Wahlrecht Bundestag: Weder legitimiert noch repräsentativ Von Nico Nissen, Deutschland ist eine repräsentative Demokratie. Grundlage der politischen Repräsentation auf Bundesebene ist das Bundestagswahlrecht, das für die Wahl eines Repräsentanten die relative Mehrheit in seinem Wahlkreis fordert. Diese Voraussetzung kann aber nur ein repräsentatives Ergebnis gewährleisten, solange die Stimmen sich nicht auf zu viele Parteien verteilen. Doch statt wie ehemals drei, kämpfen inzwischen fünf Parteien um die Sitze des Bundestages, was zur Folge hat, dass die relative Mehrheit um so geringer ausfällt und die Abgeordneten wesentlich schlechter legitimiert sind. Eine absolute Mehrheit, wie sie in den meisten Bundesländern für Bürgermeister und Landräte vorausgesetzt wird, ist ausgerechnet bei der Wahl eines Bundestagsabgeordneten nur schwer zu erreichen. Dies gelang bei der letzten Bundestagswahl gerade 31 Direktkandidaten. 268 Abgeordnete des Bundestages haben also nur die Unterstützung von weniger als der Hälfte der Wähler ihres Wahlkreises – in den meisten Fällen weit weniger. Selbst die CDUSpitzenkandidatin Angela Merkel erhielt in ihrem Wahlkreis bei einer Wahlbeteiligung von 59,8 Prozent nur 49,3 Prozent der Stimmen. Sie wurde also in ihrem eigenen Wahlkreis trotz ihrer Prominenz von weniger als einem Drittel der Wahlberechtigten gewählt und verfehlte zudem die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Auch der stellvertretende CDU-Vorsitzende Wolfgang Bosbach kann sich nur nach großzügigem Aufrunden mit 50 Prozent der Stimmen brüsten. Nutznießer ist in den meisten Fällen die CDU. Gerade in Wahlkreisen, in denen mehrheitlich Parteien des linken Spektrums gewählt wurden, trug sie den Sieg davon. So wurden die CDU-Kandidaten in den beiden Stuttgarter Wahlkreisen von nur einem Drittel der Wähler gewählt. Berücksichtigt man die geringe Wahlbeteiligung, sind sie nur von jedem vierten Wahlberechtigten gewollt. Die Mehrheit der Stuttgarter Wähler wünschte sich laut Erststimme eigentlich Rot-Rot-Grün. Das zeigt eine der besonderen Tücken der relativen Mehrheitswahl: Der Wähler kann durch seine Stimme einer Partei zur Regierungsübernahme verhelfen, die er auf keinen Fall an der Regierung beteiligen möchte, indem er eine chancenlose Partei wählt. Begünstigt wird dies dadurch, dass nach Untersuchungen des Politikwissenschaftlers Jürgen Meier fast die Hälfte der Bundesbürger das Wahlrecht nicht richtig verstanden hat. Eine Kombination aus Unwissenheit und politischem Kalkül führt so den Grundgedanken der repräsentativen Demokratie ad absurdum. Die Mehrheit der Wähler wird von einer Partei vertreten, die sie nicht gewählt hat. Dies leistet der Politikverdrossenheit weiteren Vorschub. Unser Wahlrecht ist also veraltet und müsste dringend reformiert werden. Doch eine Reform ist unwahrscheinlich, solange die Partei an der Regierung beteiligt ist, die den größten Nutzen davon hat. Dies wird auch so bleiben, solange die Frage nach der Legitimation der Abgeordneten weder von Mehr Demokratie noch von Presse oder Opposition gestellt wird. Angela Merkel gratuliert Bundestagspräsident Norbert Lammert zur Wiederwahl. Aber kann man ihr zur eigenen Wahl gratulieren – angesichts des verheerenden Zustands des Bundestagswahlrechts? Quelle: bilderdienst.bundestag.de 26 Zeitschrift für Direkte Demokratie ● Nr.84 ● 4/09