sich die Beziehung der Welt und des menschlichen Geistes
als Offenbarungen Gottes zu diesem gestalte.365 Die Behauptung, man könne aus
dem innerweltlichen Seienden auf Gottes Dasein und Wesen schließen, mache
sich einer Beweiserschleichung schuldig, die dem Begriffe des absoluten Seins
unvermittelt den des absolut Seienden, nämlich des theistischen Gottes beilege.366
Kuhn legt Wert darauf, dass für ihn die Möglichkeit einer natürlichen Erkenntnis
Gottes durchaus gegeben sei, im Sinne der Schrift und der ganzen Tradition, im
Gegensatz zu skeptizistischen und traditionalistischen Anschauungen.367 Nur, und
hier liege der Unterschied zu aristotelisch-scholastischen Überzeugungen, „aposteriorische Beweise für das Dasein Gottes als stricte, von der Gottesidee und ihrem
Fürwahrhalten gänzlich unabhängige Demonstrationen“368 gebe es nicht. „[K]önnte
wohl der Gott, von dessen Dasein und Wesen wir mit derselben Evidenz wissen
[...] wie von der Wahrheit geometrischer Sätze oder logischer Gesetze, wohl Derselbe sein, in dem wir das ewige Leben haben, wenn wir an ihn glauben, ihn erkennen und lieben?“369 Als Götzen des eigenen Denkens bezeichnet Kuhn diesen
Gott, der sich beweisen lässt, als sich selbst vergötternde Vernunft. „Das, was wir
so erkennen und materiell demonstriren können, ist das pantheistische Absolute,
nicht der Gott des religiösen Glaubens“370. Das liegt daran, dass das Verhältnis der
Erscheinungen der Dinge zu diesen selbst ein grundsätzlich anderes sei als das
Verhältnis der Welt zu Gott. Ließe man diesen Grundsatz, der sich empirisch nicht
belegen lässt, außer Acht, gelangte man durch die Betrachtung des Seienden zu
einem pantheistischen Gottesbild. „In ihren Erscheinungen drückt sich das Wesen
der Dinge unmittelbar aus, in ihnen zeigt sich, was sie wirklich sind; ihr Wesen ist
den Erscheinungen immanent. In solchem Verhältnis erblickt der Pantheismus
auch das Absolute zu dem Endlichen; er behauptet die Innerweltlichkeit Gottes und
verwirft seine Außerweltlichkeit“371.
Die rein voraussetzungslose Betrachtung der Welt kann für Kuhn also nicht zur Erkenntnis Gottes führen, es müsse vielmehr schon eine Idee Gottes in unserem
Bewusstsein sein, die sich mittels der Weltbetrachtung spekulativ bewähren kann.
Die Vernunft des Menschen, die Gottes Dasein bejaht oder verneint, ist nach Kuhn
mehr als nur der „ratiocinirende Verstand“, vielmehr ein Vermögen praktischer Art,
364
365
366
367
368
369
370
371
Vgl. ebd. 620.
Vgl. ebd. 605f.
Vgl. ebd. 606f.
Vgl. ebd. 623.
Ebd. 624.
Ebd.
Ebd.; man fühlt sich an die heideggersche Kritik am Gottesbild der klassischen „seinsvergessenen“ Metaphysik erinnert: „Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten,
noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins
Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen“ (Martin Heidegger:
Identität und Differenz, Pfullingen 31957, 70f.).
Johann Evangelist Kuhn: Katholische Dogmatik, Bd. 1/2, Tübingen 21862, 606.
286
von Persönlichkeit durchtränkt, eine Vernunft also, die ihre Überzeugungen bildet
unter Einfluss auch des Willens und des Gewissens. Diese grundsätzliche Unterscheidung von Verstandesbegrifflichkeit und Vernunftglauben, wobei der Verstand
niemals in der Lage sei, die Gottesidee zu erreichen, wie die Verstandesmetaphysik der Schule irrtümlich glaube, mache deutlich, dass es bei der Gotteserkenntnis
nicht um ein Wissen im Sinne etwa mathematischer Wahrheiten gehen könne.
Kuhn unterscheidet zwei grundsätzliche Weisen, wie der denkende Geist über die
Erfahrung der Erscheinungswelt hinauskommt zur Erkenntnis des Absoluten. Das
eine sei die aristotelisch-thomistische, die den Geist als tabula rasa, als leeres
Denk- und Erkenntnisvermögen fasse, das in der Lage sei, von der Welt auf Gott
gültig zu schließen. Das andere sei die platonisch-augustinische Auffassung, nach
der von vornherein gewisse Vernunftideen, vor allem die Idee Gottes, vorhanden
seien, in deren Licht die Welt betrachtet werde, woraus sich die Erkenntnis Gottes
ergebe. Halte die scholastische Richtung einen Beweis Gottes im strengen Sinne
des Wortes für möglich, so die patristische in keiner Weise. „Nur kraft dieser unmittelbaren Gottesidee kommt der menschliche Geist über das Absolute des Pantheismus, auf welches das bloße Denken des Endlichen zunächst fällt und allein
fallen kann, hinaus zu dem persönlichen Gott, zu dem höchsten Wesen, zu dem
man beten kann, d.h. zu dem Absoluten des religiösen Bewußtseins“372.
Kuhn macht sich die Lehre der Väter zu eigen. Eine dem Geist eingeborene Idee
Gottes als Anfang und Prinzip der Gotteserkenntnis wird erweitert und mit Fleisch
versehen durch die Betrachtung der Welt im Lichte eben dieser Idee.373 Und genau
dies sei die Aufgabe der wissenschaftlichen Dogmatik. Sie gehe von der unhintergehbaren Gottesidee im Menschengeist aus. Die Arbeit der Dogmatik bestehe erstens „in der methodisch-dialectischen Fortbestimmung des unmittelbaren Gottesbewußtseins zum speculativen Gottesbegriff“ und zweitens „in der speculativen
Bewährung desselben“374.
Von einem spekulativen Gottesbegriff könne freilich nur in einem formalen Sinn die
Rede sein, weil wir Gott nur analogisch und nicht an sich erkennen. Die Frage danach, wie sich die verschiedenen Eigenschaften Gottes, die die Vernunft unterscheiden kann, in die Einheit des Gottesbegriffs aufheben, ist die Frage der Spekulation. Spekulatives Begreifen sei die Gotteserkenntnis, insofern „es ein vermitteltes, ein Erfassen des Objects durch ein von ihm verschiedenes Mittel, ein
cognoscere per speculum in aenigmate ist“375.
Konkret gehe dieser Prozess von der Erhebung verschiedener Vorstellungen, die
wir dem göttlichen Wesen zuschreiben, etwa seiner Weisheit und Güte, zu einem
begrifflichen Erfassen dessen, was Gott ist und wie er es ist. Es gehe ja nicht nur
um die verschiedenen Eigenschaften Gottes, sondern auch um deren Unendlichkeit und Untrennbarkeit im einen Wesen Gottes.376
372
373
374
375
376
Ebd. 610.
Vgl. ebd. 545.
Ebd. 571.
Ebd. 579.
Vgl. ebd. 587f.
287
Die spekulative Bewährung des so gewonnenen theistischen Gottesbegriffs bestehe darin, ihn gegen die Einwände zu verteidigen, die von einer pantheisierenden
Philosophie erhoben werden.
Der Beweis des Daseins Gottes hat den Inhalt der Gottesidee zum Gegenstand.
Der Gottesbeweis habe Platz nur in der Theologie, weil er das Wissen um Gott, um
sein Wesen bereits voraussetze. Der Gottesbeweis möchte diese theistische Idee
Gottes spekulativ bewähren, im Unterschied von der spekulativen Erfassung ihres
Inhaltes. Wie die Erkenntnis Gottes sich stufenartig und stückweise vollziehe, so
auch der Gottesbeweis, der ein wesentliches Moment der Gotteserkenntnis sei.
Das kosmologische Argument, welches das Dasein des Absoluten als des aus sich
seienden Urgrundes alles Seins beweist, das physikotheologische Argument und
das moralische dürfen keinesfalls getrennt voneinander betrachtet werden. Warum
aber, so ließe sich fragen, ist die dreifache Weltbetrachtung, die Kuhn hier anstellt,
nicht für sich in der Lage, ohne zugrunde liegende Idee, das Dasein Gottes zu beweisen? Weil, so Kuhn, die Evidenz des Beweises fortschreitend geringer wird.
Auch der teleologische Beweis sei nicht dagegen gefeit, im Sinne des Pantheismus oder Dualismus missbraucht zu werden. So sei auch die geringere Evidenz
dieses Arguments zu erklären, durch die Verwirrung, die das Ungeordnete, das
scheinbar Chaotische und Ziellose in der Welt hervorrufe.377 Letztlich habe das
Postulat des moralischen Beweises noch geringere Evidenz.378
Die bleibenden Gemeinsamkeiten zwischen Braig und seinem Lehrer Kuhn lassen
sich wie folgt benennen: Das Ziel des Gottesbeweises kann nicht der Nachweis
der Existenz irgendeines höheren Wesens sein, sondern muss, gerade angesichts
einer zu Monismus und Pantheismus neigenden Philosophie, den theistischen Gott
des christlichen Glaubens im Blick haben.379 Auch wenn sich Braig anfangs die
Unterscheidung Kuhns zwischen spekulativer und demonstrativer Erkenntnis in
gewisser Weise zu eigen macht, verliert sich dieses differenzierte Denken zumindest in Bezug auf den Gottesbeweis, wenn er zwar weiter in seiner Erkenntnislehre
Verstand und Vernunft als zwei verschiedene Quellen der Erkenntnis benennt, die
Vernunftideen an sich aber keinerlei begriffliche Kraft innehaben lässt.380 Zudem
wird Braig der objektive Charakter des Gottesbeweises wichtig. Jeder Hauch einer
Anschauung, die nur eine subjektive Geltung der Gotteserkenntnis annimmt,
möchte er vermieden wissen, wenn ihm dies auch nicht für alle überzeugend ge-
377
378
379
380
Vgl. auch 687f.
Vgl. ebd. 697-702.
„Es ist [..] zu zeigen, daß der persönliche Gott der Offenbarung vor der Offenbarung
und ohne sie erkennbar ist, und daß der durch die menschliche Vernunft mit Gewißheit
erkannte Gott der persönliche Geist, der Gott der Offenbarung ist“ (Braig: Gotteslehre
4).
„Von sich aus hat die Vernunft bloß den Unterscheidungsmaßstab für Richtig und Unrichtig, Wahr und Falsch, Gut und Bös, Schön und Häßlich, Heilig und Unheilig. Inhalte
und Gegenstände, die nach den Maßstäben geordnet sind oder anzuordnen wären,
sind in der Vernunft nicht vorhanden. [...] Nicht die ‘Gottesidee’ in der menschlichen
Vernunft, sondern der Schluß aus der Thatsache, daß die Vernunft ideal ausgestattet
und für das Ideale veranlagt ist, bildet den Nerv des Gottesbeweises“ (Braig: Noetik
202f.).
288
nug gelingt.381 Anders auch als Kuhn bestimmt Braig den Gottesbeweis als Aufgabe einer der Theologie vorgängigen Philosophie. Dieses praeambulum fidei, und
Braig bezieht sich dabei auf die Lehre des Ersten Vatikanums, müsse durch rein
philosophische, das heißt glaubensunabhängige Erkenntnis möglich sein. Wenn
Braig den Gedanken der Stufenfolge des Beweisgangs von Kuhn aufnimmt, dann
aber in einer anderen Weise, wie noch zu zeigen sein wird.
Die Nähe zu den Anschauungen Kuhns zeigt sich deutlich noch in der Untersuchung über die natürliche Gotteserkenntnis bei Thomas, wo Braig die Aporien aufzeigt, die ein starres Festhalten an der aristotelisch-thomasischen Erkenntnistheorie gerade in Bezug auf den Gottesbeweis haben muss.
1) Nach Thomas sei das metaphysisch-materiale Kriterium der Wahrheit Gott
selbst, die oberste Wirkursache des Seins und des Erkennens, der die Übereinstimmung beider herstelle und garantiere. Diese Tatsache allerdings auch als
Formalkriterium der Wahrheit gelten zu lassen, das heißt als Kriterium, dessen
man sich voraussetzungslos von sich aus als Maßstab bedienen könne, hieße, einem Zirkelschluss zu verfallen. Die peripatetische Auffassung gehe von der Parallelität von Denk- und Seinsgesetzen aus. Dieser Meinung zufolge ermögliche die
richtige Erfassung der Denkgesetze ein wahres Erkennen der Wirklichkeit. Bei genauerem Hinsehen erweise sich dies aber als ein Trugschluss, denn durch die Erfassung der Denkgesetze und ihrer normativen Anwendung lasse sich lediglich ein
richtiges Denken garantieren, nicht aber unbedingt ein wahres. Denn die Abbildung
der Seinsgesetze durch die Gesetze des Denkens ermögliche noch längst nicht die
Erfassung von Seiendem in seiner Wirklichkeit und Wesenheit; „die Evidenz des
Denkens ist nicht die Evidenz des Gedachten“382.
Diesem Ungenügen der thomasischen Erkenntnistheorie begegnet Braig mit einem
Element aus der platonischen Philosophie, das anzuerkennen Thomas gehindert
worden sei durch sein Festhalten an der aristotelischen Metaphysik. Gegen den
„philosophischen Dogmatismus“ des erkenntnistheoretischen Prinzips der Tabula
rasa stellt Braig fest, dass „der kreatürlichen Vernunft wahrscheinlich gewisse, das
Erkennen normirende Grundformen eingezeichnet“383 seien, die Ideen. Der genannte Zirkelschluss sei nur zu überwinden, wenn man richtig denke und Wahres
erkenne aus sich selbst heraus. Die Vernunftevidenz sei nicht zu erbringen allein
durch Verweis auf die Verstandesevidenz, sondern brauche eine eigene Überlegung. Mit dieser Kritik an der scholastischen Erkenntnistheorie ist der zweite der
Kritikpunkte Braigs berührt, nämlich die Konstatierung des mangelnden Gewissheitsgrades für die Vernunfterkenntnis.384
2) Hinsichtlich der Gottesbeweise führe das Festhalten am klassischen aristotelischen Denken zu mehreren unhaltbaren Aufstellungen.
a) Nach Thomas erkenne der Mensch Gott aus zweifachem Grund: zum einen wegen der Denkprinzipien, die uns mittels der richtigen Schlüsse auf Gottes Dasein
führen; zum anderen wegen der Beziehung auf ein Endziel, das unverlierbar allem
menschlichen Streben innewohne. Eine Verbindung dieser beiden Gedanken hätte
381
382
383
384
Vgl. Glossner: Braig, Vom Sein; ders.: Zur Abwehr; ders.: Ein zweites Wort.
Braig: Gotteserkenntnis 566.
Ebd. 567.
Vgl. ebd. 514f., 563-569.
289
die Starrheit des aristotelischen Schließens aufbrechen können: Das Wissenwollen
der Sehnsucht des Menschen auf sein Bestimmungsziel hin lenke das Denkenmüssen in eine bestimmte Richtung. Die Identität der Seele (die Denkprinzipien)
werde durch die willentliche Anwendung des Kausalitätsgesetzes (das Streben
nach der göttlichen Vollendung) in Bewegung gesetzt. Es müsse daher in der Seele einen Punkt geben, in dem Identität und Kausalität des Geistes eins seien.
Durch die aristotelische Meinung, dass diese Einheit die Form des Geistes selbst
sei, diese aber nach dem Axiom tabula rasa sein müsse, werde der Zielpunkt des
Wissenwollens (Gott) prinzipiell für das Wissenkönnen unzugänglich gemacht. Es
werde nämlich abgesehen von dem Streben nach der beatitudo, die dem Menschen im Innersten einwohne, und die eine gewisse Bestimmung seines Endziels
voraussetze, mithin eine gewisse Gotteserkenntnis, mindestens vorbewusst, in
confuso. Jetzt aber müsse, damit überhaupt irgend etwas von Gott erkennbar sein
könne, was von der richtigen Anwendung der Denkgesetze erkannt werden könne,
eine künstliche Trennung von Gottes Sein und seinem Wesen vollzogen werden.
Auch wenn die Vorstellung, dass lediglich Gottes Sein erkennbar sein könne, logisch unhaltbar sei, denn ein Dass ist nicht begreifbar ohne jedes Was, vertrete
Thomas dennoch genau dies.385
Das betrifft den ersten Kritikpunkt Braigs an der Scholastik, den Vorwurf der Vernachlässigung des Individuellen, die sich darin äußere, dass dem dunklen Seelengrund zu wenig Beachtung geschenkt werde.386
Diese Trennung zwischen Sein und Wesen und ihre Unhaltbarkeit veranlasst Braig
in seiner Ontologie dazu, Sein und Wesen nicht auseinander zu dividieren387 und
jeden Anschein zu vermeiden, dem Sein abseits jeder Bestimmtheit eine Realität
zuzubilligen. „Es gibt kein allgemeines Sein, es sind Seiende“388. Die psychologische Unmöglichkeit einer Erkenntnis des Dass vor jedem Was folgt der metaphysischen Unmöglichkeit eines Seins ohne Wesensbestimmtheit.
b) Freilich sieht Braig auch bei Thomas, veranlasst durch die sonst unlogischen
Ungereimtheiten, ein Zugeständnis an die platonische Theorie, nämlich durch die
Anerkennung des sprachlichen Gottesnamens als allgemein verständlichem Mittelbegriff. Allerdings bleibe dies bei Thomas leer und unfruchtbar, gestalte sich
vielmehr zu einem gefährlichen Zirkel, denn dem Wissen, was Gott alles nicht sei,
was der Gottesname in erster Linie bedeute, müsse doch irgend ein Wissen voraufgehen von dem, was Gott positiv sei.389
3) Dem konstatierten Mangel des Vernunftkriteriums für die Erkenntnis der spekulativen Wahrheit sei durch den Hinweis auf die Vernunftideen abzuhelfen, die die
Vernunftevidenz herstellen sollen. Angewandt auf die Gotteserkenntnis würde dies
bedeuten, dass die Idee des Göttlichen im Menschengeiste, die Gottesidee, diese
385
386
387
388
389
Vgl. ebd. 569ff.
Vgl. ebd. 512ff.
„Zwischen Wesenheit und Wirklichkeit in den Seienden, welche individuelle, actuelle,
erste Substanzen sind, mehr als einen logischen Unterschied anzunehmen, liegt ein
Grund weder in den Bestimmtheiten und Bestimmungen des Wirklichseins noch in der
ontologischen und logischen Verfassung des Wesens“ (Braig: Ontologie 50).
Braig: Ontologie 100.
Vgl. Braig: Gotteserkenntnis 571ff.
290
Erkenntnis erst ermögliche. Idee, gefasst hier freilich nicht im Sinne einer schon
ausgewachsenen Frucht des Erkennens, sondern wie oben erläutert als Samenkeim, als ursprüngliches Prinzip im Geist des Erkennenden.390
Braig versteht die Gottesidee im Sinne seines Lehrers Kuhn, die genauer weiter
unten betrachtet werden soll.
4) Die Idee als Ordnungsprinzip des Erkennens reiche über das begriffliche Verstehen hinaus. Dies sei der tiefere Grund dafür, dass es einen mathematischen
Beweis für das Dasein Gottes nicht geben könne. Die Ideenerkenntnis, aus der die
Gotteserkenntnis sich ableite, liege allem syllogistischen Begreifen voraus, sie trete unmittelbar aus dem dunklen Seelengrund heraus, den die scholastische Philosophie so vernachlässigt habe.391
Hat Braig hier noch im Sinne seines Lehrers eine strenge Trennung zwischen Vernunft- und Verstandeserkenntnis konstruiert, sollte sich diese Auffassung bei ihm
grundlegend ändern. Braig sympathisierte also anfangs noch mit der Vorstellung
einer Gottesidee im Sinne Kuhns. Erst später, etwa 1886/1887, angeblich noch vor
dem Tod Kuhns am 8. Mai 1887,392 hat er sich von der entsprechenden Lehre entfernt. Bei Kuhn ist das einheitsstiftende Mittel der Weltbetrachtung unter verschiedenen Aspekten das Apriori der Gottesidee, bei Braig ist es später allein das objektiv Seiende der Welt selbst.
Die Nähe zur „Tübinger Anschauungen“ ist auch noch in Braigs Bearbeitung der
beckschen Enzyklopädie spürbar. Hier betont er die Notwendigkeit der „Gottesidee“ zu Führung eines Beweises von Gott, weil immer schon ein Begriff dessen
vorausgesetzt sein müsse, was man beweisen wolle. Die Existenz der Vernunftideen des Wahren, Guten und Schönen zwinge „zu fragen nach dem Seins- und
Bestimmungsgrunde der Ideen selber; die Kausalität des Geistes nötigt diesen
vorerst zur Anerkenntnis der reinen Unbedingtheit, welche das gemeinsame
Merkmal der Vernunftideen bildet. Dies Merkmal für sich ist die Idee des Göttlichen“393. Diese Gottesidee sei aber kein angeborenes Wissen von Gott im Sinne
eines fertigen Urteils, sondern vielmehr lediglich der Potenz nach vorhanden.394
Sie bedürfe der Anregung von außen, um sich zum Wissen entfalten zu können.
Dieses Wissen sei aber, aufgrund des Charakters der Gottesidee, nicht mathematischer Natur, der Glaube an Gott lasse sich nicht andemonstrieren, der „Glaube an
Gott ist keine – bloße – Wissenschaft, sondern eine Tugend“395. Der aristotelische
Gottesbeweis aus der Bewegung, von der Scholastik rezipiert, ist für Braig nicht
nachvollziehbar. „Die sog. Veränderlichkeit der Welttheile gibt keine notwendig extramundane Weltursache“396. Diese frühe Kritik zeigt noch große Nähe zu Kuhn.
390
391
392
393
394
395
396
Vgl. ebd. 575-591; auch Braig: Noetik 179-208 und oben Abschnitt 1.5.4 Die Vernunft.
Vgl. Braig: Gotteserkenntnis 591-595.
Vgl. Braig: Gottesbeweis 10 Anm.
Braig-Beck: Enzyklopädie 247.
Andernfalls machte man denselben Fehler wie Augustinus, der zwar richtig mit der Gottesidee beginne, um dann aber „auf der Sandbank des ontologischen Gottesbeweises
sitzen zu bleiben“ (Braig 1883a, 287).
Braig-Beck: Enzyklopädie 249.
Braig 1879a, 328. Diesen unnachvollziehbaren Beweis sieht Braig in der aristotelischen
Trennung von Materie und Form grundgelegt, welche durch Scheinbegriffe bezeichnet
werde (vgl. ebd. 327f.).
291
Diese offenbart sich auch, wenn Braig in seinen Frühschriften noch an der Überzeugung festhält, dass der Gottesbeweis im Sinne eines „demonstrari“, eines mathematisch stringenten Beweises, nicht möglich sei.397 Diese Anschauung nimmt
Braig freilich 1888 ausdrücklich zurück.398
Nicht erst also in der Auseinandersetzung mit Michael Glossner Ende der 90er
Jahre erweckte Braig den Eindruck, als würde er die Gottesidee Kuhns ablehnen.399 Freilich ist noch in seiner Gotteslehre von 1912 die Lehre Kuhns in positiver
Weise gewürdigt, als Ausdruck eines natürlichen Gottesbewusstseins, nicht im
Sinne eines angeborenen Gottesbegriffs, der als unpsychologisch abgelehnt wird,
aber als der Fall einer „angeborenen natürlichen Wissenschaft“400, vergleichbar logisch-mathematischen Wahrheiten, Prinzipien, Axiomen. Auch in „Gottesbeweis
oder Gottesbeweise“ ist die Gottesidee „ein gegebener Gegenstand für das Nachdenken wie die Grundbestimmtheiten des Seienden überhaupt“401. Dort gibt Braig
aber auch ausführlich Rechenschaft über sein Verhältnis zu dem genannten Theologumenon der Tübinger Schule, wie er vormals nicht daran zu zweifeln gewagt
habe, dass „das auf die Wahrnehmung gestützte Denken allein einen Verstandesbeweis für das Dasein Gottes nicht zu führen vermöge“402. Nach langer Auseinandersetzung mit dieser Meinung ist Braig zu der Überzeugung gelangt: „Die Konstruktion des Gottesbeweises nicht auf dem Grunde, sondern im bloßen Lichte der
Gottesidee kann zur objektiven Konklusion nicht führen“403.
Der Gottesbeweis wird als die schwache Stelle an der Tübinger Theologie charakterisiert. Der Fehler Kuhns besteht nach Braig darin, „die Gottesidee als Mittel zu
gebrauchen, um von dem Gebiete des formalen Denkens auf das der Metaphysik
zu gelangen“404. Die Begründung Gottes, die mittels der Vernunftidee geschehen
soll, sei kein Beweis im strengen Sinne, im Sinne des syllogistischen Schließens.
397
398
399
400
401
402
403
404
Vgl. Braig 1881c, 696.
Nach Wiederholung dessen, was er diesbezüglich in der „philosophischen Enzyklopädie“ gesagt hatte (vgl. Braig-Beck: Enzyklopädie 249), bemerkt Braig: „Im Gegensatze
zu dem Gesagten hat der Gottesbeweis weiter darzuthun, daß der Gottesgedanke des
Menschen nicht bloß eine Selbstanschauung des Geistes, ein Denkideal, die höchste
Kraft unserer Vernunftorganisation ist, ‘Ideen zu dichten’, sondern daß er sich auf äußere Gründe stützt. Es ist zu zeigen, daß wir nicht bloß vom subjektiven Sein eines Gottesbegriffes, sondern vom objektiven Begriff des Gottesseins gewiß werden können
und müssen“ (Braig: Gottesbeweis 20).
„Die angeborene Gottesidee [...] ist unhaltbar, und zwar nicht bloß in der schroffen
Form, welche dem Geist fertige Ideen einwohnen läßt, sondern auch in der Kuhn’schen
Fassung, welche das ‘Licht’ der ursprünglichen Gottesidee (Idee der sittlichen Persönlichkeit) als das unbeweisbare Mittel faßt, um durch den Gottesbeweis auf den theistischen Gott zu kommen“ (Braig 1891d, 179). „Seit Decennien ist Herr Dr. Glossner dem
verstorbenen Dogmatiker J. v. Kuhn [...] abgeneigt und gram; einen Theil seiner Unfreundlichkeit überträgt der Herr Canonicus [...] auch auf die später geborenen ‘Tübinger’ und ihren ‘Stil’, selbst wenn sie Kuhn’s ‘Gottesidee’ u.a. gänzlich ablehnen“ (Braig
1899a, 94).
Braig: Gotteslehre 9.
Braig: Gottesbeweis 9.
Ebd.
Ebd. 10.
Ebd. Anm.
292
„Denn die Vernunftidee selber ist das nicht schlußweis zu fassende ‘Real- oder Erkenntnisprinzip’“405. Dies aber könne nicht mehr sein, als eine Aussage über die
metaphysische Beschaffenheit des menschlichen Geistes an sich. Wenn es aber
um den Schluss auf den jenseitigen Schöpfergott gehe, „kann der immerhin nur
subjektive Glaube des Geistes an seine eigene Vernünftigkeit die genügende objektive Bürgschaft sein dafür, daß der Sprung nicht fehlgeht, daß er ans Ziel tragen
muß?“406
Hier kommt wieder die Furcht Braigs vor einer subjektivistischen Erkenntnislehre
zum Tragen. Diese fehlerhafte Erkenntnislehre habe nämlich als oberstes Prinzip
den Leitsatz: „Denken und Erkennen sind zwei ganz verschiedene Dinge“407. Dadurch werde es möglich, entgegen einem Axiom der Schule, dasselbe in der selben Hinsicht zu wissen und zu glauben. Wenn aber Vernunfterkenntnis und Verstandesdenken zwei verschiedene Erkenntnisweisen seien, werde es möglich, den
theoretischen Zweifel Gottes Existenz gegenüber, den es ja faktisch gibt, mit der
Glaubensgewissheit seines Daseins in Einklang zu bringen. Wenn der Beweis Gottes zwingend wäre, ließe sich der bestehende Zweifel nicht erklären. Die Vernunfterkenntnis ist aber nach Kuhn ein anderes Vermögen als das logischmathematische Verstandesdenken. Braig geht demgegenüber von einem einfachen Verständnis des Glaubens aus: Der mathematisch Unkundige glaube, dass
die Winkelsumme im ebenen Dreieck 180 Grad betrage. „Ist er angeleitet, den
Satz selbständig zu beweisen mit seiner Verstandeskraft, dann kann er ihn, neben
dem Wissen in seinem Verstande, nicht auch noch mit einem anderen Erkenntnisorgan glauben. Das Glauben ist jetzt vom Wissen abgelöst“408.Diese Auffassung
entspricht der später in der „Noetik“ vorgebrachten.
Auch die Möglichkeit des Glaubensverdienstes spielt mit herein. Ist das Dasein
Gottes mathematisch zwingend beweisbar, so kann es kein Glaubensverdienst
geben. Es ist daher notwendig, dass der sicher erkannte Gott auch noch irgendwie
geglaubt werden kann. Braig aber besteht darauf, dass „die Hereinnahme von natürlich gewissen und objektiv beweisbaren Erkenntnissen in den Kreis des übernatürlichen Glaubens [...] die Einheit des Gegenstandes für Wissen und Glauben
aussprechen [solle], nicht aber die absurde Zumutung enthalten: sogar dasjenige,
was du nicht nichtwissen kannst, z.B. die prima principia, die auch dem Gottesbeweis dienen, mußt du noch eigens irgendwie glauben“409. Wenn man nämlich einen solchen Glauben für Wissensgegenstände postulieren würde, setzte man sich
zudem der Gefahr aus, „das Übernatürliche gegenüber dem Rationalismus als das
Irrationale fassen zu müssen, statt als Superrationales.
Im Sinne seiner Bestrebung, die Einheit des Bewusstseins zu wahren, hält Braig
die Unterscheidung eines Verstandes des vermittelten Wissens und der Vernunft
als Organ des unmittelbaren Glaubens für eine nutzlose Verdoppelung. „Denn der
Vernunftglaube hat rücksichtlich seiner nach innen oder nach außen gerichteten
405
406
407
408
409
Ebd. 11.
Ebd. 12.
Ebd. 13.
Ebd. 14.
Ebd. 15.
293
Aussagen keinen Erkenntniswert, bevor das Denken die Gründe dieser wie jeder
anderen Wahrnehmung festgestellt und begriffen hat“410.
3.2 Der Gottesbeweis bei Carl Braig
Für Braig ist die Erkenntnis Gottes und der Gottesbeweis der Gipfel und der Abschluss der philosophischen Erkenntnis. Nachdem hier die Grundlegung der philosophischen Anschauungen, die die Lehre vom Sein und die Lehre vom Erkennen
in besonderer Weise berücksichtigen, nachvollvogen wurde, weil diese als fundamental für die Gotteserkenntnis angesehen werden, soll jetzt der braigsche Gottesbeweis dargelegt werden. Braig legt an mehreren Stellen seine Form des Gottesbeweises dar; am Zweckmäßigsten erscheint die Orientierung an der ausführlichen Darlegung in seinem Werk „Gottesbeweis oder Gottesbeweise?“ von 1888.
Hier zeigt sich, dass das philosophische Bemühen Braigs ganz auf seine fundamentaltheologische Funktion ausgerichtet ist. Das Apostolat der Dialektik zeigt sich
auch und vor allem im Eifer, mit dem er die Voraussetzungen dafür schafft, einen
schlüssigen Beweis für das Dasein des christlichen Gottes zu führen.
3.2.1 Gottesbeweis oder Gottesbeweise?
Bei Braig ist das Bewusstsein vom Gesetz der Kausalität abgeleitet aus der unmittelbaren Erfahrung der eigenen Immanenz. Das Bewusstsein nehme sich wahr als
die Ursache seiner Handlungen, von daher unterscheide es auch bei anderem
Seienden die Ursache von der Wirkung.
Den Beweis Gottes gibt es nach Ansicht Braigs nur in der Einzahl, einzig auf dem
Axiom der „ausnahmslosen Giltigkeit des Kausalitätsprinzipes“411 beruhend. Die
Frage, ob es nur einen einzigen oder viele gleichwertige Gottesbeweise gebe, führte Braig zu einer Diskussion mit Constantin Gutberlet, einem in Fulda wirkenden
neuscholastisch orientierten Theologen, der in seiner Rezension zu Braigs Neuherausgabe von Joseph Becks „Enzyklopädie der theoretischen Philosophie“ dort
angeführte Bemerkungen zu den Gottesbeweisen kritisiert hat.412 Braig war hier
noch stärker von der Gottesidee ausgegangen, durch die allein ein Beweis Gottes,
freilich nicht im exakt-mathematischen Sinn, geführt werden könne. Ferner hatte er
festgestellt, dass es nur einen Beweis geben könne: „[D]ie Einzigkeit, die selbstbewußte Weisheit, die zielbewußte Freiheit des Absoluten sind die Ergebnisse des
Einen Gottesbeweises, welcher, auf die Gottesidee gestützt, aus den
Grundqualitäten der Welt [...] in stufenweisem Fortschreiten induziert, daß Gott ist,
und indiziert, was er ist“413. Gutberlet verwies auf seine „Theodicee“, wo er den
410
411
412
413
Ebd. 17.
Ebd. 156.
Vgl. Constantin Gutberlet: Rezension zu: Braig-Beck: Enzyklopädie, in: Literarische
Rundschau 13 (1887) 13f.
Braig-Beck: Enzyklopädie 251.
294
einzelnen Argumentationsschritten ein größeres Gewicht zu geben versuchte.
Braig fühlte sich durch diese Kritik angeregt, die Frage nach dem Gottesbeweis
ausführlich darzulegen, und verfasste seine Schrift „Gottesbeweis oder Gottesbeweise?“ in acht Briefen an Gutberlet.
Im Philosophischen Jahrbuch von 1888 antwortet Gutberlet seinerseits auf Braigs
Kritik und seine Fassung des Gottesbeweises. Zunächst gibt er diese wieder, würdigt ihre Exaktheit und erkennt sie als gültig an.414 Trotzdem möchte er seine eigenen, von Braig kritisierten Beweise verteidigen und erläutert sie zu diesem Zweck
genauer und klarer. Der Gedanke des unbeweglichen Bewegers des Aristoteles
bedürfe einer weiteren Überlegung, damit deutlich werde, dass mit ihm der theistische Gott gemeint sei. Der Schöpfer, oder das schöpferische Prinzip, müsse geistig sein, weil er aus der unendlichen Anzahl möglicher Zeitpunkte den einen ausgewählt habe, zu dem er die Welt ins Dasein gerufen habe. Braig hatte dagegen
mit Augustinus argumentiert, dass es vor der Zeit doch keine Zeit gab, dass die
Ewigkeit doch nicht aus Zeitatomen bestehen könne, sondern einheitlich sein müsse. Gutberlet sagt aber, dass die Welt, angenommen, sie habe vor 100000 Jahren
begonnen, auch vor 100001 oder 99999 Jahren hätte anfangen können. Aus dem
Begriff der möglichen Zeit folgert Gutberlet, dass es ein geistiges Prinzip gegeben
haben müsse, das aus der möglichen die wirkliche Zeit ins Werk gesetzt habe. Zur
Bekräftigung dieses Arguments ein zweites: Aus der Tatsache der unendlich möglichen Bewegungen und ihren Formen und Intensitäten folge mit Notwendigkeit ein
mit Geist begabter Schöpfer, der die Wirklichkeit dieser Bewegungen aller Atome
bestimmt haben müsse. Die Welt sei an sich indifferent für die Art der Bewegungen. Sie müsse daher von anderem ausgehen.415
Braig hat auf diese Replik nur indirekt geantwortet, in einer Besprechung von Gutberlets „Lehrbuch der Apologetik“. Hier wendet Braig ein, „daß unsere Vorstellungsweise, die sich in der Zeit bewegt, auf die Form der Zeitlosigkeit nicht angewendet werden darf, in welcher Gottes Thun webt ‘von Ewigkeit zu Ewigkeit’. Ich,
d.h. ein endlicher Geist, hätte verfahren müssen, wie die genannte Überlegung betont; ob es der Unendliche so, wie ich nur gekonnt, hätte verfahren, ist das eigentlich zu Beweisende im Gottesbeweis, nicht eine selbstverständliche Voraussetzung“416.
Auch aus einem anderen Grund könnte man hier aus der Sicht Braigs den Denkfehler der petitio principii geltend machen. Nicht erst in seiner Ontologie hat er dem
scholastischen Denken hinsichtlich seines Begriffs von Form und Materie Inkonsistenz vorgeworfen (s.o.). Der Begriff des Möglichen impliziere schon das Dasein
Gottes.417 Für Braig ist das Mögliche lediglich eine Abstraktion, die aus dem ma414
415
416
417
Vgl. Constantin Gutberlet: Gottesbeweis oder Gottesbeweise?, in: Philosophisches
Jahrbuch 1 (1888) 369-395, hier 369-373.
Vgl. ebd. 373-378.
Braig 1889b, 111; vgl. Braig 1894d, 376.
„Der letzte Seinsgrund des Möglichen ist das schlechthin Wirkliche, der unbedingte
Seiende, formal das Denken Gottes in seiner ewigen Wirklichkeit oder die ewige Wirklichkeitsweise des göttlichen Denkens, inhaltlich die Selbstanschauung Gottes, sein
ewiges Erkennen der eigenen Wesenheit, deren denkbare Nachbildungen die Gesamtheit des Möglichen sind“ (Braig: Ontologie 40).
295
thematischen Charakter alles Seienden erwachse. Letztlich sei das Mögliche dadurch, dass es in Gottes Geist existiert. Nimmt man also vor Erschaffung der Welt
mögliche Zeitmomente an, so haben diese, wenn überhaupt, kein Sein der Realität
nach (sonst stände Gott unter der Zeit), sondern neben ihrer Existenz im Menschengeist nur eine solche in den Ideen Gottes. Damit ist vorausgesetzt, was erst
bewiesen werden soll, nämlich die Geistigkeit des Weltenschöpfers.418
Nach diesem Versuch, einen Gottesbeweis aus der Bewegung zu begründen, folgt
in den Ausführungen Gutberlets ein kosmologischer Beweis. Auch hier geht die
Argumentation vom Begriff der Möglichkeit aus. „Ein Wesen, das aus sich für seine
verschiedenen Zustände indifferent ist, kann nicht aus sich existiren“419. Die Möglichkeit für ein noch nicht Seiendes, so oder anders zu werden, gehe in eins mit der
Tatsache, dass es sich nicht selbst seine Bestimmtheit geben könne. Es müsse
daher von anderem her sein. Explizit geht Gutberlet auf den Einwand des Zirkelschlusses ein, indem er den Vorwurf entkräftet, die Wesenheit aus der Wirklichkeit
abstrahiert zu haben, um von dieser wieder auf die Wirklichkeit schließen zu können.420 Aber wiederum problematisiert er nicht die petitio principii, die darin begründet liegt, dass der Begriff des Möglichen bereits die Gottesvorstellung impliziert.
Der dritte Beweis Gutberlets wird aus der Tatsache geführt, dass es nur eine begrenzte Anzahl von Weltdingen gebe. Die an sich mögliche, unbestimmte Zahl z.B.
von Menschen müsse bestimmt werden durch einen Schöpfer, der dementsprechend erkennend und frei sein muss.421 Auch hinsichtlich der unendlich möglichen
Seinsabstufungen für jedes Seiendes müsse ein freier schöpferischer Geist eine
bestimmte Stufe ausgewählt haben.422
Bei der Wiedergabe der augustinischen Argumentation mittels der dem Menschen
so überlegenen Wahrheit diskutiert Gutberlet die Existenz der Universalien. Die
Wahrheit als solche habe im Gebiet des Wirklichen keine Existenz, daher müsse
„ein Anderer durch sie uns beherrschen, dem im Gebiete des Wirklichen alle jene
Eigenschaften zukommen, welche die Wahrheit im Gebiete des Möglichen auszeichnen“423.
Gutberlet schließt mit seiner Meinung, „dass es nicht nutzlos ist, den Nachweis der
Existenz Gottes in eine Mannigfaltigkeit von Beweisen zu zerlegen. Und damit
glauben wir auf die in der Überschrift unserer Abhandlung gestellte Frage am besten zu antworten, wenn wir erklären: Gottesbeweis und Gottesbeweise“424.
Das Kausalitätsprinzip als Herz des Gottesbeweises könne angesichts skeptizistischer Bestreitungen nicht einfach als selbstverständlich anerkannt hingestellt werden. Es sei zwar unbeweisbar, man könne aber eine apagogische Begründung
dieses Gesetzes liefern, indem man die Unmöglichkeit der Annahme seines Ge418
419
420
421
422
423
424
„Nur von der Wirklichkeit freier Wesen aus kann auf die Freiheit des göttlichen Schaffens geschlossen“ werden (Braig: Gottesbeweis 226; Hervorhebung von mir).
Gutberlet: Gottesbeweis 380.
Vgl. ebd. 378-382.
Vgl. ebd. 382ff.
Vgl. ebd. 384-387.
Ebd. 391.
Ebd. 395.
296
genteils aufzeige.425 Der Selbstwiderspruch des Skeptizismus, der meine, das
Nacheinander der Erscheinungen müsse nicht unbedingt im Sinne eines Auseinanders von Ursache und Wirkung gedeutet werden, und wenn, sei aus dieser
Denknotwendigkeit noch nichts über eine ontologische Notwendigkeit gesagt, bestehe darin, dass nicht das unmittelbare Bewusstsein dieses Wirkens im eigenen
Selbstbewusstsein beachtet werde. „Der Ichgedanke ist die nicht bloß formale,
sondern die materiale Einheit von Identität und Kausalität. Hier hat unser Geist eine reale Empfindung der letzteren : ‘Ich-seiend’“426.
Die aus der Vielheit der geschöpflichen Erscheinungen erschlossene Vielheit der
Ursachen sei nicht denkbar ohne eine Einheit. Braig verweist auf seine schon im
apologetischen Versuch gegen Hartmann angeführte Unterscheidung verschiedener Fassungen dieses einheitlichen Weltgrundes. „Wie ist derselbe zu denken?
Dualistisch? Monistisch? Theistisch? Ein Viertes giebt es nicht; ein Absolutes aber
muß sein“427. Durch die Logik sieht sich Braig zur Annahme der Wahrscheinlichkeit
des theistischen Gedankens veranlasst. Diese Annahme aber muss nachgewiesen
werden.
Könnte man eine beliebiges Seiendes völlig durchschauen,428 würde sich mittels
eines Schlusses, in dem der Satz vom zureichenden Grund, oder das Kausalitätsgesetz, die minor bildete, ein absolutes Wesen als dessen Urgrund zeigen. Das
Seiende stelle sich als dreifach bestimmt dar: in den Formen der Bedingtheit, der
Gesetzlichkeit, der Zweckmäßigkeit. Der Urheber des Seienden erweise sich daher
als wesentliche causa essendi (Unbedingtheit), als causa ordinandi (Bewusstheit),
als causa determinandi (Freiheit).429 Da aber die unmittelbare Schau eines Seienden nicht und niemals gegeben sei, müsse die Methode induktiv vorgehen, „den
Inhalt unserer ontologischen, nomologischen und teleologischen Vorstellungen
über das Sein und über den Zusammenhang der Dinge auf einen Ausdruck zu
bringen, welcher den Begriff in der reinen Form der logischen Durchsichtigkeit widergiebt, entkleidet von allem Beiwerk des vorstellungs- und erfahrungsgemäß Zufälligen“430. So geht Braig in einem Dreischritt vor, indem er zunächst die „ontologische“431 Betrachtung anstellt, dann die nomologische, schließlich die teleologische.
In jeder dieser Betrachtungen wird das Sein des Seienden in bestimmter Hinsicht
425
426
427
428
429
430
431
Vgl. Braig: Gottesbeweis 156-159.
Ebd. 160; tiefer noch wird diese Entsprechung von Seins- und Denkgesetz in der Ontologie begründet: Das „Zeugnis für die Einheit beider liegt darin, daß das Bewegende
der Denkhandlungen und der Willenshandlungen ein und dasselbe Thun ist, die reale
Selbstunterscheidung unseres Seelenwesens“ (Braig: Ontologie 131).
Braig: Gottesbeweis 162; vgl. ders.: Zukunftsreligion v.a. 270-287.
Vgl. den entsprechenden Gedanken bei Braig: Ontologie 8.
Damit wird der lotzesche Erweis der Gottheit aus dem ästhetischen Gefühl umgedeutet
in den Beweis für den persönlichen Gott: „Das objective Abbild seines Gemüthsideals
schaut nun der Geist in all den Einzeldingen, welche die drei Mächte der Wirklichkeit,
den materialen Stoff (Kraft), das formale Gesetz und den transcendentalen Zweck des
Seienden, in ebenmäßiger Einheit und lebendiger Durchdringung offenbaren“ (Braig
1885d, 173f.)
Braig: Gottesbeweis 170f.
Der Verwechslungsgefahr mit dem Argument Anselms versucht Braig zu entgehen,
wenn er diesen Beweisschritt später „eidologisch“ und „aitiologisch“ nennen wird.
297
einer Untersuchung unterzogen, und zwar eben hinsichtlich seines bedingten, kontingenten Charakters, seiner Geordnetheit und seiner Zielgerichtetheit. Diese
Seinsbestimmungen werden jeweils an den drei Reichen des Seienden, der unbelebten Materie, den niederen Lebewesen und dem Menschen, aufgewiesen.
3.2.2 Das „ontologische“ Argument432
Zunächst also die Beweisstufe, die von der Bedingtheit des Seienden ausgeht. Wie
später in seiner Ontologie bestimmt Braig die Materie als die „Totalsumme kraftbegabter Einheiten, deren Zusammenwirken uns die unendlich mannigfaltigen Krafterscheinungen gewährt“433. Braig parallelisiert seine Fassung der Einheit des Seienden als Sein und Tätigsein mit der aristotelischen und scholastischen Anschauung von Stoff und Form. Dieses letztere Paar erscheint ihm problematisch, weil die
erste Materie dabei als ewig gedacht sei, und daher auch für die Gottesfrage relevant erscheint.
Die dynamische Wirklichkeitsauffassung ist aber vor allem von Erkenntnissen der
Naturwissenschaft beeinflusst. Braig ruft als Zeugen den Astronomen und Physiker
Angelo Secchi434 auf, der die Entdeckung der mechanischen Natur der Wärme im
Sinne einer durchgängigen Dynamisierung der Materie verstand. Braig nimmt diesen Gedanken auf, wenn er schreibt: „das statische Gleichgewicht ist nur ein Ausdruck, eine besonderte Form des dynamischen“435. Er versteht die Bedingtheit der
Materie daher in dem Sinne ihrer durchgängigen Veränderlichkeit und Wandelbarkeit, das heißt durch den gleichwertigen Begriff der Zeitlichkeit.436 Nun könnte man
aber auch diese Anschauung so verstehen, dass nur das Wie der Bewegung und
Veränderung der Materie bedingt sei, nicht aber ihr Dass, ihr pures Dasein. Diese
der Meinung von der Ewigkeit der Materie parallele Auffassung wird aber durch
den Seinsbegriff Braigs nicht zugelassen. Da in der Ontologie Braigs die Bewegtheit und aktualisierte Lebendigkeit des Seienden nichts Akzidentelles sind, ist sie
die Seinsquantität und -qualität selbst. Kein Seiendes sei bewegungslos, Sein und
Bewegtsein seien austauschbare Begriffe. Woher also Sein und Wirken des Seienden, wenn es niemals aus dem reinen Nichts auftaucht? Die Frage lautet also,
woher das Sein und Bewegtsein der Materie kommt, von einem ewigen Fatum der
Wechselwirkung oder dem geheimnisvollen Faktum eines Gottes. Diese Alternativen werden den Anschauungen von Monismus und Theismus zugeordnet. Die er432
433
434
435
436
Vgl. Braig: Gottesbeweis 171-184; zum sogenannten ontologischen Gottesbeweis Anselms bemerkt Braig, dass dieser besser „ideologischer“ Gottesbeweis heißen sollte,
weil er mit einem bloßen Begriff operiere (vgl. ebd. 169 Anm.).
Ebd. 171f.
Zu Secchi (1818-1878) vgl. LThK3 9, 362f.
Braig: Gottesbeweis 173 Anm.
In seinem Einteilungsversuch der verschiedenen Gottesbeweise weist Heinrich Beck
den traditionellen Gedankengängen „aus der Ordnung der Ursachen“, „aus der Veränderlichkeit“ und „aus der Kontingenz“ dem dynamischen, zeitlichen Gesichtspunkt zu
(vgl. Heinrich Beck: Natürliche Theologie. Grundriß philosophischer Gotteserkenntnis,
München/Salzburg 1986, 118-133).
298
ste Annahme wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung als unmöglich erweisen.
In seinem Anspruch, nicht allein die leblose Materie hinsichtlich ihrer Bedingtheit
zu untersuchen, erweist sich die entsprechende Frage in Hinsicht auf das Leben
als weniger schwierig. Seine Bedingtheit sei zu evident. Es sei nicht nur auf die
Materie angewiesen, sondern auch in seiner Entstehung, da es keine Urzeugung
geben könne, einem Prinzip verdankt, das als eine höhere formale Bedingung die
sonst unüberwindliche Kluft zwischen dem Leblosen und dem Belebten allein
überbrücken könne. Beim Tier finden sich Spontaneität und Sensibilität, beim Menschen kommen Selbstbewusstsein, Unterscheidungs- und Urteilskraft hinzu und
seine natürliche und sittliche Freiheit.437
So sei die Gültigkeit der Kategorien von Bedingtheit, Zeitlichkeit, Veränderlichkeit
für alle drei Seinsbereiche als unanfechtbare Tatsache festgestellt. Der eigentliche
Syllogismus hat dann folgende Form:438
Maior: Alles ist bedingt, jedes Seiende existiert auf Grund und in Kraft von anderem Seienden, das seine reale Voraussetzung bildet.
Minor: Alle einzelnen Seienden zusammen können ihre Existenz nicht auf Grund
eines Seienden besitzen, das von gleicher Art wie jene ist. Nichts einzeln vorfindliches Seiendes in der Welt und auch die Gesamtheit des Seienden können als der
Grund gedacht werden, der selbst ohne Grund existieren kann.
Conclusio: Es muss etwas existieren, was selbst zu seiner Existenz nichts anderem bedarf, was also schlechthin unbedingt, einfach und durch sich ist, „an sich
selbst genügender Realsgrund und durch sich selbst wirksame Ursache. Dies Etwas ist der Absolute“439.
Da in der Voraussetzung nur etwas über die Existenzialform der Bedingtheit zu finden ist, wäre es verfrüht, schon hier diesem Unbedingten wesentliche Bestimmungen, etwas wie Geistigkeit oder Freiheit beilegen zu wollen. „Mit Sicherheit ist bewiesen die ontologische Einzigkeit des absoluten Urgrundes, welcher das in der
Vielheit zersplitterte Seinsganze muß allein tragen können. Unica causa
essendi“440.
3.2.3 Das nomologische Argument441
Im zweiten Gedankenkreis geht es um die Tatsache, dass kein Seiendes bestehe,
das nicht im Verhältnis zu jedem anderen Seienden und zum Seinsganzen stünde,
dass mithin geordnet sei. Die verschiedenen Seienden seien in einem Kausalne437
438
439
440
441
Braig verweist bezüglich der Frage nach der Irreduzibilität des Geistes aus der Materie
auf seine Schrift „Die Kunst des Gedankenlesens. Ein Gegenstück zum Spiritismus“, wo
er den Nachweis geführt haben will, dass die genaue Analyse der Vorgänge beim „Gedankenlesen“ sowohl den Materialismus wie auch den Spiritismus widerlegen (vgl.
Braig 1886a, 57-69).
Vgl. Braig: Gottesbeweis 182ff.
Ebd. 184.
Ebd.
Vgl. ebd. 184-197.
299
xus einander zugeordnet, stehen in einer Wechselbeziehung zueinander, in der jedem Wirken ein Gegenwirken entspreche.442 Die unverletzlichen Formen des Wirkens seien die Verhältnisse, die als Natur- und Seinsgesetze bezeichnet werden.
Wenn es beim ersten Beweisgang zunächst um das Dass der Bedingtheit des Seienden gegangen war, geht es jetzt gewissermaßen um die konkrete Form, das
Wie, in dem sich die abstrakte und mehr negative Bestimmung des Seins als Bedingtes seine Form gibt. „Die ontologische Weltbetrachtung in konkreter Fassung
ist also nomologisch“443.
Zunächst geht es um den Nachweis, dass diese Struktur der Geordnetheit sich im
Reich des unbelebten Seienden durchgängig finde. Gesetz, so Braig in einer Definition, sei die konstante Verknüpfung des Raumes, der Massen und der Zeit. Die
Materie sei konstituiert als eine ordinatio ordinata, als eine durchgängige physikalisch bestimmte Gesetzmäßigkeit, die ihren schärfsten Ausdruck in der Formel von
der Einheit der Naturkräfte finde. Die Möglichkeit, verschiedene Kräfte in einander
übergehen zu lassen, könnte nicht bestehen, wenn sie nicht beide verwandte Erscheinungsformen eines und desselben Prinzipes wären. Ob man wie selbstverständlich einen Äther annimmt, der im All die Wirkungen der Seienden aufeinander
vermittelt, oder nicht, diese Annahmen ändern nichts an der Sicherheit, mit der die
„ausnahmslose Gesetzmäßigkeit der Naturordnung“444 als erwiesen angesehen
wird.
Auch das Lebendige erweise sich als in eine gesetzmäßige Form gegossenes,
auch wenn die Gedanken der Darwinisten, der mechanische Monismus, den Begriff des Naturgesetzes verloren zu haben scheint. Denn die Postulierung des Zufalls, der die Veränderungen an den Organismen steuern soll, ist ja gerade die bewusste Enthaltung von der Behauptung einer Ordnung, auch wenn der Anschein
erweckt wird, dass dieses Nichtvorhandene „das Eine Entwicklungsgesetz für das
Hervorwachsen des Höchsten aus dem Niedrigsten“445 abgeben könnte.
Die Freiheit der intellektuellen Welt sei scheinbar gegen die Tatsache der notwendigen Bestimmtheit der Gesetzlichkeit gerichtet. Dennoch sei gerade die geistige
Welt von den reinsten und sublimsten Formen der Gesetzlichkeit bestimmt. Auch
wenn Braig gegenüber einer allgemeinen Bestimmtheit der Geschichte oder des
menschlichen Gattungslebens sehr zurückhaltend ist, zeigen doch psychologische
und ethische Überlegungen, dass der menschliche Geist durchaus von einer Gesetzlichkeit bestimmt sei. Zum einen zeige sich, dass die Verletzung von ethischen
und ästhetischen Normen und das daraus resultierende Übel und Böse die Vernichtung der menschlichen Persönlichkeit mit sich bringen. Daneben bedeute die
Freiheit nicht die Verneinung der Kausalität, sondern die Anerkennung eines
442
443
444
445
Heinrich Beck ordnet dem Aspekt der Ordnung, der für ihn zugleich die Dimension der
Räumlichkeit und Statik umfasst, die Gottesbeweise „aus der Ordnung“ und den „Stufenbeweis“ zu, aber auch Denkansätze aus der „teleologischen“ bzw. „sinnvoll-finalen“
Weltstruktur, die bei Braig erst als drittes Moment behandelt werden (vgl. Beck: Natürliche Theologie 118f.; 134-147).
Braig: Gottesbeweis 186; vgl. ders.: Ontologie 100-133.
Braig: Gottesbeweis 190 (im Text hervorgehoben).
Ebd. 191.
300
transmechanischen Kausalitätsprinzips, nämlich das Gesetz des zureichenden Motivs, parallel zum Prinzip des zureichenden Grundes.
Mit der Herausstellung dieser durchgängigen Ordnungsbestimmtheit alles Seienden ist der Boden bereitet für folgenden Schluss:446
Maior: Die Bedingtheit des Seienden hat die Form der Weltordnung, des Seinsgesetzes.
Minor: Gesetz und Ordnung als solche müssen als Inbegriff eines diese Ordnung
vorausgewirkten Scheidens und Unterscheidens aufgefasst werden, da sie Ausdruck des Sammelns von Vielheiten zu Einheiten, von Einheiten zu Einheitsgruppen sind.
Conclusio: Der absolute Weltgrund als einzige absolute Bedingung der Gesamtheit
des Seienden muss also auch der Hervorbringer der Form ihrer Bedingtheit bewirken. Er muss daher selbst Unterscheiden, Denken und Ordnen sein.
Damit aber sei zwar bewiesen, dass dem Absoluten des ersten Beweisganges neben seiner Einzigkeit auch Leben, Geist und Denken zugesprochen werden könne,
noch nicht aber die Entelechie des Personseins, die Freiheit des Wollens und Wirkens. Es bleibt die Art seines Schaffens zu untersuchen.
3.2.4 Das teleologische Argument447
Die Frage nach dem Woher des Bedingtseins der Welt und die Frage nach dem
Wie der Welt im Sinne seiner gesetzmäßigen Geordnetheit ergaben die Bestimmungen des aboluten Weltgrundes in seiner verstandesmäßigen Form. Fragt man
nun nach der genaueren Verfahrensweise des Absoluten in seiner Schöpfung, ist
man verwiesen auf das Wohin der Schöpfung, ihr Wozu. Der Aufweis der teleologischen Verfasstheit des Seienden wird den Schöpfer als Person, als persönliche
causa determinandi ausweisen.
Gleichwohl sei die Demonstration gerade des zweckgerichteten Charakters des
Seienden, alles Seienden die schwierigste Aufgabe, weil hier leicht Meinung und
Wirklichkeit verwechselt werden können. Eng verknüpft sei der Gedanke der
Zweckmäßigkeit mit dem der Gesetzmäßigkeit, wobei im Bild das Gesetz die Bahn
der Bewegung sei, der Zweck aber deren Ziel, das Verlauf und Geschwindigkeit
der Bewegung bestimme.
Offensichtlich sei ohne die Erschauung des Zweckes im einzelnen Seienden und in
seiner Gesamtheit dieses nicht begriffen. Gibt es aber jenseits dieser gnoseologischen Bedeutung des Zweckgedankens aber auch einen wirklichen Zweck in der
Materie? „Zweckbestimmung ist jenes Etwas, welches die Gesetze des Seins, wie
diese Form und Gehalt des Seienden beherrschen, als Mittel auf ein Höheres hinordnet“448. Gemäß seiner empirischen Methode verweist Braig auf viele physikalische Erscheinungen. Er führt etwa die staunenswerte Anomalie des Wassers an.
Jede einzelne chemische Stoffverbindung müsse an ihrem Ort in das Ganze hin446
447
448
Vgl. ebd. 195ff.
Vgl. ebd. 197-227.
Ebd. 201.
301
einpassen. „Die transzendentale Notwendigkeit des Ganzen also, seine Vollendetheit und Selbsterhaltung, determiniert das Einzelne; in ihr ruhet das Wozu des Einzelnen (causa finalis)“449. So kommt Braig dazu, die Materie als passive Zweckmäßigkeit, nämlich als objektive Bezwecktheit, harmonia praestabilita, zu kennzeichnen; „die Gesamtmaterie der Natur ist bearbeitetes Zweckmaterial“450.
Das organische Leben sei schon an sich und offensichtlich das Herrschaftsgebiet
des Zweckes. Es sei aktives, instinktives Zweckstreben, es wolle lebendig sein,
sich im Leben erhalten, das Leben fortpflanzen. Diese Ziele werden zwar als Wirkungen aus physischen Ursachen erreicht, aber immer im Hinblick auf ein vom
physikalischen und chemischen Ursachenkreis verschiedenes Etwas. Jeder noch
so kleine Teil sei im Hinblick auf ein anderes, ein Kommendes, noch völlig Ausstehendes. Gerade im Reich des Lebendigen sei das gesetzmäßig Geordnete unverstehbar und in sich unsinnig ohne die Annahme eines teleologischen Wozu. Ja es
gehöre geradezu zur spezifischen Differenz des Organischen, teleologische Bestimmtheit zu sein. Ein bedenkenswerter Einwand möchte das scheinbar zu
Zweckformen sich Fügende als Dauererscheinungen dessen betrachten, was sich
durch Zufall auf eine Weise zusammengefügt habe und erfolgreich gewesen sei,
dass es jetzt als zweckbestimmt erscheine. Dagegen stehe aber, wie schon Aristoteles festgestellt habe, dass das Naturwirken durch Folgerichtigkeit und Regelmäßigkeit ausgezeichnet sei, also nicht durch blinden Zufall. Wenn Materie und Form
die Bestandteile des Seienden seien, verkörpere die Form das Ziel, die vollendete
Wesensform des Seienden und dessen immanente Zweckursache. Der innerlich
zusammenhängende, auf jeder Einzelstufe vom Endzweck geleitete Entwicklungsgang sei der unwidersprechliche Beweis für den Zweck. Selbst Missbildungen
sprechen nicht dagegen, sondern seien wie Kunstfehler Fehlversuche, den Zweck
zu erreichen. Die Beständigkeit der Ereignisse, ihr Immer oder Meistens, die vollständige oder hinreichende Induktion, entscheide über die Wirklichkeit des Zweckzusammenhangs.
Während nun im Reich der Materie rein passive Zweckmäßigkeit vorherrsche, im
Reich des Lebendigen instinktives Zweckstreben aufweisbar sei, zeige sich das
menschliche Geistesleben als freies, selbst- und zielbewusstes Zweckhandeln.
Wenn nach dem Urgrund, dem zureichenden Grund für diese Art des Handelns
gesucht werde, erweise sich Gott als der, der dem Menschen selbst den Daseinszweck gesetzt habe, ja dessen Endziel ist.
Es sei nicht die Hand, die das künstlerische Schaffen des Menschen ermögliche,
was die spezifische Zwecktätigkeit des Menschen setze, sondern dessen Vermögen, sich und die Welt auf ein letztes Ziel zu beziehen und für sich selbst ein höchstes Ziel zu postulieren und sich für dasselbe zu bestimmen: Wille und Denken in
ihrer Fähigkeit machen den metaphysischen Charakter des Menschen aus, und
dies sei die Wurzel des sittlich-religiösen Bewusstseins. Nach der theoretischen
Seite hin äußere sich das menschliche Zweckbewusstsein als Gottesidee, nach
der praktischen als Sittenideal. Die Freiheit des Menschen bestehe darin, sich über
die nomologische Bestimmtheit des Seienden hinauszubewegen und sich zu sa449
450
Ebd. 202.
Ebd. 210.
302
gen: „Du kannst deinen Daseinszweck bestimmen nach Maßgabe des Gottesgedankens [...]; und du kannst dein Leben nach dem Ideal des Vollkommenen einrichten, wozu du dich verpflichtet fühlst in deinem Gewissen“451.
Braig gibt Röm 1,19f. und 2,14f., die klassischen Stellen für die natürliche Gotteserkenntnis, mit eigenen Worten wieder: „Die Grundlinien des an Gott Erkennbaren,
die Idee vom Dasein eines über die Schranken der Stofflichkeit, der Zeit und des
Raumes erhabenen Wesens, ist offenbar in der Wesensform des Menschengeistes; das Gesetz des Seinsollenden, das Zweckideal ist das Gesetz der Menschennatur; deren ungefälschtes Selbstbewußtsein ist Bejahung dieser Bestimmtheit und Verneinung des Gegenteils von idealer Selbstbestimmung“452.
So münden diese Überlegungen in dem Beweis:453
Maior: Alles Seiende ist zweckmäßig, entweder passiv, als einem Größeren untergeordnetes Mittel, oder instinktmäßig, oder selbstbewusst und selbstständig.
Minor: Es ist gefordert eine Intelligenz, die die Gestaltbarkeit und die wirklichen
Gestaltungen der Materie vorausbestimmt, und als Seinszwecke eingeschaffen
hat, die die Zielstrebigkeit der Natur, den Lebewesen den Grundriss ihres Organismus vorzeichnet, die schließlich die freie Zwecktätigkeit, dem Vollkommenheitsstreben des Menschen einen Zielpunkt vorgibt.
Conclusio: Also muss der Absolute als zureichender, einziger und allgenügender
Weltgrund geistig-sittliche, selbstbewusste Persönlichkeit sein. Er muss die absolute Person sein.
Der Schluss von der dreifachen Betrachtung des Seienden auf den absoluten
Weltgrund sei der objektive Gottesbeweis. Es gebe nur einen einzigen solchen
Beweis, weil „die Voraussetzung, auf die sich jede reale Beweisführung stützen
muß, nur Eine ist, die bloß logisch in eine Dreiheit zergliederte Existenzialform des
Einen Weltseins: Bedingtheit – Gesetzlichkeit – Zweckmäßigkeit des Seienden und
der Seinsgesamtheit“454.
Für Braig ist damit aber auch schon die Grenze der natürlichen Gotteserkenntnis
erreicht, nähere Angaben über das Wesen Gottes sind den Offenbarungen der positiven Theologie vorbehalten. „Die theistische Philosophie bescheidet sich, die
wissenschaftlich vermittelte Einsicht in die objektive Wahrheit erschlossen zu haben“455: Ich bin das Alpha und das Omega, der erste und der Letzte, der Anfang
und das Ende (Offb 22,13).
Mehr verlangt auch die Konstitution des ersten Vatikanischen Konzils nicht, die
Gott für erkennbar bezeichnet hat als „rerum omnium principium et finem“456.
451
452
453
454
455
456
Ebd. 222.
Ebd. 223 (im Text hervorgehoben).
Vgl. ebd. 224-227.
Ebd. 226.
Ebd. 227.
Vgl. DH 3004.
303
Schluss
Ist die erste Frage der Theologie zu jeder Zeit die Frage nach der Wirklichkeit Gottes, so müssen die Bemühungen, die dem Nachweis dieser Wirklichkeit dienen sollen, auch heute eine vorrangige Stellung in einer Glaubenswissenschaft einnehmen. Nicht nur wird seit längerer Zeit vor allem von philosophisch-erkenntnistheoretischer Seite die Möglichkeit eines zumindest allgemein nachvollziehbaren und
zwingenden Gottesbeweises bestritten, sondern auch von theologischer Seite dessen Notwendigkeit.
Der heutige Naturwissenschaftler ist skeptisch gegenüber einem Beweis Gottes,
der von der Welterfahrung ausgeht und zu einem ersten unbewegten Beweger oder einer ersten Wirkursache gelangt. Zu sehr scheint das dabei Vorausgesetzte
abhängig von einer überholten naturphilosophischen Betrachtung zu sein. Für den
Physiker videtur quod Deus non sit. „Was durch weniger Prinzipien erfüllt werden
kann, geschieht nicht durch mehr Prinzipien. Es zeigt sich aber, dass alles was in
der Welt erscheint, auch durch andere Prinzipien erfüllt werden kann, unter Annahme, dass Gott nicht sei [...]. Es besteht also keine Notwendigkeit anzunehmen,
dass Gott ist“457. Dem Naturwissenschaftler geht es darum, die Welt ohne Gott zu
erklären. Einen Gottesbeweis zu führen, liegt nicht in seinem Horizont. Der Wissenschaftler leugnet die Möglichkeit des Gottesbeweises aus ontologischen Voraussetzungen heraus.
Spätestens seit Kant werden zunehmend die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen für die Möglichkeit des Beweises von Gottes Dasein in Frage gestellt. Es
gibt also herrschende philosophische Strömungen, welche die Möglichkeit der natürlichen Gotteserkenntnis bestreiten. Im vergangenen Jahrhundert hat sich auch
bei vielen Theologen die Einsicht durchgesetzt, das Dasein des christlichen Gottes
sei vernunftmäßig nicht zu erfassen. Die Existenz Gottes sei ein reines Glaubengeheimnis, der bewiesene Gott sei nicht der Vater Jesu Christi. Walter Kasper
konstatiert: „Angesichts der radikalen Infragestellung des christlichen Glaubens
hilft ein schwächlicher, allgemeiner und vager Theismus nicht weiter, sondern nur
das entschiedene Zeugnis vom lebendigen Gott der Geschichte, der sich durch
Jesus Christus im Heiligen Geist konkret erschlossen hat“458. Von daher stellt sich
natürlich die Frage, ob es überhaupt erwünscht ist, nach der natürlichen Erkennbarkeit des Gottes zu fragen, an den wir glauben. Es steht in Frage die Notwendigkeit des Gottesbeweises.
Trotzdem hört die Frage nach Gott nicht auf, eine vordringliche zu sein. Soll „Gott“
bewiesen werden, muss die Frage gestellt sein: Wer ist das eigentlich – Gott? „Wer
einen Gottesbeweis unternimmt, muß bereits eine Ahnung von dem haben, was er
beweisen will“459. Gesucht werde nach der „Antwort auf die Frage in allen Fragen“;
457
458
459
„[Q]uod potest compleri per pauciora principia, non fit per plura. Sed videtur quod omnia
quae apparent in mundo, possunt compleri per alia principia, supposito quod Deus non
sit. [...] Nulla igitur necessitas est ponere Deum esse“ (Thomas von Aquin: Summa
theologica I 2,3).
Walter Kasper: Der Gott Jesu Christi, Mainz 31995, 382.
Ebd. 14.
305
Gott „ist die Antwort auf die Fraglichkeit des Menschen und der Welt schlechthin“460. Von daher ist Gleichgültigkeit gegenüber der Gottesfrage keine Lösung. Es
muss gefragt werden, mit allen Mitteln und Methoden menschlicher Fragekunst,
auch vor dem Hintergrund heutiger Naturwissenschaft.
Was aber ist von einem Gottesbeweis nach Art des von Braig vorgelegten zu halten? „Die Frage nach der Möglichkeit und dem Wert von Gottesbeweisen“ lässt
sich nur dadurch lösen, dass „die vielfache Bedeutung von ‘Beweis’ und die verschiedenen Funktionen der Gottesbeweise unterschieden werden“461.
Unter „Beweis“ versteht die moderne Wissenschaftstheorie „eine Begründung für
aufgestellte Behauptungen, weil die behauptende Verwendung von Aussagen [...]
einen Anspruch auf Geltung einschließt, der durch den Beweis für die Behauptung
eingelöst werden soll“. Der Beweis ist innerhalb des dialektischen Prozesses von
Rede und Gegenrede erst dann vollgültig aufgestellt, wenn er „sich gegen jeden
möglichen Einwand verteidigen kann, er also eine Gewinnstrategie für seine Behauptung hat. Jede solche Gewinnstrategie heißt ein Beweis“462. Dabei wird dieser
hohe Anspruch kaum je zu erfüllen sein. Wer hat jeden denkbaren Einwand für eine Behauptung im Blick?
Eine weniger enge und anspruchsvolle Bedeutung von „Beweis“ legt sich nahe,
wenn man ihn als „eine strenge Begründung einer Behauptung, die verbal oder
nicht-verbal [...] geliefert werden kann“463, bezeichnet. Die Begründung aufgestellter Behauptungen vollzieht sich innerhalb eines axiologischen Systems, eines Zusammenhangs mit axiomatischen, also zugrundeliegenden, aber selbst nicht begründbaren Sätzen, auf denen die Begründung ruht. Nun unterliegt aber das
durchschnittliche Verständnis von „Beweis“ durchaus einem naiven Missverständnis, was die letzte Tragkraft eines solchen Beweises angeht. Es lässt sich nachweisen, dass sich selbst die Mathematik mit den Mitteln ihres Systems nicht hinsichtlich ihrer Widerspruchsfreiheit beweisen lasse. „Bereits philosophisch geht der
Begriff des Beweises also keineswegs mit dem Gedanken der Lückenlosigkeit, der
absoluten Voraussetzungslosigkeit und damit mit dem einer letzten Erzwingbarkeit
einher“464. Der Gottesbeweis als „schlußfolgernde Rede, welche die Erkenntnisgründe aufweist, aus denen sich die Berechtigung der Bejahung des Daseins Gottes (als Bezugspunkt religiöser Akte) ergibt“465, verfolgt also letztlich ein anderes
Ziel als das, aus einer völligen Voraussetzungslosigkeit die Existenz Gottes für jeden zwingend darzulegen.
Grundsätzlich gilt aber: „Die Erkenntnis Gottes kann nicht von der intellektuellen
Begabung und Ausbildung eines Menschen abhängen, so daß die Gottesbeweise
keinen ursprünglichen Zugang zum religiösen Glauben darstellen“466.
460
461
462
463
464
465
466
Ebd. 15.
Otto Muck/Friedo Ricken: Art. Gottesbeweise, in: LThK3 4, 878-886, hier 878.
Kuno Lorenz: Art. Beweis, in: Jürgen Mittelstraß (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und
Wissenschaftstheorie, Bd. 1, Mannheim u.a. 1980, 304f., hier 304.
Paul Weingartner: Art. Beweis I. Philosophisch, in: LThK3 2, 351f., hier 351.
Müller: Gottes Dasein 45.
Muck/Ricken: Art. Gottesbeweise 879.
Ebd.
306
„Der Theologe könnte darauf insistieren, daß der bewiesene Gott nichts mit dem
Gott der Offenbarung zu tun habe. Er müßte sich dann jedoch die Gegenfrage gefallen lassen: Wie kann die Vernünftigkeit (rationabilitas, nicht rationalitas!) des
Glaubens ohne Gottesbeweise gesichert werden? Im Verständnis des Thomas von
Aquin sind die Gottesbeweise der Angelpunkt, der verhindert, daß Glauben und
Wissen in zwei beziehungslose Horizonte auseinanderbrechen“467.
Das gleiche Bemühen trieb auch den Freiburger Theologen und Philosophen Carl
Braig um, wenn er auf den Berührungspunkt zwischen Glauben und Wissen im
wissenschaftlichen Gottesbeweis verwies. Ähnlich wie sich die heutige Einstellung
den Gottesbeweisen gegenüber zeigt, sah sich auch Carl Braig von verschiedenen
Seiten in Frage gestellt. Sein Apostolat der Dialektik, das als eigenen Gipfelpunkt
den Beweis von Gottes Dasein begreift, wendet sich zum einen gegen die Leugner
der Möglichkeit eines streng wissenschaftlichen Gottesbeweises, zum anderen
aber auch gegen solche, die diesen Beweis als unnötig ablehnen. Die Gewinnstrategie, die er im Hinblick auf seinen Gottesbeweis verfolgt, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie mögliche Einwände durch radikale Begründungen abzuwehren
versucht. Dabei ist vor allem das stete Bemühen zu würdigen, den jeweiligen Gegner auf der Höhe seiner selbst wahrzunehmen und zu treffen. Zur Vermeidung des
proton pseudos setzt er seine erkenntnistheoretischen und ontologischen Erkenntnisse voraus, so dass innerhalb dieses geschlossenen Weltbildes konsequent das
Dasein Gottes mitgedacht werden muss.
Neben dem Versuch, die Biographie Carl Braigs in der möglichen Ausführlichkeit
darzustellen, war diese Arbeit von der methodischen und inhaltlichen Begrenzung
auf das apologetische Wirken Braigs im Sinne seines Apostolats der Dialektik getragen. Ziel der Arbeit war es, die Apologie Braigs nach Methode und wissenschaftstheoretischer Verankerung darzustellen, dann deren Konkretion in der Auseinandersetzung mit dem „Modernismus“ nachzuzeichnen, und schließlich die philosophische Grundlegung dieses Wirkens zu erschließen.
Überzeugt von der grundsätzlichen Vereinbarkeit von Glauben und Wissen, sieht
Braig in seiner Apologetik den Versuch, den Glauben verstehend zu ergründen
und gegen antitheistische Tendenzen einer weitverbreiteten Weltanschauung zu
argumentieren. War diese grundlegende Sicht von Apologie zunächst vor allem auf
die demonstratio religiosa konzentriert, so hat sich gezeigt, dass während der Zeit
der Modernismus-Krise und ausgelöst durch sie die Apologie Braigs ein anderes
Gesicht bekommen hat. Sie verschob sich mehr auf die Felder der demonstratio
christiana (Christologie) und der demonstratio catholica (v.a. Kirchenstiftung), blieb
aber dort eher defensiv, weil Braig seinen Ausgangspunkt bei der Philosophie beibehielt.
Hier waren es vor allem erkenntnistheoretische und ontologische Überlegungen,
die bei Braig im Vordergrund standen. Gerade in der Erkenntnistheorie zeigt sich
deutlich, wie sehr es Braig in seiner Philosophie darum ging, die Voraussetzungen
dafür zu schaffen, eine vernunftmäßige Begründung des Glaubens zu ermöglichen, und zwar durchaus nicht rein abwehrend, sondern indem er die berechtigten
467
Friedo Ricken: Einführung, in: Ders. (Hg.): Klassische Gottesbeweise in der Sicht der
gegenwärtigen Logik und Wissenschaftstheorie, Stuttgart 21998, 7-15, hier 7f.
307
Anliegen etwa einer Philosophie des Subjekts zu würdigen und aufzunehmen versuchte. Das Originelle an Braigs Seinsbegriff hat sich demgegenüber als weniger
fruchtbar für seine Apologetik erwiesen, vielleicht auch deswegen, weil hier ganz
massiver Protest von Seiten einer neuthomistischen Orthodoxie erfolgte. Das Seiende als in jeder Form Unterscheidend-Tätiges hat gleichwohl Bedeutung für den
Gottesbeweis, für den die teleologische Verfasstheit des Seienden und die universale Geltung des Kausalitätsgesetzes unabdingbare Voraussetzungen bilden.
Gerade die spekulative Dimension des Denkens Braigs zeigt eine unglaubliche
Vielschichtigkeit der Momente und Komplexität der Bezüge. Zudem ist das Werk
Carl Braigs nicht einfach zu begreifen. Vieles wird nur angedeutet, oft finden sich
schwer zu verstehende Wendungen, zumal die Sprache Braigs auch von einem
ästhetischen Anspruch getragen wird. Wollte man behaupten, das Denken Braigs
bewegte sich zwischen Neuscholastik und Modernismus, ist diese Auffassung
zwar einerseits richtig, weil er sich in keine dieser Kategorien einordnen lässt, andererseits in dieser groben Vereinfachung auch wieder falsch, weil die genannten
Pole in ihrer Differenziertheit nicht auf einer Ebene liegen. Nähe und Distanz
Braigs zu den genannten Schulen wurde insbesondere bei der Untersuchung seiner Philosophie deutlich.468 Das Denken Braigs entzieht sich einer eindeutigen Zuordnung, es ist in hohem Maße individuell und in seinem eklektischen Grundzug originell. Eine genaue Untersuchung der vielfältigen Beziehungen des Denkens
Braigs zu zeitgenössischen und älteren Autoren blieb in dieser Arbeit ebenso ausgeklammert wie eine Betrachtung des Weiterwirkens von Braig benutzter Philosophoumena oder Theologoumena und der heutigen Diskussion zu entsprechenden Themen.
Interessant könnte es sein, am Schluss aus einer Perspektive, die das Gesamtwerk Braigs einigermaßen im Überblick hat, die Frage nach seiner Zugehörigkeit
zur katholischen Tübinger Schule469 zu stellen. Braig hat an der Tübinger Theologischen Fakultät seine Ausbildung erfahren. Universitätsfakultäten stellten eine
Kontinuität sicher, und sofern sie eine ausgeprägte Eigenart entwickelten, konnte
man in manchen Fällen auch von „Schulen“ sprechen. Die inhaltliche Eigenart dieser Schule neben ihrer institutionellen stellte aber erst den eigentlich qualitativen
Wert, mit dem dieser Begriff besetzt war und noch immer ist. Dabei ist eine solche
Bestimmung keineswegs eindeutig zu treffen.470 Ausgehend von Johann Sebastian
Dreys Grundlegung und Kennzeichnung lassen sich verschiedene Merkmale dieser Schule über die Jahrzehnte und bei ihren verschiedenen Repräsentanten verfolgen, die immer wieder auftauchten und konstruktiv weiterentwickelt wurden. Bei
der Nennung einiger dieser Charakteristika lässt sich vielleicht die Frage beantworten, inwiefern Braig auch hinsichtlich seiner Lehre zur katholischen Tübinger Schule zu rechnen ist. Auch dies kann zu einer Verortung der Lehre Braigs innerhalb
der Strömungen des 19. Jahrhunderts beitragen.
468
469
470
Vgl. oben Dritter Hauptteil 2.1 Carl Braig und die Theologie seiner Zeit.
Zur Tübinger Schule vgl. den ersten orientierenden Überblich bei Max Seckler: Art. Tübinger Schule I. Katholische Tübinger Schule, in: LThK3 10, 287-290.
Vgl. Scheffczyk: Tübinger Schule 86ff.; Josef Rupert Geiselmann: Die katholische Tübinger Schule. Ihre theologische Eigenart, Freiburg u.a. 1964, 11-15; Reinhardt: Fakultät.
308
Zunächst ist die Teilhabe der Tübinger Theologen an dem wachsenden geschichtlichen Bewusstsein zu erwähnen. Die besonders im 18. und 19. Jahrhundert aufbrechende Gewissheit von einer durch und durch geschichtlich bestimmten Wirklichkeit wuchs sich zu einer Krise der Theologie aus, weil diese sich von jeher von
einem spekulativen und einem historischen Moment bestimmt sah. Wenn nun mit
dieser Geschichtlichkeit auch in der Theologie ernst gemacht wurde, etwa in der
Form historisch-kritischer Forschung im Bereich der biblischen Exegese, der Kirchen- und Dogmengeschichte, sah man sich der Gefahr ausgesetzt, dass die festgefügte Ordnung der zeitgenössischen Glaubens- und Kirchengestalt zum Einsturz
gebracht werden könnte.
Diese Gefahr des Relativismus der Wahrheit sah man in der im Bereich der protestantischen Kirchen besonders gepflegten kritischen Bibelwissenschaft gegeben.
Dass Carl Braig sich auf das philosophische Moment der Theologie verlegt, ist natürlich zum einen Audruck seines Interessensschwerpunkts, schien ihm aber auch
angesichts eines um sich greifenden Antitheismus auf philosophischer Grundlage
für die christliche Apologetik geboten. Zum anderen aber legt sich der Verdacht
nahe, dass durch die einseitige Verlegung auf das Spekulative die drängenden
Probleme des historischen Skeptizismus und Relativismus, die gerade aus dem
Bewusstsein der Komplexität und Divergenz des Historischen entsprangen, von
Braig nicht genügend gewürdigt wurden. Wenn Braig mit Begeisterung die antimodernistische Kampfansage des Papstes begrüßt, dann macht er mit diesem den
Fehler, das Ausmaß und die Berechtigung vor allem der historisch-kritischen Exegese, aber auch einer solchen Kirchengeschichtsschreibung, völlig falsch einzuschätzen. Insofern kann das für die Tübinger Schule charakteristische Moment der
Neubestimmung des Christlichen im Horizont eines Geschichtsbewusstseins für
Braig nur sehr bedingt zutreffen. Es gibt Ansätze, wie die Betonung der lebendigen
Überlieferung als Begründung des kirchlichen Lehramtes, oder die Herausstellung
der Autorität als erkenntnistheoretischen Topos. Wir suchen bei Braig aber im Gegensatz zu den älteren Tübingern vergebens einen Systemgedanken, der die Vielheit des Geschichtlichen sammeln und einen würde zu einer Geschichte, in der
das Christusereignis und die Kirche in ihrer faktischen Geschichte eingebettet erscheinen könnte.
Was das genannte erkenntnistheoretische Moment angeht, so findet sich in der
Erkenntnislehre der Tübinger die charakteristische Bestimmung der Vernunft als
eines Organs „unmittelbarer Erkenntnis und der Empfänglichkeit des ganzen Menschen für Gott und die göttlichen Dinge“471. Auch wenn sich Braig später dezidiert
von der entsprechenden Auffassung seines Lehrers Kuhn absetzt, bleibt doch
auch bei ihm die Vernunft als das Vermögen der ideellen, auch religiösen, Erkenntnis herausgehoben, auch wenn die damit verbundenen Konsequenzen nicht
genug bedacht erscheinen, etwa in der Frage nach der Gewichtung von intrinsezistischen gegenüber extrinsezistischen Argumenten für die Glaubensbegründung.
Einige Auffassungen der neuerstandenen Scholastik vertrugen sich nicht mit dem
Gedankengut der Tübinger. Kuhn etwa bemängelt nicht nur das mangelnde ge-
471
Scheffczyk: Tübinger Schule 97.
309
schichtliche Bewusstsein der „modernen Repristinatoren der Scholastik“472, sondern spricht sich auch hinsichtlich der Frage nach der natürlichen Gotteserkenntnis
klar gegen die aristotelisch-scholastische und für eine platonisch-patristische Auffassung aus.473 Braig blieb auch nach seinem Weggang aus Tübingen, und vielleicht ist er auch insofern ein „Tübinger“, in kritischer Distanz zu gewissen Lehren
seiner neuscholastischen Kollegen, denen er vorwirft, durch ihr zu starres Festhalten an der aristotelisch-scholastischen Begrifflichkeit der ganzen Wirklichkeit nicht
gerecht werden zu können.
Was bleibt? Hat Braigs Denken auch eine unmittelbare Relevanz für den heutigen
Leser? Mich hat es bei der Lektüre der alten Schriften, gerade wenn es um die mit
dem Modernismus zusammenhängenden Fragen ging, immer wieder verblüfft, wie
wenig originell oft heutige Diskussionen sind. Allerdings scheinen die Lösungen,
die Braig anbietet, nicht ohne Weiteres dem zeitgenössischen Denken angepasst
zu sein. Allein schon angesichts der Diskussion um den Gottesbeweis können wir
heute einen verschärften weltanschaulichen Pluralismus konstatieren, so dass sich
die Anzahl der Fronten auf dem apologetischen Schlachtfeld noch vermehrt hat.
Wenn Braig noch glaubte, die Vielfalt und das Neben- und Gegeneinander der verschiedenen Perspektiven menschlichen Wirklichkeitsverständnisses mittels der
Dialektik auf eine übergeordnete Einheit zurückführen zu können, so fühlt sich dazu heute niemand mehr in der Lage. Andererseits nötigt die Denkanstrengung eines Carl Braig im Angesicht einer schon damals hochkomplexen Problemstellung
Respekt ab, und es stellt sich die Frage, ob und inwieweit heutige Theologie dieser
denkerischen Leistung gerecht wird.
Auch die Gegenwart ist zur denkerischen Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Weltanschauungen aufgerufen, Apologie bleibt ein notwendiges Desiderat.
Materialistische, mechanistische Weltbilder sind nicht überwunden.
Die Wege, die Carl Braig auf seiner apologetischen Lebensreise beschritten hat,
sind für uns Heutige jedoch vielfach verbaut. Sowohl die menschliche Vernunft wie
auch ihre Möglichkeiten der Wahrheitsfindung haben sich inzwischen für viele als
problematischer erwiesen, als dies auch Braig in seinem durchaus nicht geringen
Problembewusstsein inne war.
Wie dem auch immer sei, wie groß der Graben auch immer sein mag, der uns heute von der Zeit und der Person Carl Borromäus Braigs trennen mag, sein Grundanliegen, sein Apostolat der Dialektik bleibt ein Desiderat, das zu erfüllen jeder aufgerufen ist, der nach der Hoffnung gefragt wird, die ihn erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15). So
lässt sich nach einem sinngemäß immer wieder zitierten Satz auch für heute das
Motto ausgeben:
„Nicht dürfen wir betonen: Sanct Thomas schon hat diesen und jenen Satz gegen
diesen und jenen Irrthum der Neuzeit. Wir müssen vielmehr bedenken: wie würden
ein Augustinus, ein Thomas, selbständig und allen Umständen Rechnung tragend,
diese und jene moderne Meinung anfassen?“474
472
473
474
Vgl. etwa Johann Evangelist Kuhn: Katholische Dogmatik, Bd. 1/2, Tübingen 21862,
916f., hier 916.
Vgl. ebd. IV-X.
Braig: Apologie XXXVII.
310
Abkürzungsverzeichnis475
AAS
ADB
ASS
AWT
BBKL
BBNF
DAR
DH
EAF
FDA
HWPh
KThD
LR
LThK1
LThK2
LThK3
NDB
TRE
ThQ
UAF
UAT
475
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Theologische Quartalschrift (Tübingen u.a.) 1.1819 ff.
Universitätsarchiv Freiburg
Universitätsarchiv Tübingen
Nicht eigens aufgeführte Abkürzungen erfolgen nach LThK3 11,*692-*746.
311
Literaturverzeichnis
Unveröffentlichte Quellen
Archiv des Wilhelmsstiftes Tübingen (AWT)
D 13.1b
D 13.1b -1D 13.1b -5D 13.2a -8D 13.2a -9D 13.3a -d-/-6D 14.2i -8-
Allgemeine Repetentenakten
Dienstvorschriften der Repetenten
Repetentenakten
Semesterberichte 1870-1875
Semesterberichte 1876-1881
Aufnahmeakten
Examen pro seminario
(Akademische Abschlußprüfung im Aug. 1878)
Diözesanarchiv Rottenburg (DAR)
F IV Nr. 150:
G 1.1 Nr. D 13.1b
G 1.1 Nr. 288
G 1.3 Fasz. 3
G 1.7.1 Nr. 286
Personalakte des Königlich katholischen Kirchenrats
Generalakten/Repetenten des Wilhelmsstiftes
Jahreskurs des Priesterseminars Rottenburg 1877/78
Erledigung und Wiederbesetzung der Pfarrei Wildbad
Personalakte Braig
Erzbischöfliches Archiv Freiburg (EAF)
Na 95 Vol. 105
Na 95 Vol. 106
Nachlass Jakob Bilz (Korrespondenz)
Nachlass Jakob Bilz (Verschiedenes)
Universitätsarchiv Freiburg (UAF)
B 35/36
B 59/162
B 35/374
B 35/436ff.
B 35/518
C 67 Nr. 15-19
C 67 Nr. 1160
C 126 Nr. 55
C 126 Nr. 4-11
Protokollbuch der theologischen Fakultät 1881-1914
Protokollbuch der theologischen Fakultät 1914-1936
Zeitungsberichte zum Antimodernisteneid (1911)
Dekanatsakten 1892/93ff.
Doktorandenverzeichnis 1859-1896
Nachlass Joseph Sauer (Tagebücher 1901-1923)
Nachlass Joseph Sauer (Briefe Braigs an Sauer)
Nachlass Engelbert Krebs (Brief Braigs an Krebs)
Nachlass Engelbert Krebs (Tagebücher 1899-1924)
313
Universitätsarchiv Tübingen (UAT)
UAT 41/4 Nr. 5
Zu hören gewünschte Vorlesungen
UAT 51/51
Zuhörer-Verzeichnisse des Repetenten Dr. Braig
UAT 126/60
Personalakte Braig
UAT 131/27a
Fakultätsbeschluss über Promotion
UAT 131/27b Nr.11 Doktordiplom und Curriculum Vitae von Carl Braig
UAT 132/61 – 1877,16 Doktordiplom
UAT 184/222
Allgemeines zu Apologetik und Dogmatik
Bibliographie Carl Braigs476
Zitiert werden die Werke Braigs grundsätzlich mit Angabe des Erscheinungsjahrs
und dem entsprechenden Buchstaben (etwa: Braig 1887c); bei folgenden gewichtigeren Werken nach Kurztiteln:
Die natürliche Gotteserkenntniß nach dem hl. Thomas v. Aquin, in: ThQ 63 (1881)
511-596 (Braig: Gotteserkenntnis).
Die Zukunftsreligion des Unbewußten und das Princip des Subjektivismus. Ein apologetischer Versuch, Freiburg 1882 (Braig: Zukunftsreligion).
Joseph Beck: Philosophische Propädeutik. Ein Leitfaden zu Vorträgen an höheren
Lehranstalten und zum Selbststudium, Bd. 2: Encyklopädie der Philosophie,
in vollständig neuer Bearbeitung von Carl Braig, Stuttgart 61886 (Braig-Beck:
Enzyklopädie).
Gottesbeweis oder Gottesbeweise? Würdigung neuer und neuester apologetischer
Richtungen in Briefen an den hochw. Herrn Prof. Dr. Constantin Gutberlet in
Fulda, Stuttgart 1888 (Braig: Gottesbeweis).
François Duilhé de Saint-Projet: Apologie des Christenthums auf dem Boden der
empirischen Forschung. In Vorträgen, mit Zusätzen und einer Einführung von
Carl Braig, Freiburg 1889 (Braig: Apologie).
Die Freiheit der Philosophischen Forschung in kritischer und christlicher Fassung.
Eine akademische Antrittsrede mit einer Vorbemerkung, Freiburg 1894
(Braig: Freiheit).
Vom Denken. Abriß der Logik, Freiburg 1896 (Braig: Logik). [Online-Version unter
http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/804]
Vom Sein. Abriß der Ontologie, Freiburg 1896 (Braig: Ontologie). [Online-Version
unter http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/806]
Vom Erkennen. Abriß der Noetik, Freiburg 1897 (Braig: Noetik). [Online-Version
unter http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/805]
Vom katholischen Glauben. Grundzüge der christlichen Dogmatik, 3 Bde., o.O.,
o.J. (Braig: Dogmatik I-III).
476
Diese Bibliographie ist eine korrigierte und ergänzte Form der Arbeit von Albert Raffelt
(http://www.theol.uni-freiburg.de/forsch/braig/braig02.htm), die ihrerseits auf der Friedrich Stegmüllers (Stegmüller: Braig 126ff.) beruht.
314
Zur Erinnerung an Franz Xaver Kraus. Im Namen der Theologischen Fakultät an
der Universität Freiburg i. Br., Freiburg 1902 (Braig: Kraus).
Ueber Geist und Wesen des Christenthums. Eine Studie zu Chateaubriand’s Génie
du Christianisme und verwandten Erscheinungen, in: Festschrift der AlbertLudwigs-Universität in Freiburg zum 50jährigen Regierungsjubiläum des
Großherzogs Friedrich, Freiburg 1902, 13-62 (Braig: Geist und Wesen).
Das Wesen des Christentums an einem Beispiel erläutert oder Adolf Harnack und
die Messiasidee. Ein Vortrag, Freiburg 1903 (Braig: Messiasidee).
Das Dogma des jüngsten Christentums (Rede bei der Feier der Prorektoratsübernahme an der Universität Freiburg i. Br. am 15. Mai 1907), in: Karl Braig: Modernstes Christentum und moderne Religionspsychologie. Zwei akademische
Arbeiten, Freiburg 1907, 3-60 (Braig: Dogma).
Abriß der Christologie. Als Manuskript gedruckt, Freiburg 1907 (Braig: Christologie).
Jesus Christus außerhalb der katholischen Kirche im neunzehnten Jahrhundert, in:
Congregatio Mariana Sacerdotalis (Hg.): Jesus Christus. Apologetische Vorträge auf dem II. theologischen Hochschulkursus zu Freiburg im Breisgau im
Oktober 1908, Freiburg 21911, 117-341 (Braig: Jesus Christus).
Wie sorgt die Enzyklika gegen den Modernismus für die Reinerhaltung der christlich-kirchlichen Lehre?, in: Congregatio Mariana Sacerdotalis (Hg.): Jesus
Christus. Apologetische Vorträge auf dem II. theologischen Hochschulkursus
zu Freiburg im Breisgau im Oktober 1908, Freiburg 21911, 523-577 (Braig:
Reinerhaltung).
Was soll der Gebildete von dem Modernismus wissen? (Frankfurter zeitgemäße
Broschüren 28, 1), Hamm i. W. 1908 (Braig: Der Gebildete).
Der Modernismus und die Freiheit der Wissenschaft, Freiburg 1911 (Braig: Modernismus und Freiheit).
Die Gotteslehre. Als Manuskript gedruckt, Freiburg 1912 (Braig: Gotteslehre).
1879
(a) Rezension zu Franz Seraph Petz: Philosophie der Religion, Mainz 1878, in:
ThQ 61 (1879) 325-332.
(b) Rezension zu Albert Stöckl: Lehrbuch der Religionsphilosophie, Mainz 21878,
in: ThQ 61 (1879) 677-687.
1880
(a) Rezension zu Georg Hagemann: Logik und Noetik, Freiburg 1879, in: ThQ 62
(1880) 169-175.
1881
(a) Rezension zu Franz Seraph Petz: Kosmos und Psyche, Mainz 1879; ders.:
Philosophische Erörterungen über die Unsterblichkeit der Seele und über den
Zustand der abgeschiedenen Seelen im Jenseits mit steter Rücksicht auf die
wichtigeren Philosopheme älterer und neuerer Zeit, Mainz 1879, in: ThQ 63
(1881) 329-338.
315
(b)
(c)
Die natürliche Gotteserkenntniß nach dem hl. Thomas von Aquin, in: ThQ 63
(1881) 511-596 (Braig: Gotteserkenntnis).
Rezension zu Ludwig Schütz: Einleitung in die Philosophie, Paderborn 1879;
Jakob Deby: Die eine wahre Kirche, Freiburg 1879; Hubert Theophil Simar:
Lehrbuch der Dogmatik, 1. u. 2. Hälfte, Freiburg 1879/80, in: ThQ 63 (1881)
681-700.
1882
(a) Die Zukunftsreligion des Unbewußten und das Princip des Subjektivismus.
Ein apologetischer Versuch, Freiburg 1882 (Braig: Zukunftsreligion).
(b) Raumanschauung und Wunderbegriff (Mit Bezug auf das Buch „Die mystischen Erscheinungen des Seelenlebens und die biblischen Wunder“, von Johann Kreyher), in: ThQ 64 (1882) 127-145.
(c) Rezension zu Leonhard Atzberger: Die Logoslehre des hl. Athanasius, ihre
Gegner und unmittelbaren Vorläufer, München 1880, in: LR 8 (1882) 117119.
1883
(a) Rezension zu Johann Storz: Die Philosophie des hl. Augustinus, Freiburg
1882, in: ThQ 65 (1883) 279-290.
(b) Rezension zu Eduard von Hartmann: Die Selbstzersetzung des Christenthums und die Religion der Zukunft, Berlin 21874; ders.: Die Krisis des
Christenthums in der modernen Theologie, Berlin 1880; ders.: Das religiöse
Bewußtsein der Menschheit im Stufengang seiner Entwicklung, Berlin 1882,
in: ThQ 65 (1883) 317-326.
(c) Rezension zu Joseph Kleutgen: Institutiones theologicae in usum scholarum,
Bd. 1, Regenburg 1881, in: ThQ 65 (1883) 686-693.
(d) Rezension zu Otto Flügel: Die speculative Theologie der Gegenwart kritisch
beleuchtet, Cöthen 1881, in: LR 9 (1883) 106ff.
(e) Hermann Lotze, in: LR 9 (1883) 703-708.
1884
(a) Welchen Werth hat für uns das Studium der neueren Philosophie? Mit Bezug
auf A. Stöckl’s Geschichte der neueren Philosophie, in: Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und dem Zisterzienserorden 5 (1884) 149-162.
(b) Rezension zu Edmund von Pressensé: Die Ursprünge. Zur Geschichte und
Lösung des Problems der Erkenntniß, der Kosmologie, der Anthropologie und
des Ursprungs der Moral und der Religion, Halle 1884, in: LR 10 (1884) 362365.
1885
(a) Ueber das philosophische System von Hermann Lotze (Vortrag), in: Jahresbericht der Sektion für Philosophie der Görresgesellschaft für 1884, Freiburg
1885, 23-40.
(b) Eine ästhetische Selbstwiderlegung des philosophischen Monismus, in: Der
Katholik 65 (1885/I) 449-476.
316
(c)
(d)
(e)
Die Entdeckungen der atheistischen Wissenschaft (zu Eugène Loudun: Les
découvertes de la science sans Dieu, Paris 1884), in: LR 11 (1885) 33-38;
65-68.
Rezension zu Hermann Lotze: Grundzüge der Aesthetik. Dictate aus den Vorlesungen, Leipzig 1884, in: LR 11 (1885) 172ff.
Rezension zu Carl Güttler: Lorenz Oken und sein Verhältniß zur modernen
Entwicklungslehre, Leipzig 1884, in: LR 11 (1885) 297ff.
1886
(a) Die Kunst des Gedankenlesens. Ein Gegenstück zum Spiritismus, Frankfurt/Luzern 1886.
(b) Joseph Beck: Philosophische Propädeutik. Ein Leitfaden zu Vorträgen an höheren Lehranstalten und zum Selbststudium, Bd. 2: Encyklopädie der theoretischen Philosophie, in vollständig neuer Bearbeitung von Carl Braig, Stuttgart
6
1886 (Braig-Beck: Enzyklopädie).
(c) Rezension zu William T. Preyer: Die Erklärung des Gedankenlesens, Leipzig
1886, in: LR 12 (1886) 87f.
(d) Rezension zu Vincenz Knauer: Grundlinien zur aristotelisch-thomistischen
Psychologie, Wien 1885, in: LR 12 (1886) 106ff.
(e) Rezension zu Johann Theodor Merz: Leibniz, Heidelberg 1886, in: LR 12
(1886) 169f.
1887
(a) Gottesbeweis oder Gottesbeweise? Würdigung neuer und neuester apologetischer Richtungen in Briefen an den hochw. Herrn Prof. Dr. Constantin Gutberlet in Fulda, Stuttgart 1887 (Braig: Gottesbeweis).
(b) Rezension zu Christian Pesch: Der Gottesbegriff in den heidnischen Religionen des Alterthums. Eine Studie zur vergleichenden Religionswissenschaft,
Freiburg 1886, in: LR 13 (1887) 45ff.
(c) Rezension zu Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye: Lehrbuch der Religionsgeschichte, Freiburg 1887, in: LR 13 (1887) 232ff.
1888
(a) Rezension zu François Duilhé de Saint-Projet: Apologie scientifique de la Foi
chrétienne. Paris/Toulouse 21885, in: LR 14 (1888) 103ff.
1889
(a) François Duilhé de Saint-Projet: Apologie des Christenthums auf dem Boden
der empirischen Forschung. In Vorträgen, mit Zusätzen und einer Einführung
von Carl Braig, Freiburg 1889 (Braig: Apologie).
(b) Rezension zu Constantin Gutberlet: Lehrbuch der Apologetik, 2 Bde., Münster 1888, in: LR 15 (1889) 108-112.
(c) Rezension zu Heinrich Edward Manning: Religio viatoris. Die vier Grundsteine meines Glaubens, Würzburg 1889, in: LR 15 (1889) 171-174.
317
1890
(a) Ein Kapitel aus der Apologie. Die Entwicklung des Gedankens nach dem
französischen Monismus, in: Historisch-politische Blätter 107 (1890) 98-124.
(b) Rezension zu Joseph Plaßmann: Die neuesten Arbeiten über den Planeten
Merkur und ihre Bedeutung für die Weltkunde. Für das Verständnis weiterer
Kreise dargestellt, Freiburg 1890, in: LR 16 (1890) 283-286.
(c) Zur Frage des Materialismus (zu Friedrich Albert Lange: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1887), in:
LR 16 (1890) 289-294.
(d) Zur Apologetik (zu François Duilhé de Saint-Projet: Apologie scientifique de la
foi catholique, Toulouse 31890; A. Gouraud: Notions élémentaires
d'apologétique chrétienne, Paris 1889), in: LR 16 (1890) 321-324.
(e) Eine mongolische Kosmologie. Beitrag zur Religions- und Völkerkunde, in:
Philosophisches Jahrbuch 3 (1890) 135-152; 291-306.
(f) Zum Begriffe der Materie, in: Natur und Offenbarung 36 (1890) 577-596.
1891
(a) La matière. Étude sur une notion fondamentale de la philosophie naturelle, in:
Actes du congrès catholique international, Paris 1891, 42-66.
(b) Zu Platos Timaeus p. 51 E-p. 52 B, in: Philosophisches Jahrbuch 4 (1891)
22-29.
(c) Über die philosophische Bedeutung von Schulbüchern, in: Philosophisches
Jahrbuch 4 (1891) 297-302; 405-419.
(d) Vergleichende Religionswissenschaft (zu Christian Pesch: Der Gottesbegriff
in den heidnischen Religionen des Alterthums, Freiburg 1886; ders.: Der Gottesbegriff in den heidnischen Religionen der Neuzeit, Freiburg 1888; ders.:
Gott und Götter. Eine Studie zur vergleichenden Religionswissenschaft, Freiburg 1890), in: LR 17 (1891) 175-180.
1892
(a) Rezension zu Johann de Serravalle: Translatio et Commentum totius libri
Dantis Aldigherii, Prati 1891, in: LR 18 (1892) 149-153.
(b) Rezension zu Moritz Carriere: Materialismus und Aesthetik. Eine Streitschrift
zur Verständigung, Stuttgart 1892, in: LR 18 (1892) 171ff.
(c) Rezension zu Gioachino Berthier: La Divina Comedia di Dante con Commenti
secondo la scolastica, Freiburg/Schweiz 1892, in: LR 18 (1892) 374ff.
1893
(a) Abendstunden in Italien, in: Historisch-politische Blätter 111 (1893) 93-114;
367-388; 409-423; 649ff; 824-840.
1894
(a) Die Freiheit der Philosophischen Forschung in kritischer und christlicher Fassung. Eine akademische Antrittsrede mit einer Vorbemerkung, Freiburg 1894
(Braig: Freiheit).
318
(b)
(c)
(d)
Rezension zu Mathias Kappes: Aristoteles-Lexikon. Erklärung der philosophischen termini technici des Aristoteles in alphabetischer Reihenfolge, Paderborn 1894, in: LR 20 (1894) 86f.
Rezension zu Konrad Elser: Die Lehre des Aristoteles über das Wirken Gottes, Münster 1893, in: LR 20 (1894) 122ff.
Neue philosophische Literatur (zu Stephanus Bognár [Hg.]: Dialectica Petri
Card. Pázmány, Budapest 1894; Georg Hagemann: Logik und Noetik. Ein
Leitfaden für akademische Vorlesungen, Freiburg 61894; Carl Frick: Logica in
usum scholarum, Freiburg 1893; ders.: Ontologia sive Metaphysica generalis,
Freiburg 1894; Heinrich Johann Haan: Philosophia naturalis, Freiburg 1894;
Victor Cathrein: Philosophia moralis, Freiburg 1893; E. L. Fischer: Das
Grundproblem der Metaphysik. Eine kritische Untersuchung der bisherigen
metaphysischen Hauptsysteme und Darstellung des Vernunftenergismus,
Mainz 1894; Alois Otten: Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Paderborn 1895; Joseph Hontheim: Institutiones Theodicaeae sive Theologia Naturalis secundum principia S. Thomae Aquinatis ad usum scholasticum, Freiburg 1893), in: LR 20 (1894) 337-344; 372-376.
1895
(a) Rezension zu Otto Willmann: Geschichte des Idealismus. Bd. 1: Vorgeschichte und Geschichte des antiken Idealismus, Braunschweig 1894; Theodor Simon: Leib und Seele bei Fechner u. Lotze, Göttingen 1894, in: LR 21 (1895)
143ff.
1896
(a) Vom Denken. Abriß der Logik, Freiburg 1896 (Braig: Logik). [Online-Version
unter http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/804]
(b) Vom Sein. Abriß der Ontologie, Freiburg 1896 (Braig: Ontologie). [OnlineVersion unter http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/806]
(c) Neuere philosophische Literatur (zu Ludwig Schütz: Thomas-Lexikon. Sammlung, Übersetzung u. Erklärung der in den sämtlichen Werken des h. Thomas
v. Aquin vorkommenden Kunstausdrücke u. wissenschaftl. Aussprüche, Paderborn 21895; Rudolf Eisler; Geschichte der Philosophie im Grundriß, Berlin
1895; Leonhard Rabus: Logik u. System der Wissenschaften, Erlangen/Leipzig 1895; Bernhard Boedder: Psychologia Rationalis sive Philosophia
de Anima humana, Freiburg 1894; ders.: Theologia Naturalis sive Philosophia
de Deo, Freiburg 1895), in: LR 22 (1896) 1-6.
(d) Rezension zu Theodor Gomperz: Griechische Denker. Eine Geschichte der
antiken Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1896, in: LR 22 (1896) 108f.
(e) Rezension zu Franz Kaufmann: Andreas Müller, ein Altmeister der Düsseldorfer religiösen Malerschule, Frankfurt 1895, in: LR 22 (1896) 183f.
(f) Rezension zu Wilhelm Schneider: Allgemeinheit und Einheit des sittlichen
Bewußtseins, Köln 1895, in: LR 22 (1896) 203f.
(g) Rezension zu Josef Frantz: Das Lehrbuch der Metaphysik für Kaiser Josef II.,
Paderborn 1895, in: LR 22 (1896) 204.
319
(h)
(i)
(j)
Rezension zu Friedrich Pilgram/Wilhelm Zehender: Nach vierzig Jahren. Religionsphilosophischer Briefwechsel zweier Jugendfreunde in spätester
Lebenszeit, Leipzig 1895, in: LR 22 (1896) 239ff.
Rezension zu Auguste T. de Broglie: La réaction contre le positivisme, 1894,
in: LR 22 (1896) 267f.
Rezension zu Otto Willmann: Geschichte des Idealismus. Bd. 2: Der Idealismus der Kirchenväter u. der Realismus der Scholastiker, Braunschweig 1896,
in: LR 22 (1896) 339ff.
1897
(a) Vom Erkennen. Abriß der Noetik, Freiburg 1897 (Braig: Noetik). [OnlineVersion unter http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/805]
(b) Rezension zu Stephanus Bognár (Hg.): Petri Cardinalis Pázmány Physica,
Budapest 1895, in: LR 23 (1897) 13ff.
(c) Rezension zu Joseph Hontheim: Der logische Algorithmus in seinem Wesen,
in seiner Anwendung und in seiner philosophischen Bedeutung, Berlin 1895,
in: LR 23 (1897) 76.
(d) Rezension zu Benedictus Lorenzelli: Philosophiae theoreticae institutiones
secundum doctrinam Aristotelis et S. Thomae Aquinatis, 2 Bde., Regensburg
1896, in: LR 23 (1897) 106ff.
(e) Rezension zu Wilhelm Wundt: Grundriß der Psychologie, Leipzig 1896, in: LR
23 (1897) 146f.
(f) Rezension zu Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie. 1. Lfrg. Descartes. Bogen 1-10, Heidelberg 41897, in: LR 23 (1897) 170ff.
(g) Rezension zu Johannes Rehmke: Grundriß der Geschichte der Philosophie
zum Selbststudium und für Vorlesungen, Berlin 1896, in: LR 23 (1897) 265ff.
(h) Rezension zu Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 1: Descartes, Heidelberg 41897; Bd. 9: Schopenhauer, Heidelberg 21897, in: LR 23
(1897) 368f.
1898
(a) Rezension zu Carl Hilty: Glück, 2 Bde., Frauenfeld/Leipzig 1895/96, in: LR 24
(1898) 25f.
(b) Über Wege und Ziele der katholischen Wissenschaft (zu Georg von Hertling:
Gibt es eine katholische Wissenschaft?, 1897; Paul Schanz: Über neue Versuche der Apologetik gegenüber dem Naturalismus und Spiritualismus, 1897;
Otto Willmann: Geschichte des Idealismus, 1897), in: LR 24 (1898) 161-166.
(c) Rezension zu Friedrich Wörter: Beiträge zur Dogmengeschichte des Semipelagianismus, Paderborn 1898, in: LR 24 (1898) 236f.
1899
(a) Eine Frage, in: Philosophisches Jahrbuch 12 (1899) 92-95.
(b) Eine Antwort, in: Philosophisches Jahrbuch 12 (1899) 348ff.
(c) Art. Substanz, in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der
katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften, hg. von Joseph Hergenröther/Franz Kaulen, Bd. 11, Freiburg 1899, 939-946.
320
1900
(a) Vom katholischen Glauben. Grundzüge der christlichen Dogmatik, 3 Bde.,
o.O., o.J. (Dogmatik I-III).
(b) Die Lehre von der Sünde, Freiburg 1900.
(c) Rezension zu Adolphe Tanquerey: Synopsis theologiae dogmaticae ad mentem S. Thomae Aquinatis hodiernis moribus accomodata, 3 Bde., Tornaci
1897/1899, in: LR 26 (1900) 82ff.
(d) Rezension zu Paul Schanz: Ist die Theologie eine Wissenschaft?, Stuttgart/Wien 1900, in: LR 26 (1900) 178f.
(e) Rezension zu Christian Pesch: Theologische Zeitfragen, Freiburg 1900, in:
LR 26 (1900) 306f.
1901
(a) Leibniz. Sein Leben und die Bedeutung seiner Lehre (Frankfurter zeitgemäße
Broschüren 20, 6), Hamm i. W. 1901, 151-179.
1902
(a) Zur Erinnerung an Franz Xaver Kraus. Im Namen der Theologischen Fakultät
an der Universität Freiburg i. Br., Freiburg 1902 (Braig: Kraus).
(b) Franz Xaver Kraus, in: Wissenschaftliche Beilage zur Germania (1902), Nr. 8
und 9.
(c) Ueber Geist und Wesen des Christentums. Eine Studie zu Chateaubriand’s
Génie du Christianisme und verwandten Erscheinungen, in: Festschrift der
Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg zum 50jährigen Regierungsjubiläum
des Großherzogs Friedrich, Freiburg 1902, 13-62 (Braig: Geist und Wesen).
(d) Katholischer Glaube und wissenschaftliche Forschung, in: Verhandlungen der
49. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands, Mannheim 1902,
294-302.
(e) Katholischer Glaube und wissenschaftliche Forschung, in: Literarische Beilage zur Kölnischen Volkszeitung 43 (40/1902) 303-307.
(f) Rezension zu Kuno Fischer: Geschichte der neueren Philosophie, Bde. 4/5:
Immanuel Kant und seine Lehre, Heidelberg 41898/99, in: LR 28 (1902) 1720.
(g) Die Freiheit der Wissenschaft (zu Joseph Maria Pernter: Voraussetzunglose
Forschung, freie Wissenschaft und Katholizismus, Wien/Leipzig 1902), in: LR
28 (1902) 73-78.
(h) Rezension zu Herman Schell: Apologie des Christentums. Bd. 1: Religion und
Offenbarung, Paderborn 1901, in: LR 28 (1902) 84ff.
(i) Rezension zu Christian Pesch: Theologische Zeitfragen, Freiburg 1901, in:
LR 28 (1902) 86f.
(j) Rezension Johann Johannsen: Gegen die Konfessionen! Eine Mahnung an
die Gebildeten unter ihren Verfechtern in Gestalt einer Kampfschrift gegen
den Professor der katholischen Theologie Albert Ehrhard in Wien und den
Professor der protestantischen Theologie Adolf Harnack in Berlin, München
1902, in: LR 28 (1902) 305f.
321
(k)
(l)
Rezension zu August Zöllig: Die Inspirationslehre des Origenes. Ein Beitrag
zur Dogmengeschichte, Freiburg 1902, in: LR 28 (1902) 330f.
Rezension zu Christian Pesch: Theologische Zeitfragen, Freiburg 1902, in:
LR 28 (1902) 331f.
1903
(a) Das Wesen des Christentums an einem Beispiel erläutert oder Adolf Harnack
und die Messiasidee, Freiburg 1903 (Braig: Messiasidee).
(b) Der Papst und die Freiheit. Rede zur Feier des 25jährigen Regierungsjubiläums Leos XIII., gehalten am 1. März 1903. Beigabe: Päpstliche Aussprüche
über die Freiheit, Freiburg 1903.
(c) Der Katholizismus im Spiegel der neuesten protestantischen Kritik (über
Friedrich Loofs: Symbolik oder christliche Konfessionskunde, Bd. 1, Tübingen/Leipzig 1902), in: LR 29 (1903) 1-6.
(d) Rezension zu Herman Schell: Christus. Das Evangelium und seine weltgeschichtliche Bedeutung, Mainz 1903, in: LR 29 (1903) 145-148.
(e) Rezension zu Charlotte Lady Blennerhassett: Chateaubriand. Romantik und
die Restaurationsepoche in Frankreich, Mainz 1903, in: LR 29 (1903) 216ff.
(f) Rezension zu Paul Schanz: Die moderne Apologetik, Hamm i.W. 1903, in: LR
29 (1903) 285f.
1904
(a) Kant, der Philosoph des Protestantismus, in: Historisch-politische Blätter 134
(1904) 81-103.
(b) Von dem Untergang der Dinge. Vortrag, gehalten im Museumssaale zu München am 4. März 1904, in: Historisch-politische Blätter 133 (1904) 465-482;
541-558.
(c) Rezension zu Joseph Pohle: Lehrbuch der Dogmatik in sieben Büchern. Für
akademische Vorlesungen und zum Selbstunterricht, 2 Bde., Paderborn
1902/03, in: LR 30 (1904) 142ff.
(d) Rezension zu Kuno Fischer: Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 3: Gottfried Wilhelm Leibniz; Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 41902, in: LR 30
(1904) 363-366.
(e) Jörn Uhls Christentum, in: Allgemeine Rundschau 1 (1904) 41f.
(f) Wer ist ultramontan? Eine Erinnerung an Franz Xaver Kraus, in: Allgemeine
Rundschau 1 (1904) 110ff.
(g) Der protestantische Protestantismus, in: Allgemeine Rundschau 1 (1904)
414f.; 427.
1905
(a) Lessing und das christliche Dogma, in: Aufwärts (Schwyz) 1 (1905/06) 582613; 650-654.
(b) Der Friedensplan des Leibniz, in: Historisches Jahrbuch 26 (1905) 715-736.
(c) Franz Xaver Kraus und die „Krausgesellschaft“, in: Allgemeine Rundschau 2
(1905) 49f.
322
(d)
(e)
Nochmals Kraus und die Krausgesellschaft, in: Allgemeine Rundschau 2
(1905) 78f.
Warum gehen wir nach Italien? Eine Ferienfrage, in: Allgemeine Rundschau 2
(1905) 464f.
1906
(a) Rom und der Syllabus. Ein erweiterter Vortrag, in: Historisch-politische Blätter
137 (1906) 637-656; 829-849.
(b) Macchiavelli, ein Klassiker des Liberalismus, in: Magazin für volkstümliche
Apologetik 5 (1906) 241-250; 281-297.
(c) Unter der Gemmiwand. Aphorismen über Eduard Mörike und über den Wert
dichterischer Schöpfungen, in: Gottesminne 4 (1906) 2-18; 168-179; 237-249;
305-316; 368-377; 432-445.
(d) Zwei Tage auf dem Monte Cavo. Roms Weltstellung, in: Aufwärts (1906) 257272; 321-335.
(e) Rezension zu Gustav Krüger: Das Dogma von der Dreieinigkeit und Gottmenschheit in seiner geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1905, in: LR 32
(1906) 94-97.
(f) Ein Wort, in: Allgemeine Rundschau 3 (1906) 138f.; 150f.
(g) Der Papst und die geschichtliche Wahrheit, in: Allgemeine Rundschau 3
(1906) 571f.
1907
(a) Abriß der Christologie. Als Manuskript gedruckt. Freiburg 1907 (Braig: Christologie).
(b) Der Ursprung der religiösen Vorstellungen und die Phantasie, in Carl Braig
(Hg.): Festschrift zur Feier des 81. Geburtstages seiner königlichen Hoheit
des Großherzogs Friedrich des durchlauchtigsten Rector magnificentissimus
der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br., Freiburg 1907 (Zweite Ausgabe in: Modernstes Christentum und moderne Religionspsychologie. Zwei
akademische Arbeiten, Freiburg 1907, 63-150).
(c) Das Dogma des jüngsten Christentums. Rede bei der Feier der Prorektoratsübernahme an der Universität Freiburg i. Br. am 15. Mai 1907, in: Modernstes Christentum und moderne Religionspsychologie. Zwei akademische Arbeiten, Freiburg 1907, 3-60 (Braig: Dogma).
(d) Der Papst und die Neuchristen, in: Allgemeine Rundschau 4 (1907) 181ff.
(e) Der Papst und der Modernismus. Aphorismen zu der Enzyklika „Pascendi
dominici gregis“, in: Allgemeine Rundschau 4 (1907) 551ff.
(f) Der Papst und die erste Voraussetzung des Modernismus. Aphorismen zur
Enzyklika „Pascendi dominici gregis“, in: Allgemeine Rundschau 4 (1907)
631ff.
(g) Der Papst und die zweite Voraussetzung des Modernismus. Aphorismen zur
Enzyklika „Pascendi dominici gregis“, in: Allgemeine Rundschau 4 (1907)
684f.
(h) Rezension zu Herman Schell: Apologie des Christentums, Bd. 2: Jahwe und
Christus, Paderborn 1905, in: LR 33 (1907) 15-18.
323
(i)
(j)
(k)
Rezension zu Franz Xaver Kiefl: Die wissenschaftliche Berechtigung der katholischen Dogmatik gegenüber den Methoden und Ergebnissen der religionsgeschichtlichen Forschung, Würzburg 1906, in: LR 33 (1907) 112.
Rezension zu Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosphische Werke, hrsg. v. Ernst
Cassirer, 4 Bde., Leipzig 1879-1906. in: LR 33 (1907) 212ff.
Dem Andenken an Großherzog Friedrich I. von Baden. Rede bei der Trauerfeier der Universität Freiburg im Breisgau, gehalten in der städtischen Festhalle am 21. November 1907, Freiburg 1908.
1908
(a) Jesus Christus außerhalb der katholischen Kirche im neunzehnten Jahrhundert, in: Congregatio Mariana Sacerdotalis (Hg.): Jesus Christus. Vorträge auf
dem Hochschulkurs zu Freiburg im Breisgau 1908, Freiburg 1908, 105-221
(vgl. Braig 1911a).
(b) Wie sorgt die Enzyklika gegen den Modernismus für die Reinerhaltung der
christlich-kirchlichen Lehre?, in: Congregatio Mariana Sacerdotalis (Hg.): Jesus Christus. Vorträge auf dem Hochschulkurs zu Freiburg im Breisgau 1908,
Freiburg 1908, 389-440 (vgl. Braig 1911b).
(c) Christ und Bürger. Rede bei der Feier des 450. Todestages des seligen Markgrafen Bernhard von Baden gehalten in der städtischen Festhalle zu Karlsruhe am 26. Juli 1908, Freiburg 1908.
(d) Was soll der Gebildete von dem Modernismus wissen? (Frankfurter zeitgemäße Broschüren 28, 1), Hamm i. W. 1908 (Braig: Der Gebildete).
(e) In eigener und fremder Sache. Aphorismen zu der Enzyklika „Pascendi
dominici gregis“, in: Allgemeine Rundschau 5 (1908) 148f.; 164f.
(f) Der Papst und der „Wahrheitssinn“ im Modernismus. Aphorismen zu der Enzyklika „Pascendi dominici gregis“, in: Allgemeine Rundschau 5 (1908) 199f.;
217f.
(g) Alte und neue Kämpfe um die Freiheit der Wissenschaft, in: Allgemeine
Rundschau 5 (1908) 649f.; 665ff.
(h) „Kämpfe von heute.“, in: Allgemeine Rundschau 5 (1908) 895f.
1909
(a) Bossuet und der Modernismus, in: Historisch-politische Blätter 144 (1909)
737-747.
(b) Der Abschluß des Galileihandels, in: Historisch-politische Blätter 145 (1909)
48-60; 100-114.
(c) Die Christusfrage in der Gegenwart, in: LR 35 (1909) 217-221; 270-276.
(d) Rezension zu Herman Schell: Apologie des Christentums, Bd. 2: Jahwe und
Christus, Paderborn 21908, in: LR 35 (1909) 540f.
(e) Die „Logik“ des Liberalismus und Modernismus eine Gefahr! Nochmals Aphorismen zu der Enzyklika „Pascendi dominici gregis“, in: Allgemeine Rundschau 6 (1909) 315ff.
1910
(a) Zur Tageskritik über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Christen324
(b)
(c)
(d)
tums und der Kirche, in: LR 36 (1910) 1-8; 61-64 (zu Karl Jentsch: Christentum und Kirche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1909; Georg Reinhold: Der alte und der neue Glaube, Wien 1908; A. J. Peters: „Klerikale Weltauffassung“ und „Freie Forschung“, Wien 1908; Erich Schaeder:
Kirche und Gegenwart, Gütersloh 1909; Paul Tschackert: Modus vivendi.
Grundlinien für das Zusammenleben der Konfessionen im Deutschen Reich,
München 1908; Joseph Donat: Die Freiheit der Wissenschaft. Ein Gang durch
das moderne Geistesleben, Innsbruck 1910).
Zwei Vorspiele zum Modernismus, in: Zeitschrift für Erziehung und Unterricht
(1910) 481-502.
Die neueste Bestreitung des päpstlichen Primates (zu Hugo Koch: Cyprian
und der römische Primat. Eine kirchen- und dogmengeschichtliche Studie,
Leipzig 1910), in: Oberrheinisches Pastoralblatt 12 (1910) 212-216.
Die allerneueste Bestreitung des päpstlichen Primates (zu Joseph Schnitzer:
Hat Jesus das Papsttum gestiftet? Eine dogmengeschichtliche Untersuchung,
Augsburg 1910), in: Oberrheinisches Pastoralblatt 12 (1910) 349ff.
1911
(a) Jesus Christus außerhalb der katholischen Kirche im neunzehnten Jahrhundert. Drei Vorträge mit einer Einführung und einem Nachtrag, in: Congregatio
Mariana Sacerdotalis (Hg.): Jesus Christus. Apologetische Vorträge auf dem
II. theologischen Hochschulkursus zu Freiburg im Breisgau im Oktober 1908,
Freiburg 21911, 117-341 (Braig: Jesus Christus).
(b) Wie sorgt die Enzyklika gegen den Modernismus für die Reinerhaltung der
christlich-kirchlichen Lehre?, in: Congregatio Mariana Sacerdotalis (Hg.): Jesus Christus. Apologetische Vorträge auf dem II. theologischen Hochschulkursus zu Freiburg im Breisgau im Oktober 1908, Freiburg 21911, 523-577
(Braig: Reinerhaltung).
(c) Der Modernismus und die Freiheit der Wissenschaft, Freiburg 1911 (Braig:
Modernismus und Freiheit).
(d) Die jüngste Leugnung der geschichtlichen Existenz Jesu und ihr letzter
Grund. Ein erweiterter Vortrag (zu Arthur Drews: Die Christusmythe, Jena
1909), in: Der Katholik 91 (1911/I) 81-96; 168-192.
(e) Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart (zu Albert Maria Weiß: Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart, 2 Bde., Freiburg 1911), in: LR 37
(1911) 321-328.
(f) Was ist Entwicklung?, in: Allgemeine Rundschau 8 (1911) 745f.
1912
(a) Die Gotteslehre. Als Manuskript gedruckt, Freiburg 1912 (Braig: Gotteslehre).
(b) Zur Christusfrage in der Gegenwart, in: LR 38 (1912) 409-416; LR 39 (1913)
57-64; 113-118; 257-264
1913
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