| Gesundheit | 793 Krankheiten und 1 Mittel – kann das gehen? B otox macht uns optisch jünger. Aber kann es uns vielleicht auch glücklicher machen? Aktuell sehen Forscher großes Potenzial für Botox als Mittel gegen Depressionen. Der Effekt fiel zuerst bei Patienten auf, die sich die SorgenFalten hatten glätten lassen – in diesem Fall insbesondere die Kummerfalten, die der Musculus depressor rund um den Mund verursacht und die erst seit Kurzem weggespritzt werden. Und jene „Stirnrunzler“-Falten, für die der Musculus corrugator supercilii verantwortlich zeichnet. Ärzte und Hersteller sind elektrisiert, die ersten Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse. „Wie genau die Wirkweise dabei aussieht, ist allerdings noch unklar“, so Dr. med. Stephan Pfefferkorn, Leiter der beautymed Fachklinik für Ästhetische und Plastische Chirurgie in Schwabach. Einig sind sich die Wissenschaftler, dass die Lähmung der Mimikmuskulatur wohl auch das Erleben negativer Gefühle abschwächt. Sie gehen davon aus, dass wir mit unserer Mimik Emotionen nicht nur ausdrücken, sondern über eine Feedback-Schleife auch verstärken. Legen wir die entsprechenden Muskeln nun per Giftspritze lahm, unterbrechen wir diese Rückkopplung. Angst, Ärger oder Traurigkeit, die bei Depressionen das Gefühlsleben bestimmen, lassen nach. Im Raum steht jedoch der Verdacht, dass das Gift zusätzlich direkt auf das Gehirn wirkt. Experimente haben gezeigt, dass die Amygdala, jene Gehirnregion, die für unangenehme Emotionen zuständig ist, nach einer Botox-Behandlung weniger aktiv ist. Allerdings konnten die Probanden dann Sätze mit negativem Inhalt nicht mehr so rasch verstehen. Dessen ungeachtet werden in Deutschland jährlich etwa 150 000 Anti-Falten-Behandlungen mit Botox vorgenommen. Doch für die Hersteller macht das nur noch 20 Prozent des Geschäfts aus. Denn jenseits der ästhetischen Medizin startet das Nervengift gerade durch. Botolinumtoxin („Botox“ ist nur einer von vielen Markennamen) hemmt die Übertragung von Nervenimpulsen an Muskeln. Der Muskel kann sich dann nicht mehr zusammenziehen und erschlafft. BOTOX 22 | 10/17 tv hören und sehen Foto: Xxxxxx Text: Xxxxxxxxx Das Nervengift macht Karriere. Wir kennen es als kosmetischen Faltenkiller, doch nun gilt es plötzlich als Geheimwaffe gegen verschiedene gesundheitliche Beschwerden wie Migräne, Reizblase, schwitzige Hände und zuckende Augenlider. Was hat es damit auf sich? tv hören und sehen 10/17 | 23 NÄCHTLICHER HARNDRANG* ? Von der Medizin zur Schönheit und zurück Eine Reaktion, die in der Medizin sinnvoll genutzt werden kann: 1989 erteilten die US-Behörden dem Mittel offiziell die Zulassung gegen Schielen und Lidzucken. Denn eine winzige Dosis lähmt jenen Muskel, der das schielende Auge nach innen zieht. „Dabei fiel auf, dass sich bei den behandelten Patienten auch die Falten um die Augen glätteten. Daraus ergab sich dann ab Anfang der 90er-Jahre die rasante kosmetische Karriere von Botox“, so Pfefferkorn. Und das, obwohl das Lifestylemedikament als eines der stärksten Gifte überhaupt gilt. Mit einem Esslöffel voll in der Wasserversorgung könnte man eine ganze Stadt töten. Das wäre allerdings extrem teuer. Schon die Dosis, die man braucht, um einen einzelnen Menschen ernsthaft zu gefährden – etwa 0,1 µg sind tödlich – kostet 30 000 bis 40 000 Euro. Ein glatter Erfolg Gegen etwa 30 Krankheitsbilder ist Botox in Deutschland bereits zugelassen, darunter Lidkrämpfe, Bewegungsstörungen im Nacken, übermäßiges Schwitzen (Hyperhidrose), chronische Migräne und Reizblase. Für mindestens 50 weitere wird die Zulassung aktuell angestrebt, etwa gegen nächtliches Zähneknirschen (Bruxismus). Längst aber kommt es schon bei viel mehr Beschwerden zum Einsatz – das TimeMagazine behauptete kürzlich, es seien 793. Tatsächlich hat sich Botox vor allem in der Neurologie durchgesetzt. „Bei vielen Beschwerden gilt es inzwischen als erstes Mittel der Wahl“, sagt Prof. Andrés Ceballos-Baumann, Chefarzt der Parkinson-Fachklinik und der Abteilung für Neurologie an der Schön Klinik München Schwabing. Er behandelt vor allem Parkinsonkranke mit dem Nervengift – bei Bewegungsstörungen, Verkrampfungen der Zehen, Speichelfluss oder Lidkrämpfen. Nicht für alle diese Anwendungsgebiete ist das Mittel zugelassen, auch wenn die Wirksamkeit gut belegt ist. „Wir kennen viele Anwendungen, für die es nur eine kleine Zielgruppe gibt. Das ist für die Hersteller nicht lukrativ, und es interessiert sie nicht, für solche Indikationen eine Zulassung zu erhalten. Denn das ist immer mit hohen Kosten verbunden“, erläutert Ceballos-Baumann. Prostagutt forte 160 |120 mg Kapseln ® gut* Ausgabe 6/2011 * Beste vergebene Note Doppelte Pflanzenkraft Reduziert häufigen Harndrang* Schont die Sexualfunktion Rezeptfrei in der Apotheke. Auf eigene Verantwortung * bei gutartiger Prostatavergrößerung Prostagutt forte 160 | 120 mg. 160 /120 mg / Weichkapsel. Für männliche Erwachsene. Wirkstoffe: Sabal-Dickextrakt und Brennnesseltrockenextrakt. Anwendungsgebiete: Beschwerden beim Wasserlassen bei gutartiger Prostatavergrößerung. Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG, Karlsruhe www.prostagutt.de P/01/05/15/03 ® Viele Ärzte setzen das Nervengift deshalb OffLabel ein, also ohne dass es für die konkrete Verwendung zugelassen ist. Prinzipiell kein Problem, so der Neurologe: „Wenn Ärzte das Mittel im Off-Label-Bereich anwenden, müssen sie ihre Patienten natürlich genau darüber aufTEXT: Dr. Anne klien Fotos: Shutterstock (2); iStockphoto „In der Neurologie gilt Botox bei vielen Beschwerden längst als Mittel der Wahl.“ Prof. Dr. Andrés Ceballos-Baumann, Chefarzt an der Schön Klinik München Schwabing klären. Die Handhabungssicherheit ist aber sehr hoch.“ Ebenso wie die Wirkung gegen depressive Verstimmungen ergaben sich auch andere medizinische Behandlungsmöglichkeiten aus der Anti-Aging-Anwendung: „Die Wirkung gegen Migräne fiel als Zusatzeffekt bei kosme­tischen Behandlungen auf. In beiden Fällen werden zahlreiche Muskeln im Stirn- und Schläfenbereich durch die Behandlung entkrampft – und hier nun zusätzlich noch einige im Hals- und Nackenbereich,“ so Dr. med. Christian Sachs, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in Worms. Er behandelt chronische Migräne und den Schiefhals erfolgreich mit dem Nervengift: „Der Schiefhals kann Ausdruck einer neurologischen Erkrankung sein. Oft entsteht er aber auch plötzlich, etwa durch Wirbelblockaden, Bandscheibenvorfälle oder Zugluft. Die Patienten können ihren Kopf manchmal über Wochen nicht gerade halten. Hier kann ich mit Botox gezielt Muskelpartien entkrampfen – das bringt deutliche Besserung, manchmal verschwinden die Symptome sogar ganz.“ Zusätzliche Behandlungsoptionen In beiden Fällen greift der Orthopäde zur BotoxSpritze, weil die Zulassungsbehörde das Mittel dafür bereits explizit freigegeben hat. „In der klassischen Orthopädie benutzen wir Botox allerdings bislang praktisch ausschließlich OffLabel. Die Studienlage ist zwar in vielen Fällen schon recht gut, noch gibt es hier jedoch keine Zulassungen,“ so Sachs. Für Patienten hat das vor allem den Nachteil, dass sie entsprechende Behandlungen selbst bezahlen müssen. Dr. Sachs sagt deshalb: „Ich sehe Botox als gute Ergänzung bestehender Therapien, etwa der Faszienbehandlung. Es bleibt für mich aber derzeit das letzte Mittel der Wahl, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind“. Deshalb profitieren momentan vor allem Patienten mit chronischen Beschwerden von der BotoxSpritze. „Vielversprechend sind die Ergebnisse bei Fersensporn und des Tennisarm. Hier handelt es sich um Entzündungen am Sehnenansatz und am zuständigen Muskel, die oft durch Überlastung entstehen. Wenn der Muskel durch Botox erschlafft, unterbreche ich den Zug auf die entzündete Sehne – die Schmerzen lassen nach und die Entzündung kann durch die Entlastung besser abklingen.“ Eines für alles Obwohl noch längst nicht klar ist, was genau das Gift in unserem Körper bewirkt, gilt es als sicher und nebenwirkungsarm. „Zu den unerwünschten Nebenwirkungen zählen vor allem zu starke Lähmungserscheinungen oder auch das Übergreifen der Lähmung auf Bereiche, die eigentlich nicht Ziel der Behandlung waren. Der Vorteil ist allerdings, dass die Wirkung auf jeden Fall wieder nachlässt,“ erklärt Neurologe Ceballos-Baumann, „Die Risiken einer Behandlung bleiben damit überschaubar.“ 10 1 Fakten zu Botox Entdeckt in Leberwurst Botulinumtoxin kam früher vor allem in verdor­ benen Wurstwaren vor und führte zu tödlichen Lebensmittelvergiftungen (Botulismus). Das Bak­ terium Clostridium botulinum produziert das Gift bei Sauerstoffmangel. nachweisen. Man muss das Patientenblut Mäusen spritzen. Sterben sie ohne Gegengift, steht die Diagnose. 6 Zählt zu den stärksten Giften der Welt Der Arzt Justinus Kerner erkannte 1820, dass das „Wurstgift“ die Nervenleitung hemmt und schlug es als Arznei gegen nervöse Störungen vor. 7 Fällt unter das Kriegswaffenkontrollgesetz 3 8 Für Terrorangriffe ungeeignet 9 Ein sensibler Killer 2 Wundermittel seit 1820 Die erste Zulassung gegen Schielen In den 1970er-Jahren wurde Botulinumtoxin in den USA erstmals medizinisch an Freiwilligen getestet. 1989 erteilten die US-Behörden dem Mittel die erste offizielle Zulassung – gegen Schielen und Lidzucken. 4 Anti-Falten-Effekt als Nebenwirkung Durch die Anwendung in Augennähe fiel bald auf, dass das Nervengift auch Falten glättete. 1992 erschien der erste Fachartikel dazu. Eine Zulassung gegen Falten erhielt es in den USA aber erst 2002, bei uns 2006. 5 Mäuse verraten Vergiftungen Botulismus lässt sich nicht direkt im Körper Die Menge eines Sandkorns kann 500 000 Menschen töten. Es wird darum immer nur extrem mit Kochsalz verdünnt angewendet. Das Nervengift gilt als Biowaffe. Deshalb wird das Bakterium Clostridium botulinum, das es produziert, in der Kriegswaffenliste geführt. Ausreichende Mengen des Gifts zu produzieren, wäre so teuer und aufwendig, dass es ohne staatliche Unterstützung unmöglich zu schaffen ist. Sterilisieren und Pasteurisieren zerstören Botox in Lebensmitteln, ebenso 5-minütiges Kochen. Chlor macht es im Trinkwasser unschädlich. UV-Licht nach 1 bis 3 Stunden und Kontakt mit Sauerstoff nach 12 Stunden. 10 Nur Ärzte dürfen es anwenden Botulinumtoxin gilt als Medizinprodukt. Arzt­ helferinnen, Heilpraktiker oder Kosmetikerinnen dürfen es deshalb nicht verabreichen.