marin_texturen.book Page 1 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Texturen des Bildlichen marin_texturen.book Page 2 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Herausgegeben von Till Bardoux und Michael Heitz Aus dem Französischen von Till Bardoux marin_texturen.book Page 3 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Louis Marin | Texturen des Bildlichen diaphanes marin_texturen.book Page 4 Monday, August 21, 2006 12:09 PM 1. Auflage ISBN-10: 3-935300-67-0 ISBN-13: 978-3-935300-67-4 © diaphanes, Zürich-Berlin 2006 www.diaphanes.net Alle Rechte vorbehalten Layout: 2edit, Zürich Druck: Stückle Ettenheim marin_texturen.book Page 5 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Inhalt Cézanne, ausgesetzt der zeitgenössischen Philosophie 7 Klee oder die Rückkehr zum Ursprung 45 Der Pollock-Raum 59 Willem de Kooning Ein Maler unter Einflüssen 95 Jasper Johns Über das Zitat 125 Jeff Wall Eviction Struggle, 1988 151 Nachwort der Herausgeber Textnachweise Personenverzeichnis 161 173 175 marin_texturen.book Page 6 Monday, August 21, 2006 12:09 PM marin_texturen.book Page 7 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Cézanne, ausgesetzt der zeitgenössischen Philosophie »Wenn Sie mein Inneres sehen könnten, den inneren Menschen, dann wären Sie nicht aufgebracht gegen mich. Sehen Sie denn nicht, in welch traurigen Zustand ich geraten bin! Nicht Herr meiner selbst, Mensch, der nicht existiert, und gerade Sie, der Sie Philosoph sein wollen, wollen mir schließlich den Rest geben? […] Im übrigen bin ich so gut wie tot.« 1 30. April 1896, an Joachim Gasquet. »Worin hat der Diskurs, der sich rings um Cézanne entwickelt hat, dessen Werk offenbart, und worin hat er es dem Blick verborgen?« Ohne die Absicht zu haben, einen Diskurs über die Wissenschaften und die Künste zu verfassen, situiert sich mein Anliegen gleichwohl im Feld, das durch diese Frage eröffnet wird, einem Feld, das ich durch drei Anmerkungen und zwei Zitate abstecken werde. Erste Anmerkung: die gestellte Frage wirft in ihrer ganzen Allgemeingültigkeit das Problem der Beziehung zwischen einem gemalten Werk und einem Diskurs auf, dem Diskurs, den jenes Werk her1 Paul Cézanne: Briefe, aus dem Französischen von John Rewald, Zürich 1962, S. 228 [die Übersetzungen wurden gelegentlich leicht dem Original angeglichen (A.d.Ü.)]. 7 marin_texturen.book Page 8 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Paul Cézanne ausfordert [provoque], dem Diskurs, der jenes Werk vorlädt [convoque], wobei diese Herausforderung einer bestimmten Malerei zum Diskurs zugleich als eine Provokation und ein Appell, als ein brüsker Anruf und eine Befragung verstanden werden könnte; wobei diese von einem bestimmten Diskurs an die Malerei herangetragene Vorladung ihrerseits als eine strikte Weisung zur Illustration, zur Argumentation, gar zum Beweis, den dieser Diskurs in dieser Malerei fände, verstanden werden könnte. Es soll hier jener doppelten und entgegengesetzen Bewegung der Malerei und des Diskurses gefolgt werden, der Malerei Cézannes als pikturaler Befragung des philosophischen Diskurses, eines philosophischen Diskurses als Vorladung der Malerei, wenn schon nicht, um die philosophische Frage zu beantworten [répondre à elle], so doch zumindest, um für sie zu bürgen [répondre d’elle], und zwar gerade auch, indem man sie stellt. Daher eine zweite Anmerkung: was den Diskurs betrifft, wird es sich hier also um den philosophischen Diskurs handeln, das heißt um einen Diskurs, der aus der Befragung seine Position bezieht, eine Position, deren grundlegende These die Frage selbst ist: merkwürdige Position des Diskurses, merkwürdige Position des Wahrheitsdiskurses: nicht »ich weiß« oder »ich weiß nicht«, sondern »was weiß ich?«, und keineswegs zufällig taucht hier die Devise Montaignes auf. Wie kann sich die Philosophie in ihrem Diskurs in dieser Frage-Stellung aufrechterhalten, ohne die Befragung in Position, in Standpunkt umzuwandeln? Dritte Anmerkung: was weiß ich? Die Frage der Philosophie und der Wahrheit in Philosophie bedeutet zuallerst folgendes: was ich weiß, weiß ich es wirklich? Kritische Frage, die Kant der Philosoph (den Cézanne, so sagt man, gelesen hatte) den Gelehrten stellte: »Was Ihr wißt – und ich bestreite nicht, daß Ihr etwas wißt – wißt Ihr es wirklich? Ihr schuldet mir die Wahrheit, sagt die Philosophie zur Mathematik wie zur Physik, zur Optik wie zur Soziologie, zur 8 marin_texturen.book Page 9 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Paul Cézanne Psychologie oder zur Geschichte, Ihr schuldet mir die Wahrheit in Wissenschaft… und ich werde sie Euch sagen.« Wobei hinzuzufügen wäre, daß sich der Philosoph dieselbe kritische Frage auch selbst stellt: »Was ich weiß, weiß ich es wirklich?« Und der Philosoph könnte seine gesamte Aufgabe den Gelehrten und sich selbst gegenüber auf folgende Weise formulieren: ich schulde euch die Wahrheit in Philosophie [la vérité en philosophie] – Versprechen, das vielleicht unhaltbar ist –, und ich werde sie euch sagen – Pflicht, die vielleicht 2 unaushaltbar ist. »Was weiß ich?« ist nicht allein die Frage »was ich weiß, weiß ich es wahrlich?«, sondern auch: »wer bin ich, der ich mich frage, was ich weiß?«, wo die Reflexionsbewegung in der Frage erscheint. Die Frage ist demnach der Raum, der Ort, das Milieu, das Element der Position des philosophischen Diskurses. Es genügt nun, diese Proposition umzukehren, um zu verstehen, wie eine Malerei die Frage nach der Wahrheit in Philosophie stellen kann, eine Malerei so wie die von Cézanne: Wie verwirklichen der Raum, der Ort und das Milieu, das Element des Lichts und der Farbe in Malerei die Frage nach der Wahrheit in Philosophie? Und wenn man über die Verwurzelung Cézannes in der Erde und der Luft, dem Licht und der Natur der Provence redet – wie man es immer und immer wieder getan hat –, müßte man sich fragen, mit dem Maler selbst, doch auch mit dem Philosophen, wobei sich der Maler an den Philosophen wendet und jener an den Maler, in der Zeit, die die ihre ist, die Zeit der Moderne, man müßte sich also fragen: wie gelangt die Logik (der philosophische Logos) dahin, im sinnlich wahrnehmbaren Raum Wurzeln zu schlagen? Daher die beiden Zitate: das erste aus einem Brief 2 Ebd., S. 295f. (an Émile Bernard, 23. Okt. 1905). Zu dieser berühmten Formel Cézannes vgl. Hubert Damisch: »Huit thèses pour (ou contre?) une sémiologie de la peinture«, in: Macula, 2, 1977 sowie Jacques Derridas Analyse Die Wahrheit in der Malerei [1978], aus dem Französischen von Michael Wetzel, bearb. von Dagmar Travner, Wien 1992, S. 16-24. 9 marin_texturen.book Page 10 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Paul Cézanne Cézannes, einen Monat vor seinem Tod: »[…] ich glaube an die logische Entwicklung dessen, was wir […] sehen und empfinden, und will mich erst im Anschluß mit den Malverfahren beschäftigen. Die Verfahren sind für uns nur einfache Mittel, mit denen es uns gelingen soll, das Publikum spüren zu lassen, was wir selbst empfinden, 3 und um uns genehm zu machen«. Das zweite ist ein Auszug aus Husserls Erfahrung und Urteil, einem 1939 postum veröffentlichten Text, dessen erste Bestandteile jedoch aus der Zeit unseres Malers stammen: »Das Urteilen, das sich auf die sinnliche Wahrnehmung und die Explikation, in die ja die Wahrnehmung zumeist sogleich übergeht, gründet, und diese selbst setzen schon voraus ein Sichausleben eines rein betrachtenden Interesses an den vorgegebenen affizierenden letzten Substraten, den Körpern. Was in der vorprädikativen Sphäre zunächst verfolgt wird, ist also die konsequente Auswirkung des Wahrnehmungsinteres4 ses.« Und in bezug auf jene »logische« Inswerksetzung dessen, was er die fundamentale aisthesis (das schlichte sinnliche Gewahrwerden) nennt, fügt Husserl hinzu: »Wir machen die Fiktion eines Subjektes, das sich bloß betrachtend verhält und von dem Seienden, von dem es umweltlich affiziert wird, zu keiner praktischen Hand5 lung veranlaßt wird.« Und so kreuzen sich die Frage nach der Wahrheit in Malerei [la 6 vérité en peinture] und jene nach der Wahrheit in Philosophie in einem Feld, in dem beim Maler und beim Philosophen die Frage der Theorie und der Logik, des Subjektes und des Blickes, des Auges, des Objektes und der Natur steht. Es ist diese Kreuzungsstelle, die ich erkunden möchte. 3 Paul Cézanne, Briefe, a.a.O., S. 307f. (an Émile Bernard, 21. Sept. 1906). 4 Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik [1939], Hamburg 1972, S. 66f. 5 Ebd., S. 69. 10 marin_texturen.book Page 11 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Paul Cézanne Über die Wahrheit in Malerei und die Wahrheit in Philosophie Es gilt also, mit folgender Frage zu Cézanne zurückzugelangen: »Was heißt es, von einem Gemälde zu »sprechen«? Und weshalb darüber sprechen, wenn sich die Malerei doch sehen läßt ?« Man wird gleichwohl bemerken, daß dieses Privileg der Malerei, zu schweigen und sich zu zeigen, diejenigen, die sie wertschätzten, niemals vom Sprechen abhielt: ihr Schweigen, welches das dunkle Strahlen des Lichtfeldes des Sichtbaren ist, fordert im Gegenteil die Sprache her7 aus – und ihre Stummheit das Geschwätz. Zwei wesentliche Arten des ›Sinns‹ stehen sich hier gegenüber als das Intransitive und das Transitive, die Distanz und die Unmittelbarkeit: vermittels über…, von…, rings um…; sehen, schauen, betrachten; die Vermittlung eines Diskurses und die Eröffnung einer Distanz zwischen dem Auge und dem Ding durch die sprachlichen Zeichen, während sich der Gegenstand der Malerei doch zuerst in jener Gebung [donation] sieht und 8 unerschöpflich erschöpft. Dieses Auf-Distanz-Bringen durch die sprachlichen Zeichen wird durch den philosophischen Diskurs in den Raum der Frage nach der Wahrheit eingeführt: was ist die rechte, die gute, die wahre Distanz, um rings um…, über…, vom… Gemälde zu sprechen, die wahre Distanz, an deren Ende oder in der 6 Bereits in der Übersetzung von Derridas La vérité en peinture wird auf das idiomatische Grundproblem der Wendung en peinture hingewiesen: »Man müßte eigentlich sagen ›in Malerei‹, so wie man sagt, man übe sich ›in Malerei‹…« (vgl. Die Wahrheit in der Malerei, a.a.O., S. 443, Anm. 2 zu S. 15). Da es in Marins Text (und auch in Cézannes Zitaten) meist ganz ausdrücklich um das Medium geht, in dem die Wahrheit ausgedrückt wird (und weniger um den Ort derselben innerhalb des Mediums), soll hier im folgenden die exakte Entsprechung »in Malerei« (»in Philosophie« etc.) verwandt werden [A.d.Ü.]. 7 Jean Mouton: Du silence au mutisme en peinture, Paris 1959, S. 136. 8 Vgl. Jean-François Lyotard: Discours, figure, Paris 1971, passim und insbesondere S. 53ff. [Zur als Ereignis begriffenen donation vgl. v.a. auch ebd., S. 21; A.d.Ü.] 11 marin_texturen.book Page 12 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Paul Cézanne sich die Wahrheit des Gemäldes offenbaren würde, das Gemälde in Wahrheit, der Malerei Wahrheit selbst, die erlauben würde, die Wahrheit der Malerei zu sagen, soll heißen die Malerei zu sagen? Derart sind wir – zugunsten jener Distanzierung durch den Diskurs und in demselben – von der opaken Vermittlung der sprachlichen Zeichen zur transparenten Unmittelbarkeit des Blicks übergegangen: wir sind mittels der Frage nach der Wahrheit von der einen zur anderen übergegangen. Man muß diese Distanz und diese Distanzierung verstehen als das Intervall einer Grenze zwischen Heterogenem: Raum und Sprache, Art zu sehen und Art zu sagen, das Eigentliche und die Figur. Zwei Markierungen für dieses Vorgehen: die eine, die ein Philosoph setzt, der, selbst wenn man ihm glauben wollte, daß er die Malerei nicht sehr gut verstand, wußte, was es mit dem Raum auf sich hatte, da er ein großer Geometer war; die andere, plaziert von einem Maler, der, selbst wenn man glauben wollte, daß er die Philosophie nicht sehr gut verstand, wußte, was es mit der Wahrheit auf sich hatte, da er ein großer Maler war: Pascal und Cézanne. »Die Verschiedenartigkeit ist so weitfassend wie alle Töne der Stimme, alle Arten zu gehen, zu husten, sich zu schneuzen und zu niesen. Man unterscheidet von den übrigen Früchten die Weintrauben, und von denen wiederum die Muskateller, dann weiter die aus Condrieu, dann die von Desargues gezüchteten, von denen dann wiederum jenen gepfropften Weinstock. Ist das alles? Hat ein Weinstock jemals zwei gleiche Trauben hervorgebracht? Und hat eine Traube zwei gleiche Kerne? etc. Ich habe niemals über die gleiche Sache genau gleich geurteilt, ich kann mein Werk nicht beurteilen, während ich es schaffe […] Wenn man sein unausgegorenes Werk betrachtet, unmittelbar nachdem man es geschaffen hat, ist man immer noch ganz von ihm eingenommen; zu lange danach findet man keinen Zugang mehr. Wie bei den Gemälden, die man von zu nah oder von zu fern betrachtet, und es gibt nur einen unteilbaren 12 marin_texturen.book Page 13 Monday, August 21, 2006 12:09 PM Paul Cézanne Punkt, der die richtige Stelle ist. Die anderen sind zu nah, zu fern, zu hoch oder zu niedrig. Die Perspektive weist ihn in der Kunst der Malerei. Doch in der Wirklichkeit, wer weist ihn da? […] Ich muß es machen wie die Maler und Abstand nehmen; doch nicht zuviel. 9 Wie weit also? Schätzet.« Und nun Cézanne der Maler: »Schließlich will ich Dir sagen, daß ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, doch daß bei mir die Verwirklichung meiner Empfindungen immer noch sehr mühselig ist. Ich kann die Intensität nicht erreichen, die sich meinen Sinnen unterbreitet, ich verfüge nicht über jenen wunderbaren Reichtum der Farbgebung, der die Natur beseelt. Hier am Ufer des Flusses vervielfachen sich die Motive; dasselbe Sujet, unter einem anderen Blickwinkel gesehen, bietet ein höchst interessantes und derart vielfältiges Studiensujet, daß ich glaube, ich könnte mich monatelang damit beschäftigen, ohne den Platz zu wechseln, indem ich mich 10 bald mehr nach rechts, bald mehr nach links beuge.« Oder auch: »Die zu entwickelnde These besteht nun – was auch immer unser Temperament oder unsere Form der Kraft in Gegenwart der NATUR sein mag – darin, das Bild dessen zu geben, was wir sehen, und dabei alles zu vergessen, was vor uns erschienen ist. […] Ich schulde Ihnen die Wahrheit in Malerei, und ich werde sie Ihnen sagen. […] Einen kräftigen Händedruck und guten Mut. Die Optik, die sich bei uns durch das [Natur-]Studium entwickelt, lehrt uns se11 hen.« Auf der einen Seite also, jener der Philosophie, der Raum der Frage, die eine Frage des Raumes ist: diejenige nach der Distanz, die, 9 Blaise Pascal: Gedanken, Fragmente 114 & 381 (Ed. Brunschvicg) bzw. 983 & 58 (Ed. Lafuma). 10 Paul Cézanne, Briefe, a.a.O., S. 304f. (an seinen Sohn, 8. Sept. 1906) [Hervorhebung durch Marin]. 11 Ebd., S. 295f. (an Émile Bernard, 23. Okt. 1905) [Hervorhebung durch Marin]. 13