Wo Kein KläGer, Da Kein richter

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Wahlrecht  Überhangmandate
Inhalt
Wo kein Kläger, da kein Richter
Der Wahlkreis 240 (Kulmbach) kann nicht einfach gestrichen werden
Wozu gibt es in Bayern 45 Wahlkreise, wenn nach dem
Ausscheiden des Freiherrn zu Guttenberg aus dem Deutschen Bundestag sein Wahlkreis 240 (Kulmbach) verwaist
und deshalb nur 44 direkt gewählte Abgeordnete aus Bayern
im Parlament Sitz und Stimme haben? Hier kann doch
irgend­etwas nicht stimmen? Und in der Tat, so ist es.
Hintergrund
Zur Erinnerung: die CSU trug bei der Bundestagswahl
2009 mit 48,2 Prozent der Erststimmen in allen 45 verfügbaren Wahlkreisen Bayerns den Sieg davon. Sie erreichte aber
nur 42,5 Prozent der Zweitstimmen, wonach ihr nur 42 Sitze
im Berliner Parlament zugestanden hätten. Drei Mandate
waren also sogenannte Überhangmandate.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht am 26. 02. 1998
entschieden, solange es Überhangmandate gebe, dürfe im
Fall des Ausscheidens ihres Wahlkreis-Abgeordneten kein
Nachfolger über die Landesliste der betroffenen Partei
nachrücken (vgl. Beschl. v. 26. 02. 1998, Az.2 BvC 28/96 =
BVerf GE 97, 317, 322 ff). Daraus hat der Gesetzgeber – allerdings erst nach einer längeren „Bedenkzeit” von zehn Jahren
– am 17. 03. 2008 (BGB l. I S. 394) doch noch die Konsequenz
gezogen und die höchstrichterliche Entscheidung durch
Ergänzung des § 48 Absatz 1 Bundeswahlgesetz (BWG ) zum
Gesetz erhoben.
Für die Wähler in Kulmbach sind die Entscheidung des
obersten Gerichts und die folgende Gesetzgebungsmaßnahme ganz und gar inakzeptabel. Denn sie können geltend
Der Abgeordnete Karl-Theodor zu Guttenberg schied ersatzlos aus dem Bundestag aus.
machen, dass die drei 2009 entstandenen Überhangmandate
ja nicht in Kulmbach und zwei weiteren konkret bestimmbaren Wahlkreisen entstanden sind, sondern in ganz Bayern.
Überhangmandate sind keine konkreten Sitze im Deutschen
Bundestag. Sie entstehen gar nicht in diesem oder jenem
Wahlkreis, auch nicht im vakant gewordenen Wahlkreis 240
(Kulmbach). Überhangmandate entstehen bayernweit und
können keinem bestimmten Abgeordneten zur Last gelegt
werden. Wenn überhaupt wäre Kulmbach nur mit drei Fünfundvierzigstel an dem angeblichen Missstand beteiligt, kann
also nur mit diesem Bruchteil zur Verantwortung gezogen
werden.
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Wahlrecht  überhangmandate
Inhalt
Die Problematik der Mandatsüberhänge
Mandatsüberhänge sind der Fluch der typisch deutschen
Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme, die sogar durch
Stimmensplitting auf zwei verschiedene Parteien aufgeteilt
werden können. Und diese Doppelwahl verbindet zu allem
Überfluss auch noch zwei grundverschiedene Wahlsysteme:
die Direktwahl in Wahlkreisen und die Verhältniswahl, die
landesweit über die Landeslisten der Parteien erfolgt. Zwei
Stimmen sind immer auch zwei Wahlen. Und es ist schon
seit langem bekannt, dass die Direktwahl und die Verhältniswahl zu einer unterschiedlichen Sitzverteilung im Parlament
führen – folglich Mandatsüberhänge bei einer Doppelwahl
als normal hinzunehmen sind.
Insgesamt viermal hat sich das Verfassungsgericht mit
den Überhangmandaten beschäftigt und sie dreimal uneingeschränkt als verfassungskonform bestätigt. Es sind dies
die drei Entscheidungen vom 24. 11. 1988 (Az. 2 BvC 4/88 =
BVerf GE 79, 189 – Überhangmandat I), vom 10. 04. 1997 (Az.
2 BvF 1/95 = BVerf GE 95, 335 – Überhangmandat II) und
vom 03. 07. 2008, Az. 2 BvC 1/07 – negative Stimmenmacht).
Selbst die Entscheidung vom 26. 02. 1998 (Az.2 BvC 28/96
– Nachrücken in Überhangmandate) führt nicht zu dem
Ergebnis, Überhangmandate selbst seien verfassungswidrig.
Die Richter haben lediglich die Nachbesetzung aus der
„Reserverbank” der Landesliste verworfen, solange es für
die betroffene Partei in dem jeweiligen Land noch Überhangmandate gibt.
Der Widerspruch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung – einschließlich der daraus hervorgegangenen Ergänzung in § 48 Absatz 1 Bundeswahlgesetz – liegt daher auf
der Hand: Dreimal hat das Verfassungsgericht gesagt,
Überhangmandate seien verfassungskonform, zuletzt am
03. 07. 2008. Wie kann es also sein, dass 1998 die Verfassungsrichter bei einer Nachbesetzung im Wahlkreis zu einer
abweichenden Bewertung kamen und anordneten, dass im
Fall von Überhangmandaten der Wahlkreis einfach gestrichen wird?
Der Wertungswiderspruch
Die Erststimme ist nicht weniger wert als die Zweitstimme.
Das Verfassungsgericht hat wie gesagt mehrfach betont,
Mandatsüberhänge seien verfassungskonform. Deshalb
müssen sie auch dann uneingeschränkt akzeptiert werden,
wenn es um die Nachbesetzung in einem Wahlkreis geht. Ist
es aber umgekehrt, ist der Mandatsüberhang doch ein
Missstand, dann kann nicht nur die Nachbesetzung in Überhangmandate verworfen werden, dann muss man schon
jeder Besetzung in Überhangmandate von vorneherein den
Garaus machen.
Die Wähler im Wahlkreis 240 (Kulmbach) sehen also nicht
ein, dass sie alleine „die Suppe auslöffeln” sollen, die ihnen
der Gesetzgeber auf Verlangen des Verfassungsgerichts
eingebrockt hat. Der Mandatsüberhang ist ja nichts anderes
als die Differenz an Sitzen im Parlament, die sich aus dem
Vergleich der Erst- und der Zweitstimmen-Wahl ergibt. Eine
solche Differenz hat nichts Verwerfliches an sich und natürlich ist sie auch nicht verfassungswidrig. Wer „ja” sagt zur
Doppelwahl mit Erst- und Zweitstimme, der hat zugleich
auch „ja” gesagt zu möglichen Differenz an Mandaten aus
beiden Stimmen. Das kann im Fall der Nachbesetzung von
vakant gewordenen Wahlkreisen nicht anders sein.
Wer das Bundeswahlgesetz auf weitere Unstimmigkeiten
„abklopft”, der macht eine überraschende Entdeckung. Es
gibt nämlich zwei Präzedenzfälle, in denen es doch zu einer
Nachwahl nach dem Ausscheiden eines Wahlkreis-Abgeordneten bei Überhangmandaten kommt. Das ist der Fall, wenn
es gar keine Landeslisten gibt, weil der Abgeordnete von
Wahlberechtigten aus der Mitte des Wahlkreises aufgestellt
wurde, also von vorneherein gar nicht für die Liste einer
bestimmten Partei angetreten ist. Scheidet ein solcher direkt
gewählter Abgeordneter der Bürgerschaft im jeweiligen
Wahlkreis aus, findet innerhalb von 60 Tagen eine Nachwahl
statt. So will es § 48 Absatz 2 BWG . Das ist außerdem der
Fall, wenn eine Partei mit ihrer Landesliste an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, aber mindestens in drei Wahlkreisen
den Sieger stellt. Auch diese direkt gewählten Abgeordneten
ziehen zusätzlich in den Bundestag ein und lösen im Falle
ihres Ausscheidens eine Nachwahl aus.
Da in beiden Fällen die Zahl der Sitze im Bundestag erhöht wird – es sich also eindeutig um Überhangmandate
handelt – kommt das Verfassungsgericht in eine unhaltbare
Position. Es lässt sich einfach nicht aufrechterhalten, dass
hier mit zweierlei Maß gemessen wird. In Wahlkreisen mit
direkt gewählten Abgeordneten aus den Reihen der Bürgerschaft oder aus den Reihen einer Partei, deren Landesliste
gescheitert ist, wird innerhalb von 60 Tagen nachgewählt.
Kommt der Wahlkreis-Abgeordnete aber aus einer Partei, die
mit der Zweitstimmen-Wahl weniger erfolgreich war als mit
der Erststimmen-Wahl und deshalb Überhangmandate
entstanden, bleibt ein vakant gewordener Wahlkreis für den
Rest der Wahlperiode unbesetzt. So kann es einfach nicht
sein. Hier müssen Verfassungsgericht und Gesetzgeber zu
einer in sich widerspruchsfreien Lösung finden.
Wo kein Kläger, da kein Richter
Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Papier ist, wie man
weiß, geduldig, auch wenn es Papier ist, auf dem Gesetze
abgedruckt sind. Wenn also die Wähler in Kulmbach damit
unzufrieden sind, dass ihr Wahlkreis aus nicht nachvollziehbaren Gründen nach dem Ausscheiden des Freiherrn zu
Guttenberg eingezogen wird, dann müssen sie sich zur Wehr
setzen, dann müssen sie den steinigen und mit Dornen
gesäumten Rechtsweg einschlagen. Sie müssen also einen
Wahleinspruch nach Artikel 41 Grundgesetz in Verbindung
mit dem Wahlprüfungsgesetz einlegen. Der Einspruch
erfolgt schriftlich, ist mit einer Begründung zu verbinden
und innerhalb einer Frist von zwei Monaten beim Deutschen
Bundestag, vertreten durch den Bundestagspräsidenten
einzureichen. Die Frist beginnt 60 Tage nach der unterbliebenen Nachwahl, also am 01. 05. 2011 und endet am
30. 06. 2011.
Außerdem können sich die politischen Parteien auf dem
Wege einer Organklage direkt an das Verfassungsgericht
wenden. Eine Frist gibt es dafür nicht.
Dr. Manfred C. Hettlage,
Publizist, München
[email protected]
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