Spectrum Die Kunst der flachen Stufen

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Vienna Biocenter 1, 2 + 3
Dr. Bohr-Gasse 3
1030 Wien, Österreich
© Pez Hejduk
Die Kunst der flachen Stufen
SAMMLUNG
Das neue Life Sciences Center in Wien oder: Der Beweis, dass ein Institutsgebäude
keineswegs auf architektonischen Luxus verzichten muss.
ARCHITEKTIN
von Walter Zschokke
BAUHERRIN
Spectrum
Wahrscheinlich wissen in der weiten Welt draußen mehr Leute um die im Wiener
Biozentrum betriebene Spitzenforschung als in jener Stadt, in der diese Institute ihren
Standort haben. Das ist zwar paradox, mag jedoch auch ein wenig an der Position im
Stadtgebiet liegen. Auf dem Gelände des ehemaligen Schlachthofs St. Marx, im Schatten
der Südost-Tangente, hat sich diese Industriebrache erst in jüngster Zeit zum
städtebaulichen Transformationsgebiet entwickelt, obwohl mit dem Rennweg und der
Landstraßer Hauptstraße, die an verschiedenen Stellen vom Ring wegstreben, zwei starke
urbane Achsen an dieser Stelle wieder zusammentreffen und mit der Querachse
Schlachthausgasse einen städtebaulichen Knoten bilden. Die Zeit dieses städtebaulichen
Ortes wird noch kommen, nicht zuletzt abhängig von der öffentlichen
Verkehrserschließung. Und weiter nach Südosten führt die Simmeringer Hauptstraße aus
der Stadt.
Mit dem Ende 2005 fertiggestellten und vorigen Dezember bis ins oberste Geschoß
bezogenen Life Sciences Center der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und
dem seit 2003 in Betrieb befindlichen „Biocenter 2“ wurde der Wiener Biozentrum-Campus
entscheidend erweitert, an dessen Anfang das Institut für molekulare Pathologie und die
Max F. Perutz Laboratories standen. Mit den zuletzt abgeschlossenen Planungen, die über
einen Wettbewerb dem Wiener Architekten Boris Podrecca übertragen wurden, setzte
auch an diesem Ort städtebauliches Denken ein. Das „Biocenter 3“ ist im Bau, und in der
weiteren Entwicklung ist im Binnenbereich des Campus ein begrünter Hof vorgesehen.
Doch vorerst muss man sich mit den beiden Neubauten begnügen, deren Fassaden wenig
vom Innenleben preisgeben, auch wenn sie im einen Fall in Stein mit unterschiedlich
bearbeiteten Oberflächen, im anderen Fall aus plissiertem und eloxiertem Aluminium
bestehen. Diese Oberflächen wirken belebend auf die langen Fassaden, hinter denen sich
Büros und vor allem Labors befinden. Räumlich interessant wird es allerdings
überraschenderweise im Inneren der Gebäude. Das „Biocenter 2“ weist einen hohen
Lichthof auf, in den erkerartig verglaste Aufenthaltsbereiche vorstoßen und den Raum
plastisch aktivieren. Eine expressive Farbigkeit unterstützt die Raumwirkung. Junge Firmen
der Biotechnologie machen hier ihre ersten selbstständigen Schritte.
Das Life Sciences Center enthält auf drei unterirdischen und sechs oberirdischen
Geschoßen das Institut für Molekulare Biotechnologie sowie zuoberst das
© Pez Hejduk
© Pez Hejduk
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Boris Podrecca
AGEI
Competence Investment AG
PRISMA Wien
FUNKTION
Forschung
AUSFÜHRUNG
2002 - 2008
MITARBEIT PLANUNG
Gerhard Hagelkrüys (PL vbc1+2),
Hannes Zerlauth (PL vbc 3), Sibel Anil,
Elmar Danner, Christoph Warnke
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Gregor-Mendel-Institut für molekulare Pflanzenbiologie. Beide benötigen vor allem
Laborflächen und Büros. Podrecca strukturierte das Bauvolumen in vertikalen Schichten,
die parallel zur Dr.-Bohr-Gasse verlaufen. Direkt an der Fassade liegen die Büros, dahinter
verläuft ein Gang. Dann kommt ein Streifen, in dem die vertikalen Erschließungen, Aufzüge
und Fluchttreppen, liegen, aber ebenso schluchtartige Vertikalräume, die als Lichthöfe mit
ihrer plastischen Durchformung und Einblicken von den Gängen her dem Haus einen
starken architektonischen Kern verleihen, der identitätsbildend wirkt. In einer weiteren
Schicht liegen die Dunkelräume, wo die Arbeit kein Tageslicht verträgt, dann folgen wieder
ein Gang und endlich die Labors, vor denen sich über die gesamte Länge ein riesiger
Wintergarten hinzieht, den nach Südosten eine Glaswand abschließt.
Quer zu dieser Ordnung durchstoßen auf jedem Geschoß drei Gänge das Gebäude und
münden in Balkonen, die in den Wintergarten hineinragen, von wo der Blick auf einen
alten, zur Absiedelung vorgesehenen Industriebetrieb fällt, wo sich in Zukunft der
Gartenhof des Campus befinden wird. Diese Quergänge unterscheiden sich in der Art und
Weise, wie sie zu den Vertikalräumen in Beziehung stehen, und stützen mit ihrer
Transparenz die Orientierung im Gebäude. Das rationale System weist eine Struktur
ähnlich jener einer römischen Gründungsstadt auf, mit Cardo und Decumanus, welche die
Insulae der Labors gliedern, das Ganze gestapelt auf mehreren Ebenen. So viele, dass
man die Übersicht verlieren würde, sind es nicht, und ein paar wesentliche, architektonisch
aufgeladene Elemente unterstützen die Ortung.
Im Vordergrund steht da die Haupttreppe, die offen in der Erschließungsschlucht verläuft.
Ihre Besonderheit ist ein heute unüblich gemächliches Stufenverhältnis von 10,5
Zentimeter Steigung und 43 Zentimeter Auftritt. Dieses Stufenverhältnis verleiht dem
Treppensteigen, ob aufwärts oder abwärts, einen besonderen, verlangsamenden Reiz.
Man findet solche Treppen sonst nur noch in Bauwerken des 19. Jahrhunderts, etwa in der
ehemaligen Tierärztlichen Hochschule von Johann Aman, heute Hochschule für Musik und
darstellende Kunst; im Palais des Erzherzog Ludwig Viktor von Heinrich Fers- tel, heute
Burgtheater-Kasino; in Gottfried Sempers und Carl Hasenauers neuer Hofburg und im
Burgtheater sowie natürlich in Otto Wagners Wohnhäusern. Der Funktionalismus des 20.
Jahrhunderts eliminierte diese kultivierten Inszenierungen des Treppensteigens, und das
Aufkommen der Aufzüge schien sie ganz überflüssig zu machen. An den
Architekturschulen waren großzügige Treppen kein Thema mehr. Und ein weiteres Mal
hatte sich eine Hauptkrankheit der Moderne, die Manie, das Kind mit dem Bad
auszuschütten, durchgesetzt.
Umso mehr überrascht nun Boris Podrecca mit seinen angenehm zu beschreitenden
flachen Stufen, die den Wechsel vom einen zum anderen Geschoß zum raumzeitlichen
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Erlebnis werden lassen, deren ausladende Absätze bei der Wende auf halber Höhe zum
kurzen Verweilen einladen und den Blick in den von oben belichteten Vertikalraum, in die
„Schlucht“ mit den offenen Gangfenstern, akzentuieren. Diesen architektonischenLuxus
hätte man in einem naturwissenschaftlichen Institut nicht unbedingt erwartet. Für eine
Institution wie die Österreichische Akademie der Wissenschaften mit ihrer historischen
Tiefe und kulturellen Breite ist er allerdings absolut angemessen.
Im Übrigen wurde durchaus gespart. Der rohe Sichtbeton wird mit scharfen Kanten
nobilitiert. Farbige Bodenbeläge in den Gängen erzeugen eine heitere Stimmung, und die
Ausblicke zum Licht sowie die Aufenthaltsbereiche im Wintergarten bieten den imHaus
Arbeitenden jene wichtigen Freiräume, die der Kurzerholung und dem spontanen
wissenschaftlichen Diskurs dienen, dessen Bedeutung in Fachkreisen längst anerkannt ist.
Und natürlich wird dort auch geraucht.
Das Erdgeschoß weist als Besonderheit einelliptisches Auditorium mit knapp 130 Plätzen
auf, dessen ausgezeichnete Akustik auf elektronische Verstärkung locker verzichten kann.
Die innen und außen geschuppt angebrachten Tafeln sind mit Eschenholzfurnier versehen
und machen den Großraum als eingefügten Leichtbau erkennbar, seine starke Form wird
von den Stülpungen relativiert. Rationalität und feines Gefühl sind an diesem Bauwerk gut
ausbalanciert, obwohl die Anmutung der Labors und jene der allgemeinen Räume weit
auseinanderliegen. Doch gerade aus dieser Spannung gewinnt das Bauwerk seine die
nackte Funktionalität übersteigende architektonische Qualität.
Spectrum, 02.03.2008
WEITERE TEXTE
Vienna Biocenter 1, 2 + 3, Az W, 27.09.2009
Forschung durch Kommunikation, Matthias Boeckl, architektur.aktuell, 05.10.2007
"Die Künstler sind heute Wissenschafter", Oliver Elser, Der Standard, 02.08.2004
Wo das Wunder passiert, Ute Woltron, Der Standard, 30.09.2000
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