1. Schularbeit | 8D 2013/14 NAME: BEIBLATT 3 Frank Stauss

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1. Schularbeit | 8D 2013/14
NAME:
BEIBLATT 3
Frank Stauss: Demokratiegaffer auf der Gegenspur
Eine der peinlichsten Floskeln von politischen Berichterstattern, Kommentatoren und leider
auch von Politikern selbst lautet bei geringer Wahlbeteiligung, dass „Wählerbeschimpfungen
jetzt nicht weiter helfen.“ Diese Meinung teile ich ausdrücklich nicht. Im Gegenteil. Ich bin
der festen Überzeugung, dass eine geharnischte Wählerbeschimpfung zur rechten Zeit
dringend geboten ist und eine ordentliche Tracht verbaler Prügel keinem der Zeitgenossen
schaden kann, die am Wahltag ihren Hintern nicht ins Wahllokal bewegt bekommen. Wie
leicht muss es eine Demokratie ihren Bürgern eigentlich noch machen, wenigstens alle vier
bis fünf Jahre ihr demokratisches Recht zur Stimmabgabe wahrzunehmen?
Man hört dann oft, die Parteien hätten es versäumt, die Wähler zu erreichen oder ihnen ein
so attraktives Angebot zu unterbreiten, dass sie es für nötig empfunden hätten, zur Urne zu
gehen. Ja, also bitte, geht’s noch? Sind wir hier auf dem Basar? Und seit wann ist es die
Aufgabe der Parteien, zu 100 Prozent passende Angebote zu unterbreiten? Ist es nicht die
Aufgabe der Wähler, sich für das beste Angebot zu entscheiden, das es gibt? Wenn mein
Rasierer kaputt ist, gehe ich los und kauf mir einen neuen. Wenn zehn im Regal stehen, ist
der eine vielleicht zu hässlich, der andere nicht vertrauenswürdig, der dritte zu teuer. Aber
einer von den zehn wird schon irgendwie passen und den nehme ich dann und geh nicht mit
leeren Händen nach Hause. Denn rasieren muss ich mich ja. Aber wählen muss ich scheinbar
nicht. Demokratie scheint vielen weniger wert zu sein als eine ordentliche Rasur. Wenn
Ihnen diese Analogie nicht passt, suchen Sie sich eine neue mit Kaffeemaschinen oder
Spülmaschinen, aber das Prinzip wird wohl klar.
In Deutschland gibt es gefühlt 725 Parteien, davon etwa zehn mit Chancen, sechs bis sieben
mit guten Chancen. Wenn sich ein Wähler zwischen CDU, CSU, SPD, FDP, Linkspartei,
Grünen, Piraten und von mir aus auch noch ÖDP1, Freien Wählern und regionalen Unikaten
nicht entscheiden kann – ja wessen Schuld ist es denn dann? Kommunisten, Christen, WebNerds, Sozen, Grüne, Liberale, Konservative, Progressive – alle stehen im Regal und man
findet nichts Passendes? In diesem Fall sollte man doch besser einen Psychoanalytiker
aufsuchen, denn Nichtwählen ist dann vermutlich nicht das einzige Problem, das man mit
sich herumträgt.
Demokratie ist kein Selbstverwirklichungstrip, bei dem ich jemanden wählen soll, der zu 100
Prozent meine Meinung vertritt. Demokratie bedeutet, dass sich Menschen hinter einer
gemeinsamen Idee versammeln, für diese Idee Mitstreiter suchen, dann eine Partei daraus
machen und sich zur Wahl stellen. Und als inaktiver Bürger habe ich dann nur noch die
Aufgabe, von diesen Parteien diejenige auszusuchen, die meinen Wünschen zu 50 Prozent
und vielleicht ein bisschen mehr entspricht. Die wähle ich dann und gehe wieder nach
Hause. Was ist daran nicht zu verstehen? Findet sich nun überhaupt gar keine Partei, dann
habe ich immer noch die Möglichkeit, selbst eine zu gründen und zu schauen, ob die außer
mir noch jemand gut findet. Oder ich gehe in eine der zahlreich vorhandenen Parteien und
versuche mich dort einzubringen. Nicht zu wählen, gar nichts zu tun und sich am Ende
darüber auch noch beschweren – das geht allerdings überhaupt nicht. So kann keine
Demokratie und so kann auch kein Gemeinwesen funktionieren. Schlimmer noch aber ist die
Unterstützung dieser Einstellung aus der veröffentlichten Meinung und der
Berichterstattung.
Mein Vorschlag zur Erhöhung der Wahlbeteiligung basiert auf einem alten Trick, der
irgendwann in den 70er Jahren bei den Verkehrsdurchsagen eingeführt wurde. Bei einem
Unfall auf der Autobahn bilden sich häufig Staus auf der gegenüberliegenden Seite durch vor
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Neugierde platzende Menschen. Irgendwann ging man dann im sonst so nüchternen
Verkehrsfunk dazu über, dies auch deutlich zu ächten: „Auf der Gegenseite kommt es zu
Staus durch Gaffer.“ Großartig. Wer will schon ein Gaffer sein? Ob es genützt hat, weiß ich
nicht, aber jeder wusste, woran er war. Niemand kam auf die Idee, die Gaffer zu
entschuldigen oder gar die Verkehrswacht oder irgendjemanden sonst für das Gaffertum
verantwortlich zu machen. Schuld waren die Gaffer – und damit war die Schuld auch da, wo
sie hingehört. Man stelle sich vor, die Durchsage hätte gelautet: „Auf der
gegenüberliegenden Seite kommt es zu nachvollziehbaren Behinderungen durch Mitbürger,
die von ihrem Recht Gebrauch machen, sich selbst ein Urteil über die Lage zu bilden und
nicht blind den Einsatzkräften des Roten Kreuzes zu vertrauen.“ Die Presse hätte dann die
Einsatzkräfte interviewt mit der Frage, ob sie denn ihre Rettungseinsätze nicht transparenter
gestalten könnten, damit nicht immer mehr Fahrer auf der gegenüberliegenden Seite zur
Eigeninitiative gezwungen würden und so weiter und so fort.
Warum also nicht auf Nichtwähler, die nichts anderes sind als Demokratie-Gaffer, die gleiche
Taktik anwenden. Benennen wir die Wahlverweigerer so, wie sie es verdient haben. In der
Tagesschau heißt es dann: „Die Wahlbeteiligung sank auf 68,8 Prozent, was Experten auf
faule Säcke, wandelnde Hirntote, verwöhnte Bälger und Volldeppen zurückführen“.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
1 ÖDP = Ökologisch-Demokratische Partei
ZUR INFORMATION:
Armin Wolf: NICHTWÄHLER-BESCHIMPFUNG (facebook, 28.09.2013)
Einer der interessantesten Aspekte an diesem Wahlkampf [Österreichische Nationalratswahl, 29.9.2013] ist ja,
wer ihn für die ÖVP macht – nämlich Frank Stauss von der Berliner Agentur Butter. Stauss ist einer der
bekanntesten Wahlwerber Deutschlands, hat aber bisher ausschließlich Wahlkampagnen für Sozialdemokraten
geplant – über zwanzig von Hannelore Kraft über Klaus Wowereit bis Gerhard Schröder. Jetzt arbeitet er
erstmals für eine konservative Partei.
Der Sozialdemokrat Stauss ist 48, schwul und mit einem Mann verheiratet, mit dem er sich beim „Berliner
Patenprojekt“ um zwei Kinder einer alleinerziehenden Mutter kümmert. Also ein doch eher unkonventioneller
Background für einen ÖVP-Wahlkampf.
Der hat auch ziemlich schlechte Kritiken. Dass das morgen doch noch etwas werden könnte mit dem „Kanzler
für Österreich“, glauben mittlerweile wirklich nur mehr sehr gläubige Schwarze. Alle Umfragen sehen jedenfalls
anders aus.
Aber noch bevor die Entfesselung von Michael Spindelegger begonnen hat, hat Stauss im Frühjahr ein
lesenswertes Buch über seine bisherigen Wahlkämpfe herausgebracht - mit dem Titel „Höllenritt“ (dtv 2013).
Und dieses Buch endet mit einem kurzen aber ziemlich forschen Kapitel über Nichtwähler, das mir gefallen hat.
Und ich dachte, das wäre an diesem Wochenende doch passend.
(Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors)
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