In: Widerspruch Nr. 22 Wozu noch Intellektuelle? (1992), S. 70

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In: Widerspruch Nr. 22 Wozu noch Intellektuelle? (1992), S. 70104
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Pierre Bourdieu
Homo Academicus
Frankfurt/Main 1988 (Suhrkamp),
455 S., brosch., 48.- DM.
In seinem bereits 1988 auf deutsch
erschienenen Buch unternimmt der
französische Soziologe und Ethnologe Pierre Bourdieu den fast schon
frivol zu nennenden, aber gleichwohl als gelungen zu bezeichnenden
Versuch, den akademischen Betrieb
Frankreichs einer wissenschaftlichen
Analyse zu unterziehen. Wir haben
hier, ähnlich wie schon in „Die feinen Unterschiede“ den Entwurf einer gegenläufigen Ethographie vor
uns, in der nicht das Exotische heimisch, sondern das heimisch Vertraute exotisiert wird. So sollen
durch bewußt erzeugte Frappierungen neue Erkenntnispotenzen im
allzubekannten Alltäglichen erschlossen werden.
Diesmal steht also die besondere
Spezies des „Homo Academicus“ der Wissenschaftler mit seiner Pra-
xis - im Focus der komplexen Zergliederung. Für die solchermaßen
Dekonstruierten eine sicherlich ungewohnte Rolle. Bourdieu nimmt
eine Objektivierung der objektivierenden Subjekte (Wissenschaftler),
eine
Strukturierung
der
professionellen Strukturierer vor.
Die Wissenschaft wird dabei folglich nicht nur als fortschreitender
Erkenntnisprozeß begriffen, der
von um die reine Wahrheit sich
mühenden Individuen betrieben
wird, sondern als eine Positionsfeld
sozial handelnder Akteure und als
deren Auseinandersetzungen und
Produktionen in ihrem jeweiligen
historischen Umfeld erkannt und als
solches untersucht.
Bourdieu beschreibt dabei minuziös
die immer schon prädeterminierten
Machtkämpfe und die dabei verwendeten Strategien in den Akademien und ihren Randbereichen,
symbolisches Kapital zu erlangen
und zu erhalten. Letzteres wird in
eben jene Kämpfe reinvestiert und
in die sich so entwickelnden, die
Auseinandersetzungen und Standpunkte aber wiederum präformierenden Habitusformen, welche sich
als scheinbare Kontingenz der persönlichen Beziehungen und Erfahrungen enfralten uns so verkannt
und unbewußt als strukturelle
Zwänge ihre Wirkung ausüben. Als
eine der bedeutendsten Kapitalformen in diesen Kämpfen macht
Bourdieu die Legitimität bzw. Infragestellung der jeweiligen Bildung
fest. Ist sie formal, etwa durch Abschlüsse und Titel, anerkannt? Gibt
sie sich als quasi 'naturhafte' Intelligenz, die sich über jeden sturen
Formalismus erhaben dünkt, oder
frönt man gar der Häresie?
Der Habitus, der gleichsam ein Produkt dieser Kämpfe wie der individuellen und der Klassengeschichte
ist, bildet neben der meist nur halbbewußten Verortung im sozialen
Raum den Kristallisationspunkt im
Individuum, von dem aus es die Ereignisse wahrnimmt und strukturiert, von dem aus es fast schon instinktiv und reflexhaft weiß, bei welchen Personen und Themen es zu
beißen, zu bellen oder freudig zu
hecheln hat. Der Habitus fungiert
dabei als die Vermittlungsinstanz
zwischen der Struktur, in der der
Einzelne steht, und der sich daraus
für ihn ergebenden Praxis.
Wissenschaftliche Werke, aber auch
ganze Fachdisziplinen, ebenso wie
die beteiligten Menschen, stehen in
der vorliegenden Untersuchung
nicht mehr einfach für sich - oder
werden in einer Scheinanalyse lediglich verschiedenen Seilschaften zugeordnet - sondern werden als Teile
eines Gesamtfeldes gesehen, in dem
sich gleich Positionspfählen Räume
abstecken. Räume freilich, die keineswegs fixiert sind, die vielmehr
von jeder Bewegung im Gesamtfeld
berührt und dementsprechend in
einem vorstrukturierten Rahmen an dessen Struktur sie allerdings ihrerseits konstitutiv teilhaben - sich
verschieben. So werden Hierarchien
und Rangfolgen aufgebaut und angegriffen, Kriterien ihrer Ordnung
verteidigt oder verändert, während
sich zugleich Teile der Kampfarena
immer neu bilden.
Indem Bourdieu dieses Universum
der Forschung haarfein seziert, zeigt
er die sozialen Bedingungen und
Grenzen der wissenschaftlichen Arbeit auf, und, was vielleicht das wesentlichste Ergebnis dieser Arbeit
ist, es gelingt ihm der Nachweis des
direkten und zwangsläufigen, aber
stets verschleierten und verkannten
Niederschlages dieser Strukturen
auf die wissenschaftliche, theoretische und politische Produktion der
Akteure. In diesem Zusammenhang
ist es für den deutschen Leser vielleicht am verblüffendsten, obgleich
aus der Analyse logisch zwingend,
daß die meisten der hier zu Lande
rezipierten und ob ihrer Originalität
bewunderten französischen Geistesheroen - wie Althusser, Barthes,
Deleuze und Foucault - im akade-
Bücher zum Thema
mischen Betrieb Frankreichs nur eine marginale Außenseiterposition
innehatten - eine Tatsache, die sich
in ihrem Werk spiegelt.
Wenn hier auch die Wissenschaft
gleichsam gegen den Strich gebürstet wird, enträt diese Arbeit keineswegs des wissenschaftlichen Anspruchs. Bourdieu hält die soziologische Erkenntnis nicht nur nach
wie vor für möglich, sondern für
unbedingt notwendig. Denn nur so
können sich, so sein Credo, die
Verantwortlichkeiten dort ansiedeln,
wo ihre Freiheit zur Veränderung
auch tatsächlich besteht. Jeder
postmodernen Verleugnung von
derart
gewonnenen
wissenschaftlichen Einsichtsmöglichkeiten wird eine scharfe Absage erteilt. D.h. die Fähigkeit zur Objektivierung soll durch das Wissen um
ihre Bedingtheit nicht vernichtet,
sondern im Gegenteil noch gesteigert - epistemologisch geschärft und gleichzeitig ihrer Illusionen
entkleidet werden.
Überhaupt die Epistemologie: ihr
sind - wie bei diesem Autor nicht
anders zu erwarten - lange und äußerst subtile Betrachtungen gewidmet, die an dieser Stelle in ihrer
Komplexität nicht einmal angerissen
werden können; zumal das Thema
der Untersuchung die wissenschaftsmethodische
Problemlage
nicht gerade entschärft, existiert hier
doch eine große Nähe zwischen der
Analyse und ihrem Gegenstand, die
erst künstlich aufgelöst werden
muß, um neue Erkenntnis gewinnen
zu können. Dementsprechend ausführlich fällt auch die Dokumentation des wissenschaftlichen Apparates im Anhang aus.
Dieses Buch ist sicherlich allen zu
empfehlen, die sich über ihre vielleicht auch marginale Rolle im akademischen Betrieb aufklären lassen
möchten, wenn sich auch nicht alle
Ergebnisse umstandslos auf die hiesigen Verhältnisse übertragen lassen. Allerdings: leicht ist die Lektüre
dieses Buches nicht.
Holger Jendral
Hauke Brunkhorst
Der entzauberte Intellektuelle.
Über die neue Beliebigkeit des
Denkens
Hamburg 1990 (Junius-Verlag),
geb., 365 S., 29.80 DM.
Es ist schon ein Elend mit den Intellektuellen. Egal was sie machen,
sie machen es falsch. Mischen sie
sich ein in die Geschäfte der Politik
und in andere Kleinigkeiten des öffentlichen Lebens, bekommen sie es
mit den Sachwaltern der jeweiligen
Hoheitsbereiche zu tun. Das bringt
den Intellektuellen in der Regel den
strengen Verweis ein, sie mögen
sich doch bitte nicht in fremde Angelegenheiten mischen und sich um
ihren eigenen Mist kümmern.
Schriftsteller und andere Nestbeschmutzer können ein Lied davon
singen. Wenn sie dann aber mal
schweigen, ist es auch wieder nicht
recht. Dieselben Leitartikler, die den
Intellektuellen gerade vorgeworfen
haben, überall ungefragt mitzuschwätzen, stutzen sie im nächsten
Moment zurecht, weil sie auf
Tauchstation gegangen sind. Was
Politiker und ihre Verbündeten von
den Intellektuellen erwarten, ließen
sie im Golfkrieg mit der notwendigen Deutlichkeit wissen: Gefragt
war, Raketen auf Israel abscheulich
zu finden; Raketen auf Bagdad sollten hingegen als Beitrag zur Befriedung der Region gelten. Wer das
anders sah, sollte sich raushalten.
Das läßt sich verallgemeinern: Politiker sind gar nicht so; gelegentlich
haben sie durchaus ein Herz für Intellektuelle, wenn die nur auf der
richtigen Seiten stehen. Andernfalls... Schnauze!
Daß die Herrschenden kritische
Beiträge gebildeter Besserwisser
nicht sonderlich schätzen, ist freilich
ein alter Hut. Erstaunlicher - wenn
auch keineswegs neu - ist die Tatsache, daß immer mehr Intellektuelle
selbst ihre Rolle als Anwälte des
Allgemeinen, der Vernunft, der
Menschlichkeit, der Freiheit und
desgleichen in Zweifel ziehen. Im
Vorwort seines Buchs über die neue
Beliebigkeit des Denkens führt
Hauke Brunkhorst die gegenwärtige
Tendenz zur „Selbstverachtung der
Intellektuellen“ an der Person Hans
Magnus Enzensbergers vor. Enzensberger, „immer noch die markanteste Gestalt der westdeutschen
Szene“ , war in den frühen sechziger Jahren „ein genialer Popularisator Adornos“, der „kompromißlos
revolutionäre Konsequenzen aus
dem negativen Denken zog“. Und
heute? „Heute denkt Enzensberger
anders. Er verabscheut den revolutionären Utopismus und den besserwisserischen Anspruch intellektueller und politischer Eliten. Er
feiert die 'unerschütterliche Skepsis'
des antiintellektuellen Massenbewußtseins.“ Eine Sympathie für das
„unkomplizierte praktische Denken“ der einfachen Leute hat
Brunkhorst unter den Intellektuellen ausgemacht. Verdächtig ist ihnen die abstrakte Moral, unter deren
Banner sie einst für Gerechtigkeit,
Humanität, Freiheit gekämpft haben. Das Allgemeine? Ist das nicht
immer der Tod des Besonderen?
Unter diesem Aspekt trennen Kant
und Stalin nur noch Nuancen. Dem
postmodern gestimmten Zeitgeist
stellt sich Brunkhorst zufolge nur
noch die Alternative: „Entweder ein
hoffnungsloser und gar nicht harmloser Utopist an Stalins Seite oder
der beste Freund des Dorfbürgermeisters.“ Tertium non dabitur.
Hauke Brunkhorst, Privatdozent an
der Uni Frankfurt, ist den Spuren
des Zeitgeists in seinen Essays, die
zumeist in der „Neuen Rundschau“
erschienen sind, mit großer Beharrlichkeit gefolgt. Die vorliegende
Aufsatzsammlung enthält mit einer
Ausnahme Beiträge aus den Jahren
1988 bis 1990 sowie einige unveröf-
Bücher zum Thema
fentlichte Texte. Er kennt seinen
Luhmann und Foucault, seinen Rorty, Heidegger und Adorno und weiß
an ihren Fragen die Fragen der Gegenwart zu bestimmen. Es geht um
Vernunft, Freiheit und Universalität.
Brunkhorst untersucht, was von ihnen zu retten ist, nachdem der postmoderne Zeitgeist im Sturm über
sie hinweggefegt ist. Das macht das
Buch interessant. Dem Zeitgeist
hinterherzuhecheln und zum tausendsten Mal den Schwanengesang
auf die Aufklärung anzustimmen,
kann heutzutage jeder. Mit einer
Hand voller Trümpfe ist leicht zu
gewinnen. Aber was ist, wenn man
schlechte Karten hat?
Das immerhin darf man zugeben:
Der klassische Intellektuelle mit seinen universellen Ansprüchen hat
kein gutes Blatt. Und doch möchte
Brunkhorst zeigen, „daß sich die
utopischen Impulse eines selbstkritischen Rationalismus ohne Rückgriffe
auf
irgendeine
Geschichtsphilosophie verteidigen
lassen“. Gegen Luhmann, Foucault
und Rorty beharrt Brunkhorst
darauf, daß sich Freiheit nicht in
pure
Kontingenz
verwandelt.
Spannend ist vor allem seine
Auseinandersetzung
mit
dem
amerikanischen Neopragmatiker Richard Rorty, dem es ja ebenfalls um
die Freiheit zu tun ist. Für Rorty ist
die Frage nach den transzendentalen Bedingungen ihrer Möglichkeit
erledigt: Es gibt sie nicht. Wir müssen uns entscheiden, ob wir Freiheit
oder Wahrheit, Solidarität oder Ob-
jektivität wollen. Wohin die Reise
geht, unterliegt mehr oder weniger
dem Zufall. Das ist ein beunruhigender Gedanke. Was Brunkhorst
dagegensetzt, ist kaum ein Trumpf,
der die Partie entscheidet: Es ist die
volonté génèrale, „dasjenige was
nach der radikalen Säkularisierung
in der 'civil society' diskutierender
Öffentlichkeiten von der zertrümmerten Metaphysik des okzidentalen Rationalismus, von den platonischen Ideen und vom Monotheismus erhalten bleibt“. Dieser laut
Hegel „objektive“ und „vernünftige“ Wille ist „das Zentrum des
gänzlich säkularisierten Dispositivs
der Demokratie“. „Wo immer sich
Minoritäten und Einzelne das Recht
nehmen, Beschlüssen und Gewohnheiten der Mehrheit zu widersprechen,... beziehen sie sich auf ein absolutes, nicht relativierbares Moment.“ Die Tiefe der Fragestellung
Rortys erreicht Brunkhorst damit
nicht. Er setzt in seinem Argument
voraus, daß es so etwas wie eine
demokratische Öffentlichkeit bereits gibt; genau das steht bei Rorty
aber noch zur Disposition. Demokratie oder Objektivität lautet die
Frage; objektiv aber läßt sich Demokratie ebensowenig ableiten wie
Freiheit oder Gerechtigkeit. Zudem
ist fraglich, ob sich die zitierten Minoritäten in jedem Fall auf ein absolutes Moment beziehen, wenn sie
sich der Mehrheit widersetzen.
Könnte der Widerstand nicht auch
vom schieren Leiden ausgehen, das
einfach bloß aufhören soll? Kann es
sein, daß da nichts anderes ist als
dieser Wunsch, kein Appell im Namen der Menschenrechte, kein Rekurs auf die allgemeine Vernunft?
Gegenwärtig bleibt nicht viel mehr,
als Inventur zu betreiben. Was besteht von den Ideen der Aufklärung,
von der universellen Vernunft fort?
Brunkhorst beginnt bei Hegels Rezeption der französischen Revolution und endet bei den Umwälzungen in Europa zweihundert Jahre
später. Seine kenntnisreichen Essays
machen die Verästelungen zwischen
amerikanischem Neopragmatismus
und neuer Pariser Philosophie ebenso deutlich wie den Ursprung der
okzidentalen Freiheitsidee im moralischen Egalitarismus des Alten Testaments. Mag der Intellektuelle alter
Prägung seine universelle Basis auch
verloren haben - notwendig ist er
doch. Wo Menschen leiden, ist Einspruch auch ohne letztbegründete
Legitimation nötig. Von den großen
Entwürfen, in deren Dienst man
sich stellt, heißt es Abschied nehmen. Aber ein wenig Sand ins Getriebe des Bestehenden streuen, ist
auch nicht schlecht - sich, wie Sartre
sagt, in Dinge einmischen, die einen
nichts angehen.
Wolfgang Görl
Wolfram Burisch
Der uneingelöste Bildungsanspruch.
Notwendige
Erin-
nerungen an die Zukunft von
Hochschule und Studenten
Mit einem Vorwort von Arno
Klönne. Mössingen-Talheim 1990
(Talheimer-Verlag), brosch., 176 S.,
24.80 DM
Vergleicht man das öffentliche Bild
der „68er-Revolution“ in zeitgenössischen und heutigen Darstellungen,
kristallisiert sich folgender ideologische Kern heraus: Die Studentenbewegung erscheint als ein „plötzliches Ereignis“, dessen komplexe
gesellschaftliche, geschichtliche und
gedankliche Voraussetzungen im
Dunkeln bleiben. Die dieser Verdrängung inhärente Irrationalität
schrieb man damals, in einem von
autoritären Fixierungen geleiteten
Akt der Verkehrung, den Akteuren
der Bewegung zu: die irritierende,
reflexive kritische Intellektualität
evozierte das Zerrbild des sich in
unverständlichen Dekreten artikulierenden Intellektuellen; das Bedürfnis nach praktischer Veränderung erzeugte als militante Abwehrreaktion das Bild des virtuell
gewalttätigen Chaoten, der es wagte,
die als natürlich angeschaute staatliche Ordnung anzutasten. In der
Perspektive distanzierter Gelassenheit heutiger „Nachbetrachtungen“
scheint mit der Unwiederbringlichkeit der „Ereignisse“ und der für
gescheitert erklärten Revolution der
Stachel der Beunruhigung verschwunden zu sein, der jedoch andererseits in den Tiefenschichten
Bücher zum Thema
des 68er-Mythos wiederzukehren
scheint.
Die Gründe für die heutige „restaurative Verhinderung“ einer entmystifizierenden Aufarbeitung der unabgegoltenen geschichtlichen Inhalte der Studentenbewegung sind - so
die These des Kasseler Sozialwissenschaftlers Wolfram Burisch in den gesellschaftlichen Zwängen,
wie sie sich in der Gegenwart formieren, auszumachen. Deren Spezificum erblickt Burisch im vorliegenden Buch in der Subordination
der Hochschule und des ihr
zugrunde liegenden Bildungsverständnisses unter das Diktat der
„Marktgesetze“, wie sie sich aktuell
im „gebannten Starren auf die technisch-ökonomische Entwicklung“
vermittelt.
Als signifikante Folgeerscheinung
dieser „ausschließlich technologischen Orientierung“ kann Burisch
auch in der Hochschule das Vordringen jener „realistischen“ Haltung diagnostizieren, die als technokratisch-pragmatische
Ideologie
heute das gesellschaftliche Bewußtsein als ganzes charakterisiert. Diesen „Realismus“ beschreibt Burisch
unter zwei wesentlichen Gesichtspunkten: zum einen äußert er sich
darin, „daß die Vorstellung von
mündiger Selbstbestimmung bereits
als irreale Erfahrung vorweggenommen ist“, zum anderen in einer
auf das „bloße Gelingen fixierten
Haltung“, die sich der Auseinandersetzung mit allem Widersprüchli-
chen, Unabgeschlossenen, Unfertigen, der Gefahr der Enttäuschung
entzieht.
Wenn Burisch hier treffend eine
heute vorherrschende, auf bloße
Fungibilität und Markttauglichkeit
ausgerichtete konsumistische Einstellung kennzeichnet, die Bildung
als Prozeß produktiver Aneignung
von Kultur und Gesellschaft zu eliminieren droht, weist das ins Zentrum seiner Argumentation, seinem
Bildungsbegriff als Form „gesellschaftlicher Arbeit“, als „emanzipatorische Produktivkraft“. Von dieser
Voraussetzung ausgehend, rollt Burisch die Geschichtlichkeit von Bildung im doppelten Sinn auf - in der
dialektischen Spannung von Affirmation und Negation der sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen, die sich durch die ganze
Geistesgeschichte
hindurchzieht
und als Erinnerung an ihren unvollendeten „geschichtlichen Auftrag“,
nämlich von ihrem Selbstverständnis her als kritische Rationalität,
Emanzipation als Verwirklichung
der Humanität voranzutreiben.
Es kann so einsichtig werden, warum Burisch an den Ausgangspunkt
der Studentenbewegung erinnert knüpft diese doch in ihrem wissenschaftlichen Grundverständnis und
ihrer Kritik an der Institution Universität kritisch an den tradierten
emanzipatorischen Bildungsbegriff
an. Burisch weist dies in ausführlichen Analysen 'zum historischen
Kontext der unabgegoltenen Studentenbewegung' nach.
Ein entscheidendes Kriterium erblickt Burisch in der Belesenheit
dieser Generation (zumindest ihrer
theoretischen Köpfe), im Sinne einer „historischen Belesenheit“, die
„die praktischen Erfahrungen der
Enttäuschung festhalten sollte“.
Diese Belesenheit bildete die
Grundlage eines Theorie-PraxisVerhältnisses, dessen Aktualisierung
Burisch als Korrektiv der unmittelbar auf Nutzanwendung gerichteten
Strategien, die einen Autoritarismus
neuen Typs etablieren, einklagt. Das
symptomatische Unbehagen, resultierend aus der Spannung zwischen
dem Verzicht auf Bildungswünsche
und dem Zwang zum Erwerb funktionaler Befähigungen, in dem Burisch die Aporie studentischen
Selbstverständnisses heute manifestiert sieht, könnte auf diese Weise
auf den Begriff gebracht werden.
Gerade deshalb erweist sich die
Forderung Burischs als wichtig, den
in ihrem Bildungsbegriff vermittelten, situationsüberschreitenden Anspruch der Hochschule, „ihre Legitimation als autonomes Gebilde sich
nicht in Abrede stellen zu lassen“.
So eröffnet die Hochschule in ihrem spezifischen Doppelcharakter
zwischen „Übergang“ und „Situationsüberschreitung“ in der Möglichkeit der „Ahnung neuer Subkulturen, die in ihrem Charakter
bewußt Widerständliches aufnehmen, das ökonomischen Zwängen
und strukturierenden Denkhaltungen enteignet ist“ eine Perspektive
auf Veränderung.
Dem Autor ist es als Verdienst anzurechnen, daß er als ehemaliger
„68-er“ weder in Selbstmitleid verfällt, noch in seinem Buch mit der
Vergangenheit abrechnen will. Das
Anliegen Burischs, die unabgegoltenen Inhalte der Studentenbewegung
in forschender Erinnerung zu aktualisieren, mag manchem Leser so anachronistisch und akademisch erscheinen wie die Sprache des Autors. Andererseits könnte ein Abtun
der Überlegungen Burischs bereits
ein Produkt jenes „ideologischen
Nebels“ (Bloch) sein, den der Autor
zu erhellen trachtet.
Die Möglichkeit einer weiteren Auseinandersetzung mit den Konzepten
Burischs und dessen theoretischem
Umfeld, in dem sie zu verorten
sind, bietet die zu seinem 50. Geburtstag von Francesca Vidal herausgegebene Festschrift „Wider die
Regel“. Hier werden hauptsächlich
von Autoren aus dem Kreis der
Ernst Bloch-Schüler philosophische
Perspektiven aus den Bereichen Ästhetik, Naturphilosophie, Bildung
und Gesellschaftstheorie erörtert.
Georg Koch
Joachim Fest
Der zerstörte Traum. Vom Ende
des utopischen Zeitalters
Berlin 1991 (Siedler Verlag), 193 S.,
Leinen, 20.- DM.
Bücher zum Thema
Joachim Fest hat in seinem Band“
Der zerstörte Traum“ ein kritische
Geschichte utopischer Modelle verfaßt. Seine Reflexionen finden ihren
Anlaß und Ausgangspunkt in den
Veränderungen und Auflösungserscheinungen der sozialistischen Systeme. Gemessen an den blutigen
Revolutionen, in denen sich die sozialistischen Utopien, aber auch das
Wahnsystem des Nationalsozialismus den Weg gebahnt hatten, bezeichnet Fest die nun eingetretene
Wende als geradezu undramatisch und eben daran glaubt er seine These „Vom Ende des utopischen Zeitalters“ fest machen zu können. Aber noch etwas unterscheidet die
momentanen Umsturzbewegungen
von den bisherigen: Nach Fest hatte
der Umsturz „keine Vordenker, die
mit suggestiven Gesellschaftsentwürfen die Massen zum Bewußtsein
ihrer Not gebracht und ihre Sehnsucht auf 'die neue und gerechte
Ordnung' gelenkt hätten ... Keiner
der Wortführer des Aufruhrs trat
noch mit dem Anspruch vor die
Massen, den Weg zum Heil zu kennen“. Kurzum: Die neuen Bewegungen sind gegenüber einer langen
Tradition dadurch gekennzeichnet,
daß ihnen keine Utopie zugrunde
liegt.
Trotz dieses scheinbaren Entschwindens der Attraktion utopischer Modelle stellt sich Fest die
Frage, woher „die utopischen Systeme ihre immer neue Anziehungs-
kraft beziehen?“ Obwohl Fest ebenso eindrucksvoll wie souverän die
Entwicklungen und Wirkungen von
Utopien schildert, berücksichtigt er
in dieser entscheidenden Frage
nicht angemessen, daß der Verelendung der Massen im Zuge der industriellen Revolution kein real existierendes System gegenüberstand,
das den Eindruck hätte erwecken
können, man könne es sinnvoll zur
Nachahmung empfehlen. Auch
sieht er nicht, daß es früher nicht im
dem Maße wie heute (Westdeutschland/Ostdeutschland) die Möglichkeit des Anschlusses an ein bereits
existierendes System gab, das - verglichen mit dem eigenen - recht
verheißungsvoll erscheinen konnte.
Fest sieht diese „gefährliche“ Attraktion utopischer Systeme im Aufkommen des aufklärerischen Denkens begründet: Die „Utopie, so
lange ein Märchen oder eine normsetzende Legende und jedenfalls ein
Literaturvergnügen, gab sich seither
als politisches Handlungsmodell...
Damit zugleich verlor sie ihre Unschuld.“ Und so lautet der Schluß,
den Fest aus all dem zieht, „daß ein
Leben ohne Utopien zum Preis der
Modernität gehört“, da „alle System-Utopien ... in ihrer Verwirklichung zu totalitären oder jedenfalls
inhumanen Zuständen führe“. Im
Philosophen Jürgen Habermas sieht
Fest eine Personifikation jener Utopisten, die die „Idee gegen die Realität“ verteidigen und unbelehrbar der
Neigung frönen, „sich gegen das
Leben ins Unrecht zu setzen, solange nur der Gedanke recht behält.“
So kann man sich des Eindrucks
kaum erwehren, daß Fest, wenn
auch unausdrücklich, eine gedankliche Reihe suggeriert, die eine gewisse Gefährlichkeit der Habermasschen Theorie impliziert: Wenn das
Festhalten an Utopien eine entscheidende Ursache des Terrors der
Systeme ist - dann ist Habermas nolens volens einer ihrer Vordenker.
Auf die Fragwürdigkeit einer solchen Position kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Aber
soviel sollte doch gesagt sein: Wenn
Fest mit der Einsicht schließt, daß
sich die Menschen mit einer Praxis
abfinden, „die nicht mehr Sinnfragen zu beantworten sucht, sondern
vor allem Praxis ist, mehr Handwerk und Ingenieurswissen als metapolitische Fürsorge“, und wenn er
daraufhin urteilt, dies sei „das Beste,
was sich erwarten ließe“, so wird
seine Ablehnung der Habermasschen Theorie nur fragwürdiger.
Denn wer wie Fest die aus Frankfurt stammende Leitdifferenz vom
'instrumentellen' und 'kommunikativen Handeln' als zu idealistisch ablehnt, der sollte sich nicht zugleich
in eine ihrer Seiten verlieben: Indem
man aber der einen Seite, nämlich
dem 'instrumentellen Handeln' des
'politischen Ingenieurs' den Vorzug
gibt, kann man die Berechtigung der
Leitdifferenz nicht wirklich in Frage
stellen.
Harald Wasser
Iring Fetscher
Utopien. Illusionen. Hoffnungen. - Plädoyer für eine politische Kultur in Deutschland
Stuttgart 1990 (Radius), Pb., 312 S.,
49.- DM.
Im WIDERSPRUCH Nr. 19/20
formulierte der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher im
Kontext seiner Überlegungen „zum
Ende der bürokratischen Planwirtschaft“ folgende These: „Was an
Marx bleibt ist gerade das, was er
gern gar nicht wahr haben wollte,
sein humanistisch-ethisches Anliegen: die Verwirklichung der von der
Französischen Revolution eingeleiteten und unvollendeten Versprechungen von Freiheit, Gleichheit
und Brüderlichkeit. Nur vor dem
Hintergrund dieser Intentionen sind
auch die kritischen Analysen der
'entfremdeten Arbeit' und der Abhängigkeit aller Individuen von objektivierten Zusammenhängen der
Wirtschaft ... in ihrer Relevanz zu
erkennen“. Man kann in dieser These unschwer ein Leitmotiv erkennen
das auch die im Zeitraum von mehr
als zwanzig Jahren entstandenen, im
vorliegenden Band versammelten
Aufsätze Fetschers verbindet.
Das Dilemma, mit dem sich eine
fortschrittliche Gesellschaftstheorie
heute konfrontiert sieht, erblickt
Fetscher darin, daß einerseits die katastrophischen Folgen eines verselb-
Bücher zum Thema
ständigten
ökonomischtechnologischen Wachstums - als
eine der gravierendsten, Fetscher
die Nivellierung und Vernichtung
differenter Kulturen betont - die
demokratische Kontrolle der Produktionsmittel und eine weitreichende gesellschaftliche Umgestaltung erfordern, andererseits die herkömmliche marxistische Konzeption unzureichende Antworten
bietet. Denn gleichwohl die marxistische Konzeption einer „Dialektik
des Fortschritts“ problembewußte
Aspekte enthält, was Fetscher, intimer Marxkenner, durch verblüffend
aktuelle, wenig bekannt Zitate belegt, so bleibt sie doch generell einem optimistischen Fortschrittsparadigma verhaftet, das seine theoretische
Grundlage
in
einem
dynamischen,
universalistischobjektiven Vernunftbegriff hat und
in praktischer Hinsicht auf dem
Primat der Entfesselung der Produktivkräfte als Voraussetzung einer
sozialistischen Weltgesellschaft basiert. Die als Folge dieses Konzepts
als unbedingt notwendig begriffene
Überwindung aller traditionalen
Bindungen und kulturellen Unterschiede läßt aus heutiger Sicht auch
den „Eurozentrismus“ dieses Modells hervortreten.
Angesichts der Dynamik destruktiver Potenzen eines reduktionistisch
an das ökonomisch-technologische
Wachstum
gekoppelten
Fortschrittsbegriffs, hat die linke Gesellschaftstheorie mehr denn je die
Aufgabe eines komplexen Entwurfs,
der einerseits die humanen und aufklärerischen Potenzen des herkömmlichen Begriffs gesellschaftlicher Vernunft auslotet und aufhebt,
wie diese durch eine Perspektive des
Bewahrens erweitert.
Der Weg, den Fetscher hierbei - in
der Nachfolge der Kritischen Theorie - einschlägt, ist der einer Doppelstrategie. So macht Fetscher den
Grundwiderspruch neokonservativer Ideologien transparent, einer Idiosynkrasie gegenüber den Folgen
einer Entwicklung, „die sie gleichwohl für das Non-Plus-Ultra der
Geschichte hielten“. Letzteres trifft
ebenso auf die „postmodernistische“ Variante des Neokonservativismus, die Kompensationstheorie
des Ritter-Schülers Odo Marquard
zu, dessen Postulat einer Kultur der
Vieldeutigkeit einem Verzicht auf
jegliche Wahrheits- und Geltungsansprüche geschuldet ist, was letztendlich auf die Affirmation der kruden Faktizität hinausläuft.
Demgegenüber hält Fetscher daran
fest, daß nur unter veränderten
strukturellen Bedingungen das Ziel
einer Wiederherstellung der Vielfalt
gesellschaftlicher und kultureller
humaner Umgangs- und Lebensformen realisierbar sei. Dies impliziert
jedoch die Überwindung einer optimistischen Fortschrittsdynamik, die
sich der Einsicht verdankt, daß gerade
im
allgemeinen
Überlebensinteresse der Menschheit die
Bewahrung des Differenten und
Vielfältigen gefordert ist. Die postulierte Toleranz schließt jedoch für
Fetscher den Anspruch auf Wahrheit und Verbindlichkeit von Normen, wie den Menschenrechten,
nicht aus, sofern sie sich im „freien
Diskurs“ beweisen und nicht gewaltsam durchgesetzt sind. Daß
Fetscher dieses Ziel als ethisches
bestimmt, versteht sich als Korrektiv eines bloß interessegeleiteten
Standpunktes, der in dieser Verkürzung selbst noch durch die instrumentelle Vernunft stigmatisiert ist.
Fetschers ethisches Modell eines
freien Diskurses über die Verbindlichkeit allgemeiner Normen, die
zugleich „das Recht man selbst zu
sein“ einschließt, hat seinen theoretischen Bezugspunkt in der „Diskursethik von Habermas und Apel.
Die Crux dieser Argumentation
scheint mir darin zu liegen, daß ein
solches ethisches Konzept, will es
nicht bloß „regulative Idee“ sein,
auch zu eingreifender Stellungnahme verpflichtet ist. Diese könnte jedoch die Kritik der realen Machtkonstellationen nicht ausschließen,
d. h. hätte also auch „Kritik der Politischen Ökonomie“ zu sein. Hier
wird, nach meinem Dafürhalten der
Mangel einer Diskursethik evident,
die glaubt, das „Produktionsparadigma“ verabschieden zu können.
Auf einen Dissens zu Habermas
weist Fetscher explizit im Kontext
seiner Überlegungen zur politischen
Kultur in Deutschland hin, wenn er
im Unterschied zum Habermas-
schen
„Verfassungspatriotismus“
für einen „Patriotismus“, der auf realer gesellschaftlicher Veränderung
beruht, plädiert. Fetscher zeigt sich
darin nicht zuletzt der Ethik des
„aufrechten Gangs“ Ernst Blochs
verpflichtet.
Im Zusammenhang der heute virulent geforderten Infragestellung überkommener linker Konzepte und
dem Bedarf an neuen Überlegungen
bietet das Buch Iring Fetschers einen lesenswerten Diskussionsbeitrag.
Georg Koch
Robert Kurz
Der Kollaps der Modernisierung.
Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der
Weltökonomie
Reihe
DIE
ANDERE
BIBLIOTHEK, Bd.82, hg. von
Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt/Main 1991 (Eichborn-Verlag),
291 S., geb., 44.- DM.
Es ist schon beeindruckend, wenn
ein Untergangsprophet marxistischer Herkunft, wie Robert Kurz,
unmittelbar nach dem Sieg des Realen Kapitalismus in großen Zeitungen, mitunter auf einer ganzen Seite,
rezensiert wird. Er ist auf Platz eins
der Bücherliste der Süddeutschen
Zeitung vorgedrungen und die erste
Auflage seines Buches soll schon
verkauft sein.
Bücher zum Thema
Diese Zeichen deuten darauf hin,
daß hier der Zeitgeist an einer empfindlichen Stelle getroffen wurde.
Das Bedürfnis, sich das überraschende historische Ende des Realen Sozialismus zu erklären, trifft
sich mit dem allgemeinen Unbehagen, die Zukunft des siegreichen
Gesellschaftsmodells könnte nicht
nur große Gefahren und Ungewißheiten, sondern möglicherweise sogar auch seinen Untergang mit einschließen.
Diese Konstellation ist der Ausgangspunkt der Kurz'schen Analyse.
Von der Konstitution der realsozialistischen Kommandoökonomie über ihren Zusammenbruch spannt
Robert Kurz den Bogen bis zur
„Krise des warenproduzierenden
Weltsystems“. Die Idee, das dem
westlichen scheinbar entgegengesetzte System des Realen Sozialismus als Fleisch vom eigenen Fleische zu betrachten und die Zusammenbruchskrise des Ostens als Teil
einer Weltkrise des gesamten Systems von Geld und abstrakter Arbeit zu denken, ist für große Teile
der Intelligenz offenbar so frappierend, daß sich daraus auch das
große Interesse an dem Buch erklären läßt.
Theoretische Grundlage des Ansatzes von Kurz, der von einem hegelianisierenden
Marxismus
herkommt, ist die Kritik der abstrakten
Arbeit. Die Kritik und Krise der
„Arbeitsgesellschaft“ betrifft den
Marxismus der Arbeiterbewegung
ebenso wie die sie reichen Marktwirtschaften. Die abstrakte Arbeit
wird mit dem Wert als gesellschaftliche Basiskategorie gesetzt, woraus
sich die Selbstbewegung des Geldes
in der modernen Warenproduktion
ergibt, für die eine Bedürfnisbefriedigung in Form von Gebrauchswerten nur noch als sekundärer Aspekt
erscheint.
Mit der Kritik des (ökonomischen)
Wertes als der verdinglichten abstrakten und toten Arbeit, in dem die
sinnlichen Qualitäten der Produkte
ausgelöscht sind und die gesellschaftlichen Verhältnisse die Form
der Herrschaft toter Dinge annehmen (S.280f), erschließt Kurz dem
Leser die tiefere Dimension Marxscher Gesellschaftskritik, die unter
einem vordergründigen Klassenkampfkonzept verschüttet worden
war. Mit der Mystifizierung der
Klasse und dem Fehlen einer Kritik
der Warenform konnte „die vermeintliche Befreiung vom Kapitalverhältnis als Entmachtung der 'Kapitalisten'
erscheinen,
oder
schlimmstenfalls als deren jakobinische Liquidierung“ (S.46). Der
„epigonale“ Marxismus, der seine
Kritik nur auf den Mehrwert als unbezahlte Arbeit richtete und sein
Ziel also letztlich in der gerechten
Verteilung von Werten sehen mußte, gehört mit dem Realen Sozialismus „selbst dem bürgerlichen warenproduzierenden System an“
(S.21) und ist mit ihm zum Untergang verurteilt.
Wichtig für einen weiteren produktiven Umgang mit der Marx'schen
Theorie ist die Unterscheidung von
zwei historischen Logiken, dem
Kampf der Arbeiterklasse und der
Selbstbewegung des Geldes, die bei
Marx zusammengespannt werden.
Kurz ist einer der wenigen, der erkannt hat, daß der „Klassenstandpunkt“ auch bei Marx in Wahrheit
unvereinbar ist mit seiner eigenen
Kritik der Politischen Ökonomie,
weil in dieser die Arbeiterklasse als
eine vom Kapital konstituierte Klasse erscheint (S.74f).
Auf dieser Grundlage entwickelt
Kurz seine Theorie des notwendigen Zusammenbruchs der östlichen
Ökonomien. Er erinnert daran, daß
auch im Westen der Staat, insbesondere seit dem Merkantilismus,
dem warenproduzierenden System
zum gesellschaftlichen Durchbruch
verholfen hat. Der bürgerliche Vernunftstaat Fichtes einer geplanten
Warenproduktion sollte nach der
jakobinischen Oktoberrevolution in
die Tat umgesetzt werden. Der besondere Charakter einer 'nachholenden' ursprünglichen Akkumulation bedingt die stalinistische Brutalität und die größere Bedeutung des
Staates, gemessen an der Frühzeit
des westlichen Kapitalismus.
Auf diese Weise entstand ein warenproduzierendes System ohne die
Dynamik der Konkurrenz als Motor
der Produktivität. Dessen Letalität
als Dauereinrichtung wurde nach
der Phase extensiver Mehrwertpro-
duktion erst in den siebziger und
achtziger Jahren sichtbar, als die
(mikroelektronische) Produktivitätsrevolution im Westen die Gültigkeit
des Wertgesetzes über den Weltmarkt auch für die östlichen Binnenökonomien zunehmend krisenhaft praktisch werden ließ (S.146ff).
Mit vielen Beispielen veranschaulicht Kurz ein Strukturdilemma des
„geplanten Marktes“, mangels Konkurrenz die Gebrauchswertbedürfnisse der Konsumenten nicht befriedigen zu können. Er befaßt sich
allerdings nicht mit der Frage, wie
ein nicht warenproduzierendes System ohne diese Dynamik eine angemessene Versorgung sicherstellen
könnte.
Die Zukunft des Ostens und der
Dritten Welt malt er in düsteren
Farben. Der Grund ist im Produktivitätsniveau auf Weltmarktebene zu
suchen. Eine in höchstem Grade
kapitalintensive Produktion mit einem enormen Aufwand an Wissenschaft und Infrastruktur läßt in der
Konkurrenz auf dem Weltmarkt
nicht nur den Osten und den Süden, sondern auch schon die westliche Peripherie, schlechten Zeiten
entgegengehen.
Aber auch das Zentrum wird von
dieser Entwicklung eingeholt: Die
Zerstörung von produktiver Kaufkraft korrespondiert mit der Ausweitung von Verschuldung und
Kredit, der globale Verteilungskampf wird begleitet von der großen Verschuldungskrise. Damit
Bücher zum Thema
steht für Kurz die kapitalistische
Weltökonomie noch vor der Jahrtausendwende am Abgrund: „Das
absolut und relativ beispiellose
Schuldengebirge ist ein klares Indiz
dafür, daß die erreichte Produktivität auf Weltebene den Formzusammenhang der abstrakten Arbeit
und des gesamten Fetischsystems
der Moderne zu sprengen beginnt“
(S.247).
Die zunehmend destruktiven Folgen der abstrakten Logik des Geldes
für Mensch und Umwelt lassen für
Kurz nur noch die Perspektive der
„radikalen Abschaffung der modernen Ware und ihres Weltsystems“
(S.270) akzeptabel erscheinen. Dazu
müßte eine gesellschaftliche Bewegung den Gesamtzusammenhang
des Gesellschaftsprozesses erkennen können. Damit ist Kurz mit
dem Ideologiedilemma einer modernen Revolutionstheorie konfrontiert. Die „Abschaffung“ ist nicht
im Sinne des traditionellen linken
Voluntarismus gedacht, sondern die
kommunistische Vergesellschaftung
der Menschheit liegt in inhaltlichstofflicher Form bereits vor, allerdings in verkehrter negativer Form
eines Kommunismus der Sachen
(S.265). Damit wäre, nach dem berühmten Wort von Marx, nur noch
die Hülle zu sprengen...
Natürlich gibt es an den Vorstellungen von Kurz einiges zu kritisieren;
etwa die Tendenz zur Kritik der
Abstraktion als solcher, die noch
den Einfluß Alfred Sohn-Rethels
erkennen läßt. Die weitgehende
Gleichsetzung von abstrakter Arbeit
und Wert findet sich auch so nicht
bei Marx, der zwar ihre Verselbständigung in einer eigenen gesellschaftlichen reproduktiven Form
kritisiert, aber sehr wohl einsieht,
daß auch eine nicht warenproduzierende arbeitsteilige Gesellschaft mit
abstrakter Arbeit rechnen muß. Die
Kritik der Aufklärung, die den abstrakten (männlichen) Universalismus durch einen Begriff „sinnlicher
Vernunft“ (S.279) ersetzen will,
weist ebenfalls in die Richtung einer
etwas überzogenen universalen Abstraktionskritik.
Man könnte auch über gegenläufige,
retardierende und anachronistische
Elemente nachdenken, die sich der
von Kurz erwarteten Krisendynamik entgegenstellen, aber das kann
getrost die durch das Buch hoffentlich ausgelöste Diskussion einlösen.
Insgesamt ist „Der Kollaps der Modernisierung“ für den philosophisch
Gebildeten ein gefällig zu lesendes
Buch, reich an Anregungen und eine Pflichtlektüre für Linke, die bereit sind, gründliche Gesellschaftsanalyse und -kritik mit der Selbstaufklärung
über
die
eigene
historische Beschränktheit zu verbinden.
Gerhard Nagl
Georg Lohmann
Indifferenz und Gesellschaft. Eine kritische Auseinandersetzung
mit Marx
Frankfurt/Main 1991 (Suhrkamp),
S., DM.
Wie soll man auf den Vorwurf reagieren, die Marxsche Theorie verfahre reduktionistisch, wenn sie ihren Gegenstand - die moderne Gesellschaft - als entfremdete,
abstrakte oder scheinbeladene soziale Formation beschreibt? In den
Diskussionen um die Marxsche
Theorie stößt man in der Regel auf
drei Reaktionstypen: 1. Der Vorwurf wird postwendend an den Gegenstand zurückgeleitet: Die Beschreibung sei nichts anderes als die
notwendige mimetische Angleichung an den reduktionistischen
Gegenstand. 2) Man verabschiedet
die inkriminierte Beschreibung und
ersetzt sie durch andere, z.B. empiristische, strukturalistische oder systemtheoretische
Beschreibungsmodelle. 3) Man konstruiert eine
Mischform aus 1) und 2): Die Art
und Weise der Beschreibung wird
grundsätzlich als ihrem Gegenstand
adäquat eingestuft, man hält sie aber
insofern für korrekturbedürftig, als
ihr Geltungsbereich näher zu
bestimmen ist und allfällige ideelle
Überzeichnungen des reellen Reduktionismus zu vermeiden sind.
Die Studie „Indifferenz und Gesellschaft“ von Georg Lohmann gehört
diesem letzten Reaktionstypus an.
Sie präsentiert eine gleichsam korri-
gierte Marxsche Beschreibung der
abstrakten bürgerlichen Produktionsform, wobei sie sich nicht so
sehr die Auseinandersetzung mit alternativen Beschreibungsmodellen,
als vielmehr die Restrukturierung
mit eigenen Mitteln den Leitfaden
bildet.
Lohmann macht den von Marx eher
selten verwandten Begriff der Indifferenz zum operativen Begriff. Indifferenzphänomene der Marxschen
Theorie wie Entfremdung, Versachlichung, Fetischcharakter, Realabstraktion sollen dabei auf einen
differenzierten Begriff Indifferenz
gebracht werden. Indifferenz wird
am besten mit Gleichgültigkeit übersetzt. Gleichgültig ist uns etwas
dann, wenn es keine Rolle spielt, ob
wir etwas als a oder b bestimmen,
ob wir in einer Situation a oder b
tun. Mit gleichgültig meinen wir
häufig aber auch, daß in einer dyadischen Relation beide Relata einander fremd sind oder auch sich zueinander als beliebig bzw. austauschbar verhalten. Gleichgültigkeitsverhältnisse können eine Sache
betreffen, so wenn zwei Gebrauchswerte unter dem Tauschwert äquivalent, d.h. an einem äußeren Maßstab gemessen werden. Sie können
aber auch Personen in ihrem Verhalten zu Sachen oder anderen Personen betreffen. Sofern Personen
indifferent unter dem Diktat des
Tauschwertes handeln, kann man
von einer Form von Herrschaft
bzw. Unterwerfung sprechen. Auf
Bücher zum Thema
dem Hintergrund dieser und ähnlicher Unterscheidungen, die zu einem großen Teil der Hegelschen
Seins und Wesenslogik entlehnt
sind, interpretiert der Autor Teile
der Marxschen Frühschriften und
die einschlägigen Kapitel des 1.
Bandes des „Kapital“. In minutiöser
Form wird aufgezeigt, welche Indifferenzverhältnisse jeweils im Spiel
sind und wie sie von Marx bewertet
werden (bzw. aufgrund seiner Vorgaben bewertet werden müßten).
Spannend wird die Untersuchung
dort, wo der Autor von der Ebene
der Interpretation auf die Ebene der
Kritik an Marx mit Marx überwechselt. Lohmann versucht jeweils jene
Orte aufzuspüren, wo die Marxsche
Beschreibung von Indifferenz die
Sache der Indifferenz aus den Augen verliert. Der Hauptort liegt seiner Meinung nach in der Marxschen
Behandlung der rechtlichen Verkehrsverhältnisse, die mehr oder
weniger explizit in der Zirkulationssphäre des Warentausches angesiedelt sind. Dies gilt jedenfalls für die
„Grundrisse“, wo Marx darstellt,
wie die bürgerlichen Rechtsideale
der Freiheit und Gleichheit in Form
des abstrakten Rechtes zwar die Unfreiheit bzw. Ungleichheit in der
Produktionssphäre verdecken, aber
in der Zirkulationssphäre immerhin
realisiert sind. Auf den Punkt gebracht lautet Lohmanns Kritik,
Marx habe diese Rechtsideale im
Übergang zum „Kapital“ teils ausgeblendet, teils rechtsfunktionalis-
tisch verkürzt. Lohmann folgt darin
weitgehend der Marx-Kritik von
Habermas: Marx gleiche das abstrakte Recht funktional der ökonomischen Zweckrationalität an, müsse deshalb dessen sittliche und moralische Momente (Anerkennung,
Gerechtigkeit) verkennen und beraube sich damit eines wertvollen
Werkzeugs der Kritik der politischen Ökonomie. Die Tatsache, daß
Marx rechtliche Indifferenzverhältnisse nicht hinreichend von ökonomischen abhebe, führe gar dazu,
daß sein Konzept der „kritischen
Darstellung“ der bürgerlichen Gesellschaft in einem „Kollaps“ ende.
Sie setze nämlich kritisch mit einer
diesen
Rechtsidealen
entsprechenden Gerechtigkeitsvorstellung
an, welche mittels der Darstellung
sodann negiert werde. Die Folge sei
ein Ausweichen auf eine „transzendierende Kritik“. Zu den Elementen
dieser „transzendierenden Kritik“
zählt Lohmann u.a. den „historischen Materialismus“ in seiner Auffassung der Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen und
Produktionsverhältnissen sowie die
„produktivistische“
Perspektive,
d.h. Marx' Favorisieren einer Idee
der selbstverwirklichenden Arbeit.
Lohmanns Kritik an Marx' Beschreibung und Bewertung indifferenter Rechtsverhältnisse ist überzeugend. Bedenkt man, welche
Auswirkungen das Fehlen eines die
Individualsphäre
garantierenden
Rechtssystems im realen Sozialis-
mus gehabt hat, wird man ihr auch
nicht absprechen können, daß sie
auf einen historisch folgenreichen
Mangel der Marxschen Indifferenzdiagnose hinweist. Weniger überzeugend sind dagegen seine Ausführungen zum Verhältnis von „immanentem“ Konzept der „kritischen
Darstellung“ und „transzendierender Kritik“ bei Marx. Hier ist man
mit gutem Grund versucht, Marx
auch gegen Lohmann zu lesen. Der
Autor bezieht das Konzept der „kritischen Darstellung“ zur Hauptsache auf ein Verhältnis von gerechter
Zirkulationssphäre und ungerechter
Produktionssphäre der bürgerlichen
Produktionsund
Kooperationsform. Undurchsichtig bleibt,
wo und wie Lohmann die formations- und systemtheoretischen
Ansätze des Marxschen Konzepts
und deren spezifische Widerspruchsformen und Kritikpotentiale
unterbringt. Rechnet er sie einer
'transzendierenden kritischen Darstellung' zu?
So wird beispielsweise kaum einsichtig, weshalb das Verhältnis von
Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in toto einer „transzendierenden Kritik“ zugeschlagen
wird. Denn dieses Verhältnis fungiert ja nicht nur als ein äußerliches
geschichtsphilosophisches
Konstrukt, ist es doch vielmehr auch
kardinaler Teil der krisentheoretischen Darstellung. Wie heutige Regulationstheorien zeigen, ist die Dynamik der modernen bürgerlichen
Gesellschaft kaum verständlich ohne die Reflexion über das Verhältnis
von technologischen Schüben und
Umwälzungen von Akkumulationsweisen. Lohmann verkürzt den Begriff der Darstellung in einer Weise,
der sich mit den Marxschen Texten
schwer rechtfertigen läßt. Bekanntlich verwendet Marx den Terminus
„Darstellung“ sowohl in Beziehung
zu dem der „Forschung“ als auch
zu dem der „Kritik“. Im ersten Falle
wird damit die Methode der Erkenntnisproduktion bezeichnet, im
zweiten das konkret darzustellende
System der politischen Ökonomie.
Folgt man dem für das Programm
der Kritik der politischen Ökonomie wichtigen Methodenkapitel in
der „Einleitung“ von 1857, auf das
auch Lohmann kursorisch eingeht,
so wird deutlich, daß der Sache
nach beide Bedeutungen auf einen
Gegenstand der politischen Ökonomie bezogen sind, der neben zentralen Kategorien wie Wert, Geld, Arbeit auch formationstheoretische
und entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge umfaßt. Eine solche
Klärung des Marxschen Begriffs der
Darstellung ist von mehr als nur
textexegetischer Bedeutung. Mit
Marx einen weiten, komplexen Begriff der Darstellung vorauszusetzen,
ist vermutlich nicht weniger folgenreich als das Aufzeigen der Marxschen Mängel in Sachen normativer
Kritik. Denn die Forderung einer
am Maßstab von Gerechtigkeit und
Moralität gemessenen Lebensform
Bücher zum Thema
ist nicht ablösbar von der Forderung einer möglichst vollständigen
Darstellung desjenigen, welches gerechter und moralischer werden
soll.
Martin Bondeli
Niklas Luhmann / Karl Eberhard
Schorr (Hg)
Zwischen Anfang und Ende.
Fragen an die Pädagogik
Frankfurt/Main 1990 (Suhrkamp),
227 S., 16.- DM.
Mit dem hier vorgestellten Buch
liegt die dritte von N. Luhmann und
K.E. Schorr herausgegebene Aufsatzsammlung mit systemtheoretischen Beiträgen zur Pädagogik und
zu Erziehungstheorien vor. Wieder
geht es um ein „Reizthema“ für Pädagogen, ohne daß aber „zur
Selbsthermeneutisierung des Berufsstandes“ eingeladen werden soll.
Die „üblichen 'einheimischen' Begriffe werden nicht verwendet, denn
die Anregungen sollen Brüche zwischen den Bildungsvorstellungen
und der Sprache der Pädagogen einerseits und den Strukturen des Erziehungssystems in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften andererseits deutlich machen. Die
Leitfrage nach den Funktionen und
Hintergründen einer genauen Periodisierung von Erziehungs- und
Bildungsprozessen wird mit den
Beiträgen des Bandes thematisch
vielfältig behandelt. Unter anderem
geht es um die Schulerziehung, eine
methodische Organisation des Unterrichts, um schulische Reformprojekte und die Konzepte der Berufsausbildung. Im folgenden wird
nur auf diejenigen Beiträge näher
eingegangen, in denen es um die
systemtheoretischen Hintergründe
der Fragestellung geht.
Luhmanns Beitrag „Anfang und
Ende. Probleme einer Unterscheidung“ behandelt die Schwierigkeit
überhaupt, genau bestimmen zu
können, wann wer was anfängt und
beendet, und wie ein Anfang und
ein Ende beobachtet werden können. Aus Luhmanns Sicht gilt eine
Beobachtung von Anfang und Ende
als deren Unterscheidung und als
deren Festlegung. Eine solche Festlegung trägt paradoxe Züge, da stets
bereits etwas angefangen hat oder
zu einem Ende gekommen ist, wenn
Anfang und Ende unterschieden
werden. Die Unterscheidung trifft
eine Auswahl unter Momenten einer
Vorher/Nachher-Unterscheidung
die jeweils auch Anfang und Ende
betrifft. Wird in einem System, z.B.
im Erziehungswesen, der Anfang
eines Prozesses festgelegt, ist schon
etwas im Gange, was gerade zum
Feld des jeweiligen Prozesses gehört. Soziale Systeme - von Luhmann aus der Perspektive einer „allgemeinen Theorie sozialer Systeme“
betrachtet - gehen zu ihrer eigenen
Unterscheidungsleistung und zu de-
ren Ergebnissen ein paradoxes Verhältnis ein, denn die eigene Urheberschaft wird sowohl zu- als auch
abgesprochen. Einerseits führen die
Unterscheidungen über Selektionen
Willkürmomente mit sich und das
Unterschiedene fiel ehedem als
„Umwelt“ nicht oder zumindest in
anderer Prägung unter die Differenzierungsleistung des Systems. Das
System kann sich seiner Einflußnahme vergewissern. Andererseits
werden die selbst erzeugten Differenzen objektiviert und für notwendig gegeben gehalten, obwohl sie
auch anders hätten ausfallen können, für kontingent also. Die Willkürmomente gehen in die Kontingenzerfahrungen über, wobei sich
ein System sowohl das Willkürliche
als auch das Notwendige selbst zuschreiben muß. Luhmann betrachtet
die Paradoxie der Selbstreferenz in
der Zuweisung von Unterscheidungen, die sich auch am besagten
Problem des Anfangs zeigt, von einer Reflexionsebene aus, die diese
Paradoxie ausdrücklich zum Gegenstand macht. Ziel ist eine Distanzierung von dieser Paradoxie.
Die Systemtheorie versucht hierbei,
die paradoxe Differenz des Eigenen
und des Äußeren in sozialen Systemen als durch sie selbst, die Systemtheorie, erzeugt zu konstruieren.
Unter dem „Postulat eines rekursiven Beobachtens von Beobachtern“
soll selbst noch eine Selbstreferentialität der paradoxen Selbstreferenz
als durch die Theorie produziert
verstanden werden können.
Die Position einer Beobachtung
von Beobachtern ermöglicht der
Systemtheorie in Anwendung auf
die Pädagogik, auf einen Bruch zwischen Funktion und Selbstzuweisung hinzuweisen, wenn es um die
Festlegungen von Anfang und Ende
in Erziehungsprozessen geht. Die
Distanzierung von der „Paradoxie
des Anfangs“ ist der Pädagogik gerade nicht oder nur begrenzt möglich. Im funktional orientierten Erziehungssystem moderner Gesellschaften können Operationen und
Beobachtungen nicht derart unterschieden werden, daß eine Korrektur paradoxer Unterscheidungen
durch deren Beobachtung möglich
wäre. Das unterschätzte Problem
des Anfangs radikalisiert sich zum
Beispiel dadurch, daß auf Lebensläufe Bezug genommen wird, als
begänne man jeweils mit einer tabula rasa. Erziehungsprozesse werden
periodisiert durch bestimmte Organisationsformen, etwa durch eine
Alters- und Terminfestlegung in der
schulischen und beruflichen Ausbildung. Damit werden die Faktoren,
die bei Lernvorgängen eine Rolle
spielen, zum Gegenstand einer
zugleich gezielten und willkürlichen
Auswahl, und es werden unterschiedliche Voraussetzungen homogenisiert. Eine Homogenisierung
ist Voraussetzung für eine angestrebte Heterogenisierung, denn die
Unterscheidung guter und schlech-
Bücher zum Thema
ter Leistungen setzt auf eine Abweichungsverstärkung (N. Luhmann:
Die Homogenisierung des Anfangs.
Zur Ausdifferenzierung der Schulerziehung; K.E. Schorr: Erziehung
als Periode. Über die Organisation
von Anfang und Ende). Die pädagogische Ausfüllung der Festlegungen macht die Urheberschaft
der Pädagogik undurchsichtig. Zielvorstellungen, Sinnzuweisungen und
eine technologische Gestaltung von
Lernprozessen - „Fallen“ - bewegen
sich in zum Teil traditionell besetzten festen Schemata, die einen Einblick in die allererst erzeugte Periodisierung von Erziehung verdecken.
Die segmentierten Kontexte werden
so mit integrierten Kontexten verwechselt (vgl. auch J. Oelkers:
Vollendung. Theologische Spuren
im pädagogischen Denken). Auch
wird leicht durch eine traditionsbezogene Kennzeichnung von Ausbildungsprozessen deren funktionale
Einbindung undeutlich (K. Harney:
Zum Beginn von Anfang und Ende.
Tradition und Kontingenz der Berufsausbildung am Beispiel schwerindustrieller Betriebsformen).
Aus Luhmanns und Schorrs Sicht
ist die Pädagogik dem Problem einer paradoxen Festlegung von Anfängen nicht gewachsen. Sie überschätzt die Reichweite einer Periodisierung des sozialen Geschehens,
aber „eine Funktionsorientierung ist
mit der Willkür des Anfangs der
Prozesse kompatibel. Sie nimmt etwas zur Kenntnis, 'sofern' es für sie
relevant ist“. Neigen nun die Pädagogen und die Erziehungstheoretiker dazu, das nicht zu sehen, und
gehört dies gerade zu ihrer Funktion, bleibt der Frage nachzugehen
mit welchen Absichten und Erwartungen die systemtheoretischen Fragen an die Pädagogik gerichtet sind.
Luhmann vermutet, daß die
undurchsichtige „Einschnitthaftigkeit“ bislang undurchschaute Folgen
hat, „über die die Pädagogenschaft
Rechnung ablegen kann - oder jedenfalls Rechenschaft ablegen sollte“. Kann sie das, wenn die Paradoxie der Festlegungen mit zur Funktion der Pädagogenschaft im
Erziehungssystem gehört? Luhmann und Schorr schreiben, daß
bisher im „Schulleben“ keine „nennenswerten Rückwärtskorrekturen“
auszumachen seien, „so daß die Geschichte anders erzählt wird, als sie
stattgefunden hat“. Selbst eine
Vorwegnahme von Zynismusvorwürfen müßte mit der Möglichkeit
einer Verunsicherung von Selbstzuweisungen der Pädagogenschaft
rechnen. Bei der offengelassenen
Frage nach einer folgenreichen Resonanz der Überlegungen kann es
aber nicht nur um eine Bereitschaft
der Pädagogen zur Reflexion oder
um die Barrieren ihrer Einbindung
in das Erziehungssystem gehen. Der
Hinweis auf eine Paradoxie der
Festlegungen von Anfang und Ende
geht auf die systemtheoretische Operation mit einer Unterscheidung
zurück und damit auf die Grundla-
gen der allgemeinen Theorie sozialer Systeme. Eine das eigene Tun
auf dieser Ebene reflektierende Pädagogenschaft müßte immerhin solche Grundlagen teilen und von ihnen ausgehen. Eine weiterführende
Erörterung hätte sich zunächst mit
den system- und damit auch theoriebezogenen Immanenzansprüchen
der Systemtheorie zu beschäftigen.
Ignaz Knips
Jean-Francois Lyotard
Die Mauer, der Golf und die
Sonne. Eine Fabel
Wien 1991 (Passagen-Verlag), br.,
38 S., 12,80 DM.
Auf das Scheitern der großen Erzählungen des Christentums oder
der Aufklärung folgen die kleinen
Erzählungen, die Fabeln. Die Fabel,
die Lyotard erzählt, will informell
und unaufdringlich sein: ein Traum,
den die postmoderne Welt über sich
selbst träumt. Und vor allem: ihr
Held ist nicht mehr der Mensch.
Ein Teil der Fabel trägt die Überschrift „Sonne“ und beginnt mit der
Entstehung der Galaxien, der
Milchstraße und unseres Sonnensystems. Sie fährt fort mit der Urgeschichte der Erde, mit der Entstehung der Zellen, ihrer Differenzierung,
ihrer
Fähigkeit
zur
Selbstreproduktion und der Entstehung von Pflanze, Tier und
Mensch. Sprache, Reflexion und die
Entwicklung materieller Techniken
ermöglichen den Fortschritt der
menschlichen Gesellschaft über die
neolithische und die industrielle Revolution zum Sieg der liberalen
Demokratie. Mit ihr ist die soziale
Evolution abgeschlossen. Nichts
kann ihr Ende herbeiführen als das
Verglühen der Sonne, das eines Tages die Existenz des Menschen überhaupt auszulöschen droht. Auf
der Grundlage der liberalen Demokratie wird daher die wissenschaftliche Forschung vorzüglich dem
Problem gewidmet, den Menschen
so anzupassen, daß sein Gehirn
auch nach dem Ende unseres Sonnensystems fähig bleibt, mit den im
Kosmos verbleibenden Energieformen zu arbeiten. Hier endet die
Fabel. „Wie der Mensch und 'sein'
Gehirn, oder besser das Gehirn und
sein Mensch am Tage dieser letzten
irdischen Herausforderung aussehen werden, erzählt die Geschichte
nicht.“ (S.38).
Der Fall der Berliner Mauer und der
Golfkrieg rangieren in dieser Fabel
selbstredend nur als Marginalien
oder „Zwischenfälle“. Sie tragen
durch das Zurückdrängen bürokratischer Staatsformen bzw. durch eine verbesserte Kontrolle über fremde Energiequellen dazu bei, den
Sieg der liberalen Demokratie zu
befestigen. „Mauer“ steht nicht nur
für den Untergang des realen
Sozialismus, sondern auch für den
Fall der marxistischen Theorie mit
ihrem Mythos des Proletariats als
eines autonomen, kollektiven Sub-
Bücher zum Thema
jekts. „Golf“ dagegen repräsentiert
das Ende der religiösen, fundamentalistischen Begründung staatliche
Autorität. In modernen oder postmodernen Systemen ist Autorität
eine Sache des Arguments, das bestimmten Individuen oder Gruppen
auf Zeit delegiert wird, also weder
der staatlichen Bürokratie noch der
Religion. In ihnen herrscht Offenheit und diese Offenheit steigert ihre Leistungsfähigkeit. Geschlossenheit und Isolation dagegen lassen
ein System im Wettkampf unterliegen oder der Entropie verfallen.
„Mauer“ und „Golf“ symbolisieren
so das Scheitern falscher Alternativen zur liberalen Demokratie.
Lyotard entwickelt seine Analyse in
Frontstellung zur liberalen und der
marxistischen Analyse; beide scheinen ihm der gegenwärtigen Situation nicht gerecht zu werden (S.25).
Das mag allerdings auch daran liegen, daß sich bei einer Perspektive,
die vom Urknall bis zum Verglimmen unseres Sonnensystems reicht,
die Konturen für geschichtliche Ereignisse oder Theorien etwas verwischen. Liberale Theorie erscheint
von dieser erhabenen Warte aus als
gleichbedeutend mit amerikanischer
Propaganda (Saddam Hussein = Tyrann, Araber = hysterische Fanatiker), marxistische Theorie als
gleichbedeutend mit der Ideologie
Breschnews (Dritte Welt im Kampf
gegen den Imperialismus = Proletariat). Eine differenziertere ZurKenntnisnahme geschweige denn
Auseinandersetzung mit beiden
Theorien und ihren Analysen der
Gegenwart findet nicht statt.
Mit seiner Fabel kehrt Lyotard nach
eigener Aussage zur politischen Kritik der 50er und 60er Jahre zurück,
zur sog. „Situationsanalyse“, wie er
sie gemeinsam mit Cornelius Castoriades und Claude Lefort innerhalb
des Projekts „Socialisme ou Barbarie“ betrieben hat. Situationsanalyse
hieß damals: aus der Analyse einzelner, bedeutender Ereignisse ein zutreffendes Bild der Welt zu formulieren, das auch eine Perspektive politischen Handelns ermöglichen
sollte. Zugleich macht Lyotard deutlich, was sich seit damals geändert
hat, nämlich die Zielrichtung. Die
Praxis des Intellektuellen ist heute
wesentlich die Theorie. Noch immer geht es um die Rechte von
Minderheiten, von Frauen, Homosexuellen, um die Interessen der
Armen oder der Dritten Welt. Die
Mittel aber, die dafür eingesetzt
werden, sind nurmehr das geschriebene Wort, die Unterschrift unter
Petitionen, die Organisation von
Konferenzen, der Beitritt zu Kommitees etc.
Das Ziel, das die Intellektuellen verfolgen, bezeichnet Lyotard nach wie
vor mit dem Begriff der Emanzipation. Doch auch hier ist die Zielrichtung eine andere geworden. Einerseits ist Emanzipation nicht
mehr das eine Ziel, sondern ein Ziel
unter vielen. Es kann, wenn überhaupt, nur noch in den vielen Un-
terbereichen der Arbeit, Sexualität,
Rasse, Kultur etc. verwirklicht werden. Darin liegt gegenüber dem früheren Utopismus sicher eine bedeutende Wende zur Realität. Andererseits
erschöpft
sich
die
Emanzipation für Lyotard aber auch
in den Grenzen der bestehenden
Verhältnisse. Die Gesellschaft muß
nicht mehr verändert, sie muß nur
ihren eigenen Möglichkeiten entsprechend entwickelt werden. Damit vollzieht sich bei den Intellektuellen ein Wechsel von einer offensiven zu einer defensiven Strategie.
Die Energie, die für eine defensive
Strategie benötigt wird, beträgt nach
Clausewitz nur ein Siebentel der offensiven. Ob dabei aber, wie Lyotard behauptet, der Effekt der gleiche bleibt, möchte ich bezweifeln.
Konrad Lotter
Roberto Ohrt
Phantom Avantgarde. Eine Geschichte der Situationistischen
Internationale und der modernen
Kunst
Hamburg 1990 (Edition Nautilus)
geb., 336 S. (200 S/W-Abbildungen
und 16 Farbtafeln), 88.- DM.
Der Versuch einer Bestimmung des
gesellschaftlichen Orts des Intellektuellen ist unabdingbar mit den Antinomien der modernen Kunst verknüpft. Kritische Theorie der Gesellschaft und Selbstverständnis der
modernen Kunst vermitteln sich in
der Konzeption der Kunst als Antithese zum ökonomisch-technischen
Verdinglichungszusammenhang in
dessen Destruktion die Utopie eines
dysfunktionalen, repressionsfreien
Lebens aufscheint.
Aus heutiger Sicht scheint dieses
Postulat zwar nicht eingelöst, aber
gesellschaftlich eingeholt worden zu
sein: Kunst als Korrektiv gesellschaftlicher Entfremdung ist inzwischen zum allgemein akzeptierten
und
praktizierten
sozialtherapeutischen Programm erhoben
und in das Selbstverständnis einer
universellen Angestelltenmentalität
eingegangen. Die offizielle Kunst
wiederum scheint gegenwärtig - polemisch zugespitzt - zwischen den
Polen ihrer Selbstauflösung durch
Selbstverramschung und einer spektakulär inszenierten Re-auratisierung
zu changieren.
Gegen falsche Aufhebungen und
Verlebendigungszwänge wie gleichermaßen gegen „Strategien des
Vergessens“ und voreilige Verabschiedungen kann eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der
modernen Kunst in mehrfacher
Hinsicht erhellend sein: Sowohl um
die historische Vermitteltheit der
Gegenwart aufzuweisen, als auch,
um in einem Prozeß forschender
Erinnerung unabgegoltene subversive Potentiale freizulegen.
Die von dem Hamburger Kunsthistoriker Roberto Ohrt vorgelegte
„Geschichte der Situationistischen
Internationale“ bietet hierfür wich-
Bücher zum Thema
tige Anregungungen. In dem sorgfältig recherchierten, auf umfangreichen Quellenstudien - die auch Resultate von Gesprächen mit noch
lebenden Akteuren einbeziehen beruhenden Werk, das sich als „kritische Chronologie“ versteht, rekonstruiert der Autor die Genesis
der SI im historischen Kontext der
modernen Kunst. Die kritische
Wiederanknüpfung der Nachkriegskunst an den Formationen der klassischen Avantgarde, des Dadaismus
und Surrealismus fand ihren Ausdruck im Lettrismus, dem Guy Debord, der wichtigste Protagonist der
SI entstammt. Den Lettrismus
charakterisieren typische Momente
der künstlerischen Avantgarde: das
seismographische Reagieren auf die
gesellschaftliche und technologische
Entwicklung und als dessen Folge
die theoretisch reflektierte, radikale
Destruktion des tradierten Kunstbegriffs; die Erweiterung des künstlerischen Aktionsfeldes unter Einbeziehung der technischen Medien,
insbesondere des Films; die Motive
des Chocs, der Verfremdung und
Dekonstruktion, der gezielten Provokation, des Urbanismus etc. Die
zweite wichtige künstlerische Bewegung, aus der sich die SI konstituierte, war die Malergruppe COBRA,
deren Protagonisten Asger Jorn und
Constant in der SI den Gegenpol zu
Debord bildeten.
Die Grundintention der SI bestimmt sich als die Transponierung
des experimentellen Charakters der
Kunst auf das Alltagsleben, um dessen Veränderung und Revolutionierung durch Verflüssigung und Aufsprengen festgefügter Strukturen zu
bewirken. „Das Ziel der Situationisten ist die unmittelbare Beteiligung an einem Überfluß der Leidenschaften im Leben durch die
Umwandlung vergänglicher, mit
voller Absicht gestalteter Momente.
Das Gelingen dieser Momente kann
nur in ihrer vorübergehenden Wirkung bestehen. Die Situationisten
stellen sich die kulturelle Aktivität aus dem Blickpunkt der Totalität als eine Methode der experimentellen Konstruktion des alltäglichen
Lebens vor, die mit der Ausdehnung der Freizeit und der Abschaffung der Arbeitsteilung (angefangen
bei der Teilung der künstlerischen
Arbeit) permanent entwickelt werden kann“ (176).
Die SI verstand sich so als Erweiterung der kommunistischen Revolutionierung der Produktionsverhältnisse. Der zentrale Gedanke der
permanenten Veränderung des Alltagslebens manifestiert sich im Programm des Drive, des Umherschweifens und sich von selbst erzeugten Situationen überraschen zu
lassen. Die SI, die von 1958 bis
1972 existierte, scheiterte schließlich
an der für die künstlerische Avantgarde charakteristischen Antinomie
zwischen intendierter Selbstaufhebung in politischer Praxis und dem
Anspruch, durch Überhöhung der
Kunst, die Gesellschaft revolutio-
nieren zu können. Die auf hohem
reflexiven Niveau ausgetragene
Auseinandersetzung zwischen politischem
Aktionismus
und
experimenteller Kunst führte in
letzter Konsequenz zum Ausschluß
von Kunst und Künstlern.
Die unterirdische Wirkungsgeschichte der SI in den sozialen und
kulturellen Revolten reicht jedoch
von der 68-er Revolution bis hin zur
Punkbewegung und den urbanen
Subkulturen der Gegenwart. Eine
ausführliche Berücksichtigung erfährt in dem vorliegenden Buch
auch die Münchner Sektion der SI,
die Gruppe SPUR, deren Einfluß
über die SUBVERSIVE AKTION
bis hin zur KOMMUNE I sich erstreckt.
Das gut geschriebene und spannend
zu lesende Buch vermittelt so ein
komplexes Bild der modernen
Nachkriegskunst. Der philosophisch
interessierte Leser hätte sich an
manchen Stellen eine intensivere
Diskussion der Konzeptionen der
SI im Kontext des gegenwärtigen
ästhetischen Diskurses gewünscht,
zumal die Verbindungslinien bis hin
zur französischen Philosophie der
Gegenwart reichen. Immerhin werden die Berührungspunkte und
Auseinandersetzungen mit H. Lefébvre oder Socialisme ou Barbarie
angedeutet.
Als Ergänzung zum Buch Ohrts sei
auf die ebenfalls von der Edition
Nautilus verlegten diversen Text-
sammlungen der SI und die Schriften ihrer Protagonisten hingewiesen.
Georg Koch
Heinz Paetzold
Profile der Ästhetik. Der Status
von Kunst und Architektur in der
Postmoderne
Wien 1990 (Passagen Verlag), 263
S., 64.- DM.
Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der konzeptionellen
Kunst der Gegenwart, Stuttgart
1990 (Franz Steiner Verlag), 170 S.,
29.- DM.
Die Ästhetik hat als philosophische
Disziplin seit ihrer systematischen
Formulierung durch Baumgarten
eine maßgebliche Funktion in der
Philosophie der Moderne eingenommen. Kant sprach ihr in der
Kritik der Urteilskraft ein bindendes
Moment zwischen der reinen und
praktischen Vernunft zu; bei Hegel
nimmt die ästhetische Reflexion zuerst Bezug auf einen ausgewiesenen
Werkbegriff: der Kunst der Poesie
folgt in seinem System des Weltgeistes nur noch die Philosophie selbst.
Im 20.Jh. entwickelte Adorno mit
seiner Ästhetischen Theorie als letzter eine umfassende systematische
Ästhetik, wenngleich sich bei ihm
auch schon abzeichnet, daß sich Ästhetik antisystematisch zur Philosophie verhalten muß, damit eine ästhetische Rationalität die wesentli-
Bücher zum Thema
che vermittelnde Rolle einer kritischen Reflexion auf das gesellschaftliche Ganze übernehmen
kann; gleichzeitig nennt eine ästhetische
Rationalität
die
Ausdrucksmöglichkeit des Leidens. Hier
zielt Ästhetik noch auf einen höheren Sinn, auf Wahrheit im Kunstwerk, und ist Statthalterin eines kritischen Philosophierens. Adornos
Spätwerk repräsentierte bislang den
Schluß moderner Ästhetik. Die Dekonstruktion dieses Theorems
durch die Postmoderne, die sich
weder um den Sinn eines Kunstwerkes, noch um einen kritischen
Gehalt schert, setzt mit der Reformulierung der Ästhetik des Erhabenen der Moderne eine affirmative
Ästhetik (Lyotard) entgegen. Gegen
diese eher verfahrene ÄsthetikDebatte stehen die beiden neuen
Bücher Paetzolds, die ineinander
verzahnt sind und deswegen hier
nicht nur zusammen rezensiert werden, sondern auch zusammen gelesen werden sollten. Er unternimmt
es, die Ästhetik auf der Folie der
Postmoderne neu zu begründen,
ohne auf ein modernes Kritikpotential zu verzichten. Focus der Paetzoldschen Ästhetik bleibt im Kern
eine kritische Theorie, die ihre Aktualität aus der immer noch vom
Kapitalgesetz durchdrungenen Welt
zieht. Hier greift eine Ästhetik ein,
die Paetzold sogar als Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht
formulieren will. „Indem die Philosophie auf die Ästhetik achtet, er-
hält ihr Vermögen zur immanenten
Kritik, welche bei den bestehenden
Institutionen ansetzt, zugleich auch
die Kraft des verfremdenden Blickes 'von außen'.“ (PdÄ, S.230) Im
Sinne einer Reflexion auf den Zusammenhang von Kunst, Ästhetik
und Philosophie rekonstruiert Paetzold die philosophische Ästhetik
historisch: eine Bewußtseinsphilosophie, die seit der kommunikationstheoretischen Wende keine umfassende kritische Theorie mehr begründen kann, wird durch das in ihr
vernachlässigte Element einer ästhetischen Rationalität erweitert: das
Kantische Paradigma des Bewußtseins, durch Apel im Rückgriff auf
Pierce durch eine konsistente Zeicheninterpretation ersetzt, wird von
Paetzold „im Zeichen der Ästhetik
noch einmal transformiert“ (ÄdnM,
S.16). Das transformatorische Hinzufügen einer Ästhetik führt Paetzold auf einen sowohl bei Kant wie
auch bei Apel fehlenden Bereich der
sinnlich-leiblichen Reflexion, der
nun im Zuge einer Merleau-Pontyschen Phänomenologie der Wahrnehmung und einer weitgehend an
Plessner anknüpfenden Anthropologie als Ästheseologie zum Tragen
kommt. Die Leiblichkeit des Menschen analysiert Paetzold aber nicht
nur bezüglich der sinnlichen Wahrnehmung philosophisch, wo der
Leib „Gesichtspunkt der Welt“ ist
(Merleau-Ponty), sondern kunsttheoretisch aus der zeitgenössischen
Kunst selbst: mit Künstlern wie
Rainer Joachims, Joseph Beuys oder
Willem de Kooning, denen Paetzold
sich in Ästhetik der neueren Moderne werkanalytisch zuwendet, ist
ein Bruch der Moderne vollzogen,
wo Kunst wieder einen gesellschaftlichen Stellenwert bekommt, indem
im Werk der leibliche Standpunkt
des Rezipienten, also seine Wahrnehmungsstruktur,
aufgegriffen
wird. Eine derart über die Phänomenologie angereicherte ästhetische
Reflexion stellt schließlich auch
nicht mehr die Frage, was Kunst ist,
sondern wann Kunst ist (vgl. PdÄ,
S.230): In dem Maß, wie Kunst in
die ästhetische Reflexion eingreift,
sie auffordert, wird diese Frage beantwortet. Zusammengefaßt wird
diese Antwort durch den Begriff der
Konzeption. Der Konzeptionsbegriff leitet sich in seiner Affinität zum
Heideggerschen Begriff des Entwurfs, der neuerdings auch in der
Moraltheorie mit ähnlich ästhetischen Konnotationen neu diskutiert
wird, aus den Künstlerästhetiken ab
und nicht nur aus der Philosophie:
Am Beispiel von van Gogh macht
Paetzold deutlich, daß eine Reaktualisierung moderner Ästhetik auch
mit einem Abschied vom emphatischen Werkbegriff verbunden sein
muß und gleichsam die Künstlerbiographie in ihrer Begründung
zu berücksichtigen hat. „Die Konzeption ist das, was den produktiven
bildnerischen Gestaltungsvorgang
intuitiv lenkt“ (PdÄ, S.15). Eine über den Konzeptionsbegriff entfal-
tete Kunst „muß einerseits die
Selbstbegründung der Kunst übernehmen, andererseits muß sie zu einer erwogenen Festlegung von
Formen und bildnerischen Mitteln
gelangen“ (ÄdnM, S.69). Die auf
diese Werke reflektierende Wahrnehmung ist von ihrem Charakter
her eine „durch die Sinne angereizte
Dauerreflexion“ (ÄdnM, S.71), unbegrenzt und enthält ein Steigerungsmoment, das sich in der
Kunstform begründet. Statt einer
Hierarchisierung der Künste, wie
etwa bei Hegel oder Schopenhauer,
bestimmt sich der reflexive Gehalt
von konzeptioneller Kunst über ihren sozialen Wirkungsgrad. Für
Paetzold rücken damit nicht nur die
zum Beispiel an die Ökologiebewegungen anknüpfenden Künste in
den Vordergrund, sondern auch die
Architektur, die innerhalb des Urbanen Lebenszusammenhänge der
Menschen nachhaltig bestimmt. Gerade bezüglich der Architektur
wendet sich Paetzold vehement gegen eine postmoderne Beliebigkeit,
hält der Postmoderne aber ihre Heterogenität zugute, die sich in der
Städteplanung als ein kritischer Regionalismus bemerkbar macht. Das
Wohnen der Menschen, was noch
einmal ihre Leibgebundenheit unterstreicht, in das Blickfeld einer ästhetischen Theorie zu rücken, verschärft eine Ästhetik, die mit dem
Konzeptbegriff arbeitet, zum politischen Programm. So bleibt Ästhetik
nicht länger nur die theoretische Re-
Bücher zum Thema
flexion, sondern fordert ihr kritische
Potential gerade auch über Praxiszusammenhänge ein: diesmal ist
es nämlich die Lebenspraxis, und
nicht wie bei Adorno die Theorie,
über die eine sich gegenseitig bedingende philosophische Ästhetik und
Kunstproduktion sich geltend machen. Gerade mit dem Blick auf die
Praxis gelangen schließlich auch
Theoretiker der Moderne zu ihrem
Recht, die in kritischer Absicht
schon längst diagnostizierten, was
die Postmoderne erst Jahre später
als vermeintliches Novum explizierte: daß durch die ästhetischen Sensibilisierungen politischer Bewegungen nicht nur Folgen für die Kunst
zu erwarten sind, sondern auch für
das gesellschaftliche Leben - Marcuse etwa steht Lyotard hier in Nichts
nach; schließlich haben wir es in der
zeitgenössischen Kunst mit Konzeptionen zu tun, die in ihrer avantgardistischen Praxis den Rezipienten zum Entwurf einer „individuell und kollektiv gleichermaßen
sinnvollen Lebenspraxis“ (ÄdnM,
S.158) befähigen, um es mit Paetzolds Beuys-Interpretation zu sagen.
Roger Behrens
Wolfgang Pohrt
Der Weg zur inneren Einheit.
Elemente
des
Massenbewußtseins BRD 1990
Hamburg 1991 (Konkret Literatur
Verlag), 317 S., 36.- DM.
Mit der Vereinigung von BRD und
DDR im Jahre 1990 zu einem gemeinsamen Staat ist in Europa unwiderruflich eine neue Zeit angebrochen, die nach modifizierten
Analysen verlangt. Aus der großen
Anzahl von mehr oder weniger wissenschaftlich angehauchten Veröffentlichungen über diese Umbruchszeit sticht die Studie von
Wolfgang Pohrt über den Weg der
Deutschen zur inneren Einheit besonders hervor. Seine auferlegte
Enthaltsamkeit, sich dem häufig allzuschnell abgegebenen Einschätzungs- und Schlußfolgerungskanon
der meisten wissenschaftlichen Publikationen zum Zeitgeschehen anzuschließen, läßt ihn, der bisher vorwiegend durch polemische und demagogische Pamphlete und Essays
hervorgetreten ist, im Vergleich zur
professionellen Zunft der Sozialund
GeisteswissenschaftlerInnen
geradezu seriös wirken. Angeregt
von Adornos Studie zum autoritären Charakter, legt Pohrt die
Untersuchungsergebnisse seiner im
Auftrag der Hamburger Stiftung zur
Förderung von Wissenschaft und
Kultur durchgeführten Ein-MannStudie über den Bewußtseinszustand der Deutschen nach der
Einigung einem größeren Publikum
vor.
Der gewöhnlich nicht gerade von
Selbstzweifeln geplagte Pohrt, der
der bundesrepublikanischen Linken
seit der Zeit der Friedensbewegung
einen Hang zum Nationalistischen
und Totalitären bescheinigte, fällt in
seinem neuen Buch geradezu durch
seine nüchterne, ja ernüchternde
Art zu schreiben auf. Waren seine
früheren Verlautbarungen von seiner Haßliebe zu dem, was in linken
Kreisen allgemein als Bewegung
begriffen wurde, gekennzeichnet, so
scheint es, als sei diesem Verhältnis
jetzt die sezierende Kühle des distanzierten Beobachters gewichen.
Von dieser neuen Position aus greift
Pohrt auch sofort diejenige Berufssparte an, die sich sonst in dieser
Rolle gefällt, die Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen.
Die Fragen der Zeit aufgrund umfangreichen Datenmaterials zu beantworten, dies wäre eigentlich ihre
Aufgabe. Aber sie können es nicht,
„weil die Wissenschaft das geduldige Opfer mag, am liebsten ein gut
abgekühlte Leiche.“ (S.16) Pohrt
will keinen Obduktionsbericht abliefern, sondern die Lebendigkeit eines
Möglichkeiten schaffenden Prozesses dokumentieren, indem er wissenschaftliche Arbeit und Essay
miteinander verbindet. Zwar steht
der empirische Teil (Tabellen und
Interpretationen) seiner Studie auf
etwas dünnem Boden, aber es gelingt ihm, hierfür einen adäquaten
Ausgleich zu schaffen. In seinen
vorweg gegebenen Erläuterungen
zum Untersuchungskonzept, zur
politischen Lage Anfang 1990, zur
endgültigen Testversion und zu den
Gesprächsprotokollen wie auch in
den essayistisch vorgetragenen
Schlußfolgerungen im Anhang sorgt
die Eindringlichkeit, mit der Pohrt
seine Beobachtungen über die Bewußtseinslage der Deutschen darlegt, für die nötige Absicherung seiner empirischen Befunde.
All dies läßt die Studie aus den üblichen, nach funktionalen Kriterien
und in einer techno-rationalen Sprache abgefaßten sozial- und geisteswissenschaftlichen Arbeiten hervortreten und macht ihre Lektüre
spannend. Die Art der Fragestellung
und die Verwendung der schon bei
Adorno wichtigen Likert-Skala für
die Beantwortung der Fragen lassen
den Leser selbst in Versuchung geraten, Antworten zu geben. Pohrts
Absicht herauszufinden, ob der
spezifische Nationalcharakter der
Deutschen eine Disposition für faschistisches Denken als Gemütsbewegung aufweist, erfährt der Leser
so beispielhaft am eigenen Denken.
Dies sollte zum Schaudern zwingen,
denn, wie Pohrt eindringlich nachweisen kann, diese Disposition existiert nicht nur bei anderen, sondern
auch bei einem selbst. Einzig der
Feind und der Führer würden noch
fehlen, meint Pohrt, um sie in entsprechende
zielgerichtete
Handlungsperspektiven einmünden
zu lassen. Aus dieser pessimistischen Einschätzung heraus verfolgt
der Autor mit seiner Studie auch
nicht den Zweck, „die Wiederkehr
des
Faschismus
als
Gemütsbewegung zu verhindern“,
sondern „im Falle eines Falles vielleicht wenigstens die Wiederholung
Bücher zum Thema
Wiederholung jenes Antifaschismus
aus der Weimarer Zeit, welcher die
Ressentiments seines Gegners in die
eigene Propaganda übernahm, sich
selber als den besseren Vaterlandsretter empfahl und damit auch noch
den letzten Zauderer den Nazis in
die Arme treiben mußte.“ (S.20) Die
von politischer Seite zu hörenden
Verlautbarungen zu den jüngsten
Ausschreitungen und Pogromen gegen alle, die als Nicht-Deutsche bestimmt werden, läßt da allerdings
Schlimmes ahnen. Die Lektüre von
Pohrts Studie wird angesichts dieser
Verhältnisse zu einem regelrechten
Muß, da sie Warnung und Hinweis
für das ist, was die Vereinigung
möglicherweise bei den Deutschen
schon entfesselt hat.
Roland Drubig
W. Prinz und P. Weingart (Hg.)
Die sogenannten Geisteswissenschaften: Innenansichten
Frankfurt 1990 (stw), 487 S., 28.DM.
Die im Band veröffentlichten Beiträge sind überarbeitete Vorträge,
die im Rahmen einer Tagungsreihe
1987/88 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld
gehalten wurden. Diese „Innenansichten“ sind Teil einer umfangreichen Erhebung zum „Status der
Geisteswissenschaften“, die vom
Bundesministerium für Forschung
und Technologie gefördert wird.
Betrachtungen der „Außenansichten“ sollen noch erscheinen.
Aufgeteilt ist der Band in vier Bereiche mit jeweils mehreren Aufsätzen
von (west-) deutschen Wissenschaftlern zu den Themen Geschichte (1), Sprache, Literatur und
Kunst (2), Ferne Kulturen (3) und
Philosophie (4), dem einleitende
Bemerkungen der Herausgeber vorangestellt sind. Ziel der Tagung war
es, mittels einer Bestandsaufnahme
„nicht nur eine Diagnose der aktuellen Lage der Fächer“ abzugeben,
sondern „ebenso eine Analyse wesentlicher Trends ihrer jüngeren
und jüngsten Entwicklung. Als
Zeithorizont wurde dabei der Zeitraum nach 1945 vorgegeben. Unter
Situation der Forschung wurde ebenso ausdrücklich zweierlei verstanden: zum einen die Entwicklung
der Forschung selbst, d.h. ihres Gegenstandes und ihrer theoretischen
und und methodischen Bestände
und zum anderen die Entwicklung
der Forschung selbst, d.h. insbesondere des politischen und institutionellen Kontextes, in dem Forschung stattfindet, aber auch der
Bildungs- und Ausbildungsfunktion
der Fächer und der damit zusamenhängenden Erwartung der Öffentlichkeit.“ (Aus dem Vorwort der
Herausgeber)
Die insgesamt 31 Artikel von Wissenschaftlern/Innen unterschiedlicher Generationen - die ältesten unter ihnen sind in den zwanziger Jahren, die jüngsten in den fünfziger
Jahren geboren - erfüllen das erklärte erste Ziel (Entwicklung der Forschung) mit mehr (Kocka, Schnädelbach) oder weniger (z.b. Möhlig)
Bravour. Warum man nach dem politischen Kontext explizit fragt und
dann doch so gut wie kein Wort
darüber verliert oder höchstens zwischen den Zeilen etwas andeutet,
bleibt schleierhaft. Freilich ist man
als Leser dankbar, mittels der so offenkundigen Diskrepanz von Vorgabe und Beitrag eine eben doch
politische Aussage zu erhalten: man
bescheidet sich im Glück, noch arbeiten zu dürfen (schließlich sind
die Geisteswissenschaften ja ins Gerede gekommen, wie die Herausgeber anmerken) und gibt sich naiv
bis feige. Von Offensive einer gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber, die den Geisteswissenschaftlern langsam aber sicher das Wasser
abgräbt, ist keine Rede, wo man
doch grad so schön internationalen
Standard wieder erreicht hat, wie einige Autoren nicht müde werden zu
behaupten. Dabei wäre die Jahreszahl 1945 doch Menetekel genug,
um einige Gedanken auf den Zusammenhang von Politik und eigenem Wissenschaftsverständnis zu
verschwenden und wo doch auch
einige Autoren auf die fatale Kontinuität der wissenschaftlichen Arbeit
von vor 1945 und danach hinweisen. Man gesteht für „damals“
durchaus Defizite und beklagt den
Niveauverlust der deutschen Geisteswissenschaften durch Mord und
Exil. Auch die Reaktionsweise auf
die Katastrophe, das Schwören auf
Objektivität, wird kritisch gesehen,
und doch gewinnt man den Eindruck, die Katastrophe geschah nur
außerhalb der Universitäten, und die
Geisteswissenschaften hätten damals so recht eigentlich nichts damit
zu tun gehabt. Mir steht es fern, ein
unzulässiges
Gleichheitszeichen
zwischen der politischen Situation
damals und heute zu setzen, festgehalten werden muß aber, daß
auch heute (so wie damals) auf eine
politische und gesellschaftliche
Entwicklung nicht reagiert wird,
weil es einen scheinbar nichts angeht. Der Elfenbeinturm scheint luxussaniert worden zu sein, zwischen
Gesellschaft und Politik einerseits
und den Geisteswissenschaften andererseits gibt es kaum einen Zusammenhang, außer der mit Stolz
und auch Unbehagen festgestellten
Tatsache, daß man sich denn doch
manchmal fragt, was aus denen
wohl werden soll. Die Herren und
die Dame (Geschlechterverhältnis
30 zu 1) geben unterschwellig die
Antwort, so schlimm kann es ja gar
nicht sein, es hat sich noch niemand
so richtig beschwert, und aus ihnen
selbst ist ja schließlich auch etwas
geworden, im günstigeren Fall benannt durch die Kürzel C3 oder
noch besser C4.
Man könnte gegen diese harsche
Kritik einwenden, daß die geforderten Stellungnahmen wohl eher in
den Band „Außenansichten“ gehö-
Bücher zum Thema
ren. Die Forderung nach politischen
Rahmenbedingungen wurde aber
selbst gestellt und zielt m.E. sehr
wohl mitten hinein in die Lehr- und
Forschungspraxis. Ein Beispiel:
Wenn der Ägyptologe J. Assmann
am Ende seines Artikels erklärt, daß
der alte humanistische Standpunkt,
in den Geisteswissenschaften das
kulturelle Gedächtnis des Abendlandes aufzubewahren, einem anthropologischen Standpunkt Platz
gemacht hat, dann ist es auch nicht
abwegig, „anstelle der klassischen
Philologie ein Fach wie die Ethnologie zu den Leitwissenschaften der
heutigen Geisteswissenschaften zu
rechnen. Entsprechend größere
Aufmerksamkeit richtet sich nun
auf die Früh- und Fremdformen der
Kultur. Das Verstehen fremden
Denkens gehört zu den zentralen
philosophischen und kulturanthropologischen Fragen ...“ Dies trifft
sich vorzüglich mit den Erläuterungen, die H. Schnädelbach und R.
Bubner über den Niedergang der
philosophischen
Schulbildungen
und die neugewonnene Offenheit in
der analytischen Philosophie geben.
Aber diese neuen Chancen interdisziplinärer Zusammenarbeit gehen
nicht und dürfen nicht im akademischen Raum aufgehen. Die Geisteswissenschaftler in der sogenannten dritten Welt verwahren sich entschieden
dagegen,
mit
irgendwelchen Frühformen von
Kultur zusammengedacht zu werden. Der Dialog der europäischen
Geisteswissenschaft mit den anderen Kulturen der Welt ist nicht
mehr von oben herab zu führen.
Die immense Schwierigkeit, das Erbe der Aufklärung - z.B. die Menschenrechte - fortzuführen und
doch für neue Denkwelten offen zu
sein, löst sich nicht in der Akademie. Dies ist ein politischpraktisches Problem - diese
Menschheitstragödie ist via Medien
täglich konsumierbar -, zu dem wir
Stellung beziehen müssen und das
uns bis in die Methodologie und die
Stellenbesetzung hinein beeinflussen
wird. Daß darüber von den Wissenschaftlern nichts zu lesen ist, stimmt
pessimistisch.
Wolfgang Habermeyer
Hans Jörg Sandkühler
Demokratie des Wissens. Aufklärung, Rationalität, Menschenrechte und die Notwendigkeit
des Möglichen
Hamburg 1991, (VSA-Verlag), 179
S.,
Der Philosoph H.J. Sandkühler demonstriert unzeitgemäß Unverbesserlichkeit. Während allenthalben
Fäden geknüpft werden, um Marx
der Dekonstruktion preiszugeben,
hält Sandkühler stur dagegen. Er
übergibt Marx nicht den Schrottverwertern, sondern sucht eine „Erneuerung des Marxismus“. Eine solche könne nicht mehr an zurecht
desavouierten Dogmen über den
„Gang der Weltgeschichte“ festhalten, sondern geschehe in der Wiedererinnerung und Vergegenwärtigung des Theorietyps, dem Marx
sich selbst verpflichtet wußte, und
der in der Tradition der Aufklärung
stand.
Auch hier bürstet Sandkühler gegen
den Strich, wenn er entgegen den
allfälligen Antiaufklärungskampagnen an einem Aufklärungskonzept
festhält, das die antispekulative
Hinwendung zum empirischen Wissen mit dem praktischen Interesse
an
vernünftigen
Verhältnissen
mündiger und verantwortlich handelnder Individuen verbunden hat.
Diesem Konzept einer rationalen
Konstruktion empirischer Daten
zum Zweck der Gestaltung menschengemäßer Verhältnisse war wie Sandkühler an einer Vielzahl
von Beispielen demonstriert - der
späte,
naturund
sozialwissenschaftliche Fakten studierende Marx verpflichtet.
Doch diese Revitalisierung des
Marxschen Denkens macht nur einen Aspekt aus. Mit dem Band, der
überarbeitete Aufsätze des letzten
Jahrzehnts enthält, geht es Sandkühler allgemeiner um die Verteidigung
und die Begründung eines spezifischen Typus von Wissen, dessen
beide „Eckpunkte“ Individuum und
Vernunft sind. Individualität ohne
Vernunft wird zum Spielball undurchschauter Verhältnisse; Vernunft, ohne daß sie ihren Ort im
wissenden und sich wissenden Indi-
viduum hat, verkommt zur Rechtfertigungsinstanz politischer Herrschaft. „Demokratie des Wissens“
bedeute daher die Partizipation des
Individuums an einem Wissen, daß
sein Maß am Menschen nimmt.
Im Zentrum seines Einsatzes für
Aufklärung und Rationalität steht
die Begründung des Wissens als
Menschenrecht. Wir befinden uns
heute, so Sandkühler, in einer „globalen Krise des Wissens“. Die wissenschaftlich-technische Revolution
erweitert objektiv das Wissen der
Gattung in ungekanntem Ausmaß;
für die Subjekte aber bringt sie
Mangel an Wissen. Sie erstickt nicht
die Masse der Informationen, sondern die „rationalen Weltbilder, in
denen sich Wissen zur Einheit totalisiert, in einem chaotischen Prozeß
der zunehmenden Fragmentierung
im kognitiven System... Arbeitsteilung und Spezialisierung, Desintegration der Wissenschaften und ihre
Trennung von der Alltagskultur,
Segmentierung
gesellschaftlicher
Erfahrung und Resignation vor einer in sich bedeutungslosen Masse
an Daten vertiefen die Entfremdung
vom Wissen, das in bisher nicht gekanntem Maße für die Individuen
fiktiv wird. In der Dekonstruktion
des epistemisch-semantischen Ganzen und getrennt von der selbstreflexiven Erfahrung der Individuen,
wird Wissen zur abstrakten Möglichkeit ohne Subjekt, Sinn und Ziel.
Wissen ist so nicht mehr die subjektive Fähigkeit der Vernunft zur
Bücher zum Thema
Konstruktion der Wirklichkeit“
(S.147f).
Sandkühlers Forderung nach dem
Menschenrecht auf Wissen gründet
auf der Selbstbeschreibung des
Menschen als dem Konstrukteur einer möglichen vernunftgemäßen
Welt, der dazu einer rationalen
Weltbildsemantik bedarf. Sie klagt
Wissen als Oppositionswissen freier
Individuen zur rationalen Lebensgestaltung ein. Fehlt es, läßt sich ergänzen, werden die Menschen beherrscht von Angst und handlungslähmender
Unsicherheit,
von
individuellen wie kollektiven Irrationalismen und unverstandenen
Feindbildern. Wissen als Menschenrecht begegnet diesem Mangel.
Über das streckenweise fesselnde
Plädoyer Sandkühlers für eine zukunftsorientierte Rationalität, die die
„epistemische Frage“ in die „humane Rekonstruktion des Sozialismus“
einbezieht, möchte ich mein Bedenken nicht hintanstellen, das sich bei
der Begründung des Rechts auf
Wissen einstellt. Ist es wirklich so,
daß Wissen sich allein als Konstrukt
„nach Gesetzen unseres Geistes“
(S.149) beschreiben läßt? Es hätte
so zwar tatsächlich das Maß im
Menschen, der darin die Weltentwürfe auf ihre Kohärenz und ihre
Akzeptanz rückbezieht, und nur
darin seinen Mangel an Wissen überwindet. Aber das, was wir als
„Wissen“ bezeichnen, muß uns
doch auch eine hinreichend adäquate Kenntnis von der „Welt da drau-
ßen“ verschaffen, um unser Verhältnis in und zu ihr bestimmen zu
können. Sandkühler wendet sich zurecht gegen einen Begriff, der Wissen als „Abbildung (Widerspiegelung) einer dem Bewußtsein äußeren Wirklichkeit“ (S.149) definiert,
und insistiert zurecht auf dem Konstruktionscharakter unseres Wissens. Aber aus dieser Tatsache folgt
m.E. nicht, daß auch das Maß des
Wissens allein unser gesetzgebender
Geist ist.
Doch dieser wissenstheoretische
Vorbehalt nimmt nichts vom Respekt vor Sandkühlers Einsatz 'wider den Zeitgeist' und für die Begründung eines Typus von Rationalität, der die Gegenwart mit der
Perspektive auf Zukunft verbindet.
Das Buch eines Linken für Linke,
geschrieben gegen die Resignation.
Alexander von Pechmann
Oliver R. Scholz
Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildhafter
Darstellung
Freiburg-München 1991 (Verlag
Karl Alber, Reihe Kolleg Philosophie), kart., 198 S., 34.- DM.
Die neuen Informationstechnologien lassen die Bilder wuchern, und
die dazugehörigen Theorien scheinen ihnen auf dem Fuße zu folgen.
Digitale Bilder, Simulakren und Cyberspace bringen die letzten Vertreter einer wie auch immer gelifteten
Abbild-Theorie zum Verzweifeln
und verhelfen den Propagandisten
der Simulation zu unverdientem
Ansehen. In dem Gefecht, das nicht
zuletzt eines zwischen Sprache und
Bild, Logos und Mythos, vor allem
aber zwischen den Bildern in der
Sprache und den Mythen im Logos
ist, verdient das klärende Wort des
analytischen Philosophen einige
Aufmerksamkeit, besonders wenn
es in einer für philosophische Dissertationen selten unprätentiösen,
bisweilen gar humorvollen Sprache
daherkommt. Scholz versucht, in
Anknüpfung an Nelson Goodmans
Symboltheorie, die dieser v.a. in
„Languages of Art“ (1968) entwickelt hat, eine philosophische Bildtheorie zu erarbeiten, die sprachphilosophischen und logischen Maßstäben von Genauigkeit und innerer
Kohärenz standhält. Mit diesem lobenswerten Vorhaben geht jedoch
eine Verengung des semiotischen
Horizonts einher, die dem Buch
nicht gut bekommt.
Vor allem der erste Teil der Arbeit,
der eine ausführliche Kritik der
Ähnlichkeitstheorie und der kausalen Theorie der Bilder unternimmt,
gerät mitunter zur Spiegelfechterei.
Scholz verwirft die Ähnlichkeitstheorie, indem er nachweist, daß sie
keine hinreichenden Kriterien anzugeben vermag, die die Selektion
relevanter Eigenschaften für die
Ähnlichkeit von Bild und Objekt erlauben würden; alles ist allem „irgendwie“ ähnlich (eine Tatsache,
aus der mittelalterliche Semiotiker
ihr Kapital zu schlagen wußten).
Auf diese Art kann die Ähnlichkeitsrelation als eine „natürliche“
Abbildbeziehung destruiert werden,
nicht aber notwendigerweise auch
als
eine
regelhafte
Zeichenbeziehung. Scholz betrachtet
Ähnlichkeit und Kausalität als zweistellige Relationen zwischen Bild
und Gegenstand und fällt so einem
naturalistischen Fehlschluß anheim.
Denn Zeichen beziehen sich prinzipiell nie direkt auf ein reales Objekt,
sondern immer nur mittels ihrer
Bedeutung bzw. ihres Interpretanten, wie es die semiotische Tradition
seit Peirce formuliert. Diese Feststellung hat etwa Umberto Eco dazu geführt, in seiner Zeichentheorie
vom Referenten völlig abzusehen,
da dieser nie direkt gegeben sein
kann und somit ohne Wert für die
Semiotik ist. Doch man muß diese
radikale Folgerung nicht teilen, um
dennoch anzunehmen, daß es eine
Ähnlichkeits- bzw. Kausalrelation
zwischen Bild, Interpretant und Objekt gibt, die Bild und Gegenstand
nicht einfach kurzschließt, sondern
das Objekt nach einer Regel über
den Interpretanten konstruiert.
Wenn Bilder, wie Scholz überzeugend klarmacht, wesentlich Zeichen
sind, so müssen sie stets auch bezeichnen, daß sie bezeichnen, sie
müssen eine reflexive Struktur aufweisen. Gerhard Schönrich hat dies
jüngst in seinem Buch „Zeichenhandeln“ (Frankfurt/Main 1990)
Bücher zum Thema
eindrucksvoll gezeigt. Betrachtet
man Bilder als Dinge und sucht ihre
Ähnlichkeit mit andern Dingen herauszufinden, so ist es nicht verwunderlich, daß man in dieser Welt
von „res significantes“ weder auf
akzeptable
Ähnlichkeitskriterien
stößt noch überhaupt auf eine Zeichenbeziehung.
Damit sind die beiden grundlegenden Schwächen von Scholz' Arbeit
benannt: eine naturalistische epistemologische Haltung und ein intuitiver, nicht-reflexiver Zeichenbegriff.
Seine konzeptionellen Ausführungen zu bildhaften Zeichensystemen
und zur Pragmatik der Bildverwendung haben darunter zu leiden. So
bemüht sich der Autor vergeblich,
die fiktionalen und sonstige „ungegenständliche“ Bilder in seine Theorie zu integrieren, was für eine dreistellige Zeichenrelation ohne Probleme möglich ist. Und auch seine
Erklärung der Beziehung von „type“ und „token“, d.h. von allgemeinem Zeichen und konkretem Zeichenvorkommnis, bleibt zirkulär,
weil er sie nicht als eine regelhafte
Relation erkennt, sondern das allgemeine Zeichen aus der empirischen Ähnlichkeit (sic!) von einzelnen konkreten Zeichen herleiten
will und so die Existenz eines allgemeinen Zeichens immer schon
voraussetzen muß.
Abgesehen von diesen Mängeln in
der semiotischen Fundierung liefert
die Arbeit brauchbare Kriterien für
die Erfassung bildhafter Zeichen-
systeme. In Kontrastierung mit den
Systemen natürlicher Sprachen beschreibt Scholz sie als syntaktisch
und semantisch „dichte“ Systeme,
bei denen sowohl Signifikanten als
auch Signifikate „fließend“ ineinander übergehen; daher ist auch die
Korrelation zwischen einem Bildsystem und seinem Denotatfeld eine
kontinuierliche. Hinzu kommt eine
relative „Fülle“ und „Gedrängtheit“
des Bildsystems, d.h. in einem Bild
können prinzipiell alle Merkmale
signifikant sein und sie können jedes für sich Bedeutung tragen, im
Unterschied etwa zu den Verkehrszeichen, wo das Material und die
Größe bspw. keine signifikante Rolle spielen, und zu den natürlichen
Sprachen, wo einzelne Phoneme
zwar
bedeutungsdifferenzierend,
aber nicht bedeutungstragend sind.
Auch die Überlegungen zu einer
„Gebrauchtstheorie“ von Bildern
sind nicht ohne Wert. Scholz
schlägt vor, eine Taxonomie von
„Bildspielen“ - der Ausdruck wird
in Anlehnung an Wittgensteins Begriff des Sprachspiels gebildet - zu
erstellen, die sich die Klassifikation
der Sprechakte bei Austin und Searle zum Vorbild nimmt. Dabei hebt
er besonders die Rolle des Kontextes und der Performanz für „Bildspiele“ hervor. Zwar bleiben die
Versuche zu einer Unterteilung von
„Bildspielen“ ebenso in den Anfängen stecken wie der allzusehr am
Alltagsverstand orientierte Entwurf
einer
Stufenfolge
des
Bild-
verstehens, dennoch können sie
nützliche Anregungen für die weitere Forschung geben.
Es ist dies also durchaus kein unerfreuliches Buch: es faßt wichtige
Ergebnisse der Analyse von Bildern
auf anschauliche Weise zusammen
und zeigt Möglichkeiten der Spezifizierung von Bildtheorien auf. Eine
Integration der Bildtheorie in eine
allgemeine Semiotik jedoch, die
vom Autor intendiert ist, erfordert
eine vertiefte semiotische Grundlegung, die jenseits des Horizonts dieses Buches schon zu ansehnlichen
Ergebnissen geführt hat. Darüberhinaus wäre eine Theorie zu entwickeln, die die gesellschaftliche
Produktion und Konsumtion von
Bildern analysiert als eine Produktion von virtuellen „Wirklichkeiten“,
in denen Zeichen und Objekt zusammenfallen (Peirce hat dies in
seinem ikonischen Zeichenbegriff
schon mitgedacht). Ein solches
Vorhaben wird allerdings der Zusammenarbeit von Semiotik und
Medientheorie bedürfen.
Günter Butzer
Michael Walzer
Kritik und Gemeinsinn - Drei
Wege der Gesellschaftskritik
Berlin 1990 (Rotbuch), 26.- DM.
Michael Walzer
Zweifel und Einmischung - Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert
Frankfurt/Main 1991 (Fischer), 48.DM.
Der Zerfall des in der Tradition der
Aufklärung stehenden gesellschaftskritischen Denkens oder auch nur
des Willens dazu ist ein grundsätzliches, über mehr oder weniger akademische Diskussionen hinausreichendes Phänomen. Spätestens seit
den frühen 80er Jahren hat sich
auch im linken, wie im grünalternativen
Lager
TheorieMüdigkeit breitgemacht. Die beklagte Kopflastigkeit einstiger, immerhin noch um den Gesamtzusammenhang
gesellschaftlicher
Verhältnisse bemühter Debatten ist,
wenn inzwischen überhaupt noch
die Rede davon sein kann, einem
auf „persönliche Betroffenheit“ beruhenden Engagement im meist
unmittelbaren sozialen Umfeld der
jeweiligen Akteure gewichen. Will
man den Prognosen politischer,
publizistischer und sozialwissenschaftlicher Sympathisanten Glauben schenken, wird diese Art Engagement jedoch die Politikform der
Zukunft sein. So die Intelligenz dabei noch eine Rolle spielen will,
bleibt ihr nichts anderes, als sich
einzureihen. Wie das geht, und was
davon zu erwarten ist, zeigen die inzwischen schon fast vergessenen
Stellungnahmen während des Golfkrieges und das Niveau der gegenwärtigen Debatte um die Staatssicherheit der DDR.
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Um so erstaunlicher ist deshalb die
Tatsache, daß die Rezeption des
US-amerikanischen Sozialphilosophen Michael Walzer, der sich dieses Politik- und Kritikverständnis
exakt zu eigen gemacht hat und davon ausgehend die Arbeit der Intellektuellen zu umreißen und zu beurteilen versucht, hierzulande so lange
auf sich warten hat lassen. Obwohl
er seit 1983 mit „Gibt es einen gerechten Krieg?“ auf dem deutschen
Buchmarkt vertreten und sein Essay
„Exodus und Revolution“ bereits
1988 erschienen ist, findet er erst
dieses Jahr mit „Kritik und Gemeinsinn - drei Wege der Gesellschaftskritik“ (KuG) und „Zweifel
und Einmischung - Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert“ (ZuE) die
Beachtung in den Feuilletons der
meinungsmachenden
deutschen
Zeitungen, die er angesichts des
Zeitgeistes auch verdient.
Walzers Ideal der „national-volksnahen Kritik“ (ZuE 318ff), die sich
aus der auf dem „Wege der Interpretation“ (KuG 29ff) aufgefundenen Moralphilosophie ableitet, ist
die dem derzeitigen common sense
verpflichtete Absage an jede grundsätzliche Infragestellung gesellschaftlicher Verhältnisse und in ihrer Konsequenz Apologie. Dies
deshalb, weil sie aus der Tatsache,
daß es in jedem gesellschaftlichen
Alltag interne moralische Diskurse
gibt, auf eine nicht mehr zu hinterfragende Verpflichtung der am Diskurs beteiligten Individuen auf diese
Alltags-Moral schließt. Moral und
gesellschaftliche Wirklichkeit unterscheiden sich nach Walzer nur insofern, als diese jener grundsätzlich
hinterherhinkt (KuG 29). Kritik
darf sich ausschließlich an den deshalb zwangsläufigen Defiziten der
gesellschaftlichen Wirklichkeit festmachen, keinesfalls aber gesellschaftliche Grundlagen angreifen.
Darüber hinaus beschränkt sie sich
auf den spezifischen nationalen
Kontext dieses Diskurses, in dessen
Reflexion ausschließlich die jeweilige Nationalgeschichte einfließen soll
(ZuE 320f).
Walzers Vorstellung von Gesellschaftskritik und Moralphilosophie
ist außerdem in strengem Sinne ideologisch. Wenn Otto Kallscheuer
in seinem instruktiven Nachwort zu
„Kritik und Gemeinsinn“ den USamerikanischen „communitarism“
als die intellektuelle Tradition beschreibt, in der Michael Walzer
steht und dessen Ansatz als Votum
für demokratische Opposition im
sozialen Liberalismus eines Norbert
Bobbio beurteilt (KuG 129), so
wird klar, wie eingeschränkt Walzers
Ansatz allenfalls auf im Habermas'schen Sinne moderne, also bürgerlich demokratische, sozialstaatlich abgefederte und relativ krisenfrei
funktionierende
Gesellschaftsformationen
angewandt werden kann. Dennoch sollen die abstrakten Prinzipien jedes
moralischen Diskurses die universellen Mindeststandards „jeder
Menschengemeinde“ (KuG 34) sein
und „praktisch in jeder Menschengesellschaft Anwendung gefunden“
(ebd.) haben.
Die absurden Konsequenzen dieser
Position zeigen Walzers Essays über
elf Schriftsteller, Theoretiker und
Intellektuelle (von Julien Benda über Martin Buber, Antonio Gramsci, Ignazio Silone und George Orwell bis zu Herbert Marcuse und
Breyten Breytenbach) in „Zweifel
und Einmischung“. Exemplarisch
sollen sie an seiner Interpretation
von Albert Camus' Stellungnahmen
während des algerischen Befreiungskrieges skizziert werden. Walzer deutet dessen Verstummen angesichts der Greuel als ehrliche
Konsequenz kritischer Verbundenheit mit sowohl der französischstämmigen Bevölkerung, der
er selbst angehörte, als auch den arabischen und schwarzen Einheimischen, die mit den pieds-noirs auf
das Blutigste verfeindet waren.
„Was er (Albert Camus C.S.) nicht
akzeptieren wollte und konnte, war
die Ansicht, daß die pieds noirs
schon durch ihre Kolonialgeschichte abgewertet waren, verdammt,
ohne Hoffnung auf Erlösung“ (ZuE
207). Albert Camus' Kritik am französischen Kolonialismus geht also
nie so weit, daß er kein Verständnis
für die Forderungen der französischen Kolonialisten mehr hat. Dies
zeichnet ihn nach Walzer als einen
kritischen Intellektuellen aus, der
sich umfassend und konkret der
Wirklichkeit stellt und vor dieser
lieber kapituliert, bevor er sich und
seine vermittelnde Funktion aufgeben müßte. Im Gegensatz dazu
zeugt nach Walzer Jean Paul Sartres
und Simone de Beauvoirs entschiedenes Engagement für die algerische Befreiungsbewegung FLN und
ihre Forderung, daß sich Frankreich
sofort und bedingungslos aus Algerien zurückzuziehen habe und die
Kolonie in die Unabhängigkeit entlassen müsse, von einer „ideologisch
eingeebneten Realität: Die FLN
repräsentiert die Befreiung, die
Franzosen sind Faschisten“ (ZuE
196). Walzers weitere Kritik an Simone de Beauvoirs autobiographischen Diktum: „Das Leben der
Moslems war in meinen Augen genausoviel wert, wie das meiner
Landsleute“ (ZuE 196) demonstriert darüberhinaus an Denunziation
grenzende Implikationen seines Ansatzes. Walzer wirft ihr vor, zugunsten eines abstrakten Humanismus
das Interesse an Individuen verloren
zu haben. „In der Tat gibt es wenig
Indizien dafür, daß sie irgend ein
bestimmtes Leben besonders wichtig findet“ (ZuE 196).
Die theoretische Ursache liegt für
Walzer darin, daß Jean Paul Sartre
und Simone de Beauvoir, statt über
den ihnen als Intellektuellen eigentlich zukommenden „Weg der Interpretation“, über den „Weg der Erfindung“ (KuG 17) zur Moralphilosophie gelangt sind. Sie konstruieren
sich nach von ihnen selbst aufge-
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stellter Regeln ihre eigene Moralphilosophie und benützen sie als bewußt gewählten Maßstab außerhalb
der Gesellschaft, um die von ihnen
als schlecht erkannte Wirklichkeit zu
kritisieren. Laut Walzer ist Descartes' methodischer Zweifel Paradigma dieser theoretischen Einstellung und das cogito - und damit jede Philosophie, deren Kriterium die
Vernunft ist - das realitätsferne Resultat seiner philosophischen Erfindung (KuG 17f).
Analog dazu verläuft der „Weg der
Entdeckung“ (KuG 11ff), die dritte
Variante und religiöse Konstruktion
eines moralischen Prinzips. Wie der
Philosoph, der sich sein Prinzip außerhalb seines konkreten Lebenszusammenhanges erfindet, entdeckt
der Religionsstifter ein solches in
einem religiösen Schlüsselerlebnis
und leitet davon eine religiöse Moral
und so den Maßstab seiner Gesellschaftskritik ab.
An den oben erwähnten Besprechungen von vor allem Michael
Walzers „Zweifel und Einmischung“ überrascht die Selbstverständlichkeit, mit der die Rezensenten auf die Auseinandersetzung mit
den aufgezeigten Konsequenzen
seines Ansatzes verzichten. Stattdessen verlieren sie - exemplarisch
seien hier Axel Honneths „Universalismus und kulturelle Differenz“
(Merkur 11/91) und Klaus Naumanns „Nähe und Distanz“ (Freitag, 26.April 1991) genannt - sich
nach gut deutscher Mandarine-
Gewohnheit in der Erörterung, ob,
und wenn ja, wie Walzer trotz seines
provokativen Verzichtes auf eine
Ableitung seiner Moralphilosophie
aus einer universal verbindlichen
Metaethik auf eine solche verpflichtet werden kann, oder gar voraussetzt. Nur Stefan Breuer vermutet in
„Blinder Spiegel“ (FAZ, 24. April
1991), daß es Walzer nicht daran gelegen ist, Begriffe und Theorien
auszuloten, sondern sie ohne Analyse einfach loszuwerden. Und dann
muß natürlich noch Thomas Neumanns Rezension in Konkret 10/91
erwähnt werden. Sein Urteil, Michael Walzer spiele den Gesellschaftskritiker, um den Zensor zu verbergen, trifft den Nagel auf den Kopf,
aber das ist ja eigentlich von „traditioneller“ Ideologiekritik zu erwarten.
Christian Sebald
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