Spezielle Biomechanik – Anpassung asymmetrischer Headgear 276 ■ Spezielle Biomechanik – Anpassung asymmetrischer Headgear Die effizientere biomechanische Wirkungsweise der Distalisation der 1. Molaren sowie der 1. und 2. Molaren des asymmetrischen Headgears liegt in der Außenarmgeometrie des Headgears. Durch die unterschiedliche Außenarmlänge, mittellang und lang, kann die fast doppelte Kraft auf der Seite des langen Außenarms erzielt werden (Wichelhaus et al. 1995). Dieser Effekt konnte bis zur Einführung des Gelenks (Sander 1990) klinisch jedoch nicht immer erzielt werden. Aufgrund der Unsicherheit oder gar eines fehlenden Behandlungserfolgs wurde der asymmetrische Headgear im Praxisalltag wenig verwendet. Durch die Einführung des Gelenks ist er heute ein Bestandteil in unserem Behandlungskonzept der dentalen Klasse-II-Anomalie. Biomechanik asymmetrischer Headgear Durch eine einseitig stärkere Rotati­ onsstellung des Molaren entsteht bei Einbringen des Innenbogens eine ex­ zentrische Kraft. Diese führt biome­ chanisch zu umgekehrten sagittalen Effekten. Auf der Seite, auf der dista­ lisiert werden soll, entsteht eine me­ siale Kraft und ein Drehmoment und auf der nicht zu distalisierenden Sei­ te eine distale Kraft. Der asymmetri­ sche Headgear wird klinisch unwirk­ sam. 726 Entscheidend für die klinische Wirkungsweise des asymmetrischen Headgears ist die biomechanische Entkopplung der sich aus der Innenarmgeometrie ergebenden Effekte (Abb. 724). Sie entstehen durch unterschiedliche Rotationsstellungen der Molaren (Abb. 725). Dies ist klinisch eine häufige Situation. Biomechanik Innenarmgeometrien Biomechanisch besteht bei einer Stützzoneneinengung von posterior oder Aufwanderung der Molaren in einem Quadranten im Oberkiefer das Problem einer unterschiedlichen Ro­ tationsstellung der Molaren. Da­ durch kann die Wirkung des asym­ metrischen Headgears durch die sich dann ergebende Innenarmgeometrie aufgehoben werden. 725 Biomechanik Innenarmgeometrie Biomechanik asymmetrischer Headgear Die durch die Rotation der Molaren veränderte Bukkalfläche des Zahnes und damit Einschubrichtung des At­ tachments am Molarenband kann teilweise durch Anpassung der Bayo­ nettbiegung ausgeglichen werden. Eine völlige Passivierung ist jedoch nicht möglich. Daher ist der Einbau eines Gelenks auf der gegenüberlie­ genden Seite erforderlich (rechts). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 724 Biomechanisch muss zwischen der Innen- und Außenarmgeometrie unterschieden werden. Die Innenarmgeometrie ist entscheidend für die sichere Umsetzung der eingestellten Außenarmgeometrie, die Außenarmgeometrie für den distalisierenden Effekt. Biomechanik Außenarmgeometrie Kräfte symmetrischer Headgear Fx Fy Fz Sensor 1 –4,02 –1,13 0,86 Sensor 2 –5,2 –1,22 0,49 Kräfte asymmetrischer Head­ gear ohne Gelenk Fx Fy Fz Sensor 1 –6,55 –1,02 0,7 Sensor 2 –2,88 –2,08 –0,52 Kräfte asymmetrischer Head­ gear mit Gelenk Fx Fy Fz Sensor 1 –7,14 –0,44 0,69 Sensor 2 –2,06 –1,62 0,24 Biomechanik Außenarmgeometrie Die biomechanischen Untersuchungen des symmetrischen und asymmetrischen Headgears zeigen, dass der distalisierende Effekt am langen Außenarm nicht durch den distalisierenden Kraftvektor allein, sondern aufgrund des größeren Drehmoments entsteht (Sander 1990). Dies wird durch den größeren Abstand des langen und kleineren Abstands des mittellangen Außenarms verursacht. 727 Symmetrischer Headgear Die biomechanischen Messungen des symmetrischen Headgears (Mit­ te) zeigen, dass auch bei diesem Headgear eine asymmetrische dista­ lisierende Kraft (Fx) entsteht (links). Klinisch ist dies jedoch nicht relevant (nach Wichelhaus et al. 1995). 728 Biomechanik asymmetrischer Headgear ohne Gelenk Beim asymmetrischen Headgear ohne Gelenk (Mitte) entsteht bei ei­ ner eingesetzten Kraft von 4–5 N eine distalisierende Kraft von 6,5 N (Fx Sensor 1) am Molaren des langen und eine Kraft von 3 N (Fx Sensor 2) am Molaren des mittellangen Außen­ arms (links). Die Differenz der Kraft­ größe beträgt ca. 3 N. Voraussetzung ist, dass auf beiden Seiten die ange­ legte Kraft am Außenarm gleich groß ist und keine Rotationsstellung der Molaren besteht (nach Wichel­ haus et al. 1995). 729 Biomechanik asymmetrischer Headgear mit Gelenk Beim asymmetrischen Headgear mit Gelenk (Mitte) entsteht bei einer ein­ gesetzten Kraft von 4–5 N eine dista­ lisierende Kraft von 7 N (Fx Sensor 1) am Molaren des langen und eine Kraft von 2 N (Fx Sensor 2) am Mola­ ren des mittellangen Außenarms (Fx Sensor 1 und 2). Die Differenz der Kraftgröße beträgt ca. 5 N. Damit ist die asymmetrische Wirkung bei An­ wendung des Gelenks am größten (nach Wichelhaus et al. 1995). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Bei symmetrischer Bayonettbiegung an den Molaren ergibt sich bei unsymmetrischer Stellung der Molaren ein biomechanischer Effekt durch die Bayonettbiegung. Dieser Effekt wirkt klinisch wie eine exzentrische Biegung mit entsprechenden Drehmomenten und Kräften. Wird der Innenbogen so eingesetzt, entsteht trotz richtig gewählter Außenarmgeometrie ein umgekehrter biomechanischer Effekt (Abb. 725). Der Molar, der eigentlich nicht distalisiert werden soll, wird distalisiert und der zu distalisierende Molar wird mesialisiert. Durch die Innenarmgeometrie kann damit der klinische Effekt verhindert werden. Eine Entkopplung dieser Effekte kann durch den Einbau des Innengelenks erfolgen (Abb. 726). 277 Spezielle Biomechanik – Anpassung asymmetrischer Headgear Eine Grundvoraussetzung für die Wirkung asymmetrischer Kräfte ist, dass die angelegte Kraft am extraoralen Zug über das Gleitnackenband auf beiden Seiten gleich ist. Durch Variation der Variablen lässt sich der asymmetrische Effekt vergrößern. Dies kann durch geringes Abbiegen des Außenarms erreicht werden. Eigene Untersuchungen (Wichelhaus et al. 1995) zeigen, dass durch die unterschiedliche Außenarmlänge, lang und mittellang, und durch den Einbau des Innengelenks der größte distalisierende Effekt mit ca. 7 N erreicht wird (Abb. 728, Abb. 729). Dadurch ist es möglich, bei gleichzeitiger Entkopplung der Okklusion die Tragezeit zu reduzieren oder den 1. und 2. Molaren in einem Schritt zu distalisieren. 730 Klinische Anwendung asymmetrischer Headgear: Einbau des Gelenks Das Gelenk am Innenbogen des Face Bows wird zwischen den Prämolaren auf der nicht zu distalisierenden Sei­ te positioniert (links). Nach einer 90 °-Biegung nach kranial (Mitte) kann das Gelenk auf den Innenbogen aufgeschoben werden. Hierfür ist eine Spezialzange sinnvoll, die das Röhrchen etwas aufbiegt (rechts). Das Röhrchen sollte jedoch nicht zu stark aufgebogen werden, da es ent­ weder bricht oder zu wenig Friktion für ein Halten aufweist. 732 Für die Umsetzung der Außenarmgeometrie ist das Gleitnackenband unverzichtbar (Abb. 730). Zusätzliche Sicherheit für die Wirkung des asymmetrischen Headgears ist der Einbau des Gelenks (Abb. 731–Abb. 736). Als Face Bow kann ein Standardheadgear mit langen Außenarmen genutzt werden. Für eine gute klinische Wirkung ist die Passivierung der Bayonettbiegungen wichtig (Abb. 737–Abb. 745). Behandlungszeitpunkt Der ideale Behandlungszeitpunkt ist im späten Wechselgebiss. Der asymmetrische Headgear kann ebenfalls im permanenten Gebiss oder Erwachsenenalter eingesetzt werden. Klinische Anwendung asymmetrischer Headgear Der asymmetrische Headgear be­ steht aus einem konventionellen Headgear mit langen Außenarmen, der auf der nicht zu distalisierenden Seite auf mittellang eingekürzt wird. Zusätzlich wird für die Krafterzeu­ gung ein Low-Pull-Zug in Form eines Gleitnackenbands verwendet. Für die biomechanische Optimierung wird ein Gelenk (rechts) für den Innenbo­ gen des Face Bows benötigt (Gleitna­ ckenband und Gelenk Forestadent, Pforzheim). 731 Klinische Anwendung Klinische Anwendung asymmetrischer Headgear: Einbau eines Gelenks Zur Sicherung des Gelenks muss der Innenbogen am Gelenk umgebogen werden. Damit das Gelenk nicht bricht, sollte vor dem Umbiegen des Innenbogens das Gelenk quer ge­ stellt werden. Hilfreich für das Bie­ gen des Innenbogens ist die Verwen­ dung von 2 Kramponzangen. Damit ist es möglich, das Gelenk möglichst breitflächig zu fassen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 278 Behandlungszeitpunkt 733 279 Klinische Anwendung asymmetrischer Headgear: Bayonettbiegung (Stop) Nach dem Aufbringen des Gelenks auf den Innenbogen wird wie beim symmetrischen Headgear eine Bayo­ nettbiegung eingebogen, damit der Headgear am Attachment einrasten kann. Es ist darauf zu achten, dass das Gelenk auf der richtigen Seite positioniert wurde und am Anfang der Therapie nach kranial zeigt. Dies ist für den Patienten angenehmer. Danach müssen die abgeschnittenen Stellen noch mit einem Stein verrun­ det werden. Klinische Anwendung asymmetrischer Headgear: Passivierung Für die asymmetrische Wirkung ist es wichtig, die Bayonettbiegung so zu gestalten, dass sie nahezu passiv ist. Hierfür wird der Headgear einsei­ tig eingesetzt. Wenn er zu weit nach distal zeigt, würde im ungünstigen Fall kein klinischer Effekt entstehen. Daher sind Korrekturbiegungen an der Bayonettbiegung erforderlich (links), bis der Headgear passiv ist (links unten) und auf Höhe des Tubes endet (Mitte). 735 Klinische Anwendung asymmetrischer Headgear: Gestaltung Außenarme Bei Anwendung eines konfektionier­ ten Face Bows mit langen Außenar­ men muss der Außenarm auf der nicht zu distalisierenden Seite und der Seite des Gelenks auf mittellang (Höhe des 1. Molaren) eingekürzt werden. Hilfreich ist hierfür eine spe­ zifische Headgear-Zange, die das Bie­ gen und Schneiden auch größerer Drahtdimensionen ermöglicht. 736 Klinische Überprüfung der asymmetrischen Wirkung am Patienten Der asymmetrische Effekt des Head­ gears kann durch Abbiegen des lan­ gen Außenarms nach außen ver­ stärkt werden (rechts, Mitte). Zur Sicherstellung der asymmetri­ schen Wirkung des Headgears sollte die Kraft am mittellangen Außenarm durch leichtes Herausziehen des Headgears überprüft werden (links). Auf der Seite des langen Außenarms lässt sich der Headgear schwer her­ ausziehen. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 734 Spezielle Biomechanik – Anpassung asymmetrischer Headgear 280 737 Therapie dentale Klasse II: 1. Behandlungsphase asymmetrischer Headgear: Anfangsbefund Klinischer Anfangsbefund der Patien­ tin. Die Patientin zeigt eine dentale Klasse-II-Anomalie. Die Stützzonen sind erhalten und Aufwanderungen liegen nicht vor. Der Zahnwechsel kann bis zum Wechsel der Stützzo­ nen weiter abgewartet werden. Bei zu frühem Einsetzen des asymmetri­ schen Headgears müssten die ent­ standenen Lücken zu lange offen ge­ halten werden. Therapiebeginn asymmetrischer Headgear Aufgrund des bereits weit fortge­ schrittenen Durchbruchs der 2. Mo­ laren und einem Distalisationsbedarf von ≥ 4 mm wird der asymmetrische Headgear eingesetzt. Die Okklusion wird in der Nacht mit einer Platte entkoppelt. 739 Therapieverlauf asymmetri­ scher Headgear Links: Anfangsbefund der Patientin. Mitte: Eingesetzter asymmetrischer Headgear mit langem Außenarm rechts und mittellangem Außenarm links. Die eingesetzte Zugrichtung ist Low-Pull. Nach der Distalisation der rechten Seite wird der Headgear um 180 ° gedreht und der lange Au­ ßenarm auf der linken Seite einge­ setzt. Rechts: Patientin nach der Therapie mit dem asymmetrischen Headgear. 740 Klinischer Befund nach der Therapie mit dem asymmetrischen Headgear Nach der Therapie mit dem asymme­ trischen Headgear befinden sich die Molaren und Eckzähne in einer neut­ ralen Verzahnung. Hier zeigt sich der Vorteil des Therapiebeginns in der 2. Wechselgebissphase. Werden die Molaren während des Durchbruchs der Prämolaren und Eckzähne distali­ siert, erfolgt ohne zusätzliche Be­ handlungsmittel über die transsepta­ len Fasern eine Distalisation der Prämolaren und Eckzähne. 741 2. Behandlungsphase orthodontische Therapie: Nivellierungsphase Nach Durchbruch aller Zähne und vollständigem permanentem Gebiss kann die 2. Behandlungsphase, die orthodontische Therapie, zur Korrek­ tur der dentalen Klasse II mit ortho­ dontischen Mitteln eingeleitet wer­ den. Achterligaturen bilden die dentale Verankerung währen der Ni­ vellierung (rechts). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 738 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Behandlungszeitpunkt 281 Spezielle Biomechanik – Anpassung asymmetrischer Headgear 282 742 2. Behandlungsphase orthodontische Therapie: Führungsphase In der 2. Behandlungsphase der or­ thodontischen Therapie der denta­ len Klasse-II-Anomalie stehen Aufga­ ben in Form der Bisshebung, Nivellierung der Spee­Kurve und Restlückenschluss im Oberkiefer im Vordergrund. Bei der Patientin ist nach der Nivellierung im Oberkiefer ein .016 × .022-Stahlbogen einge­ gliedert. Vor dem Restlückenschluss im Oberkiefer müssen die Inzisivi zu­ sammengeführt werden. 2. Behandlungsphase orthodontische Therapie: Kontraktionsphase In der Kontraktionsphase erfolgen die Retraktion der Inzisivi im Ober­ kiefer und der Restlückenschluss. Hierfür können Retraktionsbögen (Compound-Retraktionsbogen) oder Gleitbogenmechaniken mit Klasse­II­ Zügen und Bögen mit Torque .018 × .025 (30 ° Torque) oder .019 × .025 (20 ° Torque) eingesetzt werden. 744 2. Behandlungsphase orthodontische Therapie: Justierungsphase In der Justierungsphase erfolgt in der Regel ein Zwischenbefund zur Kont­ rolle der Achsenposition der Inzisivi, der transversalen Achsenposition der Seitenzähne, der Angulation und der Okklusion. Entsprechende Biegun­ gen sind hier in Abhängigkeit vom individuellen Patienten erforderlich. Bei Patienten mit Tiefbiss kann zu­ sätzlich eine Überkorrektur in der Vertikalen eingebogen werden. 745 Ende der 2. Behandlungs­ phase orthodontische Therapie: Abschlussbefund Am Schluss der Behandlung der den­ talen Klasse-II-Anomalie konnten bei der Patientin eine Klasse­I­Verzah­ nung sowie ein korrekter Overjet und Overbite eingestellt werden. In Abhängigkeit von dem noch zu er­ wartenden Restwachstum bei Tief­ bisspatienten sollte bei Mädchen eine Retention bis zum 18. Lebens­ jahr und bei Jungen bis zum 25. Le­ bensjahr erfolgen. Unten: Die Nivellierung der Spee­Kur­ ve vorwiegend im Unterkiefer und die korrekte Achsenposition führten bei der Patientin zu einer guten den­ talen Ästhetik. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. 743 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Anpassung asymmetrischer Headgear 283