Seite 35 Publicus 2011.6 Wahlrecht Überhangmandate Inhalt Wo kein Kläger, da kein Richter Der Wahlkreis 240 (Kulmbach) kann nicht einfach gestrichen werden Wozu gibt es in Bayern 45 Wahlkreise, wenn nach dem Ausscheiden des Freiherrn zu Guttenberg aus dem Deutschen Bundestag sein Wahlkreis 240 (Kulmbach) verwaist und deshalb nur 44 direkt gewählte Abgeordnete aus Bayern im Parlament Sitz und Stimme haben? Hier kann doch irgend­etwas nicht stimmen? Und in der Tat, so ist es. Hintergrund Zur Erinnerung: die CSU trug bei der Bundestagswahl 2009 mit 48,2 Prozent der Erststimmen in allen 45 verfügbaren Wahlkreisen Bayerns den Sieg davon. Sie erreichte aber nur 42,5 Prozent der Zweitstimmen, wonach ihr nur 42 Sitze im Berliner Parlament zugestanden hätten. Drei Mandate waren also sogenannte Überhangmandate. Nun hat das Bundesverfassungsgericht am 26. 02. 1998 entschieden, solange es Überhangmandate gebe, dürfe im Fall des Ausscheidens ihres Wahlkreis-Abgeordneten kein Nachfolger über die Landesliste der betroffenen Partei nachrücken (vgl. Beschl. v. 26. 02. 1998, Az.2 BvC 28/96 = BVerf GE 97, 317, 322 ff). Daraus hat der Gesetzgeber – allerdings erst nach einer längeren „Bedenkzeit” von zehn Jahren – am 17. 03. 2008 (BGB l. I S. 394) doch noch die Konsequenz gezogen und die höchstrichterliche Entscheidung durch Ergänzung des § 48 Absatz 1 Bundeswahlgesetz (BWG ) zum Gesetz erhoben. Für die Wähler in Kulmbach sind die Entscheidung des obersten Gerichts und die folgende Gesetzgebungsmaßnahme ganz und gar inakzeptabel. Denn sie können geltend Der Abgeordnete Karl-Theodor zu Guttenberg schied ersatzlos aus dem Bundestag aus. machen, dass die drei 2009 entstandenen Überhangmandate ja nicht in Kulmbach und zwei weiteren konkret bestimmbaren Wahlkreisen entstanden sind, sondern in ganz Bayern. Überhangmandate sind keine konkreten Sitze im Deutschen Bundestag. Sie entstehen gar nicht in diesem oder jenem Wahlkreis, auch nicht im vakant gewordenen Wahlkreis 240 (Kulmbach). Überhangmandate entstehen bayernweit und können keinem bestimmten Abgeordneten zur Last gelegt werden. Wenn überhaupt wäre Kulmbach nur mit drei Fünfundvierzigstel an dem angeblichen Missstand beteiligt, kann also nur mit diesem Bruchteil zur Verantwortung gezogen werden. Seite 36 Publicus 2011.6 Wahlrecht überhangmandate Inhalt Die Problematik der Mandatsüberhänge Mandatsüberhänge sind der Fluch der typisch deutschen Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme, die sogar durch Stimmensplitting auf zwei verschiedene Parteien aufgeteilt werden können. Und diese Doppelwahl verbindet zu allem Überfluss auch noch zwei grundverschiedene Wahlsysteme: die Direktwahl in Wahlkreisen und die Verhältniswahl, die landesweit über die Landeslisten der Parteien erfolgt. Zwei Stimmen sind immer auch zwei Wahlen. Und es ist schon seit langem bekannt, dass die Direktwahl und die Verhältniswahl zu einer unterschiedlichen Sitzverteilung im Parlament führen – folglich Mandatsüberhänge bei einer Doppelwahl als normal hinzunehmen sind. Insgesamt viermal hat sich das Verfassungsgericht mit den Überhangmandaten beschäftigt und sie dreimal uneingeschränkt als verfassungskonform bestätigt. Es sind dies die drei Entscheidungen vom 24. 11. 1988 (Az. 2 BvC 4/88 = BVerf GE 79, 189 – Überhangmandat I), vom 10. 04. 1997 (Az. 2 BvF 1/95 = BVerf GE 95, 335 – Überhangmandat II) und vom 03. 07. 2008, Az. 2 BvC 1/07 – negative Stimmenmacht). Selbst die Entscheidung vom 26. 02. 1998 (Az.2 BvC 28/96 – Nachrücken in Überhangmandate) führt nicht zu dem Ergebnis, Überhangmandate selbst seien verfassungswidrig. Die Richter haben lediglich die Nachbesetzung aus der „Reserverbank” der Landesliste verworfen, solange es für die betroffene Partei in dem jeweiligen Land noch Überhangmandate gibt. Der Widerspruch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung – einschließlich der daraus hervorgegangenen Ergänzung in § 48 Absatz 1 Bundeswahlgesetz – liegt daher auf der Hand: Dreimal hat das Verfassungsgericht gesagt, Überhangmandate seien verfassungskonform, zuletzt am 03. 07. 2008. Wie kann es also sein, dass 1998 die Verfassungsrichter bei einer Nachbesetzung im Wahlkreis zu einer abweichenden Bewertung kamen und anordneten, dass im Fall von Überhangmandaten der Wahlkreis einfach gestrichen wird? Der Wertungswiderspruch Die Erststimme ist nicht weniger wert als die Zweitstimme. Das Verfassungsgericht hat wie gesagt mehrfach betont, Mandatsüberhänge seien verfassungskonform. Deshalb müssen sie auch dann uneingeschränkt akzeptiert werden, wenn es um die Nachbesetzung in einem Wahlkreis geht. Ist es aber umgekehrt, ist der Mandatsüberhang doch ein Missstand, dann kann nicht nur die Nachbesetzung in Überhangmandate verworfen werden, dann muss man schon jeder Besetzung in Überhangmandate von vorneherein den Garaus machen. Die Wähler im Wahlkreis 240 (Kulmbach) sehen also nicht ein, dass sie alleine „die Suppe auslöffeln” sollen, die ihnen der Gesetzgeber auf Verlangen des Verfassungsgerichts eingebrockt hat. Der Mandatsüberhang ist ja nichts anderes als die Differenz an Sitzen im Parlament, die sich aus dem Vergleich der Erst- und der Zweitstimmen-Wahl ergibt. Eine solche Differenz hat nichts Verwerfliches an sich und natürlich ist sie auch nicht verfassungswidrig. Wer „ja” sagt zur Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme, der hat zugleich auch „ja” gesagt zu möglichen Differenz an Mandaten aus beiden Stimmen. Das kann im Fall der Nachbesetzung von vakant gewordenen Wahlkreisen nicht anders sein. Wer das Bundeswahlgesetz auf weitere Unstimmigkeiten „abklopft”, der macht eine überraschende Entdeckung. Es gibt nämlich zwei Präzedenzfälle, in denen es doch zu einer Nachwahl nach dem Ausscheiden eines Wahlkreis-Abgeordneten bei Überhangmandaten kommt. Das ist der Fall, wenn es gar keine Landeslisten gibt, weil der Abgeordnete von Wahlberechtigten aus der Mitte des Wahlkreises aufgestellt wurde, also von vorneherein gar nicht für die Liste einer bestimmten Partei angetreten ist. Scheidet ein solcher direkt gewählter Abgeordneter der Bürgerschaft im jeweiligen Wahlkreis aus, findet innerhalb von 60 Tagen eine Nachwahl statt. So will es § 48 Absatz 2 BWG . Das ist außerdem der Fall, wenn eine Partei mit ihrer Landesliste an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, aber mindestens in drei Wahlkreisen den Sieger stellt. Auch diese direkt gewählten Abgeordneten ziehen zusätzlich in den Bundestag ein und lösen im Falle ihres Ausscheidens eine Nachwahl aus. Da in beiden Fällen die Zahl der Sitze im Bundestag erhöht wird – es sich also eindeutig um Überhangmandate handelt – kommt das Verfassungsgericht in eine unhaltbare Position. Es lässt sich einfach nicht aufrechterhalten, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird. In Wahlkreisen mit direkt gewählten Abgeordneten aus den Reihen der Bürgerschaft oder aus den Reihen einer Partei, deren Landesliste gescheitert ist, wird innerhalb von 60 Tagen nachgewählt. Kommt der Wahlkreis-Abgeordnete aber aus einer Partei, die mit der Zweitstimmen-Wahl weniger erfolgreich war als mit der Erststimmen-Wahl und deshalb Überhangmandate entstanden, bleibt ein vakant gewordener Wahlkreis für den Rest der Wahlperiode unbesetzt. So kann es einfach nicht sein. Hier müssen Verfassungsgericht und Gesetzgeber zu einer in sich widerspruchsfreien Lösung finden. Wo kein Kläger, da kein Richter Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Papier ist, wie man weiß, geduldig, auch wenn es Papier ist, auf dem Gesetze abgedruckt sind. Wenn also die Wähler in Kulmbach damit unzufrieden sind, dass ihr Wahlkreis aus nicht nachvollziehbaren Gründen nach dem Ausscheiden des Freiherrn zu Guttenberg eingezogen wird, dann müssen sie sich zur Wehr setzen, dann müssen sie den steinigen und mit Dornen gesäumten Rechtsweg einschlagen. Sie müssen also einen Wahleinspruch nach Artikel 41 Grundgesetz in Verbindung mit dem Wahlprüfungsgesetz einlegen. Der Einspruch erfolgt schriftlich, ist mit einer Begründung zu verbinden und innerhalb einer Frist von zwei Monaten beim Deutschen Bundestag, vertreten durch den Bundestagspräsidenten einzureichen. Die Frist beginnt 60 Tage nach der unterbliebenen Nachwahl, also am 01. 05. 2011 und endet am 30. 06. 2011. Außerdem können sich die politischen Parteien auf dem Wege einer Organklage direkt an das Verfassungsgericht wenden. Eine Frist gibt es dafür nicht. Dr. Manfred C. 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