Nichtwähler entscheiden im Superwahljahr 2004 Die Europawahl bestätigte den Trend: Wahlbeteiligung wird weiter sinken Sowohl die Europawahl wie die Thüringer Landtagswahl am 13. Juni 2004 haben den langfristigen Trend unterstrichen: Immer mehr Nichtwähler entscheiden in immer größerem Maß über den Ausgang von Wahlen – die Mobilisierung wird zur zentralen Frage, wo es früher nur galt, inhaltlich zu überzeugen. Genau diese Mobilisierung ist der SPD weder für die Europawahl noch in Thüringen gelungen. Nichtwähler haben so entscheidend zu den guten Ergebnissen der Union beigetragen – eine grundsätzlich durchaus bekannte Erscheinung. In der Wahlforschung spricht man vom “systematischen Oppositionseffekt”: Wer im Bund in der Regierungsverantwortung steht, macht fast zwangsläufig Fehler, enttäuscht Erwartungen, muss Kompromisse suchen. Die grundsätzliche Folge: Die größte der die Bundesregierung tragenden Parteien kann bei Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen ihre möglichen Wähler weniger gut motivieren als die Opposition im Bund, die von der dann geringeren Wahlbeteiligung mit prozentualen Gewinnen profitiert - ohne dabei zwangsläufig die eigenen Stimmen zu mehren. Jüngste Beispiele sind, neben den Wahlgängen des 13, Juni, die Landtagswahlen 2003 in Bayern und 2004 in Hamburg: Insbesondere der Triumph der CSU war eigentlich keiner, sie überzeugte annähernd eine Viertelmillion weniger Wähler als noch 1998, gewann aber relativ durch die zu Lasten der SPD dramatisch um fast 13% eingebrochene Wahlbeteiligung. Bis 1969 waren es eher bürgerliche Wähler, die regionale und kommunale, kurz: als weniger wichtig empfundene Wahlen zum Protest nutzten, während nach dem Bonner Machtwechsel die Union ihrerseits in den 70er Jahren fast überall hinzugewann, wo die Beteiligung gegenüber der Vorwahl absank. Von 1982 bis 1998 wiederum erwiesen sich Landtags- und Kommunalwahlen als Ventil für Unzufriedene aus dem regierenden bürgerlichen Lager. Mit der bekannten Folge, dass die Opposition im Bundestag über den Bundesrat mitregieren und in den Ländern personelle Alternativen entwickeln kann. Diejenigen, die diesen “Oppositionseffekt” verursachen, können also - in den meisten Fällen wohl eher ungewollt - politische Weisheit an den Tag legen. Nichtwählen wird zum Politikum, weil es die Bundesregierung daran hindert, zu mächtig zu werden. Nichtwähler leisten einen Beitrag zur Balance im politischen System, ihre Enthaltung entfaltet eine ausgleichende Wirkung, die Umfragen zufolge von der großen Mehrheit der Bevölkerung auch gewünscht und begrüßt wird. Seit 1998 haben sich die Vorzeichen wieder umgekehrt. Die „neue Mitte“ wurde schon im rot-grünen Katastrophenjahr 1999 zur neuen Leere in den Urnen. Der damalige Proteststurm scheint 2004 zu einem Orkan anzuschwellen: 1999 ging es „nur“ um Pleiten , Pech und Pannen, 2002/2003 kam, man erinnere sich an die Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen, das verbreitete Gefühl hinzu, vor der Bundestagswahl 2002 von der Regierung gleich hinter mehrere Lichter geführt worden zu sein. Seit dem Frühjahr 2003 grassiert der Unmut über zu wenig erklärte, handwerklich mangelhafte, als „ungerecht“ bewertete und nicht in ein erkennbares Gesamtkonzept eingebettete Reformbemühungen. Im Superwahljahr 2004 entscheiden sich deshalb viele frühere Sympathisanten besonders der SPD am jeweiligen Wahltag für ihre persönliche Politik der „ruhigen Hand“ – die Nichtwahl. Nach den Negativrekorden in Hamburg, Thüringen und bei der Europawahl sind in diesem Jahr neue Nachkriegsrekordtiefstände der Beteiligung zu erwarten – wie bei fast allen Wahlen der letzten Jahre. Diese Entwicklung hat neben den genannten aktuellen vor allem strukturelle Ursachen, gleich mehrere, seit Jahren anhaltende Trends trugen zur Zunahme der Nichtwähler bei. So wird die Wahlteilnahme besonders von jüngeren Menschen immer weniger als Bürgerpflicht verstanden. Da man sich also nicht mehr auf den Wahleifer verlassen kann, sondern viele Menschen nicht nur inhaltlich überzeugen, sondern überhaupt erst einmal zum Wahlgang motivieren muss, schlägt die negative Stimmung z.B. gegenüber der Bundesregierung doppelt durch - ganz besonders bei den Jungen: Diejenigen, die wählen gehen, bevorzugen eher die Union, und ein noch größerer Teil als bisher üblich enthält sich eben. Dabei hätten Jüngere eigentlich viel Interesse daran, sich gerade mehr als bisher zu beteiligen. Weil nämlich die über 60jährigen nicht nur schon jetzt knapp ein Drittel der Wahlberechtigten stellen, sondern auch wesentlich eifriger bei der Stimmabgabe sind, liegt ihr Anteil bei den Wählern entsprechend höher. Angesichts der bekannten demographischen Zahlen fällt es also nicht schwer, zu prognostizieren, dass in nicht ferner Zeit Ältere fast allein Wahlen entscheiden und die Interessen Jüngerer - z.B. in der Rentendiskussion - für Wahlkampfstrategen wenig Bedeutung haben mögen. Wegen des nachlassenden “staatsbürgerlichen Pflichtbewusstseins” und wegen der Abnahme von gesellschaftlichen Bindungen wird die Wahlbeteiligung in Deutschland langfristig weiter absinken. Insgesamt aber ist dies stärker als Normalisierungsprozess denn als Krisenzeichen zu werten: Beispielsweise kann “die” Politik sicher wenig dafür, dass aufgrund der Individualisierung und des Wertewandels die “Mobilisierungsmotoren” Familie, Kirche oder Verein immer weniger Menschen ansprechen und zum Wahlgang ermuntern. Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben nicht viel gegen „die“ Politik, beschäftigen sich aber auch nicht Tag und Nacht mit ihr. Je mehr Kontakt sie zu anderen Menschen haben, desto größer die Chance, auf Politik angesprochen, an die Wahl erinnert oder gar, von der Familie, zum Wahllokal im Wortsinn mitgenommen zu werden. Der allein vor sich hin lebende Großstadtsingle neigt weitaus mehr zur Wahlenthaltung als der in vielerlei Gemeinschaften eingebundene Kleinstadtbewohner. Als Warnung ernst zu nehmen ist Wahlenthaltung sicher da, wo sie von Politik- und Parteienverdruss kündet und, vor allem, in einem nächsten Schritt zur Wahl von Protestparteien führen könnte. Es gibt den bewussten Nichtwähler, der lieber zwischen Schwarz und Weiß wählen würde, aber nur dunkel- und hellgrau sieht. Es gibt auch die Wahlenthaltung aus Protest gegen angeblich abgehobene Politiker, die zur Lösung der “wahren” Probleme unfähig seien. Was 2003 der Steuersong war, zeigte sich 2004 im Karneval am Ende eines „Winters des Missvergnügens“: Die ansteckende Krankheit „Politikverdrossenheit“ geht wieder um. Sowenig Substanz auch hinter diesem Totschlagswort steckt und welcher Art auch immer die „wahren“ Probleme sind: Trotz aller Kritik an „der“ Politik ist Systemprotest nach dem alten APO-Motto von 1969, „Schweine regieren, Esel wählen“, praktisch nicht feststellbar – abnehmende Zustimmungswerte zu unseren demokratischen Institutionen und unserer Wirtschaftsordnung aber sehr wohl. Die Fundamente der deutschen Demokratie weisen Risse auf. Umso mehr sollte man sich davor hüten, „Politikverdrossenheit“ anzuheizen und Nichtwähler auch noch zu Vorbildern zu erklären: Nicht jeder Akt von bewusster Abstinenz ist als Mahnung an die eigene Partei oder als flammender Protest und Produkt wachsamer Intelligenz eines um die Demokratie besorgten Staatsbürgers zu sehen. Weil es vielmehr immer gut aussieht, wenn man sich als solcher ausgibt, äußert auch so mancher, der es schlicht aus Bequemlichkeit nicht zum Wahllokal geschafft hat, in Umfragen angeblichen Verdruss: “Rationalisierung” nennt die Wahlforschung dieses Phänomen, das zur Überschätzung der “Politikverdrossenheit” stark beiträgt. Nichtwähler sind nicht die Helden und genauso wenig die Totengräber der Demokratie. Wahlenthaltung bzw. die Höhe der Wahlbeteiligung sollte also weder idealisiert noch dramatisiert werden. Sie sagt ohnehin kaum etwas über das Funktionieren einer Demokratie aus. Noch keine - siehe die Beispiele Schweiz und USA - ist an zu niedriger Beteiligung gescheitert. Eher eine, nämlich die Weimarer Republik, an zu hoher Beteiligung, weil es der NSDAP offensichtlich gelang, in der Weltwirtschaftskrise politisch weniger interessierte, vormalige Nichtwähler zu mobilisieren. Einen Beleg dafür, dass die Stimmabgabe kein Wert an sich ist, stellte auch die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im April 1998 dar: In den Wahlkreisen mit den höchsten Zuwachsraten bei der Wahlbeteiligung erzielte die DVU ihre besten Ergebnisse – und 2002 wiederum war das Gleiche nur unter umgekehrten Vorzeichen zu beobachten. Auch der Rückgang der Beteiligung bei der Bundestagswahl 2002 gegenüber 1998 entspricht ziemlich genau dem Rückgang der Stimmen für Randparteien. Und so, wie es 2001 in Baden-Württemberg mehr Nicht- und weniger Republikaner-Wähler als 1996 gab, so war es in Hamburg 2004 kein Nachteil, dass einige Schill-Wähler des Jahres 2001 passiv blieben. In Deutschland sind die Wahlen laut Grundgesetz gleich, unmittelbar, geheim und frei. Letzteres schließt auch das Recht ein, nicht zu wählen. Wenn Bürger dieses Recht wahrnehmen, sollte man sie deswegen nicht verurteilen und die Demokratie deswegen nicht gleich am Abgrund sehen. Deutschland wird sich an weiter sinkenden Wahleifer so oder so gewöhnen müssen. Michael Eilfort ist Verfasser einer Dissertation über Nichtwähler und Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an den Universitäten Tübingen und Freiburg.