Texturen des Bildlichen

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Texturen des Bildlichen
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Herausgegeben von
Till Bardoux und Michael Heitz
Aus dem Französischen
von Till Bardoux
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Louis Marin | Texturen des Bildlichen
diaphanes
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1. Auflage
ISBN-10: 3-935300-67-0
ISBN-13: 978-3-935300-67-4
© diaphanes, Zürich-Berlin 2006
www.diaphanes.net
Alle Rechte vorbehalten
Layout: 2edit, Zürich
Druck: Stückle Ettenheim
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Inhalt
Cézanne,
ausgesetzt der zeitgenössischen Philosophie
7
Klee
oder die Rückkehr zum Ursprung
45
Der Pollock-Raum
59
Willem de Kooning
Ein Maler unter Einflüssen
95
Jasper Johns
Über das Zitat
125
Jeff Wall
Eviction Struggle, 1988
151
Nachwort der Herausgeber
Textnachweise
Personenverzeichnis
161
173
175
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Cézanne, ausgesetzt der zeitgenössischen Philosophie
»Wenn Sie mein Inneres sehen könnten, den inneren
Menschen, dann wären Sie nicht aufgebracht gegen
mich. Sehen Sie denn nicht, in welch traurigen Zustand ich geraten bin! Nicht Herr meiner selbst,
Mensch, der nicht existiert, und gerade Sie, der Sie
Philosoph sein wollen, wollen mir schließlich den
Rest geben? […] Im übrigen bin ich so gut wie tot.«
1
30. April 1896, an Joachim Gasquet.
»Worin hat der Diskurs, der sich rings um Cézanne entwickelt hat, dessen
Werk offenbart, und worin hat er es dem Blick verborgen?«
Ohne die Absicht zu haben, einen Diskurs über die Wissenschaften und die Künste zu verfassen, situiert sich mein Anliegen gleichwohl im Feld, das durch diese Frage eröffnet wird, einem Feld, das
ich durch drei Anmerkungen und zwei Zitate abstecken werde.
Erste Anmerkung: die gestellte Frage wirft in ihrer ganzen Allgemeingültigkeit das Problem der Beziehung zwischen einem gemalten Werk und einem Diskurs auf, dem Diskurs, den jenes Werk her1 Paul Cézanne: Briefe, aus dem Französischen von John Rewald, Zürich 1962,
S. 228 [die Übersetzungen wurden gelegentlich leicht dem Original angeglichen
(A.d.Ü.)].
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Paul Cézanne
ausfordert [provoque], dem Diskurs, der jenes Werk vorlädt [convoque],
wobei diese Herausforderung einer bestimmten Malerei zum Diskurs zugleich als eine Provokation und ein Appell, als ein brüsker
Anruf und eine Befragung verstanden werden könnte; wobei diese
von einem bestimmten Diskurs an die Malerei herangetragene Vorladung ihrerseits als eine strikte Weisung zur Illustration, zur Argumentation, gar zum Beweis, den dieser Diskurs in dieser Malerei
fände, verstanden werden könnte.
Es soll hier jener doppelten und entgegengesetzen Bewegung der
Malerei und des Diskurses gefolgt werden, der Malerei Cézannes als
pikturaler Befragung des philosophischen Diskurses, eines philosophischen Diskurses als Vorladung der Malerei, wenn schon nicht,
um die philosophische Frage zu beantworten [répondre à elle], so
doch zumindest, um für sie zu bürgen [répondre d’elle], und zwar gerade auch, indem man sie stellt.
Daher eine zweite Anmerkung: was den Diskurs betrifft, wird es
sich hier also um den philosophischen Diskurs handeln, das heißt
um einen Diskurs, der aus der Befragung seine Position bezieht,
eine Position, deren grundlegende These die Frage selbst ist: merkwürdige Position des Diskurses, merkwürdige Position des Wahrheitsdiskurses: nicht »ich weiß« oder »ich weiß nicht«, sondern
»was weiß ich?«, und keineswegs zufällig taucht hier die Devise
Montaignes auf. Wie kann sich die Philosophie in ihrem Diskurs in
dieser Frage-Stellung aufrechterhalten, ohne die Befragung in Position, in Standpunkt umzuwandeln?
Dritte Anmerkung: was weiß ich? Die Frage der Philosophie und
der Wahrheit in Philosophie bedeutet zuallerst folgendes: was ich
weiß, weiß ich es wirklich? Kritische Frage, die Kant der Philosoph
(den Cézanne, so sagt man, gelesen hatte) den Gelehrten stellte:
»Was Ihr wißt – und ich bestreite nicht, daß Ihr etwas wißt – wißt
Ihr es wirklich? Ihr schuldet mir die Wahrheit, sagt die Philosophie
zur Mathematik wie zur Physik, zur Optik wie zur Soziologie, zur
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Paul Cézanne
Psychologie oder zur Geschichte, Ihr schuldet mir die Wahrheit in
Wissenschaft… und ich werde sie Euch sagen.« Wobei hinzuzufügen wäre, daß sich der Philosoph dieselbe kritische Frage auch selbst
stellt: »Was ich weiß, weiß ich es wirklich?« Und der Philosoph
könnte seine gesamte Aufgabe den Gelehrten und sich selbst gegenüber auf folgende Weise formulieren: ich schulde euch die Wahrheit
in Philosophie [la vérité en philosophie] – Versprechen, das vielleicht
unhaltbar ist –, und ich werde sie euch sagen – Pflicht, die vielleicht
2
unaushaltbar ist.
»Was weiß ich?« ist nicht allein die Frage »was ich weiß, weiß ich
es wahrlich?«, sondern auch: »wer bin ich, der ich mich frage, was
ich weiß?«, wo die Reflexionsbewegung in der Frage erscheint. Die
Frage ist demnach der Raum, der Ort, das Milieu, das Element der
Position des philosophischen Diskurses. Es genügt nun, diese Proposition umzukehren, um zu verstehen, wie eine Malerei die Frage
nach der Wahrheit in Philosophie stellen kann, eine Malerei so wie
die von Cézanne: Wie verwirklichen der Raum, der Ort und das Milieu, das Element des Lichts und der Farbe in Malerei die Frage nach
der Wahrheit in Philosophie? Und wenn man über die Verwurzelung Cézannes in der Erde und der Luft, dem Licht und der Natur
der Provence redet – wie man es immer und immer wieder getan
hat –, müßte man sich fragen, mit dem Maler selbst, doch auch mit
dem Philosophen, wobei sich der Maler an den Philosophen wendet
und jener an den Maler, in der Zeit, die die ihre ist, die Zeit der Moderne, man müßte sich also fragen: wie gelangt die Logik (der philosophische Logos) dahin, im sinnlich wahrnehmbaren Raum Wurzeln zu schlagen? Daher die beiden Zitate: das erste aus einem Brief
2 Ebd., S. 295f. (an Émile Bernard, 23. Okt. 1905). Zu dieser berühmten Formel Cézannes vgl. Hubert Damisch: »Huit thèses pour (ou contre?) une sémiologie de la peinture«, in: Macula, 2, 1977 sowie Jacques Derridas Analyse Die
Wahrheit in der Malerei [1978], aus dem Französischen von Michael Wetzel, bearb. von Dagmar Travner, Wien 1992, S. 16-24.
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Paul Cézanne
Cézannes, einen Monat vor seinem Tod: »[…] ich glaube an die logische Entwicklung dessen, was wir […] sehen und empfinden, und
will mich erst im Anschluß mit den Malverfahren beschäftigen. Die
Verfahren sind für uns nur einfache Mittel, mit denen es uns gelingen soll, das Publikum spüren zu lassen, was wir selbst empfinden,
3
und um uns genehm zu machen«.
Das zweite ist ein Auszug aus Husserls Erfahrung und Urteil, einem
1939 postum veröffentlichten Text, dessen erste Bestandteile jedoch
aus der Zeit unseres Malers stammen: »Das Urteilen, das sich auf die
sinnliche Wahrnehmung und die Explikation, in die ja die Wahrnehmung zumeist sogleich übergeht, gründet, und diese selbst setzen schon voraus ein Sichausleben eines rein betrachtenden Interesses an den vorgegebenen affizierenden letzten Substraten, den
Körpern. Was in der vorprädikativen Sphäre zunächst verfolgt wird,
ist also die konsequente Auswirkung des Wahrnehmungsinteres4
ses.« Und in bezug auf jene »logische« Inswerksetzung dessen, was
er die fundamentale aisthesis (das schlichte sinnliche Gewahrwerden) nennt, fügt Husserl hinzu: »Wir machen die Fiktion eines Subjektes, das sich bloß betrachtend verhält und von dem Seienden,
von dem es umweltlich affiziert wird, zu keiner praktischen Hand5
lung veranlaßt wird.«
Und so kreuzen sich die Frage nach der Wahrheit in Malerei [la
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vérité en peinture] und jene nach der Wahrheit in Philosophie in einem Feld, in dem beim Maler und beim Philosophen die Frage der
Theorie und der Logik, des Subjektes und des Blickes, des Auges, des
Objektes und der Natur steht. Es ist diese Kreuzungsstelle, die ich
erkunden möchte.
3 Paul Cézanne, Briefe, a.a.O., S. 307f. (an Émile Bernard, 21. Sept. 1906).
4 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik
[1939], Hamburg 1972, S. 66f.
5 Ebd., S. 69.
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Paul Cézanne
Über die Wahrheit in Malerei und die Wahrheit in Philosophie
Es gilt also, mit folgender Frage zu Cézanne zurückzugelangen:
»Was heißt es, von einem Gemälde zu »sprechen«? Und weshalb darüber sprechen, wenn sich die Malerei doch sehen läßt ?« Man wird
gleichwohl bemerken, daß dieses Privileg der Malerei, zu schweigen
und sich zu zeigen, diejenigen, die sie wertschätzten, niemals vom
Sprechen abhielt: ihr Schweigen, welches das dunkle Strahlen des
Lichtfeldes des Sichtbaren ist, fordert im Gegenteil die Sprache her7
aus – und ihre Stummheit das Geschwätz. Zwei wesentliche Arten
des ›Sinns‹ stehen sich hier gegenüber als das Intransitive und das
Transitive, die Distanz und die Unmittelbarkeit: vermittels über…,
von…, rings um…; sehen, schauen, betrachten; die Vermittlung eines
Diskurses und die Eröffnung einer Distanz zwischen dem Auge und
dem Ding durch die sprachlichen Zeichen, während sich der Gegenstand der Malerei doch zuerst in jener Gebung [donation] sieht und
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unerschöpflich erschöpft. Dieses Auf-Distanz-Bringen durch die
sprachlichen Zeichen wird durch den philosophischen Diskurs in
den Raum der Frage nach der Wahrheit eingeführt: was ist die
rechte, die gute, die wahre Distanz, um rings um…, über…, vom…
Gemälde zu sprechen, die wahre Distanz, an deren Ende oder in der
6 Bereits in der Übersetzung von Derridas La vérité en peinture wird auf das idiomatische Grundproblem der Wendung en peinture hingewiesen: »Man müßte eigentlich sagen ›in Malerei‹, so wie man sagt, man übe sich ›in Malerei‹…« (vgl.
Die Wahrheit in der Malerei, a.a.O., S. 443, Anm. 2 zu S. 15). Da es in Marins Text
(und auch in Cézannes Zitaten) meist ganz ausdrücklich um das Medium geht,
in dem die Wahrheit ausgedrückt wird (und weniger um den Ort derselben innerhalb des Mediums), soll hier im folgenden die exakte Entsprechung »in Malerei« (»in Philosophie« etc.) verwandt werden [A.d.Ü.].
7 Jean Mouton: Du silence au mutisme en peinture, Paris 1959, S. 136.
8 Vgl. Jean-François Lyotard: Discours, figure, Paris 1971, passim und insbesondere S. 53ff. [Zur als Ereignis begriffenen donation vgl. v.a. auch ebd., S. 21;
A.d.Ü.]
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Paul Cézanne
sich die Wahrheit des Gemäldes offenbaren würde, das Gemälde in
Wahrheit, der Malerei Wahrheit selbst, die erlauben würde, die
Wahrheit der Malerei zu sagen, soll heißen die Malerei zu sagen?
Derart sind wir – zugunsten jener Distanzierung durch den Diskurs und in demselben – von der opaken Vermittlung der sprachlichen Zeichen zur transparenten Unmittelbarkeit des Blicks übergegangen: wir sind mittels der Frage nach der Wahrheit von der einen
zur anderen übergegangen.
Man muß diese Distanz und diese Distanzierung verstehen als das
Intervall einer Grenze zwischen Heterogenem: Raum und Sprache,
Art zu sehen und Art zu sagen, das Eigentliche und die Figur. Zwei
Markierungen für dieses Vorgehen: die eine, die ein Philosoph setzt,
der, selbst wenn man ihm glauben wollte, daß er die Malerei nicht
sehr gut verstand, wußte, was es mit dem Raum auf sich hatte, da
er ein großer Geometer war; die andere, plaziert von einem Maler,
der, selbst wenn man glauben wollte, daß er die Philosophie nicht
sehr gut verstand, wußte, was es mit der Wahrheit auf sich hatte, da
er ein großer Maler war: Pascal und Cézanne.
»Die Verschiedenartigkeit ist so weitfassend wie alle Töne der
Stimme, alle Arten zu gehen, zu husten, sich zu schneuzen und zu
niesen. Man unterscheidet von den übrigen Früchten die Weintrauben, und von denen wiederum die Muskateller, dann weiter die aus
Condrieu, dann die von Desargues gezüchteten, von denen dann
wiederum jenen gepfropften Weinstock. Ist das alles? Hat ein Weinstock jemals zwei gleiche Trauben hervorgebracht? Und hat eine
Traube zwei gleiche Kerne? etc. Ich habe niemals über die gleiche
Sache genau gleich geurteilt, ich kann mein Werk nicht beurteilen,
während ich es schaffe […] Wenn man sein unausgegorenes Werk
betrachtet, unmittelbar nachdem man es geschaffen hat, ist man immer noch ganz von ihm eingenommen; zu lange danach findet man
keinen Zugang mehr. Wie bei den Gemälden, die man von zu nah
oder von zu fern betrachtet, und es gibt nur einen unteilbaren
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Paul Cézanne
Punkt, der die richtige Stelle ist. Die anderen sind zu nah, zu fern,
zu hoch oder zu niedrig. Die Perspektive weist ihn in der Kunst der
Malerei. Doch in der Wirklichkeit, wer weist ihn da? […] Ich muß
es machen wie die Maler und Abstand nehmen; doch nicht zuviel.
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Wie weit also? Schätzet.«
Und nun Cézanne der Maler: »Schließlich will ich Dir sagen, daß
ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, doch daß bei mir die
Verwirklichung meiner Empfindungen immer noch sehr mühselig
ist. Ich kann die Intensität nicht erreichen, die sich meinen Sinnen
unterbreitet, ich verfüge nicht über jenen wunderbaren Reichtum
der Farbgebung, der die Natur beseelt. Hier am Ufer des Flusses vervielfachen sich die Motive; dasselbe Sujet, unter einem anderen
Blickwinkel gesehen, bietet ein höchst interessantes und derart vielfältiges Studiensujet, daß ich glaube, ich könnte mich monatelang
damit beschäftigen, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich
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bald mehr nach rechts, bald mehr nach links beuge.«
Oder auch: »Die zu entwickelnde These besteht nun – was auch
immer unser Temperament oder unsere Form der Kraft in Gegenwart der NATUR sein mag – darin, das Bild dessen zu geben, was wir
sehen, und dabei alles zu vergessen, was vor uns erschienen ist. […]
Ich schulde Ihnen die Wahrheit in Malerei, und ich werde sie Ihnen
sagen. […] Einen kräftigen Händedruck und guten Mut. Die Optik,
die sich bei uns durch das [Natur-]Studium entwickelt, lehrt uns se11
hen.«
Auf der einen Seite also, jener der Philosophie, der Raum der
Frage, die eine Frage des Raumes ist: diejenige nach der Distanz, die,
9 Blaise Pascal: Gedanken, Fragmente 114 & 381 (Ed. Brunschvicg) bzw. 983 &
58 (Ed. Lafuma).
10 Paul Cézanne, Briefe, a.a.O., S. 304f. (an seinen Sohn, 8. Sept. 1906) [Hervorhebung durch Marin].
11 Ebd., S. 295f. (an Émile Bernard, 23. Okt. 1905) [Hervorhebung durch Marin].
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