Deutschland Überraschender Vorsprung Wie Überhangmandate das Wahlergebnis verzerren D ie Erinnerung ist noch frisch. Erst kurz nach Mitternacht wuchs der hauchdünne Vorsprung von zwei Stimmen für CDU/CSU und FDP bei der Bundestagswahl 1994 zu einer halbwegs komfortablen Mehrheit an. Plötzlich gab es 16 zusätzliche Sitze durch Überhangmandate – zwölf für die Union, vier für die SPD. Prompt ebbte das Raunen über eine Große Koalition ab, Helmut Kohl regierte für weitere vier Jahre mit der FDP. Dazu kommt es immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erobert, als ihr eigentlich nach dem Anteil an Zweitstimmen zustehen. Jahrzehntelang waren Überhangmandate die Ausnahme. 1987 etwa fiel nur eins an. Seit der Wiedervereinigung aber gibt es erstaunlich viele davon: bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 auf Anhieb 6, alle zugunsten der Union; vier Jahre später 16, davon 13 in Ostdeutschland: je drei in Branden- Berechnung von Überhangmandaten am Beispiel der CDU Thüringens bei der vorigen Bundestagswahl 1. Ermittlung der Mandate im Bundestag anhand der Zweitstimmen Die Zweitstimmen der CDU im Bund multipliziert geteilt durch die Zweitstimmen aller Parteien im Bundestag mit der Gesamtzahl von 656 Bundestagssitzen ergab 232 CDU-Mandate im Bundestag. 2. Verteilung der Mandate auf die Landeslisten anhand der Zweitstimmen Die Zweitstimmen der CDU in Thüringen multipliziert geteilt durch die Zweitstimmen der CDU im Bund mit den 232 CDU-Bundestagsmandaten Und diesmal? Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Wilhelm Schmidt, glaubt daran, daß am 27. September zusätzlich zu den 656 Bundestagssitzen noch 30 oder mehr Überhangmandate verteilt werden. Daß es zumindest „eine beachtliche Zahl“ geben wird, davon geht auch der Augsburger Politikwissenschaftler Rainer-Olaf Schultze „mit Sicherheit“ aus. Das ursprüngliche Wahlergebnis könnte so verzerrt, eventuell auch ins Gegenteil verkehrt werden. Überhangmandate sind eine Besonderheit des komplizierten deutschen Wahlrechts. Mit ihrer Erststimme bestimmen die Wähler direkt, welcher der Kandidaten aus ihrem Wahlkreis in den Bundestag einziehen darf. Ihre Zweitstimme geben sie einer Partei und entscheiden so über die Stärke der Fraktionen im Parlament – zumindest in der Theorie. Für die abweichende Praxis sorgen Überhangmandate. 28 ergab 9 Mandate, die der CDU Thüringens laut Wahlergebnis eigentlich zustanden. Da sie aber 12 Mandate direkt gewann, bekam sie die übrigen 3 als Überhangmandate dazu. burg, Sachsen und Thüringen, je zwei in Sachsen-Anhalt und MecklenburgVorpommern. Warum so viele Sondersitze entstehen, wissen Politologen wie Wahlforscher immer erst hinterher. Vorhersagen lassen sich nur die Faktoren, die ihr Entstehen begünstigen. Überhangmandate fallen vorzugsweise in regionalen Hochburgen an. In Brandenburg dominiert eindeutig die SPD; sozialdemokratische Kandidaten errangen 1994 sämtliche zwölf Direktmandate, mit 45,1 Prozent der Zweitstimmen standen der Partei aber nur neun Sitze zu. Folge: drei Überhangmandate. Die anderen ostdeutschen Länder beherrschte bislang die CDU: In Sachsen etwa holte sie die 21 Direktmandate bei 48,0 Prozent der Zweitstimmen und schickte deshalb drei Abgeordnete mehr nach Bonn, als ihr eigentlich zustanden. Im Osten sind zudem Direktmandate häufig mit weniger Stimmen zu er- d e r s p i e g e l 3 4 / 1 9 9 8 zielen als im Westen – dafür sorgt die Konkurrenz unter den drei starken Parteien CDU, SPD und PDS. In drei thüringischen Wahlkreisen zum Beispiel gewannen CDU-Vertreter mit lediglich 30 + x Stimmen. Die CDU bekam sämtliche 12 Direktmandate, aber nur 41,0 Prozent an Zweitstimmen. Konsequenz: drei Überhangmandate. Der Osten ist anders – dort gibt es zudem weniger Wahlberechtigte. Gemessen an der Bevölkerungszahl müßten sämtliche ostdeutschen Länder jeweils einen Wahlkreis abgeben. BadenWürttemberg dagegen bekäme zwei, Bayern sogar drei hinzu. Von einer Neuordnung der Wahlkreise sah die Koalition ab; schließlich profitiert sie ja vom Ungleichgewicht. Erst bei der nächsten Wahl, im Jahr 2002, soll die Zahl der Wahlkreise von 328 auf 299 reduziert werden. Solange werden die politischen Verhältnisse durch Überhangmandate bestimmt, wie der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem Leserbrief an die „Süddeutsche Zeitung“ kritisch anmerkt: Die Regel gelte nicht mehr, daß „für die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag allein die Zweitstimme entscheidend sei“. Überhangmandate werden auch dadurch befördert, daß die Wähler Erstund Zweitstimmen zwischen zwei Parteien aufteilen. Dazu neigen FDPWähler stärker als die anderer Parteien. Im Osten gaben sie oft dem CDUBewerber ihre Erststimme. Bisweilen standen FDP-Direktkandidaten, etwa in Gera oder Erfurt, überhaupt nicht zur Wahl. Grünen- und SPD-Wähler könnten es natürlich ähnlich halten. Allerdings sind die Öko-Sympathisanten dafür bekannt, daß sie Erst- wie Zweitstimme lieber der Partei ihrer Gunst widmen. Die Sozialdemokraten hoffen diesmal dennoch auf mehr Überhangmandate als vor vier Jahren. In 32 Wahlkreisen, in denen die Entscheidung 1994 äußerst knapp ausfiel, darunter 13 im Osten, starteten die Genossen schon im Frühjahr eine spezielle Wahloffensive für Erststimmen. Wenn es schon Überhangmandate zu verteilen gibt, so das Motto der SPD-Kampagne, „wollen wir diejenigen sein, die sie bekommen“. Die Überhangmandate hat das Bundesverfassungsgericht für Rechtens erklärt. Der Zweite Senat lehnte im vergangenen Jahr eine Verfassungsklage des Landes Niedersachsen ab. Nur die Zahl der Überhangmandate müsse sich „in Grenzen halten“ – maximal fünf Prozent der 656 Sitze, also 33.