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Neue Impulse
S13
Beeinträchtigtes Erzählverstehen spezifisch therapieren: Zum
Erwerb und den neurobiologischen Grundlagen narrativer Shifts
Hintergrund
!
Im Alltag erfordern zahlreiche Situationen
ein komplexes narratives Verständnis.
Kontinuierlich einströmende Information
wird dabei online strukturiert, indem die
Inhalte in Erzählereignisse segmentiert
und unter Abgleich mit dem Weltwissen
in ein mentales Situationsmodell integriert werden [1]. Bei Wechseln der Situation kommt es zu sogenannten narrativen
Shifts. In der Literatur werden verschiedene Signale als Auslöser von narrativen
Shifts beschrieben: Orts-, Zeit-, Personen-, Handlungs- und Emotionswechsel
([2, 3], unveröffentlichte Bachelorarbeit).
Zusammenfassend deutet der aktuelle
Forschungsstand darauf hin, dass neben
dem Verstehen der Präsentationsmodalität (Sprache, Bilder usw.) auch der modalitätsübergreifende Prozess der Situationsmodellbildung am narrativen Verstehen beteiligt ist [2]. Fraglich ist jedoch, ob
sich dieser Unterscheid auch in der Aktivierung differenzieller Hirnregionen widerspiegelt. Damit zusammenhängend
stellt sich außerdem die Frage, welche Patientengruppen möglicherweise von der
Sprachleistung unabhängige Schwierigkeiten im narrativen Verstehen aufweisen
und daher einer über die sprachsystematische Arbeit hinausgehenden Therapie
bedürfen.
Zielsetzung
!
Die 2 hier vorgestellten Experimente sind
Teil eines größeren Forschungsprojekts
zur Untersuchung der genannten Fragestellungen. Dabei widmet sich das erste
Experiment der Teilfrage, welche Cortexregionen an der narrativen Rezeption
sprachlich präsentierter Geschichten beteiligt sind, also einer Teilleistung, die sowohl die Domänen spezifischen sprachlichen als auch die Domänen generellen kognitiven Fähigkeiten einbezieht. Im zweiten Experiment werden autistische Kinder als eine spezifische Patientengruppe
mit Problemen im narrativen Verstehen
untersucht.
Methodik
!
Am ersten Experiment nahmen 18 gesunde Männer im Alter von 18 – 40 Jahren
(mittleres Alter: 24 Jahre) mit deutscher
Muttersprache und angepasstem Bildungsstand teil. Die Messungen wurden
an einem 3T Siemens Scanner durchgeführt. Systematisch parallelisiert mit einer
zuvor abgeschlossenen Studie mit
Stummfilmen hörten die Probanden im
Scanner zunächst 4 vorgelesene Geschichten aus der Reihe „Mr. Bean“ und sollten
im zweiten Durchgang per Knopfdruck
narrative Shifts markieren [unveröffentlichte Masterarbeit].
Im zweiten Experiment wurden als Zielgruppe 7 autistische Kinder untersucht,
eine Patientengruppe, die bekanntermaßen Schwierigkeiten in unterschiedlichen
für das narrative Verständnis relevanten
kognitiven Leistungen aufweisen (z. B.
Theory of Mind, Empathie, Kohärenzbildung). Die Kinder waren im Mittel 14 Jahre alt (zwischen 12 und 15 J.). Das Ziel dieser Verhaltensstudie war es, zu verstehen,
ob Kinder mit einer autistischen Störung,
trotz der obengenannten Schwierigkeiten,
Zu den Personen
Silja Kuckelkorn,
B. H., erlangte 2012
an der Zuyd University in Heerlen (NL)
ihren Bachelor in
Logopädie mit Qualifikation. Voraussichtlich 2015 wird
sie ihren Master in
Lehr- und Forschungslogopädie an der RWTH
Aachen Universität abschließen. Aktuell arbeitet sie als Logopädin auf den
neurologischen Akutstationen der Uniklinik RWTH Aachen.
Giorgia Banzato,
B. Sc.,
absolvierte
ihren Bachelor of
Science 2011 an
der Università degli
Studi di Padova (IT).
Im Jahre 2015 wird
sie ihren Master in
Lehr- und Forschungslogopädie
an der RWTH Aachen abschließen. Seit
2014 arbeitet sie als Logopädin in einer
Schule für Kinder mit geistigen Behinderungen. Sie hat ihr Interesse auf
Sprachstörungen bei Kindern mit geistigen Behinderungen gelegt, besonders
bei Kindern mit Autismus.
Situationsmodelle während des narrativen Verstehens wie gesunde Kinder aufbauen. Dazu wurde zusätzlich eine Kontrollgruppe mit 21 gesunden Kindern
(aufgeteilt in 12 junge Kinder zwischen 7
und 11 J. und 9 Ältere zwischen 11 und
15 J.) untersucht. Alle Probanden hatten
Deutsch als Muttersprache. Die Kontrollgruppe sollte neben der Hauptfragestellung auch mögliche Entwicklungsschritte
im Erwerb von Situationsmodellen aufdecken. Die Kinder wurden zu je 2 Zeitpunkten in einem gekreuzten Design mit der
Stummfilm- und Textversion der 4 oben
genannten Geschichten untersucht und
hatten die Aufgabe, narrative Shifts zu
identifizieren.
Kuckelkorn S et al. Beeinträchtigtes Erzählverstehen spezifisch … Sprache · Stimme · Gehör 2015; 39, Supplement 1: S13–S14
Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt.
Der Erwerb narrativer Shifts verläuft möglicherweise in Stufen,
bei denen zunächst Handlungs-, dann Orts- und schließlich Personenshifts erworben werden. Multiple Einzelfälle autistischer
Kinder weisen dabei einheitlich auch im Jugendalter noch das
für die erste Entwicklungsstufe typische Verhalten auf. Läsionen,
die den rechten Precuneus, bilaterale (prä-)frontale und/oder
temporale Hirnregionen einschließen, könnten zu modalitätsunabhängigen Beeinträchtigungen der Situationsmodellbildung
führen und spezifische nicht-sprachliche Therapie erforderlich
machen.
Neue Impulse
Ergebnisse
!
Die Bildgebungsstudie aus dem ersten Experiment zeigt zum Teil ähnliche Aktivierungen wie die Parallelstudie (Stummfilme) [unveröffentlichte Masterarbeit]. Ein
gemeinsamer Fokus liegt dabei auf dem
rechten Precuneus sowie bilateralen zingulären, (prä-)frontalen und temporalen
Regionen. Die betreffenden Areale werden in der Literatur mit Teilfunktionen
der Situationsmodellbildung verbunden
(semantischer Verarbeitung, emotionaler
Modulation, Kohärenzbildung, dem Sequenzieren von Ereignissen sowie dem
Abgleichen neuer mit alter Information)
([2], unveröffentlichte Masterarbeit). Im
Gegensatz zur Filmbedingung kam es bei
der Shiftwahrnehmung in vorgelesenen
Texten zu einer wesentlich stärkeren,
möglicherweise inputbezogenen Aktivierung perisylvischer Regionen. Dementsprechend fanden sich ausschließlich in
der Filmbedingung die für die visuelle Inputmodalität typischen okzipitoparietalen Aktivierungen.
Die Ergebnisse aus der Kinderstudie sprechen dafür, dass die eingeschlossenen autistischen Kinder grundsätzlich mehr Probleme im Erkennen der für den Aufbau
eines Situationsmodells relevanten narrativen Shifts aufweisen als gesunde Kinder:
Die Autisten reagierten in 9,7 % aller Shifts
wie jüngere und in 7,8 % wie ältere gesunde Kinder (Fisher-Yates-Test). Daneben ergaben sich Hinweise auf eine Entwicklungsreihenfolge narrativer Shifts, bei der
zunächst Handlungsshifts dominieren,
dann Ortswechsel hinzukommen und zuletzt Personenwechsel. Die multiplen Einzelfälle autistischer Kinder weisen diese
Entwicklung nicht auf, vielmehr dominierten hier selbst im Alter von 12;6 –
15;2 Jahren einheitlich die bei gesunden
Kindern als erste erworbenen Handlungsshifts. Erzählereigniswechsel sind bei
Handlungsshifts evtl. einfacher zu erkennen als bei Personen- oder Ortswechseln,
da man bei Letzteren die Konsequenzen
dieser Änderungen voraussehen können
muss.
Zusammenfassend zeigen sich bei den untersuchten Kindern mit ASD Auffälligkeiten beim modalitätsübergreifenden Aufbau von Situationsmodellen, die in der
Diagnostik und Therapie narrativer Verständnisstörungen zu berücksichtigen
sind. Die in der Bildgebungsstudie aufgedeckten modalitätsunabhängigen Hirnregionen sind Kandidaten für eine neurale
Lokalisation der Störungsgrundlage.
Interessenkonflikt: Die Autoren geben an,
dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
1 Kintsch W, van Dijk TA. Toward a Model of
Text Comprehension and Production. Psychological Review 1978; 85: 363 – 394
2 Klann J, Huber W. Situationsmodell und narrative Shifts: Voruntersuchungen zur Diagnostik von sprachlichen und kognitiven Verstehensproblemen bei hirngeschädigten Patienten. Sprache Stimme Gehör 2011; 35:
3–9
3 Rich SS, Taylor HA. Not all narrative shifts
function equally. Memory and Cognition
2000; 28: 1257 – 1266
Specific Therapies for Impaired Narrative
Comprehension: Aquisition and Neurobiological Correlates of Narrative Shifts
Autoren
S. Kuckelkorn1, *, G. Banzato1, *, F. Binkofski2,
J. Klann2
Institute
1
Masterstudiengang Lehr- und Forschungslogopädie, RWTH Aachen University
2
Sektion Klinische Kognitionswissenschaften,
Klinik für Neurologie, Medizinische Fakultät
RWTH Aachen University
Bibliografie
DOI http://dx.doi.org/
10.1055/s-0034-1387618
Sprache · Stimme · Gehör 2015; 39,
Supplement 1: S13–S14
© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York
ISSN 1439-1120
Korrespondenzadressen
Silja Kuckelkorn
Sektion Klinische Kognitionswissenschaften,
Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Aachen,
AÖR
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen
[email protected]
Giorgia Banzato
Sektion Klinische Kognitionswissenschaften,
Klinik für Neurologie, Universitätsklinikum Aachen,
AÖR
Pauwelsstraße 30
52074 Aachen
[email protected]
* geteilte Erstautorenschaft
Kuckelkorn S et al. Beeinträchtigtes Erzählverstehen spezifisch … Sprache · Stimme · Gehör 2015; 39, Supplement 1: S13–S14
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