DAYLIGHT & ARCHITECTURE Architekturmagazin von Velux Frühjahr 2011 Ausgabe 15 10 Euro Tageslicht für den Menschen Frühjahr 2011 Ausgabe 15 Tageslicht für den Menschen Daylight & Architecture Architekturmagazin von Velux VELUX EDITORIAL TAGESLICHT FÜR DEN MENSCHEN Seit über einem Jahrhundert optimieren Architekten und Lichtplaner den Einsatz von Tageslicht in Gebäuden. Meist stehen dabei der visuelle Komfort sowie ästhetische und – vor allem in jüngster Zeit – energetische Überlegungen im Vordergrund. Die positiven Auswirkungen natürlichen Lichts auf Gesundheit und Wohlbefinden sind ebenfalls bekannt, doch nur selten findet dieses Wissen auch seine Umsetzung in den Bauvorschriften und in der täglichen Entwurfspraxis. Gerade im vergangenen Jahrzehnt haben Forscher jedoch Erkenntnisse über zuvor unbekannte Vorteile des Sonnenlichts gewonnen. Das Tageslicht ist ein wesentlicher Faktor für die zirkadianen Rhythmen des Menschen. Ohne Tageslicht kann das Zeitgefühl gestört werden, was wiederum zu Schlafstörungen, Stress und Übergewicht führen kann. All dies betrifft die Arbeit von Architekten unmittelbar: Der moderne Mensch verbringt 80 bis 90 Prozent seiner Zeit in Innenräumen. Viele Forschungsergebnisse belegen, dass die Menschen deshalb weit weniger Tageslicht erhalten, als ihrer Gesundheit zuträglich wäre. Leider ist das Wissen über diese Zusammenhänge unter Architekten bislang noch sehr gering – und das hat seine Gründe: Die vorhandenen Informationen sind häufig komplex und wenig allgemeinverständlich, und die Forscher geben ihre Ergebnisse selten an Architekten weiter. Ferner gibt es keine einfachen Faustformeln über die Abhängigkeiten von Tageslicht und Gesundheit: Die Wissenschaft hat viele Erkenntnisse darüber, wie Intensität, Zeit, Dauer, Spektrum und Verteilung des Lichts das Verhalten und die Körperfunktionen des Menschen beeinflussen – aber sie kann nicht genau beschreiben, welche Tageslichtsituation am besten für das Wohlbefinden ist. Diese Ausgabe von Daylight & Architecture möchte zu einem besseren wechselseitigen Verständnis von Tageslichtforschung und Planungspraxis beitragen. Sie enthält Beiträge von vier führenden Forschern und Theoretikern über die unterschiedlichen Aspekte von Tageslicht und stellt diesen die Arbeit vier international führender Architekten gegenüber. Russell Foster, einer der weltweit führenden Forscher in diesem Bereich, erklärt die Auswirkungen von Tageslicht auf die Gesundheit und die ‚innere Uhr‘ des Menschen. Die amerikanische Umweltpsychologin Judith Heerwagen berichtet über Nutzerbefragungen in Gebäuden und über den hohen Stellenwert, den die Menschen in diesen Studien dem Tageslicht beimessen. Der britische Architekt Dean Hawkes analysiert, wie große Architekten von Sir Christopher Wren bis Peter Zumthor das Tageslicht in ihren Gebäuden nutzten. Und schließlich entwirft Brent Richards eine Vision, wie die Tageslichtforschung und die Planungspraxis zusammengeführt werden können, um künftig bessere und der Gesundheit zuträglichere Gebäude zu entwerfen. Die vier Architekten in dieser Ausgabe von Daylight & Architecture stammen aus vier unterschiedlichen Regionen der Erde: SANAA aus Japan, Will Bruder aus den USA, Lacaton & Vassal aus Frankreich und Jarmund/Vigsnæs aus Norwegen. Ihre Gebäude sind so unterschiedlich wie die Kulturen und klimatischen Bedingungen der Länder, in denen sie stehen. Zugleich geht es ihnen allen jedoch um die Befriedigung universeller menschlicher Bedürfnisse: Die Menschen wünschen sich Schutz vor oft widrigen Witterungsverhältnissen, wollen jedoch zugleich in engem Kontakt zur Natur stehen. Sie wollen – auch in einem sehr dicht bebauten urbanen Umfeld – bestmöglich das Tageslicht nutzen. Und sie wünschen sich natürliches Licht in ihren Gebäuden, gerade weil es sich immer verändert und niemals statisch ist. Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der Lektüre. VELUX 1 FRÜHJAHR 2011 6 14 DIE INNERE UHR UND DAS TA T GESLICHT TAGESLICHT ALS T LEBENSELIXIER „Wir fristen unser Dasein in dämmrigen Höhlen“, sagt der Neurophysiologe Russell Foster. Elektrisches Licht und die Entwicklung der ‚Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft‘ haben uns zunehmend von den Rhythmen der Natur isoliert. Welche Folgen das für den Menschen hat, schreibt Foster in seinem Beitrag für Daylight & Architecture. Warum bevorzugen Menschen das T geslicht gegenüber künstlichen Ta Lichtquellen, selbst wenn beide genug Licht zum Sehen spenden? Die Umweltpsychologin Judith Heerwagen ist dieser Frage auf den Grund gegangen und begründet die Präferenz aus der Evolution des Menschen heraus, aber auch anhand aktueller Forschungsergebnisse. AUSGABE 15 INHALT L VELUX Editorial Inhalt Die innere Uhr und das Ta T geslicht T geslicht als Lebenselixier Ta Licht entwerfen: Wissenschaft und Ästhetik der Ta T geslichtplanung Auf der Suche nach einer Anthropologie des Ta T geslichts 4 x Architektur & Ta T geslicht Will Bruder: „Licht bestimmt unseren Lebensweg“ SANAA: Eine räumliche Einladung in die Gegenwart Jarmund/Vigsnæs: „Wir müssen die Ökonomie des Ta T geslichts wiederentdecken“ Lacaton & Vassal: „Licht bedeutet Freiheit“ Eine Welt des Lichts: International VELUX Award 2011 Die alltägliche Poesie des Lichts 2 4 6 14 24 42 54 56 70 82 94 104 106 14 2 D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 24 42 54 56 LICHT ENTWERFEN: WISSENSCHAFT UND ÄSTHETIK DER TAGESLICHTPLANUNG AUF DER SUCHE NACH EINER ANTHROPOLOGIE DES TAGESLICHTS 4× ARCHITEKTUR & TAGESLICHT WILL BRUDER: „LICHT BESTIMMT UNSEREN LEBENSWEG“ „Ohne natürliches Licht ist ein Raum kein Raum“, hat der amerikanische Architekt Louis Kahn einmal gesagt. Sein britischer Kollege Dean Hawkes untersucht in seinem Beitrag für Daylight & Architecture, wie Kahn und andere wegweisende Architekten in ihren Gebäuden mit Tageslicht gearbeitet haben. Große Architektur, so Hawkes, basiert auf einer optimalen Verknüpfung quantitativer und qualitativer Aspekte bei der Tageslichtnutzung. Viele Architekten schätzen die funktionalen und ästhetischen Vorzüge des Tageslichts, wissen aber nur wenig über seine physiologische Wirkung. Wie sich diese Wissensbereiche enger verknüpfen lassen, untersucht Brent Richards in seinem Beitrag. Sein Fazit: Beides ist notwendig – der ganzheitlich denkende Architekt, aber auch interdisziplinäre Planungsteams, in denen sich Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen gegenseitig inspirieren. Was ist Architekten bei der Arbeit mit Tageslicht wichtig? Wie vermitteln sie zwischen universellen menschlichen Bedürfnissen und den spezifischen Bedingungen des Standorts, seines Klima und seiner Kultur? Vier Architekten geben in Daylight & Architecture Auskunft: Will Bruder aus Phoenix, SANAA aus Tokio, Jarmund/Vigsnæs aus Oslo und Lacaton & Vassal aus Paris. 24 Der US-amerikanische Architekt Will Bruder lebt seit über 40 Jahren in Phoenix/Arizona. Die Stadt, die Wüstenlandschaft ringsum und deren Licht haben einen bleibenden Einfluss auf seine Arbeit hinterlassen. Im Gespräch mit Daylight & Architecture beschreibt Will Bruder, wie er in seinen Gebäuden selbst die einfachsten Strukturen und Materialien durch Licht ‚veredelt’. 56 3 70 82 94 108 SANAA: EINE RÄUMLICHE EINLADUNG IN DIE GEGENWART JARMUND/VIGSNÆS: „WIR MÜSSEN DIE ÖKONOMIE DES TAGESLICHTS WIEDERENTDECKEN“ LACATON&VASSAL: „LICHT BEDEUTET FREIHEIT“ DIE ALLTÄGLICHE POESIE DES LICHTS Freiheit, Offenheit und Ökonomie der Mittel sind Schlüsselbegriffe in der Arbeit von Lacaton & Vassal. Im Interview erklären die Pariser Architekten, warum sie in ihren Gebäuden so gut wie nie Wände errichten – und was zeitgenössische Architekten von Afrika lernen können. Wie wir wohnen, bestimmt unser Selbst – und wie wir wohnen, wird wiederum entscheidend vom Tageslicht bestimmt. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, haben die Sieger und Platzierten des International VELUX Award 2010 das Tageslicht in ihrer Wohnung jeweils einen Tag lang fotografisch festgehalten. Die Gebäude von SANAA sind ein Produkt der japanischen Kultur und deren ganz eigener Beziehung zu Tageslicht, Natur und Technologie. Per Olaf Fjeld hat die Architektur der Pritzker-Preisträger für Daylight & Architecture untersucht. Tageslicht, so schreibt er, dient bei SANAA nicht zur Erzeugung visueller Effekte, sondern wird zum Mittel, mit dem sich Räume formen lassen. 70 4 Die Arbeit der Architekten Jarmund/Vigsnæs ist tief in der norwegischen Kultur und Landschaft verwurzelt. In einer Umgebung, die oft von starken Gegensätzen geprägt ist, suchen ihre Gebäude ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen Schutzfunktion und Offenheit, Undurchsichtigkeit und Transparenz sowie zwischen unterschiedlichen Qualitäten von Tageslicht und Ausblicken. 82 D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 94 DIE INNERE UHR UND DAS TAGESLICHT Nicht nur für unseren Sehsinn bildet das Auge die Verbindung zur Außenwelt, sondern auch für unser Zeitgefühl und für viele zeitliche Abläufe in unserem Körper. In den letzten 150 Jahren haben uns künstliches Licht und veränderte Arbeitszeiten scheinbar ‚befreit‘ vom täglichen Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit, den uns die Natur auferlegt. Jüngste Forschungen zeigen jedoch, dass wir für diese Loslösung von der Natur einen hohen Preis in Form gesundheitlicher und sozialer Probleme zahlen müssen. Die Rückkehr zum natürlichen Rhythmus ist dringend zu empfehlen und wird sich auch in der Architektur bemerkbar machen. Von Russell G. Foster Illustrationen von Ulrika Nilsson Carlsson Unser Leben wird von der Zeit bestimmt, die uns vorgibt, was wir zu tun haben. Aber der Digitalwecker, der uns morgens weckt, oder die Armbanduhr, laut der wir zu spät zum Abendessen kommen, sind rein künstliche Hilfsmittel. Unsere Biologie orientiert sich an einem viel älteren Takt, der vermutlich schon bei der Entstehung allen Lebens zu schlagen begann. Nicht nur in unseren Genen verhaftet, sondern in nahezu allen Lebewesen auf Erden angelegt sind die Grundlagen für eine biologische Uhr, die eine Zeitspanne von etwa 24 Stunden umfasst. Biologische oder „zirkadiane“ Uhren (circa = über, dies = Tag) beeinflussen unsere Schlafmuster und Wachphasen, unsere Laune und Körperkraft, unseren Blutdruck und vieles mehr. Unter normalen Umständen erfahren wir ein 24-Stunden-Muster von Licht und Dunkelheit, und unsere zirkadiane Uhr nutzt entsprechende Signale, um die biologische Zeit an Tag und Nacht anzupassen. Sie antizipiert die unterschiedlichen Erfordernisse des 24-Stunden-Tags und stellt Physiologie und Verhalten im Vorhinein auf die jeweiligen Bedingungen ein. Vor dem Zubettgehen sinkt die Körpertemperatur, der Blutdruck nimmt ab, die Wahrnehmungsfähigkeit lässt nach, und die Müdigkeit nimmt zu. Bei Anbruch der Morgendämmerung hingegen wird der Stoffwechsel in Erwartung gesteigerter Aktivität hochgefahren. Nur wenige von uns folgen dieser inneren Uhr, verleitet durch die vermeintliche Freiheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit zu schlafen, zu arbeiten, zu essen, zu trinken oder zu reisen. Diese Freiheit ist jedoch eine Illusion, denn in Wirklichkeit sind wir nicht in der Lage, unabhängig von der biologischen Ordnung zu handeln, die uns die zirkadiane Uhr auferlegt. Wir können nicht 24 Stunden lang gleichbleibende Leistung bringen. Das Leben hat sich auf einem Planeten entwickelt, der innerhalb von 24 Stunden einen grundlegenden Wechsel der Lichtverhältnisse erfährt. Unsere Biologie sieht diese Veränderungen voraus und muss dem natürlichen Muster von Licht und Dunkelheit ausgesetzt sein, um richtig zu funktionieren. Dennoch verweigern wir uns der natürlichen Umwelt, machen mit Hilfe elektrischen Lichts die Nacht zum Tag und verschanzen uns in Häusern, die uns vom natürlichen Licht abschirmen. Dieser Artikel verdeutlicht die wichtigsten Konsequenzen, die unsere zunehmende Abwendung vom Sonnenlicht mit sich bringt. Der innere Tag An der Hirnbasis befindet sich der vordere Hypothalamus, ein Bündel von etwa 50.000 Neuronen, den sogenannten suprachiasmatischen Nuklei oder SCN. Wird dieser Bereich infolge eines Schlaganfalls oder Tumors zerstört, geht die 24-Stunden-Rhythmik verloren – die physiologischen Funktionen verteilen sich willkürlich über den Tag. Die Erkenntnis, dass einzelne, von allen ande- ren Zellen isolierte SCN-Neuronen ihre elektrische Aktivität an einem Rhythmus von etwa 24 Stunden ausrichten, beweist, dass die grundlegenden Mechanismen der inneren Uhr Teil eines subzellulären Molekularmechanismus sein müssen. Heute werden etwa 14 bis 20 Gene und ihre Proteinprodukte mit der Erzeugung zirkadianer Rhythmen in Verbindung gebracht. Kernstück der molekularen Uhr ist eine negative Rückkopplungsschleife mit folgendem Ablauf: Die Uhr-Gene werden transkribiert, und die Boten-RNA (mRNA) bewegt sich zum Zytoplasma der Zelle, wo sie in Proteine umgewandelt werden. Die Proteine interagieren, formen Komplexe und wandern dann vom Zytoplasma in den Zellkern, um die Transkription ihrer eigenen Gene zu verhindern. Die hemmenden Uhr-Proteinkomplexe werden abgebaut und die Uhr-Kerngene wieder freigesetzt, um erneut mRNA und somit frisches Protein zu produzieren. Diese negative Rückkopplungsschleife erzeugt einen etwa 24-stündigen Rhythmus von Proteinproduktion und -abbau und kodiert auf diese Weise den biologischen Tag. Ursprünglich ging man davon aus, dass SCN-Neuronen kollektiv einen 24-Stunden-Rhythmus für Physiologie und Verhalten steuern oder festlegen. Die Entdeckung aber, dass auch isolierte Zellen aus fast allen Körperorganen Gene und Proteine nach einem zirkadianen Zeitmuster erzeugen, führte zu einem völlig neuen Verständnis. Heute wissen wir, dass das 7 Taktgeber für das Leben: Spezielle Fotorezeptoren in den Zellen des Sehnervs synchronisieren unsere innere Uhr mit den Hell-Dunkel-Zyklen der Umgebung – und so mit der jeweiligen Ortszeit. SCN-Neuron wie ein Schrittmacher funktioniert und die Aktivität sämtlicher Uhr-Zellen wie ein Orchesterdirigent zeitlich koordiniert. Ohne SCN driften die einzelnen Uhr-Zellen der Organsysteme auseinander, und die geordneten zirkadianen Rhythmen kollabieren – ein als interne Desynchronisation bezeichneter Zustand. Interne Desynchronisation ist der Hauptgrund, warum wir uns bei einem Jetlag so schlecht fühlen: Alle Organsysteme wie Gehirn, Leber, Darm, Muskeln usw. arbeiten leicht zeitversetzt. Erst nach der Neujustierung unserer inneren Uhr können wir wieder normal funktionieren. Innere Uhren sind verschieden – eine Frage der Gene? Die innere Uhr tickt nicht bei jedem gleich. Wer morgens munter ist und abends früh schlafen geht, ist eine „Lerche“, Morgenmuffel und nachtaktive Menschen hingegen sind „Eulen“. Diese Bezeichnungen definieren unsere real bevorzugte Tageszeit – die Zeit, wann wir am liebsten schlafen bzw. am besten arbeiten. Teilweise wird die bevorzugte Tageszeit durch unsere Uhr-Gene bestimmt. Jüngst haben interessante Studien gezeigt, dass kleine Veränderungen in diesen Genen ursächlich sind für die schnellen Uhren (kürzer als 24 Stunden) von Lerchen bzw. die langsamen Uhren (länger als 24 Stunden) von Eulen. Aber nicht nur unsere Gene regulieren unsere bevorzugte Tageszeit, die Schlafzeiten verändern sich auch mit zunehmendem Alter. In der Pubertät verlagern sich Schlafzeit und Wachphase immer mehr nach hinten. Die Tendenz, immer später aufzuwachen, zeigt sich bei Frauen bis zum Alter von 19,5, bei Männern bis 21 Jahren. Dann findet eine Umkehr zu früheren Schlaf- und Wachzeiten statt. Im Alter von 55 bis 60 stehen wir so früh auf wie ein zehnjähriges Kind. Diese und ähnliche Ergebnisse belegen, dass Jugendlichen das frühe Aufstehen tatsächlich Probleme bereitet. Bei Teenagern zeigt sich sowohl verzögerter Schlaf als auch enormer Schlafmangel, da sie spät zu Bett gehen, aber wegen der Schule dennoch früh aufstehen müssen. 8 Diese realen biologischen Auswirkungen werden von der Zeitstruktur in den Schulen weitgehend ignoriert. Spezielle Untersuchungen belegen eine erhöhte Aufmerksamkeit und gesteigerte mentale Leistungsfähigkeit der Schüler am Vormittag bei späterem Schulbeginn. Ironischerweise tendieren Jugendliche zu einer Leistungssteigerung im Laufe des Tages, während die Leistung ihrer älteren Lehrer im gleichen Zeitraum nachlässt. Die Mechanismen für die altersabhängige Verlagerung der bevorzugten Tageszeit sind noch kaum geklärt, hängen aber vermutlich mit den ausgeprägten Veränderungen in unseren Steroidhormonen (z. B. Testosteron, Östrogen, Progesteron) und deren rapidem Anstieg in der Pubertät bzw. allmählichem Rückgang im Alter zusammen. Lichtuhren und Konzentrationsfähigkeit Eine Uhr ist nur dann eine Uhr, wenn sie auf die Ortszeit eingestellt werden kann. Die molekularen Uhren in den SCN-Neuronen werden normalerweise durch die tägliche Wahrnehmung des Lichts bei Morgen- und Abenddämmerung über das Auge reguliert bzw. in Bewegung gesetzt. Wird die Uhr keinem stabilen LichtDunkel-Zyklus ausgesetzt, führt dies zu verschobenen oder „freischwingenden“ zirkadianen Rhythmen oder Zyklusunterbrechungen. In industrialisierten Gesellschaften ist die Loslösung vom natürlichen Tag durchaus üblich – der Sonderfall der Schichtarbeiter wird später in diesem Beitrag noch diskutiert. Für die Isolation von den morgendlichen und abendlichen Lichtsignalen gibt es zahlreiche Beispiele. So herrscht auf Intensivstationen für Kinder und Erwachsene häufig eine schwache und konstante Beleuchtung, die zwangsläufig zur Verschiebung und Desynchronisation der inneren Uhr führt. Resultat ist ein geschwächter Gesundheitszustand des Patienten (siehe das Folgekapitel „Uhrstörung“). Licht bewirkt aber noch mehr als die zeitliche Regulierung zirkadianer Rhythmen. Es wirkt sich auch unmittelbar auf unsere Wahrnehmungsfähigkeit und Leistung aus. Hirnbilder nach Lichteinfluss zeigen „Untersuchungen belegen eine erhöhte Aufmerksamkeit und gesteigerte mentale Leistungsfähigkeit der Schüler am Vormittag bei späterem Schulbeginn. Ironischerweise tendieren Jugendliche zu einer Leistungssteigerung im Laufe des Tages, während die Leistung ihrer älteren Lehrer im gleichen Zeitraum nachlässt.“ eine erhöhte Aktivität vieler Hirnbereiche, die Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Gedächtnis (Thalamus, Hippocampus, Hirnstamm) sowie die Stimmungslage (Amygdala) steuern. Zudem fördert Licht erwiesenermaßen die Konzentration und die kognitive Leistungsfähigkeit bei gleichzeitiger Verringerung der Schläfrigkeit. Unzureichender Lichteinfall in ein Gebäude führt also nicht nur zu Schlafstörungen und verlagerten Tagesrhythmen, sondern beeinträchtigt auch Leistung und Aufmerksamkeit. Mit diesem Thema wollen wir uns gleich beschäftigen. Die Forschung, auf welche Weise das Licht zirkadiane Rhythmen und Aufmerksamkeit steuert, hat in den letzten Jahren durch die Entdeckung eines bislang unbekannten Fotorezeptorsystems im Auge große Fortschritte erzielt. Dieser neu entdeckte Fotorezeptor befindet sich nicht im gleichen Teil des Auges wie die Stäbchen (Nachtsicht) und Zapfen (Tagsicht), die uns die Welt bildlich darstellen, sondern in den Ganglien des Sehnervs. Üblicherweise stellen Ganglien eine funktionale Verbindung zwischen Auge und Gehirn her, einige spezielle Ganglien (1–3 %) aber sind selbst lichtempfindlich und projizieren auf Hirnbereiche, die für die Steuerung von Tagesrhythmik, Schlaf, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Gemütslage verantwortlich sind. Diese fotosensitiven Netzhautganglien (pRGCs)enthalteneinlichtempfindliches Pigment namens Opn4, das insbesondere auf den Blaubereich des Spektrums mit einer maximalen Empfindlichkeit von 480 nm reagiert. Dies entspricht in etwa D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Selbst die Farbe des Himmels hat ihre Spuren in unseren Genen hinterlassen: Auf blaues Licht reagieren die Fotorezeptoren unserer ‚inneren Uhr’ am empfindlichsten. dem ‚Blau’ eines klaren blauen Himmels. Dieses Lichtwahrnehmungssystem ist anatomisch und funktional unabhängig vom visuellen System und entwickelte sich vermutlich noch vor dem Sehsinn, um Licht wahrzunehmen und dadurch tägliche Rhythmen auszulösen. Interessanterweise können die pRGCs auch noch bei blinden Tieren oder Menschen mit komplett zerstörten Stäbchen und Zapfen Licht wahrnehmen und somit die innere Uhr und die Wachsamkeit beeinflussen. Dies hat wichtige Folgen für die Augenheilkunde, in der das neu entdeckte Fotorezeptorsystem und dessen Einfluss auf die menschliche Physiologie bislang weitgehend unbekannt waren. Die Farbempfindlichkeit des Opn4Pigments legt die Vermutung nahe, dass blaues Licht die effektivste Wellenlänge (Farbe) zur Verschiebung der Tagesrhythmik und Wachsamkeit ist. Alle bisher durchgeführten Studien haben dies bestätigt. Durch blaues Licht in der Nacht lassen sich am effektivsten die innere Uhr verstellen, Schläfrigkeit reduzieren, Reaktionszeiten verbessern und die Hirnbereiche aktivieren, welche die Schlaf- und Wachphasen regulieren. Neben dem Farbspektrum wirken sich auch Zeitpunkt, Dauer, Muster und Verlauf der Lichteinwirkung auf die Tagesrhythmik und Aufmerksamkeit aus. Der Zeitpunkt der Lichteinwirkung ist besonders wichtig,dennabhängigvonderExpositionszeit wird die innere Uhr entweder vorgestellt (früher ins Bett gehen) oder zurückgestellt (später ins Bett gehen). Unter natürlichen Umständen verursacht der Lichteinfluss in der Abenddämmerung eine Verzögerung der Uhr, Licht in der Morgendämmerung hingegen stellt die Uhr vor. Dieser Verschiebungseffekt des Lichts verursacht die Abhängigkeit der SCN-Neuronen vom Tageslicht und ist von grundsätzlicher Bedeutung, um die Auswirkung von Jetlag, Schichtarbeit (siehe unten) sowie von Tageslicht in Gebäuden auf den Schlaf-Wach-Rhythmus zu verstehen. Da die pRGCs weniger lichtempfindlich als Stäbchen und Zapfen reagieren, erkennen sie keine kurze Lichteinwirkung, die der Sehsinn sofort erfassen würde. Über längere Dauer aber kann auch schwaches Licht deutliche Wirkung zeigen. Selbst relativ gedämpftes Licht von Nachttischlampen oder Computerbildschirmen (weniger als 100 Lux) beeinflusst unsere innere Uhr und Wachsamkeit nachhaltig und kann Schlafstörungen verschlimmern. In ihrer Gesamtheit sind die Auswirkungen des Lichts – spektrale Zusammensetzung, Einflussdauer und Helligkeit – von klinischer und berufsbezogener Bedeutung: Sie dienen nicht nur zur Behandlung von Schlafstörungen und zur Bekämpfung von Müdigkeit, sondern spielen auch für die Architektur von Krankenhäusern, Schulen, Büros, Geschäften und Wohnhäusern eine wichtige Rolle. Uhrstörungen: Schichtarbeit und die ‚24/7-Gesellschaft‘ Mit Erfindung des elektrischen Lichts im 19. Jahrhundert und der einhergehenden Veränderung der Arbeitszeiten wurden wir unabhängig vom natürlichen 24-Stunden-Rhythmus mit Licht und Dunkelheit. In der Konsequenz aber führte dies zur Störung der zirkadianen Uhr und des Schlafsystems. Über die Auswirkungen wurde viel geschrieben, grundsätzlich dürften sie bekannt sein (Tabelle 1). Ein gestörter Schlaf- und Tagesrhythmus resultiert in Leistungsdefiziten mit erhöhten Fehlhandlungen, herabgesetztem Konzentrationsvermögen, schlechter Merkfähigkeit, reduzierten mentalen und physischen Reaktionszeiten und geringer Motivation. Schlafentzug und -störungen werden zudem mit einer Reihe von Stoffwechselkrankheiten in Verbindung gebracht. Menschen mit Schlafstörungen brauchen zum Beispiel wegen der verringerten Insulinproduktion so lange zur Regulierung der Blutglukosewerte wie im Frühstadium einer Diabetes – Anomalien, die durch normalen Schlaf wieder behoben werden können. Forschungsergebnisse legen nahe, dass langfristige Störungen von Schlaf- und Tagesrhythmus zu chronischen Krankheiten wie Diabetes, Adipositas und Bluthochdruck beitragen können. Fettleibigkeit geht zudem häufig mit Schlafapnoe und entsprechender Schlafbeeinträch- tigung einher. Unter diesen Umständen kommt es häufig zu einer gefährlichen Wechselwirkung zwischen Fettsucht und Schlafstörungen. Schlafdefizite und zirkadiane Rhythmusstörungen treten vor allem bei Nachtarbeitern auf. Mehr als 20 % der Berufstätigen arbeiten zumindest teilweise außerhalb der Zeit von 7:00 bis 19:00 Uhr. „Wegen des ständigen und problematischen Wechsels zwischen Licht und Dunkelheit bzw. Arbeits- und Ruhephase können Schichtarbeiter unter Symptomen wie bei einem Jetlag leiden“, erläutert Josephine Arendt von der University of Surrey. „Während Reisende sich normalerweise auf die neue Zeitzone einstellen, sind Schichtarbeiter ständig außer Takt mit der Ortszeit.“ Sogar nach 20 Jahren Nachtarbeit sind viele Betroffene nicht in der Lage, ihre zirkadianen Rhythmen den Anforderungen der Nachtarbeit anzupassen. Kein noch so komplexes Schichtsystem schafft es, die hiermit verbundenen zirkadianen Probleme restlos zu beheben. Stoffwechsel, Konzentration und Leistung laufen immer noch tagsüber auf Hochtouren, wenn der Nachtarbeiter schlafen möchte, und fallen nachts zur Arbeitszeit ab. Falsch ausgerichtete Tabelle 1 Folgen von zirkadianen Rhythmusstörungen und Schlafmangel Schläfrigkeit/Sekundenschlaf abrupte Stimmungsschwankungen erhöhte Reizbarkeit Angstzustände und Depressionen Gewichtszunahme verminderte Sozialkompetenz und eingeschränkter Humor verminderter Antrieb verringerte kognitive Leistung reduzierte Konzentrations- und Merkfähigkeit reduziertes Kommunikations- und Entscheidungsvermögen erhöhte Risikobereitschaft eingeschränkte Kreativität und Produktivität eingeschränkte Immunität gegen Krankheiten Kältegefühl reduzierte Fähigkeit zur Bewältigung komplexer Aufgaben (Multitasking) erhöhte Anfälligkeit für Drogenmissbrauch (u.a. Alkohol, Koffein, Nikotin) 11 Die Evolution des Menschen fand über weite Strecken im hellen Sonnenlicht statt. Das hat sich seit Beginn des Industriezeitalters geändert – mit Folgen für unsere Gesundheit und Psyche, die erst heute allmählich bekannt werden. Physiologie und Schlafmangel dürften mitursächlich sein für das erhöhte HerzKreislauf-Versagen, das achtfach höhere Auftreten von Magengeschwüren und das höhere Krebsrisiko bei Nachtarbeitern, von anderen Problemen wie erhöhtem Unfallrisiko, chronischer Müdigkeit, übermäßiger Schläfrigkeit, Schlafstörungen, Depressionen und vermehrtem Drogenkonsum ganz zu schweigen. Warum also stellen Schichtarbeiter ihre Uhr nicht um? Schließlich erholen wir uns auch auf Reisen durch verschiedene Zeitzonen vom Jetlag und passen uns der Ortszeit an. Offensichtlich sind die pRGCs, die das zirkadiane System auslösen, relativ lichtunempfindlich. Die innere Uhr reagiert stets eher auf helles natürliches Sonnenlicht als auf mattes Kunstlicht wie zum Beispiel am Arbeitsplatz. Man mag kaum glauben, dass das natürliche Licht kurz nach der Morgendämmerung fast fünfzigmal heller ist als die übliche Bürobeleuchtung (300–500 Lux); nachmittags ist das natürliche Licht – selbst in Nordeuropa – oftmals 500- bis 1000-fach heller. Die Einwirkung des starken natürlichen Lichts auf dem Weg zu und von der Arbeit, kombiniert mit dem geringen Lichteinfall am Arbeitsplatz, stellt den Nachtarbeiter auf die Ortszeit ein, sodass seine biologische und seine soziale Uhr dauerhaft auseinanderdriften. Erst in Ermangelung natürlichen Lichts reagiert die Uhr letztendlich auf künstliches Licht. Theoretisch könnte diese Erkenntnis bei der Entwicklung praktischer Gegenmaßnahmen für die Probleme bei der Nachtarbeit hilfreich sein. Die meisten der Betroffenen aber wollen sich gar nicht einem umgekehrten Schlaf-Wach-Rhythmus anpassen, weil sie ihre Freizeit mit Familie und Freunden verbringen möchten. Denkbar wäre, die Arbeitskräfte auf Basis ihrer bevorzugten Tageszeit auszuwählen: „Eulen“ können sich mit zunehmender Tageszeit besser konzentrieren und eignen sich deshalb für die Nachtschicht, während „Lerchen“ eher die Frühschichten übernehmen sollten. Immer mehr Forschungsergebnisse belegen die komplexe und wichtige Wechselwirkung zwischen zirkadianen 12 Rhythmen, Schlafstörungen und dem Immunsystem. Ratten mit Schlafentzug sterben leicht an Blutvergiftung, und die Aktivität der menschlichen Killerzellen (Abwehrzellen) verringert sich nach einer schlaflosen Nacht um bis zu 28 %. Schlafstörungen wirken sich auch auf viele andere Aspekte des Immunsystems aus wie die Zirkulation von Immunkomplexen, die Reaktion von Antikörpern und die Aufnahme von Antigenen. Cortisol stellt eine wichtige Verbindung zwischen Immunsystem, Schlaf und psychologischem Stress her. Schlafstörungen und anhaltender psychologischer Stress erhöhen den Cortisolgehalt im Blut. Nach nur einer schlaflosen Nacht steigt der Cortisolgehalt am folgenden Abend um fast 50 %. Große Cortisolmengen beeinträchtigen das Immunsystem, sodass übermüdete Menschen anfälliger für Infektionen sind. Nachtarbeiter sind einem erhöhten Krebsrisiko ausgesetzt, über dessen Ursache viel spekuliert wurde. Ein geschwächtes Immunsystem, ausgelöst durch den beträchtlichen physiologischen Stress und Schlafmangel bei der Nachtarbeit, ist eine naheliegende Erklärung für dieses Phänomen. Fazit und Ausblick Dieser Artikel befasst sich mit der Biologie der inneren Uhr sowie mit einigen generellen Problemen, denen wir uns stellen müssen, wenn wir die wichtige Rolle von Schlaf und zirkadianem Rhythmus in unserem Leben ignorieren. Es besteht kein Zweifel, dass die Anforderungen einer 24-Stunden-Gesellschaft zu Schlafmangel, Stimmungsschwankungen, verminderter kognitiver Leistung, reduzierter Kommunikationsfähigkeit und einem höheren Krankheitsrisiko führen. Zum Ausgleich greifen viele tagsüber zu Stimulanzien und nachts zu Beruhigungsmitteln, um die normalerweise vom zirkadianen System auferlegte Ordnung zu ersetzen. Über das Extrembeispiel der Schichtarbeit wurde viel geschrieben, dennoch sollten wir nicht die Tatsache vergessen, dass auch viele Kinder in der Schule, Mediziner im Krankenhaus, Facharbeiter in der Fabrik und Angestellte im Büro vom natürlichen Licht isoliert sind. Dies erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit von Rhythmus- und Schlafstörungen, sondern beeinträchtigt auch Wahrnehmung, Stimmungslage und Wohlbefinden. Unsere Spezies hat sich unter hellem Licht entwickelt. Selbst an einem bewölkten Tag erreicht das natürliche Licht eine Stärke von etwa 10&000 Lux, an sonnigen Tagen sogar 100&000 Lux. Trotzdem leben wir in Häusern und arbeiten in Büros, Fabriken, Schulen und Krankenhäusern, in denen das fehlende Tageslicht durch künstliche Beleuchtung ersetzt wird, meist von etwa 200 Lux und nur selten mehr als 400 bis 500 Lux. Wir fristen unser Dasein in dämmrigen Höhlen. Modernes Architekturdesign lässt Licht in unser Leben fluten und birgt das Potenzial, die Menschheit von der Düsternis zu befreien und die Biologie unserer Körper durch das natürliche Muster von Licht und Dunkelheit zu optimieren. Russell Foster ist Professor für zirkadiane Neurowissenschaften und Fachbereichsleiter für Augenheilkunde an der Universität Oxford. In seinen Forschungen befasst er sich mit elementarer und angewandter Tagesrhythmus- und FotorezeptorBiologie. Für seine Entdeckung von stäbchen- und zapfenfremden Fotorezeptoren im Auge erhielt er den Honma-Preis (Japan), den Cogan Award (USA) und die Zoological Society Scientific & EdrideGreen Medals (GB). Er ist Mitautor der bekannten wissenschaftlichen Abhandlung ‚Rhythms of Life‘ über zirkadiane Rhythmik. 2008 wurde der zum Fellow of the Royal Society, der wichtigsten britischen Wissenschaftsvereinigung, gewählt. Literaturhinweise Foster, R.G. & Kreitzman, L. (2004) Rhythms of Life: The biological clocks that control the daily lives of every living thing. Profile Books, London. Foster, R.G. & Wulff, K. (2005) The rhythm of rest and excess. Nat Rev Neurosci, 6, 407–414. Foster, R.G. & Hankins, M.W. (2007) Circadian vision. Curr Biol, 17, R746–751. Rajaratnam, S.M. & Arendt, J. (2001) Health in a 24-h society. Lancet, 358, 999–1005. Zaidi, F.H., Hull, J.T., Peirson, S.N., Wulff, K., Aeschbach, D., Gooley, J.J., Brainard, G.C., Gregory-Evans, K., Rizzo III, J.F., Czeisler, C.A., Foster, R.G., Moseley, M.J. & Lockley, S.W. (2007) Short-wavelength light sensitivity of circadian, pupillary and visual awareness in humans lacking an outer retina. Curr Biol, 17, 2122–2128. D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 TAGESLICHT ALS LEBENSELIXIER Blickverbindungen nach draußen sind ein wesentliches Qualitätsmerkmal für architektonische Räume – nicht nur in Bürogebäuden. Zahlreiche Untersuchungen zeigen: Menschen ziehen Räume, die mit Tageslicht beleuchtet werden, jenen Räumen vor, in denen es kein natürliches Licht gibt. Warum ist das so? Warum sollten Menschen eine Lichtquelle gegenüber einer anderen bevorzugen, wenn beide doch genug Licht zum Sehen spenden? Zur Beantwortung dieser Frage muss man die über Jahrtausende entwickelte Beziehung zwischen Mensch und Tageslicht verstehen. Von Judith Heerwagen Fotos von Gerry Johansson Versetzen Sie sich für einen Moment und Witterungsverhältnissen gab. Unsere derungen des Lichts und deren Bezug zurück in die vorgeschichtliche Zeit. Sie Körperfunktionen – insbesondere unser zu Wetteränderungen erkannte, war und Ihre kleine Gruppe von Jägern und Wach-Schlaf-Rhythmus – wurden ebensehr anpassungsfähig (Orians und Sammlern wachen morgens mit dem so wie die emotionale Reaktion auf Licht Heerwagen, 1992). ersten Sonnenstrahl auf. Sie machen und Dunkelheit bestimmt von dem Hellsich auf, um bei hellem Tageslicht die Dunkel-Rhythmus des Tageslichts. Un- • Faktoren Fernsicht und Geborgenheit. essbaren Früchte und Beeren erkennen sere heutige starke Präferenz für das TaHelligkeit in der Entfernung erweiund Tiere ausfindig machen zu können. geslicht in Gebäuden lässt erahnen, dass tert das Blickfeld; Schatten dagegen Um die Mittagszeit brennt die Sonne, die Evolution Spuren hinterlassen hat, die vermitteln ein Gefühl der Geboruns wohl immer noch beeinflussen. genheit (Appleton, 1975; Hildebrand, und Sie suchen sich einen schattigen Platz unter Bäumen. Während Sie sich 1999). Wenn es in der Entfernung hell Auch wenn alle unsere Sinne in ihrem unterhalten, sehen Sie, wie sich am Zusammenspiel wichtig für das Überist, lässt sich vieles besser einschätHorizont schwere Gewitterwolken auf- leben waren, so ist das Sehen doch die zen und planen, weil wichtige Dinge bauen. Dunkle Wolken schieben sich vor primäre Art und Weise, wie wir Informarechtzeitig vor der Durchführung eidie Sonne, aber lassen in einiger Entfer- tionen sammeln. Daher muss das Licht ner Aktion erkannt werden. Aussichtsnung einzelne Strahlen durchbrechen. eine sehr große Rolle bei der Informatipunkte sind nützlich, wenn sie einen Es regnet stark, aber nur kurz, und onsverarbeitung und für das Überleben ungehinderten Blick auf den Horizont währenddessen suchen Sie Schutz un- gespielt haben. In den Lebensräumen unbieten und es hell ist (‚weiter Himmel‘). ter einem vorspringenden Fels. Als Sie serer Urahnen kamen dem Licht mehrere Ein Gefühl von Geborgenheit entsteht sich auf den Rückweg machen, bricht Schlüsselfunktionen zu, die heute wichdurch den Schatten unter einem Laubdie Wolkendecke auf, ein Regenbogen tig für die Gestaltung und den Betrieb dach, überhängenden Felsen oder ansteht leuchtend am Himmel und signa- unserer gebauten Umwelt sind. Hierzu deren natürlichen Formationen. Nach gehören: Mottram (2002) kann der Blick ins lisiert das Ende des Gewitters. Mit dem Einbruch der Dunkelheit legt sich ein Unendliche (also üblicherweise zum Grau über die Landschaft, das alle Ein- • Faktor Tageszeit. Das Tageslicht verHorizont) wohltuend wirken. Dies gilt ändert sich stark im Laufe eines Tages selbst dann noch, wenn der Betrachter zelheiten verschwimmen lässt. Bald ist und bietet damit einen Hinweis auf die statt des realen Horizonts lediglich ein es dunkel, und jeder rückt näher an die Wärme und das Licht des Feuers herentsprechende Tageszeit. Dies war in Abbild desselben sieht. an, bevor alle im gedämpften Licht des der gesamten Menschheitsgeschichte ein entscheidender Überlebensfaktor. • Faktoren Sicherheit, Wärme und BeMondes schlafen gehen. An einem sicheren Ort zu sein, wenn haglichkeit. Die Sonne gilt zwar als die Sonne untergeht, war überlebensTageslicht im Kontext die Hauptquelle des Lichts in der wichtig für unsere Vorfahren, und es Natur, doch diente auch das Feuer als der Evolution ist auch heute noch wichtig für unser eine Quelle für Licht sowie für phyBevor der Mensch Häuser baute, lebte er in der freien Natur. Die täglichen Aktisische und psychische Behaglichkeit. Wohlbefinden. vitäten waren abhängig davon, ob es TaNach dem Anthropologen und Phygeslicht gab oder nicht, und davon, wie gut • Faktor Wetter. Das Licht verändert siker Melvin Konner (1982) hatte das das Licht war, das Hinweise zu Tageszeit sich je nach Wetterlage. Wer die VeränLagerfeuer wichtige kognitive und 15 Lebewesen zieht es zur Natur hin. Die Akzeptanz von Gebäuden hängt daher maßgeblich davon ab, inwieweit sie Kontakt zur Umwelt ermöglichen. soziale Funktionen bei der Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Es verlängerte den Tag, erlaubte den Menschen, ihre Aufmerksamkeit von der täglichen harten Arbeit, Essen zu finden und Übergriffe zu verhindern, abzuwenden und sich der Zukunftsplanung sowie dem Festigen sozialer Beziehungen durch das Erzählen von Geschichten zuzuwenden. • Hilfe für periphere Informationsverarbeitung. Licht vermittelt auch Informationen über das, was jenseits des unmittelbaren Aufenthaltsbereiches geschieht. Es leuchtet die Umgebung aus, die beständig Daten für unsere periphere Informationsverarbeitung bereithält. Die Bedeutung des Umgebungslichts wird deutlich, wenn man bedenkt, wie unwohl sich viele Menschen in hellen Räumen mit dunklen Randbereichen fühlen. Lichtforscher nehmen an, dass die negative Reaktion auf dieses Halbdunkel in Zusammenhang stehen könnte mit dessen natürlicher Funktion als ein frühes Warnsignal, dass sich die Sichtverhältnisse verschlechtern (Shepherd u. a., 1989). • Synchronisation von Biorhythmus und sozialem Rhythmus. Für uns als tagaktive Lebewesen spielt Licht eine entscheidende Rolle im Wach-SchlafRhythmus und synchronisiert auch die sozialen Aktivitäten. Obwohl wir unseren Aktivitätsrhythmus durch die Verwendung von elektrischem Licht verändern können, zeigen Forschungsergebnisse, dass Nachtarbeit problematisch ist und häufig zu Schläfrigkeit, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen und verstärkten kognitiven Schwierigkeiten bei der Arbeit führt (Golden u. a., 2005). Einige Einrichtungen, in denen nachts gearbeitet wird, verwenden helles Licht, um den Biorhythmus zu verändern und die Aufmerksamkeit zu erhöhen. Es ist auch nachgewiesen, dass Menschen mit einer Winterdepression sich lieber in hell erleuchteten Räumen aufhalten (Heerwagen, 1990). Zusammenfassend lässt sich sagen: Licht es, wenn Sonnenlicht in einen Raum fällt. vermittelt Informationen zur Orientie- Als die Gebäudenutzer in der oben gerung, Sicherheit und Überwachung, zur nannten Studie jedoch gefragt wurden, ob Interpretation sozialer Signale, zum das Licht für ihre Arbeit ausreiche, erklärErkennen von Ressourcen und für die ten nur 20 %, dass das Tageslicht allein Aufmerksamkeit gegenüber Gefahren. für ihre Arbeit ausreichend sei. Die große All diese Aspekte des Lichts waren evo- Mehrheit sagte, sie verwendeten das eleklutionär bedeutsam; sie halfen unseren trische Deckenlicht „üblicherweise“ oder Vorfahren bei der Entscheidung, wie sie „immer“ zusätzlich zum Tageslicht. sich durch ihre Umwelt bewegen sollten, Sogar diejenigen, die sagten, die Menwas sie essen sollten und wie sie Gefah- ge an Tageslicht an ihrem Arbeitsplatz sei ren vermeiden konnten. „genau richtig“, verwendeten das elektrische Licht sehr oft. Und auch diejenigen, Wie Menschen das Tageslicht in die das Tageslicht als „genau richtig“ Gebäuden wahrnehmen beurteilten, verwendeten regelmäßig Da der Homo sapiens während seiner ge- elektrisches Licht. Die Gründe hierfür samten Entwicklung in einer natürlich sind nicht ganz klar. Möglicherweise belichteten Umgebung lebte, verwun- verringert elektrisches Licht, ob als Dedert es nicht, dass Gebäudenutzer genau cken- oder Schreibtischbeleuchtung, die die Elemente als angenehm empfinden, Helligkeitskontraste auf der Arbeitsoberdie typisch für Tageslicht in der Natur fläche, die gelegentlich den Sehkomfort sind. Nutzerbefragungen in Büroge- verringern. bäuden ergeben eine hohe Präferenz für Eine Nutzerbefragung im Philip MerRäume mit Tageslicht. In einer Studie in rill Environmental Center (das erste Gesieben Bürogebäuden an der Nordwest- bäude, das in den USA den Platinstatus küste Amerikas (Heerwagen u. a., 1992) im LEED-Zertifizierungssystem erhielt) gaben 90 % der Gebäudenutzer an, dass zeigte eine sehr große Zufriedenheit der sie Tageslicht und Sonnenlicht an ihren Angestellten mit Tageslicht (90 %). Die Arbeitsplätzen „sehr“ mochten. 83 % ant- Zufriedenheit mit dem visuellen Komworteten, dass sie die jahreszeitlichen fort war mit 65 % deutlich geringer Veränderungen des Tageslichts schätz- (Heerwagen und Zagreus, 2005). Dies ten, und 86 % zeigten eine Präferenz für legt nahe, dass die Menschen die psydirektes Sonnenlicht. Interessanter- chologischen Vorteile von Tageslicht weise wird bei der Tageslichtplanung wertschätzen, auch wenn dieses zu üblicherweise darauf geachtet, direkte Problemen bei der Arbeit aufgrund von Sonneneinstrahlung auf die Arbeits- Blendung oder unregelmäßiger Lichtplätze wegen der Blendwirkung und des verteilung führt. Wärmegewinns zu vermeiden. Natürlich unterscheiden sich die AufIn der Auswertung der Daten hinsicht- gaben, die unsere Augen heute bei der Arlich des Standorts des Arbeitsplatzes er- beit zu leisten haben, sehr stark vom Tagklärten 100 % derjenigen, die in einem werk unserer Vorfahren. Tätigkeiten wie Eckbüro arbeiteten, die Menge des Ta- Kochen, Herstellung von Werkzeugen, geslichts sei „genau richtig“, während es Unterhaltungen, Suche nach Essbarem bei denjenigen, die kein Eckbüro, son- und Jagen ließen sich erfolgreich relativ dern ein Büro an einer Glasfassade hat- unabhängig von den Lichtverhältnissen ten, 90 % waren. Sogar diejenigen, deren durchführen. Dagegen fordert Lesen Arbeitsplatz sich weiter innen im Raum oder die Arbeit am Computer die Augen befand, waren zufrieden mit dem Tages- in sehr viel stärkerem Maße, sodass das licht, solange sie in einen von Tageslicht Tageslicht hierfür vielfach nicht ausbeleuchteten Raum blicken konnten. reicht. Dennoch fehlt einer gleichmäßig ausgeleuchteten Arbeitsumgebung, die Tageslicht und Arbeit vielleicht für die Büroarbeit angemessen Bekanntlich halten sich Menschen gerne sein mag, der psychologisch und bioloin Räumen mit Tageslicht auf und mögen gisch wertvolle Anteil an Tageslicht. 19 Ausblicke ins Freie gehören zu den wichtigsten Kriterien für die Akzeptanz von Gebäuden. Sie bieten Abwechslung im Alltag und verhindern, dass sich ein Gefühl der Klaustrophobie einstellt. Einstellungen zu Tageslicht und elektrischem Licht In einer Studie in einem Bürohochhaus in Seattle wurden die Mitarbeiter gebeten, die jeweiligen Vorteile von Tageslicht und elektrischem Licht in Bezug auf allgemeines Wohlbefinden, Gesundheit der Augen, Arbeitsleistung, den Sehkomfort bei Tätigkeiten, die besondere visuelle Anforderungen stellen, sowie auf die ästhetische Wirkung des Büros zu vergleichen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Befragten Tageslicht in allen Kategorien besser bewerteten als das elektrische Licht, insbesondere in den Kategorien allgemeines Wohlbefinden, Gesundheit und Ästhetik. Als gleich gut bewerteten sie Tageslicht und elektrisches Licht für Tätigkeiten, die genaues Hinschauen erfordern. Zum Zeitpunkt der Studie 1986 existierten nur wenige Erkenntnisse, die einen Zusammenhang zwischen Tageslicht und Gesundheit nahelegten. Das hat sich seither geändert, wobei sich besonders zahlreiche Untersuchungen mit zirkadianen Rhythmen und mit Winterdepressionen befasst haben. Viele dieser Arbeiten fanden im klinischen Umfeld im Zusammenhang mit Lichttherapien statt. Da dieser Aspekt an anderer Stelle in diesem Heft behandelt wird, soll hier nicht darauf eingegangen werden. Dennoch sei auf eine Laborstudie hingewiesen, die die Lichtpräferenzen von Menschen mit Winterdepression im Vergleich zu Menschen untersucht, die keine Symptome einer Winterdepression zeigten. Diejenigen, die jahreszeitbedingten Stimmungsschwankungen unterliegen, wählten signifikant höhere Helligkeitswerte bei allen Lichtquellen. Dies legt nahe, dass an Winterdepression Erkrankte tatsächlich ‚lichthungrig‘ sind und von Innenräumen mit sehr viel Tageslicht, wie etwa Atrien oder Sonnenräume, und einer Platzierung direkt am Fenster profitieren. Was ist aber über andere gesundheitliche Auswirkungen des Tageslichts in Innenräumen bekannt? Untersuchungen in Krankenhäusern hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Tageslichtniveau in Räumen und der Gesundung der Pati- enten ergaben, dass bipolare Patienten in hellen, nach Osten ausgerichteten Räumen durchschnittlich 3,7 Tage weniger im Krankenhaus blieben als Patienten in nach Westen ausgerichteten Räumen (Denedetti u. a., 2001). Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Beauchamin und Hays (1996) bei stationär behandelten Patienten mit psychischer Erkrankung. Diejenigen, die in den hellsten Räumen untergebracht waren, blieben durchschnittlich 2,6 Tage weniger im Krankenhaus. Keine dieser Studien macht jedoch Angaben über die tatsächliche Lichtmenge in den Patientenzimmern beziehungsweise das Licht, das auf die Netzhaut gelangt, und somit ist es schwer, Schlüsse hinsichtlich der Expositionsniveaus zu ziehen. In einer jüngeren Forschungsarbeit in einem Krankenhaus in Pittsburgh wurde die Helligkeit in Zimmern gemessen. Walch u. a. (2005) untersuchten 89 Patienten, die sich einer Operation an der Gebärmutter oder der Wirbelsäule unterzogen haben. Die Hälfte der Patienten war auf der hellen Seite des Krankenhauses untergebracht, und die andere Hälfte lag in einem Flügel des Krankenhauses, bei dem ein benachbartes Gebäude kein Sonnenlicht in die Zimmer eindringen ließ. Untersucht wurden die Medikation und Kosten sowie der psychische Zustand am Tag nach der Operation und am Entlassungstag. Hinzu kamen umfangreiche fotometrische Messungen in jedem Zimmer. Die Ergebnisse zeigten, dass die Patienten in den helleren Zimmern eine 46 % höhere Sonnenlichtintensität hatten. Patienten in den sehr hellen Zimmern nahmen 22 % weniger Schmerzmittel ein, empfanden weniger Stress und etwas weniger Schmerzen als jene in den dunkleren Zimmern. Damit waren die Medikamentenkosten für Patienten in den sehr hellen Zimmern um 21 % geringer. Wie jedoch helles Licht und Schmerz genau zusammenhängen, ist derzeit noch nicht bekannt. Weitere mögliche Vorteile von Tageslicht in Räumen sind ein vitaleres Lebensgefühl, weniger Müdigkeit während des Tages und geringere Angstgefühle. Eine groß angelegte Studie über 20 D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Natürliches Licht am Arbeitsplatz ist nicht nur eine Frage des Sehens. Nutzerbefragungen haben ergeben, dass Menschen Tageslicht auch dort schätzen, wo keine direkte Blickverbindung ins Freie besteht. Licht am Arbeitsplatz im Winter bei schwedischen Büroangestellten hat gezeigt, dass Stimmung und Vitalität bei gesunden Teilnehmern durch helles Tageslicht verbessert wurden (Partonen und Lönngvist, 2000). Einer anderen Studie zufolge reduziert sich die nachmittägliche Müdigkeit bei gesunden Erwachsenen, wenn sie eine halbe Stunde in hellem Tageslicht am Fenster saßen (Kaida u. a., 2006). In dieser Studie schwankte das Niveau des Tageslichts zwischen 1000 Lux und über 4000 Lux je nach Witterung. Die Wirkung des Tageslichts, so die Studie, entsprach nahezu derjenigen eines kurzen Mittagsschlafs. Ist Tageslicht biophil? E. O. Wilson machte den Begriff „Biophilie“ 1984 mit seinem Buch ‚Biophilia‘ bekannt. Der Begriff bezeichnet die Angewohnheit des Menschen, sich zum Leben und lebensähnlichen Prozessen hingezogen zu fühlen. Wilson erklärte niemals umfassend, was er mit‘lebensähnlichen Prozessen‘ meinte. Betrachtet man jedoch die Wesenselemente von Leben, so besitzt das Tageslicht mit Sicherheit einige hiervon. Das Tageslicht nimmt wäh- rend des Tages mit dem Lauf der Sonne Die lebensähnlichen und lebensunzu, es ‚wächst‘ also gewissermaßen und terstützenden Eigenschaften des Tagesverändert seine Farbe und Intensität, es lichts legen nahe, dass natürliches Licht liefert wichtige Lebensgrundlagen, sei- zu den Grundbedürfnissen der Menschen ne Abwesenheit in der Nacht verändert gehört und nicht eine Ressource ist, die in das Verhalten, und die länger werdenden das Belieben des Gebäudebesitzers oder Tage nach den langen Wintermonaten -planers gestellt werden kann. Das Vorsteigern Freude und Wohlbefinden. handensein von Tages- und Sonnenlicht Wilson und andere beschreiben Bio- in Gebäuden wirkt sich eindeutig darauf philie als eine Entwicklungsanpassung, aus, wie Körper und Geist diesen Ort die mit dem Überleben verbunden ist. wahrnehmen. Fehlt dieses Licht, entsteDie in diesem Artikel genannten Studi- hen leblose, fade, nichtssagende Räume, en lassen vermuten, dass Tageslicht sehr die unsere Verbindung zu unserem biotiefliegende Bereiche der Gesundheit und logischen Erbe trennen. Psyche positiv beeinflusst, die nur schwer in Umgebungen mit elektrischem Licht angesprochen werden können. Natürlich lassen sich auch Innenräume mit elektrischem Licht gestalten, dessen Intensität und Farbe sich verändert und das ande- Judith Heerwagen, PhD, ist Umweltpsycholore Elemente des Tageslichts nachahmt. gin in Seattle. Sie arbeitet als Gastdozentin am Department of Architecture an der University of Aber wird es sich genauso anfühlen? Kann Washington, wo sie Seminare über bio-inspiriereine Umgebung mit elektrischem Licht tes Planen und Nachhaltigkeit hält. Judith Heerbiologisch die gleiche Wirkung haben wagen hält Vorträge über den Faktor Mensch im wie Tageslicht? Die Antworten auf diese Zusammenhang mit nachhaltiger Planung unter Fragen sind noch nicht bekannt, aber klar Berücksichtigung von Gesundheit, Psyche und Proist, dass solche Raumgestaltungen sehr duktivität. Sie ist Mitautorin des Buches ‚Biophilic energie- und ziemlich kostenintensiv Design: The Theory, Science and Practice of Brinsind. ging Buildings to Life’ (Wiley, 2008). Literaturhinweise J. Appleton (1975): The Experience of Landscape. London: Wiley. K. M. Beauchemin und P. Hayes (1996): Sunny hospital rooms expedite recovery from severe and refractory depressions. Journal of Affective Disorders, 40(1): 49-51. F. Benedetti, C. Colombo, B. Barbini, E. Campori und E. Smeraldi (2001): Morning sunlight reduces length of hospitalization in biopolar depression. Journal of Affective Disorders, 62(3): 221-223. R. N. Golden, B. N. Gaynes, R. D. Ekstrom, R. M. Hamer, F. M. Jacobsen, T. Suppes, K. L. Wisner und C. B. Nemeroff (2005): The efficacy of light therapy in the treatment of mood disorders: a review and meta-analysis of the evidence. American Journal of Psychiatry, 162: 656-662. J. H. Heerwagen (1990): Affective Functioning, “Light Hunger,” and 22 Room Brightness Preferences. Environment and Behavior. 22(5): 608635. J. H. Heerwagen und D. R. Heerwagen (1986): Lighting and Psychological Comfort. Lighting Design and Application, 16(4): 47-51. J. H. Heerwagen und L. Zagreus (2005): The Human Factors of Sustainability: A Post Occupancy Evaluation of the Philip Merrill Environmental Center, Annapolis MD. University of California, Berkeley, Center for the Built Environment. J. H. Heerwagen und G. H Orians (1993): Humans, Habitats and Aesthetics. In: S. R. Kellert und E. O. Wilson (Eds.): The Biophilia Hypothesis. Washington, DC: Island Press. G. Hildebrand (1999): Origins of Architectural Pleasure. Berkeley: University of California Press. K. Kaida, M. Takahshi, T. Haratani, Y. Otsuka, K. Fukasawa und A. Nakata (2006): Indoor exposure to natural bright light prevents afternoon sleepiness. Sleep, 29(4): 462-469. M. Konner (1982): Die unvollkommene Gattung: biologische Grundlagen und die Natur des Menschen, Birkhäuser Verlag, Basel, 1984, dt. v. Tony Westermayr. J. Mottram (2002): Textile Fields and Workplace Emotions. Vortrag zur 3rd International Conference on Design and Emotion, Loughborough, England. G. H. Orians und J. H. Heerwagen (1992): Evolved Responses to Landscapes. In: J. Barkow, L. Cosmides und J. Tooby (Eds): The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Generation of Culture. New York: Oxford University Press. D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 T. Partonen und J. Lönngvist (2000): Bright light improves vitality and alleviates distress in healthy people. Journal of Affective Disorders, 57(1): 55-61. A. J. Shepherd, W. G. Jullien und A. T. Purcell (1989): Gloom as a psychophysiological phenomenon. Lighting Research and Technology, 21(3): 89-97. J. M. Walch, B. S. Rabin, R. Day, J. N. Williams, K. Choi und J. D. Kang (2005): The effect of sunlight on postoperative analgesic medication use: a prospective study of patients undergoing spinal surgery. Psychosomatic Medicine, 67: 156-163. E. O. Wilson (1984): Biophilia. Cambridge, MA: Harvard University Press. LICHT ENTWERFEN: WISSENSCHAFT UND ÄSTHETIK DER TAGESLICHTPLANUNG Zur Kunst der natürlichen Belichtung gehört weitaus mehr, als viel Sonnenlicht in ein Gebäude zu lassen. Es bedarf enormer architektonischer Kreativität, um die Funktionalität des Tageslichts in Raumschöpfungen von bestechender Schönheit zu transformieren. Um diesen Prozess zu verstehen, lohnt die genauere Betrachtung einiger historischer und zeitgenössischer Meisterwerke aus der Architektur. Von Dean Hawkes Fotos von Gerry Johansson „Architektur entsteht bei der Schaffung eines Raums. Ohne natürliches Licht ist ein Raum kein Raum.“ Louis Kahn Mit dieser vermeintlich schlichten Aussage stellt Louis Kahn hohe Ansprüche. Implizit versteht er das Licht in der Architektur nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als Schlüssel für die Definition von Architektur schlechthin. Zu den wichtigsten Errungenschaften der angewandten Wissenschaft im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert zählt die quantitative Erfassung und Bestimmung unserer Bedürfnisse in Gebäuden. Dies gilt insbesondere für das Lichtdesign, zu dem es zahlreiche Handbücher und Ratgeber gibt mit Normen für Beleuchtung, Planungsmethoden und Faustregeln. Beispiele sind geometrische Formeln wie die ‚no-sky line’, eine imaginäre Linie zwischen dem Fenstersturz in einem Raum und der Attika oder dem First eines benachbarten Gebäudes, die bezeichnet, wie weit Tageslicht in dicht bebauten Gebieten in einen Raum eindringt. Eine andere Kennzahl, die bereits Eingang in diverse Normen gefunden hat, ist der Tageslichtquotient, der das Verhältnis zwischen der Beleuchtungsstärke auf Höhe der Arbeitsfläche in einem Raum und im Freien angibt. Solche Hilfsmittel sind äußerst nützlich und schaffen ein solides Fundament für die praktische Entwurfsarbeit. In jüngerer Zeit werden sie unterstützt und ergänzt durch rechnergestützte Berechnungsmethoden und Simulationswerkzeuge. Die Tageslichtplanung umfasst jedoch weit mehr als diese Kennzahlen, und wieder ist es Louis Kahn, der es pointiert formuliert: „Ich wünschte, die Wissenschaftler würden endlich begreifen, dass sie ständig die Vision erfassen wollen und dass die Realität nur im Dienste der Vision steht. Alles von Menschenhand Geschaffene muss prinzipiell visionär sein.“ Hier präsentiert uns Kahn ein Rätsel. Wo liegt der Wert von Quantifizierung und Erfassung – des Messbaren –, wenn wir eigentlich das Wesen der Architektur – das Nicht-Messbare – verstehen wollen? Wie können wir diesen Widerspruch lösen? Es ist eine Binsenweisheit, dass Architektur Kunst mit Wissenschaft verbindet. Dies zeigt sich deutlich in den konventionellen Kategorien der Literatur zur Architektur und in den Lehrplänen des Architekturstudiums, wenngleich diese die beiden Bereiche viel zu oft streng trennen. Das hilft uns aber nicht, Kahns Rätsel zu lösen – also was nun? Christopher Wren: Geometrie und Licht Obwohl sicherlich viele Aspekte von Kunst und Wissenschaft in die Architektur einfließen, bin ich der Überzeugung, dass man ihre wahre Natur nicht wirklich mit Hilfe einer simplen Formel wie ‚Kunst + Wissenschaft = Architektur’ erfassen kann. Die Antwort sollten wir in den Gebäuden selbst suchen, in den Werken der Architektur und in den substanziellen Aussagen von Architekten, die, richtig interpretiert, tiefe Einblicke in die Thematik gewähren. Für mein Buch ‚The Environmental Imagination‘ habe ich diverse Werke bedeutender Architekten aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert untersucht – also exakt aus jener Zeit, als die Gestaltung unserer Umwelt mehr und mehr quantitativen Aspekten zu folgen begann. In anderen Abhandlungen bin ich zeitlich noch weiter zurückgegangen und habe mich mit Bauwerken aus dem sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert beschäftigt. Insgesamt bin ich dabei zu dem Schluss gelangt, dass das wesentliche Instrument zum Verstehen und Begreifen des Nicht-Messbaren die Imagination ist, die ich persönlich als ‚Fähigkeit zur Entwicklung neuer Ideen‘ definiere. Zur Verdeutlichungnehme ich Bezug auf einige Bauwerke, welche die Anwendung der Imagination im Konzept des Tageslichts veranschaulichen. Als erstes Beispiel dienen mir die Bauwerke Sir Christopher Wrens. Er war sowohl Wissenschaftler als auch Architekt: Vor seinem Wirken als Architekt arbeitete er als Professor für Astronomie in London und in Oxford. In seinen Bauten gelang es Wren, die beiden Bereiche von (messbarer) Realität und (nicht messba27 cd/m 2 8000 5800 4100 3000 2100 1500 1100 800 Die Falschfarben-Fotos in diesem Beitrag zeigen die Leuchtdichteverteilung in den abgebildeten Räumen. Die Leuchtdichte wird in Candela pro Quadratmeter (cd/m2) gemessen und gibt die Helligkeit einer Oberfläche an. Sie ist damit ein wichtiger quantitativer Indikator für die Lichtverteilung im Raum. Seiten 26–30 Im zentralen Ausstellungsraum des Museo Canoviano in Possagno hat Carlo Scarpa die Fenster als eigene, plastische ‚Lichtkörper’ gestaltet. Die kubischen Glaselemente beleuchten nicht nur den Innenraum, sondern erzeugen gezielt Streiflicht auf den Wänden und lassen so deren Oberflächenstruktur aus Putz und Naturstein umso deutlicher hervortreten. rer) Vision in echten Einklang zu bringen. Zu Wrens größten architektonischen Leistungen gehörte der Wiederaufbau von mehr als fünfzig Londoner Kirchen, die beim großen Brand von London im Jahr 1666 zerstört wurden. Am eindrucksvollsten ist vielleicht die Kirche St. Stephen Walbrook (1672– 1680). Hier ist ein von einer Kuppel bekrönter Zentralraum eingebettet in einen längsgerichteten Rechteckgrundriss, wodurch ein eigenartiger Hybrid aus Zentralraum und Kirchenschiff entsteht. Dieser Ansatz führt zu immenser Komplexität von Raum und Licht. Den Lichteinfall durch die großen Fassadenfenster ergänzen gewölbte Lichtgaden in den Gewölbekappen, die in alle vier Himmelsrichtungen weisen, sowie der zentrale Okulus der Kuppel. Wren legte viel Wert auf funktionale Beleuchtung für die kirchlichen Zeremonien, doch gingen seine Intentionen weit darüber hinaus, wie der Historiker Kerry Downes feststellt: „Wren betrachtete die Geometrie als Basis der ganzen Welt und als Manifestation ihres Schöpfers. Licht machte diese Geometrie nicht nur sichtbar, sondern repräsentierte auch die Gabe logischen Denkens, die für ihn in der Geometrie gipfelte.“ Die alternierenden Licht- und Schattenmuster in der Kirche sowie die unvermittelte, kurzzeitige Illumination der Säulenschafte, die den Innenraum je nach Tages- und Jahreszeit immer wieder neu definieren, zeugen in diesem Bauwerk davon, dass Wrens wissenschaftliche Auffassung von Licht mit bemerkenswerter Imaginationskraft verknüpft war. Soane und Scarpa: Poeten des Tageslichts Ein anderer englischer Architekt, der einen ähnlich visionären Zugang zum Tageslicht besaß, war Sir John Soane. Sein Schaffen fiel in die Zeit, als die industrielle Revolution die Bautechnik stark veränderte. Soane interessierte sich sehr für neue Konstruktionsmethoden, doch wie Wren beschäftigte auch er sich mit den qualitativen Aspekten des Lichts in der Architektur. 30 „Die von den französischen Künstlern so erfolgreich praktizierte lumière mystérieuse ist ein grandioses Mittel in den Händen eines schöpferischen Mannes. Diese Kraft kann man weder absolut begreifen noch hoch genug schätzen. Dennoch wird sie in unserer Architektur nur wenig beachtet – offensichtlich, weil wir die Bedeutung des Charakters unserer Gebäude unterschätzen, zu dem das Licht einen beachtlichen Beitrag leistet.“ Soanes Meisterwerk ist sein Haus in 12–14 Lincoln’s Inn Fields im Zentrum Londons, in dem er von 1792 bis zu seinem Tod im Jahr 1837 wohnte und arbeitete. Hier ergriff Soane die Gelegenheit, den Charakter des natürlichen Lichts zu erforschen und so sowohl den praktischen als auch den poetischen Bedürfnissen des Wohnens gerecht zu werden. Er bediente sich hierzu einer Fülle teils unkonventioneller, ebenso pragmatischer wie poetischer Mittel und kombinierte Seitenlicht mit Oberlichtern. Die Bibliothek und der Salon im Erdgeschoss des Haupthauses gehen ineinander über. Die Bibliothek liegt an der Straßenfassade des Hauses im Süden, das Esszimmer wird durch einen offenen Hof auf der Nordseite belichtet. Die Wände beider Räume in dunklem Pompejanischrot absorbieren zwar einen Großteil des einfallenden Tageslichts; dies wird aber kompensiert durch eine Vielzahl großer und kleiner Spiegel, die das Licht quantitativ verstärken und auch seine Qualität verändern. Die größte Wirkung erzielen diejenigen, in denen sich die Stützpfeiler der Glasloggia auf der Südseite und die Fensterläden spiegeln. So wirken die Räume gleichzeitig düster und strahlend: lumière mystérieuse im Dienste von Wohnkultur und Architektur. Von den Beispielen aus dem zwanzigsten Jahrhundert wären zunächst die Bauten Carlo Scarpas zu nennen. Boris Podrecca schreibt über den italienischen Architekten: „(Carlo) Scarpas Werk verklärt die Tradition nicht nur durch die physische Präsenz der Dinge, sondern auch durch das Licht, ein lumen nicht von morgen, sondern aus der Vergangenheit – das Licht goldenen D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 cd/m 2 200 94 44 21 9,7 4,5 2,1 1 cd/m 2 200 120 70 41 24 14 8,5 5 Den Lokschuppen der näheren Umgebung nachempfunden ist das Bürogebäude ‚Heelis’, das Feilden Clegg Bradley für den britischen National Trust unweit des Bahnhofs von Swindon entwarfen. Statt durch die Fassaden werden die tiefen Bürogrundrisse fast ausschließlich durch das Dach belichtet. Dabei nutzten die Architekten auch die Tatsache aus, das zenitales Licht etwa dreimal stärker ist als Seitenlicht. Hintergrunds, schimmernder Flüssigkeit, elfenbeinfarbener Täfelung, leuchtender und schillernder Stoffe, in Marmor neu erschaffen. Es ist das Licht, in dem die Welt widergespiegelt wird.“ Diese Eigenschaften zeigen sich eindrucksvoll in dem kleinen Anbau, den Scarpa in den 50er-Jahren dem Museo Canoviano in Possagno hinzufügte. Die Komposition dreht sich um einen großen kubischen Raum, der durch vier plastisch ausgebildete Eckfenster am Schnittpunkt zwischen Wand und Decke erhellt wird. Zwei dieser Fenster weisen nach Westen und sind hoch und eher schmal und wie kubische Lichtkörper nach innen in den Raum ‚eingestülpt’; die beiden anderen liegen an der Ostseite, sind breiter und haben eine konvexe (nach außen gewendete) Verglasung. Diese Konfiguration fängt das Licht aus allen Richtungen ein und lässt es – anders als ein herkömmliches Wandfenster – im flachen Winkel über die Wände selbst streichen. Wenn die Sonne um das Gebäude wandert, wirken der Innenraum sowie Canovas wertvolle und großartige Plastiken durch den variierenden Lichteinfall lebendig, sie erscheinen dem Betrachter geradezu als Lebewesen. Das Eckfenster war eine Erfindung der klassischen Moderne; gute Beispiele hierfür sind Wrights Präriehäuser und Rietvelds Schröder-Haus. Scarpa jedoch verlieh dem Eckfenster neue Bedeutung und Wert. 1978 erklärte er zu seinem Museum in Possagno: „Ich liebe das Tageslicht und wünschte, ich könnte das Blau des Himmels einfangen.“ In diesem Schmuckstück wurde sein Wunsch Wirklichkeit. Gebäude für jeden Zweck Vor allem Louis Kahn leistete unter den Architekten des 20. Jahrhunderts einige der wichtigsten Beiträge zur Verknüpfung der praktischen und poetischen Eigenschaften des Lichts in der Architektur. Jedes seiner Spätwerke könnte als Beispiel dienen; ich habe mich für das Yale Center for British Art (1969–1974) entschieden. Das Gebäude ist eine nüchterne Komposition aus Sichtbetonrah- Seiten 32/33 Die Ausstellungsräume des Yale Center for British Art von Louis Kahn sind in ein gedämpftes Licht getaucht, wie es für England – das Herkunftsland der meisten hier ausgestellten Gemälde – typisch ist. men und Edelstahlverkleidung, Eichenholztäfelung und weißem Putz. Kahns Entwurf sah vor, dass es vom Sonnenlicht durchflutet sein sollte – „ohne natürliches Licht ist ein Raum kein Raum“ –, daher ist die gesamte Dachfläche mit einem System viereckiger Dachfenster versehen. Die umlaufenden Galerien liefern zusätzliches Seitenlicht durch exakt positionierte Vertikalfenster. Viele der ausgestellten Gemälde hingen zuvor in englischen Landhäusern; häufig stellen sie englische Szenen unter englischem Himmel dar. Durch einen geschickten Griff in die architektonische Trickkiste schafft Kahn die Illusion eines ebensolchen Schauplatzes im ganz anderen Licht Connecticuts. Die versetzt angeordneten Dachfenster mit Außenjalousien und internen Streufiltern dämpfen das helle Licht und verleihen der zurückhaltenden Innenarchitektur etwas Düsteres. Kahns umfangreiche Zeichenstudien belegen, dass diese Effekte das Produkt minutiöser Analyse waren. Ein lebender Meister des imaginären Lichts ist Peter Zumthor. In den Gebäuden, die er gegen Ende des letzten Jahrhunderts schuf, beweist er ein besonderes Gespür für die Gestaltung von Räumen und Fügung von Materialien – immer mit dem Ziel, das Tageslicht für den jeweiligen Verwendungszweck des Gebäudes optimal zu nutzen. Er selbst schreibt: „[Eine meiner Lieblingsideen] ist die: das Gebäude zunächst als Schattenmasse zu denken und dann nachher, wie in einem Aushöhlungsprozess, Lichter zu setzen, Licht einsickern zu lassen. [...] Die zweite Lieblingsidee ist, die Materialien und Oberflächen bewusst ins Licht zu setzen. Und dann zu schauen, wie sie reflektieren. Also mit dem Bewusstsein, wie das reflektiert, die Materialien zu wählen und so ein stimmiges Ding zu machen ...“ Die Umsetzung dieser Ideen zeigt sich eindrucksvoll in dem Schutzbau für die römischen Ausgrabungen in Chur, den Zumthor 1986 fertigstellte. Das augenscheinlich schlichte Bauwerk besteht aus drei von oben belichteten Baukör35 Seiten 36-39 Peter Zumthors Schutzbau über den römischen Ruinen in Chur besteht aus drei mit Holzlamellen verkleideten, kubischen Baukörpern. Durch die diaphane Gebäudehülle sickert diffuses Tageslicht in den Innenraum ein. Die wesentlichen Lichtakzente setzen jedoch große ‚Lichtkanonen’ im Dach, die diagonal zum Konstruktionsraster jeweils mittig in den Räumen angeordnet sind. pern, welche die Umrisse der fragmentarischen Reste der römischen Anlage aufgreifen. Die Holzrahmenstruktur ist mit Holzlamellen verkleidet, das Zinkdach mit drei großen Dachfenstern versehen. In dieser tektonischen Schlichtheit offenbart sich ein tiefes Verständnis für die Natur und das Verhalten des Lichts. Die Wände erscheinen undurchlässig, lassen aber dennoch indirektes Licht durch die Zwischenräume zwischen den Lamellen dringen. So entsteht ein diffuser Schimmer im Inneren, dessen Farbton durch den Holzfarbton erwärmt wird. Dramatisiert und verwandelt wird diese Wirkung durch das kraftvolle zenitale Licht, das kaskadenartig durch die Dachfenster einströmt. Die großen asymmetrischen Einfassungen der Dachöffnungen sind schwarz gestrichen, wodurch sich das Licht, das auf den blassgrauen Kiesboden fällt, noch intensiviert. All dies basiert auf Zumthors systematischer und objektiver Betrachtung der Interaktion zwischen Licht und Material. Der Effekt ist faszinierend und originell. Die Quantifizierung und Kodifizierung unserer gebauten Umwelt ging Hand in Hand mit der Entwicklung hochtechnisierter Gebäude im 20. Jahrhundert. Bürohäuser sind hierfür vielleicht das gängigste Beispiel und, wenn man so will, auch der größte ‚Erfolg’, was die Allgegenwart von Technik und den Ersatz des Tageslichts durch künstliche Lichtquellen betrifft. Es gibt allerdings auch rühmliche Ausnahmen von der Regel. Ein Beispiel ist das ‚Heelis‘-Gebäude in Swindon in Südengland, die Zentrale des National Trust, der einen Großteil des architektonischen Erbes Englands verwaltet. Der Komplex wurde von dem Architekturbüro Feilden Clegg Bradley entworfen und 2005 fertiggestellt. Das Gebäude befindet sich auf dem Gelände eines ehemaligen Rangierbahnhofs, ursprünglich entworfen im 19. Jahrhundert durch den bedeutenden Ingenieur Isambard Kingdom Brunel. In seiner Form greift es die ehemalige Industrieanlage auf. Die Gebäudekubatur dominieren eine Reihe Giebeldächer, die große Mengen Tageslicht liefern und die natürliche Belüftung fördern. 38 Seiten 40/41 In der Kirche St. Stephen Walbrook in London verband Christopher Wren die auf strengen Geometrien basierende Architekturauffassung seiner Zeit mit der Metaphysik des Lichts. Große Fenster in allen vier Fassaden sorgen für Zudem dienen sie als Träger für Fotovoltaikmodule zur Stromerzeugung. Unter dem Dach wechseln sich zweigeschossige Büroflügel ab mit Gemeinschafts- und Sozialräumen, die über die gesamte Gebäudehöhe reichen. Eine Hauptintention des Entwurfs lautete, alle Arbeitsplätze mit natürlichem Licht zu versorgen – von jedem Arbeitsplatz sollte ein Stück Himmel zu sehen sein. Das bei der Tageslichtplanung verwendete Standard-Himmelsmodell ist im Zenit dreimal heller als am Horizont. Licht von oben ist also deutlich kraftvoller als Licht von der Seite. Zudem ist es eine wohlbekannte, auch empirisch belegte Tatsache, dass selbst der englische Himmel genügend Tageslicht für die meisten praktischen Zwecke liefert. Dies wird im Heelis-Gebäude auf elegante Weise umgesetzt, wo Tageslichtfaktoren von drei Prozent unterhalb der Zwischenetagen bis zu durchschnittlich neun Prozent auf den Galerieebenen der Büroflügel erreicht werden. In die doppelt hohen Räume strömt das Licht ungehindert ein, wirft lebendige Lichtflecken auf die Raumoberflächen und stellt so eine dynamische Verbindung zwischen Natur und Innenraum her. Durch seinen kunstvoll umgesetzten Pragmatismus wird das Gebäude zu einem angemessenen Symbol für den Auftrag des National Trust. Jedes der in diesem Beitrag vorgestellte Bauwerke stellt ganz bestimmte Anforderungen in den Mittelpunkt – seien es die christliche Gottesverehrung, das Stadtleben im neunzehnten Jahrhundert, die Präsentation und Erhaltung von Kunstwerken, der Schutz fragiler Überreste aus der Römerzeit oder die praktischen und sozialen Ansprüche von Firmenzentralen. In jedem Fall werden die objektiven Anforderungen an Behausung, Schutz vor den Elementen und Beleuchtung erfüllt. Was sie für uns jedoch so interessant macht, ist die Art und Weise, in der Gewöhnliches durch die Vorstellungskraft von Architekten zu Außergewöhnlichem wird. Dieser Prozess ist bei der Planung ‚alltäglicher‘ Gebäude allerdings nicht minder relevant als bei Kulturbauten. Fast alle Funktionen in einem Gebäude lassen sich durch die Grundbeleuchtung im Raum, während die hoch gelegenen Fenster des Lichtgadens und die Laterne der Kuppel im Tagesverlauf einzelne Lichtstrahlen durch dem Raum wandern lassen. ein angemessenes Tageslichtkonzept verbessern, das die Wechselwirkungen von Licht und Schatten ebenso erlebbar macht wie die tages- und jahreszeitabhängigen Sonnenzyklen und die Form und Materialität eines Raums. Auf diese Weise kann Imagination die Lücke zwischen Realität und Vision im Sinne Kahns schließen. So werden Gebäude zu Werken der Architektur. Dean Hawkes (geb. 1938) ist Architekt und emeritierter Professor für Entwurfslehre an der Cardiff University sowie emeritierter Stipendiat des Darwin College an der University of Cambridge. Zu seinen Veröffentlichungen gehören ‚The Environmental Imagination’ (2008) sowie ‚Architecture and Climate’ (Veröffentlichung 2011). Seine Gebäude wurden mit vier RIBA-Architekturpreisen ausgezeichnet. 2011 erhielt er den von RIBA zweimal jährlich verliehenen internationalen ‚Annie Spink Award‘ für herausragende Leistungen in der Architekturlehre. D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 cd/m 2 20 10 5,4 2,8 1,4 0,75 0,39 0,2 AUF DER SUCHE NACH EINER ANTHROPOLOGIE DES TAGESLICHTS Seit Hunderten von Jahren arbeiten Architekten daran, die Magie des Tageslichts in Gebäuden festzuhalten. Eine ständig sich erweiternde Palette an Baumaterialien unterstützt sie dabei. In den Städten von heute wird Tageslicht immer häufiger durch künstliches Licht ersetzt. Die Folge ist ein Verlust unserer Verbindung zur Natur – und damit einhergehend unserer Lebensqualität und unseres Wohlbefindens. Wenn Architektur den körperlichen Bedürfnissen und psychologischen Erwartungen des Menschen gerecht werden will, muss sie neue Techniken im Umgang mit Tageslicht entwickeln und in einen engeren Dialog mit der Wissenschaft treten. Von Brent Richards Fotos von Gerry Johansson Tageslicht bedeutet für den Menschen das Grundbedürfnis, im Hellen und nicht im Dunkeln zu sein, die Wärme des Sonnenlichts statt der Kälte des Schattens zu spüren. Dieses Bedürfnis ist bestimmt von einem angeborenen Streben nach physischer und emotionaler Interaktion mit Tageslicht. Diese Interaktionen sind vielgestaltig; sie umfassen die Wärme des Tageslichts auf der Haut, dessen Wandel vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang oder auch die bewusste Betrachtung von Licht und Wolken am Himmel.1 Tageslicht beeinflusst die Sinne und hat Auswirkungen auf die Gemütsverfassung, das Verhalten und das gesamte Wohlbefinden des Menschen, die damit wiederum abhängig von der Tageszeit und dem Aufenthaltsort sind. In vorgeschichtlicher Zeit lebte der Mensch als Nomade in der freien Natur. Dabei war er abhängig vom Tageslicht, um Nahrung zu finden und sicher vor wilden Tieren zu sein. Er bewohnte eine Natur, die bestimmt wurde von dem stets gleich ablaufenden Muster von Tag und Nacht. Dieser Hell-Dunkel-Zyklus bildete den Rahmen für die täglichen Aktivitäten des Menschen und verband seine physiologische und psychologische Rhythmen eng mit seinem natürlichen Lebensumfeld. In vielen Kulturen war diese Beziehung die Basis für die religiöse Verehrung des Lichts und der Sonne. Als die Menschen begannen, erste Gebäude zu errichten, stellten sie die Verbindung nach draußen durch einfa- che Öffnungen und Fenster her. Diese gezielt gebauten Öffnungen ließen nicht nur „Der Verlauf des Tageslichts ist Tageslicht und Luft eindringen, sondern nicht linear, sondern folgt den schufen auch eine symbolische Schnittwiederkehrenden Zyklen der Tage stelle zwischen innen und außen. Darüund Jahreszeiten, indem sich die ber hinaus verbanden sie den Wohnalltag Erde um ihre eigene Achse dreht der Menschen, ihre täglichen Rituale und und ihre Bahn um die Sonne ihren Wach-Schlaf-Rhythmus mit dem 24-Stunden-Zyklus des natürlichen verfolgt.“ Lichts. Ole Bouman Vor dem Hintergrund dieser lebenswichtigen Symbiose von Mensch und Tageslicht hat die Architektur das Wechselspiel zwischen gebauter Umgebung und dem natürlich belichteten Innenraum immer wieder thematisiert. Architekten wurden sehr geschickt darin, den Nutzerkomfort durch Licht zu optimieren, indem sie Blickverbindungen zum Tageslicht schufen. Sie erlangten eine Meisterschaft darin, das Tageslicht mit transparenten, Licht streuenden und reflektierenden Bauelementen in Gebäude zu leiten, zu verstärken und in die gewünschte Richtung zu lenken. Damit übernahmen sie die Kontrolle über die Helligkeit und die Beleuchtungsstärke im Innenraum, den Kontrast des Lichts zwischen außen und innen sowie die Beziehung des Lichts zu den jeweiligen Raumfunktionen. Diese Wechselwirkung zwischen Architektur und Tageslicht ist nach wie vor lebendig. Sie wird begünstigt durch die vielfach belegte Tatsache, dass die Menschen das natürliche Licht dem künstlichen Licht vorziehen, ungeachtet der immer neuen technischen Innovati43 Die moderne Architektur verfügt über Möglichkeiten, Tageslicht an fast jeden gewünschten Ort in Gebäuden zu bringen. Längst nicht immer werden diese so meisterhaft genutzt wie hier von Louis Kahn. „Licht ist Materie, und Licht ist ein Rohstoff. Sobald wir verstanden haben, wie sich Licht verändert und wie es unsere Wahrnehmung verändert, erweitert sich das gestalterische Vokabular der Architektur in einer Form, wie es sich die klassische Architektur nie hat träumen lassen […] Eine Architektur der Flüchtigkeit wird möglich.“ Jean Nouvel 44 onen bei der elektrischen Beleuchtung und der ständig steigenden Effizienz der Leuchtmittel. Bauen mit Licht Die menschliche Zivilisation hat sich von einzelnen, verstreut stehenden Gebäuden zu den dichten Megastädten von heute entwickelt, und damit ist Tageslicht zu einem Gut geworden, um das ein zunehmender Wettstreit entstanden ist. Diese Entwicklung wird wahrscheinlich noch an Bedeutung gewinnen, da bis 2020 siebzig Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Gemeinschaften leben werden. Aus den Menschen sind urbane ‚Höhlenbewohner‘ geworden, die sich zunehmend von der Natürlichkeit des Tageslichts (dessen Farbe, Rhythmus und wiederkehrenden Elementen) entfernen und immer seltener dessen Annehmlichkeiten in physischer und emotionaler Hinsicht erfahren. Zum Teil haben sich die Menschen erfolgreich an diese Mangelsituation angepasst, indem sie neue Lebensmuster entwickelten und ihre unmittelbare Umgebung neu gestalteten. Eine gewisse Kompensation schufen zum Beispiel das Planungsrecht (wie etwa die Begrenzung von Gebäudehöhen, die Festschreibung von Abstandsflächen und die Forderung nach Rücksprüngen bei Hochhäusern), größere Glasanteile in Fassaden und der Einsatz von ergänzenden künstlichen Lichtquellen und Atrien in Gebäuden. Ungeachtet aller Kompensationen ist der Wunsch der Menschen, wichtige Alltagsaktivitäten bei Tageslicht durchzuführen, lebendig geblieben. Darüber hinaus wird zunehmend deutlich, dass selbst in Räumen mit hoch effizienter und optimal gesteuerter künstlicher Beleuchtung sowie konstanten normgerechten Lichtbedingungen wichtige psychische und biologische Voraussetzungen für das menschliche Wohlbefinden fehlen.2 Die Menschen wünschen sich Licht nicht nur zur Beleuchtung, sondern auch aufgrund der Stimulation, die nur die Sonne und das Tageslicht bringen können. Natürliches Licht verändert sich. Seine Intensität nimmt im Tagesverlauf erst zu und dann wieder ab, und es wird von klimatischen Bedingungen wie Wolken und der Anzahl der Sonnenstunden beeinflusst. Künstliches Licht dagegen verändert seine Farbe (in der Regel) nicht und besitzt auch viele phänomenologische Eigenschaften nicht, die aufgrund der geografischen Lage eines Orts oder seiner Nähe zum Wasser typisch für natürliche Lichteffekte sind. (Ein Beispiel ist das besonders weiche, stets etwas gedämpfte Licht in Venedig.) Der Lichtkünstler James Turrell beschreibt diese Phänomene als „den Bereich räumlicher und optischer Spannung“: Sich des Vorhandenseins von Licht bewusst zu sein bedeutet mehr, als darin eine Quelle von Helligkeit zu erkennen.3 In Anbetracht des uns von der Natur vorgegebenen Bedarfs an Tageslicht hat dessen Fehlen in unserem Alltag erhebliche gesundheitliche und psychologische Belastungen zur Folge. Menschliches Verhalten wird beeinflusst vom TagNacht-Rhythmus, der eng an die rhythmisch zu- und abnehmende Stärke des natürlichen Umgebungslichtes gekoppelt ist. Obwohl wir uns heutzutage auf elektronische Uhren verlassen, um unsere Alltagsaktivitäten termingerecht auszuführen, wird unser Leben doch von unserer ‚inneren Uhr‘ gesteuert. Sie ist für Schlafrhythmen, Aufmerksamkeit, Gemütszustände und Blutdruck (mit-)verantwortlich und bringt den Lebensrhythmus und den Stoffwechsel bei Tag und Nacht miteinander in Einklang. Täglich aufs Neue synchronisiert sich die innere Uhr mithilfe des Tageslichts mit der jeweiligen Ortszeit. Ist das nicht möglich, entsteht ein lichtunabhängiger, ‚freilaufender‘ zirkadianer Rhythmus, der eine Störung vieler Körperfunktionen mit sich bringt.4 Störungen dieser inneren Uhr können zu einer Reihe von Verhaltensstörungen (etwa beim Schlafen und Essen) sowie zu Gemütsschwankungen, in den Wintermonaten auch zu Depressionen führen. Diese Auswirkungen legen nahe, dass es einen für Menschen lebenswichtigen Hell-Dunkel-Zyklus gibt, zu dem zeitliche und spektrale Komponenten gehören und der für unser Wohlbefinden essenziell ist. Unser gegenwärtiger Lebensstil D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Seiten 46/47 Auch in Zeiten elektrischen Lichts hat sich wenig an dem grundlegenden Bedürfnis der Menschen geändert, ihre Tätigkeiten im Licht der Sonne zu verrichten. Rechts Tageslicht unterstützt uns nicht nur beim Sehen – der Mensch spürt die Sonne auch, und seine Psyche und Physis werden maßgeblich von ihr beeinflusst. Beides muss beim Entwerfen von Gebäuden Berücksichtigung finden. hängt jedoch sehr stark von der Nutzung künstlichen Lichts ab. Dies führt nach und nach dazu, dass sich die Menschen insbesondere in den Städten in nicht unerheblichem Maße von der Natur und dem Tageslicht isolieren. So entsteht ein Widerspruch zwischen dem Lebensstil der Menschen und den Umwelteinflüssen, die sie benötigen, um Gesundheit und Wohlbefinden im Gleichgewicht zu halten. Schlussfolgerungen für die Architektur All diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und Alltagsbeobachtungen zeigen deutlich, dass dem Menschen ein Verlangen nach Tageslicht angeboren ist, das nicht adäquat von alternativen (künstlichen) Lichtquellen gestillt werden kann. Daraus ergibt sich die Frage, wie die Architektur – und insbesondere die Gestaltung zukünftiger Gebäude – besser auf die Interaktion zwischen Mensch und Tageslicht eingehen kann. Architektur hat bislang in einem Vakuum gearbeitet, da sie abgekoppelt war von den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Auswirkungen des Tageslichts auf Psyche und Verhalten. Stattdessen maß sie den Nutzen des Lichts vorwiegend an dessen funktionaler Zweckerfüllung (Beleuchtungsstärke bei der Arbeitsplatzbeleuchtung usw.), dem ästhetischen Ausdruck von Licht und der künstlerischen Verwendung von Tageslicht als Ausdrucksmittel der Architektur selbst. Tageslicht bedeutet jedoch, wie ausführlich dargelegt, noch weitaus mehr für die Menschen. Dringend notwendig ist daher der Beitrag von Experten aus anderen Fachgebieten, um neue Handlungsansätze und Methoden zur Einbindung von Tageslicht in die Architektur der Zukunft zu entwickeln. Insbesondere die Umweltpsychologie, die Anthropologie und die Neurowissenschaften sind Kerngebiete, mit denen sich die Architektur möglichst sofort auseinandersetzen sollte. Damit es jedoch zu dieser interdisziplinären Zusammenarbeit kommen kann, muss der Dialog zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der Archi48 tektur erleichtert werden. Diese beiden Felder waren traditionell zwei Seiten „Der Reiz des Tageslichts besteht derselben Medaille, aber sie blieben in darin, dass es unsere nachhaltigsihren jeweils eigenen Fachkreisen ver- ten Erinnerungen bildet, tief in haftet; Überschneidungen gab es fast nur unsere Wahrnehmung und Gefühle im Bereich der Technologieentwicklung einwirkt und unsere Vorstellung für Bauprozesse, -elemente und -provon Zeit und Ort beeinflusst. Licht, dukte. Die Wissenschaft stellt Fragen und entwickelt pragmatische Untersu- das auf ein Gebäude fällt, macht chungsmethoden, ohne dabei notwendi- dieses nicht komplett sichtbar; es gerweise Antworten oder abschließende schafft vielmehr einen ÜbergangsLösungen zu finden. Architektur dagegen zustand, der einen Schleier über siedelt sich zwischen Naturwissenschaf- die architektonische Form legt. ten, Ingenieurtechnik und Kunst an. Ihre Vorstellungen von Raum, TranspaVorgehensweise basiert auf Versuch und renz, Helligkeit und Dunkelheit, Irrtum (trial and error) sowie auf einer massiv und offen kommen aus Abfolge iterativer Entwurfsschritte, die diesem Erinnerungspool, der implizit Zukunftsszenarien projizieren. unsere Sinne steuert und unser DaHäufig bedarf die Architektur daher eines sein ins Gleichgewicht bringt.“ Vertrauensvorsprungs, um das Bekannte neu zu definieren, denn sie vertraut meist Brent Richards stärker auf die kreative Intuition als auf wissenschaftliche Argumente. Eine der großen Herausforderungen ist in diesem Zusammenhang die Förde- visuellen Aspekte betrachtet werden. Die nicht sichtbaren Auswirkungen sind rung des Wissenstransfers zwischen der Welt der Wissenschaftler – der Tages- ebenso real und von wesentlicher Bedeulichtspezialisten, Psychologen und Neu- tung. Ferner müssen alle Eigenschaften rowissenschaftler – und den Architekten. des Lichts in Betracht gezogen werden. Letztere müssen Form und Konstruktion, Licht ist nicht nur eine Quelle natürlicher soziale und klimatische Aspekte – inklu- Energie im physikalischen Sinne. Auch sive des Tageslichts – zu einer funkti- seine Dauer, Intensität und spektrale Zusammensetzung wirken sich auf das onal schlüssigen, aber auch ästhetisch befriedigenden Lösung zusammenfüh- zirkadiane System des Menschen aus, das sich über Tausende von Jahren entren. Zweifellos könnte die Architektur wickelt hat. Künstliches Licht, unabhänpositive Auswirkungen auf die gebaute gig davon, wie gut es ist, existiert erst seit Umwelt und einen tiefgreifenden, ebenso kurzer Zeit und hat auch deshalb nicht positiven Einfluss auf das Wohlbefinden die gleiche Wirkung auf die menschliche der Menschen haben. Doch damit dies Physiologie. geschehen kann, ist ein kontinuierlicher Zweitens kann Architektur nicht anAustausch von Ideen und Wissen in beide Richtungen erforderlich, aus der Wissen- hand allgemeiner Prinzipien oder für schaft in die Architektur und umgekehrt. nicht genau festgelegte Standorte geplant werden, sondern muss entsprechend der Bislang steckt die Erforschung der nicht jeweiligen geografischen Koordinaten sichtbaren Auswirkungen des Lichts auf den Menschen noch in den Kinderschu- entwickelt werden. Bei Gebäuden ist nicht nur die Ausrichtung wichtig, sonhen. Sie gilt es voranzutreiben, und ihre dern auch der Breitengrad, die Anzahl der Erkenntnisse müssen in der Architektur Sonnenstunden am speziellen Standort, genutzt werden. die Nähe zu natürlichen Gegebenheiten Alle diese Überlegungen werden sich wie Wäldern, Seen oder dem Meer sowie in Zukunft erheblich auf die Arbeit von Architekten und Lichtplanern auswirken. die Offenheit des Grundstücks, um die Zum einen kann Belichtung in Gebäu- Potenziale des Tageslichts optimal zu nutzen. den nicht mehr nur im Hinblick auf ihre D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Selbst in introvertierten Gebäuden kann Tageslicht eine wichtige Verbindung zur Natur herstellen. Seine Variabilität und ständigen Veränderungen sind in der Wahrnehmung des Menschen positiv konnotiert und lassen sich durch künstliches Licht kaum nachbilden. Drittens sollten Architekten sehr gut belichteten Räumen in Gebäuden Priorität einräumen, wie etwa Sonnenplätzen in Erkern, der natürlichen Belichtung auch tieferer Räume sowie deutlich mehr Tageslicht insbesondere in Wohnräumen, um signifikant höhere Tageslichtquotienten zu erreichen. Ein Blick in die Zukunft Die Verbindung der Architektur zum Tageslicht umfasste schon immer eine konstruktive und eine ästhetische Ebene. Architekten nutzen Licht, um Formen und räumliche Bezüge zu akzentuieren. Licht dient ihnen aber auch dazu, Bauteile zu entmaterialisieren, der Materialität entgegenzuwirken und auf diese Weise Räumlichkeit zu erzeugen. Im Idealfall stellt Licht so eine poetische Verbindung zwischen Konstruktion und Raum her. 5 Die Architektur der Moderne strebte danach, Licht und Raum gleichermaßen mehr Freiheit zu geben. Mit Glas als grundlegendem Baumaterial wollten die Architekten der Moderne diese Verbindung zum Licht erreichen. Erkennbar wird dies an Arbeiten wie dem Glaspavillon von Bruno Taut für die Werkbundausstellung in Köln (1914), dem Haus Tugendhat in Brno (1928) sowie dem deutschen Pavillon in Barcelona (1929) von Mies van der Rohe und der Maison de Verre in Paris von Pierre Chareau (1931). Weitere bekannte Beispiele sind die Villa Savoye in Poissy von Le Corbusier (1931) und das Farnsworth House in Illinois von Mies van der Rohe (1946). Diese Architekten arbeiteten erfolgreich mit Spiegelungen, Transparenz und Transluzenz und strebten mit ihren Bauten nach einer ‚Entmaterialisierung‘ der Architektur, um einen erhabenen Raum zu schaffen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte eine Reihe internationaler Architekten wie Rafael Moneo, Toyo Ito, Stephen Holl, Peter Zumthor, Herzog & de Meuron, Erick van Egeraat, SANAA und John Pawson das Streben nach Entmaterialisierung des Raumes fort. Dabei legten sie den Fokus auf die sinnliche Erfahrung des Tageslichts und versuchten so, Architektur um eine metaphysische Komponente zu bereichern. Die wichtigste Schnittstelle für Tageslicht in der Architektur – und zugleich dessen Filter – war und ist das Fenster. Durch die Verwendung von Glas ließ sich das Fenster in die architektonische Form integrieren und eine Gebäudehülle erzeugen, die die Innenraumtemperaturen kontrolliert und zugleich die Vorteile des Tageslichts für den Bewohner nutzbar macht. Die Gebäudehülle wurde so zu einem wesentlichen Kennzeichen dafür, wie Architekten ihre Vision von Architektur mit dem Wohlbefinden und der Behaglichkeit der Nutzer und Bewohner in Einklang gebracht haben. Heute bilden Fenster einen wesentlichen Teil jeder Gebäudehülle, und Glas ist zur Schnittstelle von Tageslicht und Wohnen, von Behaglichkeit und Wohlbefinden geworden. Aufbauend auf dem Vermächtnis von Frank Lloyd Wright und Mies van der Rohe sehen wir heute ein neues Zeitalter humaner und nachhaltiger Architektur entstehen. In diesem Zeitalter ist der Architekt ein Experte mit breit gefächertem Wissen, der Komplexität und Wandel in seine Entwürfe einbeziehen kann; und er ist ein am Menschen orientierter Architekt mit einem starken Bewusstsein für den Wert des Tageslichts als lebensspendende Substanz. Notwendig sind heute intensive Forschungsarbeiten in einem neuen Bereich, der sich als ‚Anthropologie des Tageslichts‘ oder als ‚Kultur der Transparenz‘ bezeichnen ließe und der alle Gebäudetypen betreffen sollte. Darüber hinaus muss die Gelegenheit ergriffen werden, das Wohlbefinden des Menschen stärker in den Vordergrund der Architektur zu rücken. Dabei muss aber auch deutlich werden, dass diese Aufgabe nicht allein den Architekten überlassen werden kann. Es sind Expertenteams notwendig, um das Wissen um Tageslicht zusammenzutragen und zu erweitern, neue Methoden des Planens und Bauens zu entwickeln und praxisorientiert statt nur theoretisch arbeiten. Denn schließlich steht uns Tageslicht umsonst zur Verfügung, und soweit heute erkennbar für immer – es bietet den einzigen Weg, das Leben in der Zukunft wirklich nachhaltig zu gestalten. Brent Richards ist Architekt, Designer und Wissenschaftler. Derzeit ist er Vorsitzender bei The Design Embassy Europe, einer interdisziplinären Kreativ-Beratungsagentur in London, deren Fokus auf Architektur, Raumkonzepten und Versuchsumgebungen liegt. Darüber hinaus ist Brent Richards Leiter für Europa und Skandinavien von Transpolis Global – Urban Designers and Architects. Für seine wegweisenden Arbeiten zu neuen Nutzungen der Glastechnologie erhielt er 1995 den International Benedictus Award (USA) von Du Pont und dem American Institute of Architetcs (AIA). Anmerkungen 1. Alexander, C. (1979): ‘The Timeless Way of Building’, Oxford University Press – ‘Patterns which are alive’ (S. 111) 2. Heerwagen, J.H. (1990): ‘Affective Functioning, Light Hunger and Room Brightness Preferences’. In: Environment and Behavior, 22 (5), S. 608-635 3. Turrell, J. (2009): ‘Geometry of Light‘, Hatje Cantz Verlag (S. 21) 4. Foster, R.G. (2011): ‘Body Clocks, Light, Sleep and Heath’, in: Circadian and Visual Neuroscience 5. Richards, B. (2006): ‘Space Light and Transformation – Glass Architecture for the 21st Century’ Laurence King Publishers 51 52 D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 ARCHITEKTUR & TAGESLICHT Die Bedingungen, unter denen Architektur entsteht, sind in jedem Klima und in jeder Kultur andere. Doch viele Bedürfnisse der Menschen, denen diese Gebäude dienen, gleichen sich in aller Welt: Komfort, Schutz und Geborgenheit, aber auch der Wunsch nach intensivem Kontakt zur Natur und vor allem zum Tageslicht. Folglich muss jedes Gebäude aufs Neue zwischen individuellen Ausgangsbedingungen und universellen menschlichen Bedürfnissen vermitteln. Wie das gelingen kann, zeigen auf den folgenden Seiten vier Architekturbüros aus allen Teilen der Welt: Will Bruder aus Phoenix, SANAA aus Tokio, Jarmund/Vigsnæs aus Oslo und Lacaton & Vassal aus Paris. Die Fotografien, die Thekla Ehling für Daylight & Architecture angefertigt hat, machen die Gebäude der vier Architekten in ihrer Interaktion mit dem Nutzer sichtbar. Die vielfältigen Ausprägungen des Lebens, die sich auf den Abbildungen zeigen, lassen sich unmöglich beim Entwerfen vorausahnen. Doch Architekten können ihnen in ihren Gebäuden Raum geben und so Gewähr dafür tragen, dass sie eine wirklich nachhaltige Wirkung auf Mensch und Umwelt entfalten. 53 „Der Blick wandert an ihrer Oberfläche entlang nach oben, bis zu der Linie, wo sie den Himmel berühren. Und diese Linie erklärt alles. [...]. Die besten Gebäude in der Wüste sind diejenigen, die einen perfekten Dialog zwischen Schatten und Licht und zwischen Erde und Himmel schaff ffeen.” Will Bruder Will Bruder Agave Library, Phoenix 54 Ein schmale less Budget und eine unübersichtl tliiche städtebauliche Situa uati tio on waren die Ausga gan n gs punk te für diesen Bibliotheksbau in einem Außenbezirk von Phoenix nix.. Will Bruder entwar f eine off ffeene Halle aus unverkle leiideten, industriell gefer ti tig gten Materialien, die ihren einziga garr ti tig gen Charak ter vor alle lem m durch da dass Tageslicht und den Bezug zum angrenzenden Wüstenga garr ten erhält. SANAA SAN Rolex Learning Center, L aus an n e Bibliothek, Hörsaal, Arbeitsplatz, Cafeteria – da dass Role lexx Learni nin ng Center der Ecole Polytechni niq que Féderale de Lausanne (EPFL) ist vieele vi less in einem. Alle Nutzungen sind in einem einzigen, 166 x 121 Meter großen, lichten Raum zusammengefasst, den die Archi hittek ten durch Innenhöfe, Hügel und Täle lerr zu einer Erle leb bni nisslandschaf t gestalteten. D& A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 1 5 „Wir wollten, da dasss die Deckenflächen im Role lexx Learni nin ng Center ga gan nz un gestör t ble leiiben, ohne je jeg gliche Einbauten. Dabei veränder t sich die Decke ständig mit dem Tageslicht.“ Ryue Ni Nisshi hizzawa SA N A A „Tageslicht ist in Norwegen eher ein spärliches Gut, vor alle lem m im Winter. Zudem fällt es häufig aus sehr flachen Winkeln ein – da dass macht es zur Herausforderung für je jed den Archi hittek ten, dieses Licht in die Häuser zu bringen.“ ” Tageslicht hat mit Leichti tig gkeit zu tun, mit der Er fahrung des Klimas und da dam mit, seiner Umgebung sehr nahe zu sein.“ Anne Lacaton Lacaton & Vassal Håkon Vigsnæs Jarmund/ Vigsnæs Ja r m u n d / V i g s n æ s Turtagrø Hotel, Sognefjell lle et Das Hotel Tur tagrø steht an der Wiege des norwegischen Alpini nissmus und ersetzt einen 20 200 01 abgebrannten Vorgä gän ngerbau. Halb Haus, halb Turm, folgt da dass Gebäude mit seiner Dachsilhouette den Formen der umliegenden Gebirgskette. Die großen und doch tieef ins Gebäude eingeschni ti nitttenen Fenster symbolisieren Geborgenheit und Öff ffn nung – zwei Extreme, die Jarmund/ Vigsnæs in all ihren Entwür fen in Einklang zu bringen su c h e n . Lacaton & Vassal Reihenhäuser, Mulhouse Viel Raum und vi vieel Tageslicht mit begrenzten Budgets bereitzustelle len n – dieses Ziel ver folgen Lacaton & Vassal in all ihren Projek ten. Ihr Gebäude in Mulhouse vereint 14 Einfamilienhäuser, deren Obergeschosse von Gewächshäusern aus Stahl und Polycarbonat gebildet werden. Wohnen, Essen, Schl hlaafzimmer und Garage sind je jew weils Teil eines Raumkonti tin nuums, da dass sich über zwei Etagen und über die gesamte Gebäudeti tieefe von rund 18 Metern e r s t r e ck t . 55 WILL BRUDER „LICHT BESTIMMT UNSEREN LEBENSWEG“ Seit 40 Jahren lebt und arbeitet der amerikanische Architekt Will Bruder in Phoenix (Arizona). Seine Architektur spiegelt die umliegenden Wüstenlandschaft, ihre Formen und Farben und ihr Tageslicht wider. Im Gespräch mit Daylight & Architecture erläutert Will Bruder, wie Tageslicht Menschen verbindet – miteinander, mit ihrer Umwelt, mit dem Faktor Zeit und mit dem Universum. Interview mit Will Bruder Fotos von Thekla Ehling Mr. Bruder, wir führen dieses Interview um sechs Uhr morgens in Phoenix, wo Sie leben und arbeiten. Mögen Sie die frühen Morgenstunden? Normalerweise stehe ich gegen fünf Uhr auf, weil ich gerne die Sonne aufgehen sehe. Licht gibt mir Kraft, und bei Sonnenaufgang bin ich am wachsten und kreativsten. Weil wir uns momentan den kürzesten Tagen im Jahr nähern, ist die Sonne allerdings noch nicht aufgegangen, das wird noch mehr als eine Stunde dauern. diese Gegend mit ihrem Tageslicht so besonders? „Die Luft ist so klar, dass man Die Landschaft in Arizona definiert sich immer den Horizont sehen kann, über ihre Grenzen. Selbst in der Wüste auch noch in einer Entfernung von wächst hier eine üppige Vegetation. Die mehr als 70 Meilen. Ich sehe den Luft ist so klar, dass man immer den HoHorizont selbst von meiner Wohrizont sehen kann, auch noch in einer nung in Phoenix aus. Zudem kann Entfernung von mehr als 70 Meilen. Ich ich an der Farbe des Lichts und an sehe den Horizont selbst von meiner den Schatten auf den Bergen rings Wohnung im Zentrum von Phoenix aus. um die Stadt die Tageszeit Zudem kann ich an der Farbe des Lichts und an den Schatten auf den Bergen rings ablesen.“ um die Stadt die Tageszeit ablesen. Gibt es eine Art Architektur für die dunklen Jahreszeiten? In den frühen 90er-Jahren – es war im Februar – machte ich erstmals mit den Werken Alvar Aaltos Bekanntschaft. Ich erkannte, dass Aaltos Architektur das Tageslicht ebenso thematisiert wie das mysteriöse Licht des skandinavischen Winters. Bei Dunkelheit wirken seine Gebäude nicht nur als ‚Laternen’ für die umliegenden Gemeinden. Sie verstärken auch das wenige Licht, das bis zum Erreichen völliger Finsternis herrscht. Ich fand das sehr beeindruckend: Jeder spricht von Alvar Aaltos Architektur im Sommer, aber der Besuch dort im Winter führte mir die Subtilität von Licht und Dunkelheit vor Augen. Warum ist das Wüstenlicht in Arizona so klar? Aufgrund der Vegetation ist der Feinstaubgehalt der Luft relativ gering. Deshalb kann man hier weiter sehen als zum Beispiel in Großstädten in der arabischen Wüste, wo das Sichtfeld oft am Stadtrand endet. Andererseits ist genug Staub in der Luft, um das Licht erheblich zu mildern. Das liegt an unserer verhältnismäßig niedrigen Höhenlage. Weiter oben in den Bergen ist die Luft noch klarer und das Licht sehr grell, fast kristallin. Ganz besonders interessant sind auch die Sonnenwinkel hier in Arizona. Wegen der relativ geringen Höhe scheint die Sonne während etwa vier Monaten im Sommer auf die Nordseite der Gebäude. All diese Faktoren nehmen großen Einfluss auf unsere Architektur. In der Wüste ist das Licht für uns Architekten ein essenzieller Bestandteil jedes Entwurfs. Die meisten Ihrer Gebäude bauten Sie in Arizona, einer völlig anderen Landschaft als der Wirkungsstätte Aaltos. Was macht 59 Will Bruder vergleicht die Bibliothek mit einem ‚offenen Buch’, in dem sich Architektur lesen und verstehen lässt. Nahezu alle Elemente des Innenraums bis hin zur Haustechnik sind sichtbar; kaum etwas wurde verkleidet. „Bei Bauten an lichtdurchfluteten Orten bleiben kein Defekt und kein Mangel unentdeckt. Die Kraft des Lichts offenbart alle Eigenschaften einer Maueroberfläche, ob gut oder schlecht.“ 60 Wie reagieren Ihre Gebäude auf das Licht in Arizona? Schon früh machte ich eine Erfahrung mit dem Licht hier, die einen bleibenden Eindruck hinterließ. Ich bin in Minneapolis im Norden der USA aufgewachsen und kam zum ersten Mal mit Anfang zwanzig in die Wüste Arizonas, um bei Paolo Soleri in seinen Cosanti Studios zu arbeiten. Wenig später, noch während meiner Ausbildung, arbeitete ich am Bau einer kleinen, sehr einfachen Schulturnhalle. Sie war eigentlich nur ein Mauergeviert mit einem Dach darüber, und es war nicht Bestandteil des Auftrags, Tageslicht in die Halle zu bringen. Eines Tages aber betrat ich den halbfertigen Bau, die Wände waren schon hochgezogen und die vorgefertigten Betonplatten für das Dach bereits positioniert. Es war zwölf Uhr mittags, daher fiel das Licht genau von oben ein. Weil das Dach noch nicht eingedeckt und gedämmt war, gab es eine schmale Lücke von etwa einem Zentimeter zwischen den Dachplatten und den Mauerwänden. Durch diese Lücke drang das Sonnenlicht, ließ die ganze Wand bis zum Boden erstrahlen und offenbarte jede Nuance im Mauerwerk. Da erkannte ich, dass ich mit dieser simplen Struktur einen Tempel geschaffen hatte. Niemals hätte ich mir träumen lassen, solch einen erstaunlichen Raum zu kreieren. Nur eine Woche später kam ich wieder auf die Baustelle: Das Dach war fertig und mein Tempel im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden. Ich aber behielt diese Erfahrung in meiner Erinnerung, bis ich den Bauauftrag für die Phoenix Central Library erhielt und somit Gelegenheit bekam, meinen ‚Tempel’ nachzubauen. Der hier vom Sonnenlicht erzielte Effekt ist nahezu derselbe. Vorgefertigte Betonmauern, jede mindestens 2½ Meter dick und nahezu fugenlos, flankieren den großen Lesesaal. Wieder gibt es eine Lücke zwischen Dach und Mauerwerk. Bei normalem Licht sehen die Wände völlig glatt und eben aus. Mittags aber, wenn die Sonne senkrecht über dem Gebäude steht und die Mauern in Streiflicht taucht, offenbart sich jede Unregelmäßigkeit. Mit schwindendem Sonnenlicht jedoch sehen die Wände wieder perfekt aus. Das hat mich gelehrt, dass bei Bauten an lichtdurchfluteten Orten kein Defekt und kein Mangel unentdeckt bleiben. Die Kraft des Lichts offenbart alle Eigenschaften einer Maueroberfläche, ob gut oder schlecht. Etwa fünfzehn Jahre nach der Phoenix Central Library haben Sie die Agave Library in Phoenix fertig gestellt, die auch in diesem Beitrag zu sehen ist. Welche Vorstellungen von Tageslicht, Material und Raum waren für Sie bei diesem Gebäude entwurfsbestimmend? Ebenso wie die Phoenix Central Library kombiniert die Agave Library eine schlichte, pragmatische Lösung mit der Poesie des Lichts. Bei dem Gebäude waren drei Elemente entwurfsbestimmend: ein riesiges, halbdurchlässiges ‚Screen’ entlang der Straße, das Gebäude selbst mit dem benachbarten Garten, und schließlich der Innenraum. Das Screen grenzt das Gebäude und den angrenzenden Garten vom öffentlichen Raum ab und verleiht der Bibliothek eine stärkere Präsenz in ihrem suburbanen Umfeld. Die Wirkung dieser Kulissenwand ist mit den überhöhten Fassaden der Häuser in Westernfilmen vergleichbar. Eine weitere Inspiration waren die alten Autokinos, deren riesige Leinwände früher mitten in der Natur der amerikanischen Landschaft aufragten. Gefertigt ist sie aus galvanisierten Hohlprofilen aus Metall, die auf einem freitragenden Stahlrahmen montiert sind. Auf dem Screen steht in großen Lettern das Wort ‚Agave’ aus einer reflektierenden Kunststofffolie, die üblicherweise für Autobahnschilder benutzt wird. Fällt das Licht aus einem bestimmten Winkel auf die Folie, wird der Name des Gebäudes für die Passanten sichtbar. Aber nicht nur dann: Manchmal konnte ich beim Landeanflug auf Phoenix am frühen Morgen oder späten Nachmittag den Schriftzug ‚Agave‘ vom Fenster des Flugzeugs aus einer Höhe von 1.500 Metern lesen. Eine wunderbare und eindrucksvolle Erfahrung! Das zweite grundlegende Entwurfselement sind das Gebäude selbst und der D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Im Innenraum kombinierte Will Bruder zwei wesentliche Tageslichtquellen: kreisrunde Oberlichter für die diffuse Grundbeleuchtung und senkrechte Wandschlitze in der Südfassade, um scharf umrissene ‚Lichtbalken’ auf den Boden zu projizieren. Wüstengarten auf seiner Südseite. Die Bibliothek ist ein schlichter Steinbau, dessen Fassaden klar in geschlossene Wandflächen und Tageslichtöffnungen gegliedert sind. Die leicht grünlichen Steine der Außenmauern harmonieren farblich mit der Landschaft. Die Mauersteine wurden nicht im traditionellen Verbund vermauert, sondern mit Hilfe von Stahlstangen nachträglich verspannt. Das erlaubte uns eine plastischere Gestaltung der Fassaden. Auf der Nordseite fügten wir in Fußgängerhöhe senkrechte Schlitze ins Mauerwerk ein und drehten ganze Stapel von Steinen leicht aus der Wandebene heraus. Auf diese Weise entsteht auf der Fassade ein Muster aus Flächen und (Schatten-) Linien, das an ein Mondrian-Gemälde erinnert. Die Südfront des Gebäudes ist das genaue Gegenteil: Hier scheint ein massiver Mauerblock auf Glas zu schweben. Auf Fußgängerhöhe ist die Fassade komplett geöffnet, lediglich unterbrochen durch schlanke Stahlstützen, die das Mauerwerk darüber tragen. Nachdem man das Gebäude durch die geschlossene Nordfassade betreten hat, öffnet es sich unvermittelt zu völliger Transparenz und gibt den Blick auf den Garten an der Südseite frei. Bibliothek und Garten verschmelzen miteinander. Das dritte Entwurfselement ist der Innenraum. Es handelt sich um einen durchgehenden Großraum, in dem sich alles auf sein Zentrum – eine elliptische, von oben natürlich belichtete Informationstheke – konzentriert. Die Agave Library ist einzigartig in Amerika, weil es hier nur einen einzigen Servicepunkt gibt, der von allen Teilen des Gebäudes einsehbar ist und selbst das gesamte Gebäude ‚im Blick’ hat. Innen wie außen präsentiert sich die Bibliothek als schlichte, zweckmäßige ‚Box‘ mit Sichtmauerwerk und sichtbaren Holzträgern. Die Holzstruktur des Dachs liegt komplett offen, ebenso die darin und darunter verlaufenden Rohrschächte. Durch die Dachfenster einströmendes Tageslicht betont die Struktur zusätzlich. Das gesamte Gebäude verfügt über zwei verschiedene Lichtöffnungen: einerseits Dachfenster, die diffuses Licht verbreiten, andererseits senkrechte Schlitze in den „Ich interessiere mich für das Fassaden, die breite Lichtstriche auf die Spannungsfeld zwischen der Innenwände und Böden projizieren. Herstellung von Dingen und ihrer Inwieweit basiert die Agave Library auf Ihren vorherigen Erfahrungen mit der Phoenix Central Library? Die Verwandtschaft zwischen den beiden Gebäuden zeigt sich, denke ich, ganz offensichtlich. Beide Gebäude zeichnen sich durch intuitive Schlichtheit aus. Beide sind wie offene Bücher, in denen man Architektur ‚lesen‘ kann; sie offenbaren dem Nutzer ihre Konstruktion bis in den Kern. Nichtsdestotrotz wohnt beiden Gebäuden eine gewisse Poesie durch die bewusste Formung von Material und Licht inne. Sie bereichern unsere Wahrnehmung des Tageslichts und schärfen unsere Sinne für die subtilen Feinheiten der Wüste im Hintergrund. poetischen Wahrnehmung. Immer versuche ich, Gewöhnliches außergewöhnlich zu gestalten. Bei jedem Betonblock, Holzstück oder auch bei ‚alltäglichem’ Licht stelle ich mir stets dieselbe Frage: ‚Wie kann man diesem gewöhnlichen Ding Raum geben, um Außergewöhnliches zu schaffen?‘“ Ursprünglich ließen Sie sich zum Bildhauer ausbilden, stark beeinflusst durch die großen amerikanischen Land-ArtKünstler wie Robert Irwin und Walter de Maria. Inwiefern wirkt sich das auf Ihre Architektur aus? Ich interessiere mich für das Spannungsfeld zwischen der Herstellung von Dingen und ihrer poetischen Wahrnehmung. Immer versuche ich, Gewöhnliches außergewöhnlich zu gestalten. Bei jedem Betonblock, Holzstück oder auch bei ‚alltäglichem’ Licht stelle ich mir stets dieselbe Frage: „Wie kann man diesem gewöhnlichen Ding Raum geben, um Außergewöhnliches zu schaffen?“ . Ein weiterer Aspekt ist die Beziehung meiner Gebäude zu ihrer Umgebung. Beim Wandern durch die Wüste Arizonas tauchen die Gebäude plötzlich wie aus dem Erdboden auf. Der Blick wandert an ihrer Oberfläche entlang nach oben, bis zu der Linie, wo sie den Himmel berühren. Und diese Linie erklärt alles. Man trifft dieses Phänomen in den Wüsten überall auf der Welt an, sei es in Marokko, im mittleren Osten oder eben in Arizona. Die besten Gebäude in der Wüste sind diejenigen, die einen perfekten Dialog zwischen Dunkelheit und Licht und zwischen Erde und Himmel schaffen. 63 Seite 66 Zu ebener Erde öffnet sich nahezu die gesamte Südfassade der Bibliothek zum angrenzenden Wüstengarten. Schlanke Rundstützen aus Stahl halten die massive Mauerwerkswand, die den oberen Teil der Fassade einnimmt. Seiten 67–69 Mit einem durchlässigen ‚Screen’ aus Hunderten einzelner Metallprofile schirmt sich die Bibliothek von ihrer Umgebung ab. Gleichzeitig verleiht dieses frei stehende Element dem Gebäude in seinem kommerziellen Umfeld Präsenz. “Bedenken Sie, welch positive Auswirkungen die kreative Nutzung des Tageslichts auf das Arbeitsverhalten und die Arbeitsstrukturen von Menschen haben kann.” Welchen Einfluss nehmen Aspekte wie Tageslicht und Ausblick auf Ihre Wohnhäuser? Auch das lässt sich am besten an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Das Haus Hill/Shepard, das wir 1993 entworfen haben, liegt in einem bergigen Stadtteil von Phoenix. Weniger als einen Kilometer davon entfernt – und 500 Meter höher – befindet sich eine Bergspitze, auf die die Ausblicke aus dem Gebäude fokussiert sind. Der Zugang zum Gebäude führt von Osten nach Westen von der Straße eine Außentreppe hinauf und durch einen Hof ins Haus. . Über dem großen Wohn- und Esszimmer haben wir ein Dachfenster eingefügt, das ebenfalls von Osten nach Westen ausgerichtet ist. Es funktioniert dadurch wie eine Art Sonnenuhr. Die privateren Räume im Haus versahen wir mit einer Reihe kleinerer rechteckiger Lichtöffnungen, die ich persönlich nicht als Fenster, sondern als eine Art Kameralinsen definiere. Dahinter steckte die Absicht, den Bewohnern immer wieder eine neue Wahrnehmung ihres ansonsten vertrauten Umfelds zu vermitteln. Die Position dieser Öffnungen legten wir in der Planungsphase noch nicht fest, sondern nur ihre Anzahl: 13. Erst als die Holzrahmenkonstruktion des Hauses stand und die Wände temporär mit Sperrholz beplankt waren, ging ich mit den beiden Hauseigentümern und ihrem Sohn durch das Haus, um die Anordnung der Fenster zu bestimmen. Ausgerüstet mit einem Hammer und einem dicken Nagel schlug ich an jeder Stelle eines vorgesehenen Fensters ein Loch, durch das wir hinausblickten und über die Lage diskutierten. So positionierten wir unter anderem ein quadratisches, bodentiefes Fenster in der 64 Bibliothek und ein nur 25 Zentimeter großes Fenster exakt auf Augenhöhe – dort, wo Linda, die Hauseigentümerin, ihren Schreibtisch einrichten wollte. Diese Fenster wirken wie Wandgemälde, sind aber nicht statisch, sondern lebendig. Ein recht ungewöhnlicher Weg zur Bestimmung der Fensteranordnung. Warum wurde die Anzahl der Fenster vorab festgelegt? Es schien mir einfach eine angemessene Zahl zu sein. Bei zu vielen Fenstern gäbe es nichts mehr zu entdecken, bei zu wenigen bekämen die Bewohner gar nichts vom Geschehen draußen mit. Zudem war unser Budget begrenzt. Als ich kürzlich ein ehemaliges Kino in Scottsdale (Arizona) zu einem Kunstmuseum umbaute, entschied ich mich aus ähnlichen Gründen für eine vergleichbare Vorgehensweise. Dort haben wir für den Ausstellungsraum StandardDachfenster verwendet. In Kunstgalerien wird häufig darüber diskutiert, ob Tageslicht den Kunstwerken schadet. Aber in vielen großen Museen auf der Welt zeigt sich auch, welchen wertvollen Beitrag natürliches Licht zur Kunstbetrachtung leisten kann. Deshalb konnten wir den Museumsdirektor in Scottsdale schließlich davon überzeugen, kleine Öffnungen in das Dach einzubauen. Weil in unserem 2-MillionenDollar-Budget für den Umbau nur 2000 Dollar für Dachfenster einkalkuliert waren, kauften wir bei ‚Home Depot’ elf Standard-Dachfenster zum Preis von 150 Dollar pro Stück. Für manche Ausstellungen werden sie abgedunkelt, für andere nicht. Im letzteren Fall ist der Lichteffekt jedes Mal atemberaubend. Welche Orte und Gebäude – neben Ihren eigenen – haben Sie aufgrund ihres Tageslichts inspiriert? Sehr interessant finde ich es, auf einer Straße in Manhattan zu stehen, quer über die Stadt zwischen East River und Hudson zu blicken und zu sehen, wie die Gebäudeschluchten das Licht im Laufe des Tages trichterartig konzentrieren. Das Licht, das ich an einem Ort vorfinde, ist für mich immer eine unschätz- bare Quelle der Inspiration, nicht nur in Städten. Im letzten Herbst fuhr ich durch Indiana im amerikanischen Mittleren Westen. Ständig begegneten mir die Tabakscheunen, wie sie für diese Gegend typisch sind – luftdurchlässige Gebäude zum Trocknen des Tabaks, mit holzverkleideten Wänden auf beiden Seiten, durch deren offene Fugen die Luft zirkuliert und die darin hängenden Tabakblätter trocknet. Steht man in einer solchen Scheune, wird man sofort der Dynamik ihrer Lichtfilterung gewahr. Das ist ein einzigartiges Lichterlebnis, dessen Schönheit mit ganz einfachen Mitteln geschaffen wurde. Welche weiteren Bedeutungen hat das Tageslicht für Sie, abgesehen von den rein visuellen Aspekten? Licht bestimmt unseren Lebensweg. Diese Erfahrung lässt sich bereits machen, wenn man den Weg des Lichts durch einen Raum verfolgt. Ich sitze zum Beispiel momentan in unserem Büro, das ursprünglich ein Tanzstudio war und nur ein Fenster auf der Ostseite hatte. Wir haben ein weiteres Fenster in der Nordwand, unmittelbar neben meinem Arbeitsplatz, eingefügt, dazu noch fünf kleine Dachfenster. Durch das Ostfenster begrüßen wir den Tag, während uns das Licht durch die Dachfenster die Jahreszeit anzeigt. Tagsüber beschatten wir das Ostfenster mit einem perforierten Sonnenschutz, und die Dachfenster liefern immer noch genügend Licht und Energie für den Raum, ohne diesen aufzuheizen. Dieser Entwurf hat uns den Wert des Lichts nicht nur für unsere Wahrnehmung, sondern auch in funktionaler Hinsicht verdeutlicht – als kostenlosen Energiespender. Bedenken Sie, welch positive Auswirkungen die kreative Nutzung des Tageslichts auf das Arbeitsverhalten und die Arbeitsstrukturen von Menschen haben kann. D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 SANAA EINE RÄUMLICHE EINLADUNG IN DIE GEGENWART Bei weitem nicht alle Nutzungsmöglichkeiten im Gebäude sind vorgegeben. Wie oft in der Architektur von SANAA erhalten viele Bereiche erst durch die Anwesenheit der Nutzer ihre konkrete Definition. In den besten Gebäuden des japanischen Architekturbüros SANAA formt das Tageslicht den Raum. Eine neuartige Beziehung zwischen Struktur und Licht gibt den Bauten Identität, schafft vielfältige Verbindungen zwischen innen und außen und lässt den Nutzer dadurch das Umfeld des Gebäudes und dessen räumliches Potenzial erfahren. Von Per Olaf Fjeld. Fotos von Thekla Ehling Aus meinem Eckfenster blicke ich auf eine schwach beleuchtete Straße im Zentrum von Oslo und beobachte, wie ein Nachbar diese langsam überquert. Er weicht den vereisten Stellen auf der Fahrbahn aus und blickt sich nochmals um, ob sich ein Fahrzeug nähert. Die Szene spielt sich in einem trüben, nordischen Winterlicht ab. Ich selbst sitze unterdessen im bläulichen Schein meines Laptops. Er strahlt die gleichen allgegenwärtigen Lichtstrahlen aus, die Schreibtische, Züge, Busse, und Teenagerzimmer in aller Welt beleuchten. Doch würden wir ihn deshalb als Lichtquelle betrachten? Der Laptop ist nur ein Beispiel dafür, wie die weltweite Konsumgüterindustrie immer stärker auf unsere physische Umgebung einwirkt – bis hin zum Licht, mit dem wir uns umgeben. Schnell wird jedes neue technische Objekt Teil des Hintergrunds für unser Alltagsleben. Zugleich verändern sich die Rahmenbedingungen für unser Leben ständig. Sie werden maßstabslos; die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem sind unablässig in Bewegung. Die japanische Kultur hat sich der Technik und ihrer Potenziale seit jeher auf eine andere Weise bemächtigt als unsere. Sicher hat das Land einen Teil der weltweit sich ausbreitenden Technologien absorbiert. Doch das öffentliche Alltagsleben in Japan hat sich sein menschliches Antlitz erhalten und Traditionen, den Dienst am anderen, das Handwerk, den Zugang zu Naturräumen sowie Räume der Kontemplation bewahrt. Es scheint in Japan eine stillschweigende Übereinkunft darüber zu geben, was wichtig für das Gemeinwohl ist. Selbst in den am dichtesten bebauten urbanen Zentren orientiert sich der öffentliche Raum am menschlichen Maßstab, und in der vielschichtigen Stadtgesellschaft existiert eine hohe Disziplin bezüglich der Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem. Gerade weil der öffentliche Raum jedermann offensteht, bleibt der private Raum in sich gekehrt. Der gemeinsame Nenner zwischen beiden Räumen ist dabei ihr Bezug zur Natur. Das Architekturbüro SANAA spiegelt dieses Bild des modernen Japan in vielfältiger Weise wider. Das Büro ist ein Kollektiv, in dem jedes individuelle Talent den Wert der Gruppe respektiert. SANAA bezieht seine Kraft und Vitalität aus einer fortwährenden Erforschung der Grundprinzipien der Architektur, deren Integrität und der essenziellen Rolle des Tageslichts in diesem Zusammenhang. Es geht dabei nicht um die Dramatisierung von Licht- und Schatteneffekten zum Zweck des künstlerischen Ausdrucks oder der Unterhaltung, sondern um das Potenzial von Licht als Raumbestandteil, der unser Wohlbefinden bereichert. Um seine räumliche Energie freizusetzen, bedarf es der Interaktion mit dem Menschen. Einerseits zeichnet sich die Architektur von SANAA durch höchste Präzision aus; ihr ist nichts hinzuzufügen oder wegzunehmen. Andererseits vermittelt sie ein Gefühl von Abwesenheit, das den Nutzer unaufdringlich dazu einlädt, sich auf sie einzulassen. Die Bauten sind nicht vollständig ohne diese Verbindung zum Nutzer; ganz gleich, ob es sich hierbei um einen Museumsbesucher, einen Hausbesitzer oder einfach einen Passanten handelt. Als verbindendes Element wirkt in jedem Fall das Tageslicht im Inneren des Gebäudes und im Freien. Licht, Struktur und Bewohner Damit Tageslicht Raum formt, wie es in vielen Gebäuden von SANAA der Fall ist, müssen diese eine neue Beziehung zwischen Struktur und Licht entstehen lassen, die zugleich die Wahrnehmung von Masse verändert. In einigen Projekten des Büros bilden zahlreiche schlanke Stützen eine Klammer, die dem Raum eine ganz eigene Identität verleiht. Noch wesentlicher ist jedoch die neuartige Beziehung zwischen Konstruktion, Schatten und Tageslicht, die diese Stützen eingehen. Es ist eindeutig das Tageslicht, das den Raum formt, nicht die Stütze und ihr Schatten. Dieser transluzente, sich mit dem Tageslicht fortwährend verändernde Raum erlaubt dem Nutzer zahlreiche Möglichkeiten der Aneignung und der Bezugnahme auf sein Umfeld. Tageslicht ist nicht das einzige Element, das in den Gebäuden von SANAA räumliche Bezüge schafft. Pflanzen, Bäume, Gras und Felsen werden von den Architekten mit der gleichen Präzision 73 An den Grenzen zwischen innen und außen bricht und reflektiert sich das Licht ständig aufs Neue. Je nach Tageszeit und Wetterlage sind Innen- und Außenraum einmal Teil eines Kontinuums und dann wieder optisch klar voneinander getrennt. behandelt wie neue oder bestehende Bauelemente. Auf diese Weise ist das Verhältnis Japans zur Natur und zu seiner Architekturtradition im Werk von SANAA noch immer sehr präsent. Sie treten jedoch mit verändertem Schwerpunkt auf, wobei die Definitionen von Schutz, Komfort, Ausblick, Licht und Zeit neu formuliert und gewichtet werden. Das Ergebnis sind energetisch aufgeladene Räume, die die Gegenwart eines Nutzers erfordern. Eine aufgeklärte Beziehung zwischen Architektur und Natur reicht weit über die Erfüllung von Grundbedürfnissen wie dem Schutz vor Naturgewalten hinaus. SANAA schrecken vor dieser Komplexität nicht zurück und machen auch nicht den Versuch, das Tageslicht aus der Gesamtheit der Natur herauszulösen. Licht zwischen innen und aussen In vielen Gebäuden sind SANAA bestrebt, den Innenraum und seine Aktivitäten mit dem ständig sich verändernden Außenraum zu verbinden. Die Grenze zwischen innen und außen kann je nach Situation als hermetisch oder, später, bei anderen Lichtverhältnissen, als diffus erscheinen. Der Innenraum zieht die Konzentration des Nutzers auf sich und veranlasst ihn zum Handeln. Dennoch wirkt das, was draußen geschieht, auf seine Wahrnehmung des Innenraums zurück. Dieser Innen-außen-Bezug schafft räumliche Sequenzen, die sich durch unterschiedliche Lichtverhältnisse differenzieren. Diese beeinflussen wiederum die Bewegungen des Nutzers im Raum und seine Handlungen. Auf diese Weise schaffen SANAA durch Tageslicht eine räumliche Vielfalt, für die das Nutzungsprogramm oder die Wünsche des Auftraggebers nur ein erster, ungefährer Ausgangspunkt sind. Die offenen Innenhöfe, die oft im Werk von SANAA zu finden sind, vermitteln zwischen innen und außen sowie zwischen Kultur, Raumprogramm und Natur. Sie lassen das Tageslicht tief in die Innenräume dringen, besitzen jedoch zugleich eine eigene Räumlichkeit. Auf diese Weise entsteht kein Widerstreit zwischen dem Gebäudeinneren und den 74 einzelnen Innenhöfen mit ihrem Licht. Um diesen Effekt zu erreichen, wählen SANAA jedes Baumaterial mit äußerster Sorgfalt aus und beurteilen seine Fähigkeit, Lichtqualitäten zu verstärken oder zu verändern. Eine breite Palette an Gläsern, von transparent über opak bis hin zu aufgedruckten Mustern aus Keramikglasuren, filtert und verändert das Tageslicht. Die komplexe Schichtung der Fassaden beeinflusst jedoch nicht nur das Licht im Innenraum, sondern auch den Ausblick auf die umliegende Landschaft. Das Fassadenmaterial leistet dem Blick Widerstand und abstrahiert ihn zugleich. Auf diese Weise aktiviert die Fassade die Grenze zwischen innen und außen eher, als sie zu determinieren. Lichträume statt Lichttechnik Technologie als Mittel, um natürliches Licht mit größerer Präzision zu nutzen, hat eine lange Tradition in der Architektur, vor allem in Japan. Doch der Einfluss moderner Technik und ihrer globalen Vermarktung auf die heutige Architektur ist weit vielschichtiger. Unglücklicherweise diente Lichttechnik in den vergangenen Jahrzehnten oft zur Kompensation für die Unfähigkeit, die Licht-Raum-Beziehungen innewohnende Energie bestmöglich zu nutzen. Was zunächst als ‚energetisch aufgeladener’ Raum erscheint, ist so in Wirklichkeit oft nur eine Anhäufung moderner Leuchten- und Medientechnik. Diese Raumwirkung altert selten in Würde. Zwar ist auch die Arbeit von SANAA stark von Technologie durchdrungen; diese hat jedoch stets räumlichen Zielsetzungen zu dienen. Technik veraltet, aber die räumliche Stärke und das stets variierende Tageslicht verleihen den Gebäuden ihre Individualität und reagieren zugleich auf die sich verändernde Umgebung. So gerät der Alterungsprozess eines Produkts gegenüber der Frage in den Hintergrund, wie gut es räumliche Anforderungen erfüllt. Das Museum für zeitgenössische Kunst in Kanazawa verdeutlicht einige dieser wichtigen Aspekte. Die Ausstellungsräume, die Innen- und Außenhöfe und die Zwischenräume zwischen den Hauptnutzflächen lassen eine geschichtete räumliche Vielfalt entstehen, in der jeder Nutzer sich seinen eigenen Weg bahnt. Der Tageslichtraum des Künstlers James Turrell liegt im Zentrum dieses Raumgefüges. Er bildet ein bewegliches Stillleben, eine zum Himmel geöffnete Lichtkammer. Tageslicht und Abendlicht sowie der Mond und die Sterne am Nachthimmel proben in diesem Raum eine unendliche Geschichte. Jeder Besuch ist anders, Regen, Wind, Strohhalme und Schnee sind ebenfalls ständige Gäste in diesem Raum. Die eigentliche Öffnung jedoch besteht aus purem Licht. Die Tiefe und Intensität der Raumerfahrung basieren auf der Natur, ihrem Licht und der Wahrnehmung des Besuchers. Ein weiteres Kernelement des Raumkonzepts ist die Beziehung zum Erdboden. Der Fußboden des Museums und die Erdoberfläche liegen auf einer Ebene, wodurch ein nicht aufzulösender Bezug zur Erde hergestellt wird. Der Museumshorizont ist der Erdhorizont, kein illusionärer Horizont, der durch den Rand einer Geschossdecke definiert wird. Viele der räumlichen Fragestellungen aus dem Museum finden sich auch im Rolex Learning Center in Lausanne wieder. Hier jedoch werden sie neu verhandelt. Noch immer modifizieren die Raumstruktur und ihr Material das Tageslicht, aber die Beziehung zwischen Gebäudequerschnitt und Erdboden ist aktiver. Die ‚Raumschleife’ des Learning Center lässt mit ihrer Bewegung ein Raumkontinuum entstehen; der Nutzer befindet sich zugleich auf dem Erdboden und schwebt darüber. Dies hat sehr interessante Auswirkungen auf die Umgebung des Gebäudes. Da die Teile des Innenraums über dem Geländeniveau liegen, lösen sich Gebäudehorizont und Erdboden teils voneinander. Der Außenraum definiert sich auf diese Weise nicht nur durch seine Konfrontation mit den Fassaden des Gebäudes, sondern auch durch die Räume unter dem Gebäude und durch seine Lichthöfe. D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Rechts Bibliothek, Café, Arbeitsraum und Hörsaal – viele Funktionen sind in diesem Gebäude vereint. Fast nirgends wurden zu ihrer Abgrenzung Innenwände benötigt. Lediglich Wellenberge und -täler zonieren den Innenraum, indem sie ihn in Sichtabschnitte unterteilen. Seiten 78/79 Die Innenhöfe spielen eine wesentliche Rolle im Gebäudekonzept. Sie versorgen nicht nur die angrenzenden Räume mit Licht, sondern bestimmen durch ihre unterschiedliche Größe auch das Gefühl der Nähe oder Distanz zwischen ihnen. Licht und städtischer Kontext Das Verständnis des Gebäudeumfelds und der Respekt davor gehören zum Kern der kreativen Arbeit von SANAA. Stets versuchen die Architekten, die Qualitäten bestehender Gebäude und ihrer Umgebung hervorzuheben. Zerstörung oder ‚Tabula-rasa’-Konzepte spielen in ihrer Arbeit keine Rolle; vielmehr geht es ihnen um eine Herangehensweise, die das Bestehende zu erkunden und verstärken sucht. Die Lichtverhältnisse in Bestandsgebäuden sind hierin eingeschlossen. Ein Beispiel hierfür ist die Umgestaltung des Japanischen Pavillons bei der 7. Architekturbiennale in Venedig (2000). Dabei unterschieden SANAA nicht in ihrer Bewertung von Bestehendem und Zukünftigen; vielmehr war ihre Reaktion auf den Kontext vielschichtig, flexibel und fragend und wirkte dadurch intensiv auf den Betrachter ein. In einigen Gebäuden von SANAA im Ausland vermisst man jedoch einen Teil der Präzision, die ihre Werke in Japan so einzigartig macht. Das New Museum of Contemporary Art in New York illustriert diese Problematik. Das Gebäude tritt mit all seiner spürbaren und intellektuellen Verwundbarkeit in einen Dialog mit der Stadt, doch New York ist nicht in der Lage, darauf mit gleicher Offenheit zu antworten. Es wäre zu einfach, diesen Mangel an Energie einzig dem Museumsgebäude zuzuschreiben. Die Situation illustriert vielmehr eine tiefer liegende Frage – nämlich die, wie gut Architekturkonzepte auf Ortswechsel reagieren. Der Begriff der Dauerhaftigkeit, wie er in Japan verstanden wird, unterscheidet sich von seiner Bedeutung im Westen, und diese Bedeutung ist für ein Verständnis des modernen städtischen Raums in Japan essenziell. In den Werken von SANAA entsteht räumliche Präzision im Zusammenklang mit dem veränderlichen Umfeld und dessen Tageslicht. Die Städte der westlichen Welt bleiben dagegen ihrer Vorstellung von Ewigkeit verhaftet. Ihre Architektur reagiert auf dieses Ewigkeitsbild und bleibt damit objekthaft, und dies wirkt sich auch auf die Qualität ihrer Zwischenräume aus. 76 Licht zwischen Privatheit und Öffentlichkeit Die Architektur von SANAA verlangt nach neuen Beziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre und initiiert diese auch. Das gilt nicht nur für öffentliche Bauten, sondern auch für private Wohngebäude. Im städtischen Japan definiert sich der Privatraum nie ohne Kenntnis der angrenzenden öffentlichen Bereiche. Umgekehrt erhalten die Gemeinschaftsbereiche ihre Identität durch die Privaträume. In Tokio und anderen japanischen Großstädten lassen die minimalen Grundstücksgrößen unweigerlich ein vielschichtiges und abstraktes Raumgefühl entstehen, das stets auf dieser Gegenseitigkeit beruht. Viele japanische Architekten, darunter auch SANAA, haben sich über die Jahre hiervon inspirieren lassen. Oft spielt dabei der Zwischenbereich zwischen öffentlichem und privatem Tageslicht eine tragende Rolle in den Gebäudekonzepten. Dies ist zum Beispiel in dem kleinen M. House in Tokio von 1997 der Fall, wo das Gebäude ins Gelände eingegraben wurde. In dem Haus existiert eine Raumzone, die zwar als privat angesehen werden kann, ihren visuellen Reiz und ihre Energie jedoch vor allem durch den angrenzenden öffentlichen Bereich erhält. Im Inneren eines japanischen Hauses oder einer Wohnung wird der Bewohner mit einer intimen und direkten Beziehung seines Körpers zum Raum konfrontiert. Die japanische Kultur fasst Privatraum weniger als realen denn als mentalen Raum auf, der im Nutzer selbst entsteht. Die Bauten von SANAA in ihrer Heimat spiegeln diese Situation wider. Jeder Raum wird durch seine Wechselwirkung mit den Nachbarräumen erweitert und ist Teil eines größeren Zusammenhangs, der private und öffentliche Bereiche umfasst. Tageslicht ist omnipräsent und vermittelt zwischen den Räumen, wobei das Licht im Innenraum durch Raumund Materialschichtung in seiner Farbe und Intensität verändert werden kann. Vor allem in den kleinen Privathäusern von SANAA wird dies deutlich. Möbel und persönliche Objekte sind Teil der Raumsequenz und daher von enormer Wichtigkeit. Die Form eines Stuhls oder der Standort eines Tischs können leicht den Raum und dessen Licht verändern. Umgekehrt begrenzt auch der Raum die Anzahl der darin enthaltenen Objekte. Eine neue Bedeutung Der amerikanische Architekt Louis I. Kahn sprach in seinen Vorlesungen oft davon, was Ordnung in der Architektur sei. Er sagte, dass er das Bemühen, Ordnung durch Inhalte zu definieren, nach vielen Versuchen aufgegeben habe. Er erwähnte jedoch auch, dass Ordnung sich nie als statisches Instrument auffassen ließe, sondern abhängig von den angestrebten Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Raum veränderbar bleiben müsse. Die besten Arbeiten von SANAA vermitteln eine Sensibilität gegenüber dieser Art von Ordnung, die neue Beziehungen zwischen Konstruktion, Schatten und Licht schafft. Tageslicht erhält seine präzise Form durch die konstruktive Leichtigkeit der Gebäude und wird so zum raumbildenden Element. Auf diese Weise erfüllt SANAA das Kahn’sche Diktum „Order is ...“ neu mit Leben und vermittelt zugleich ungemein starke Architekturerfahrungen. Die Räume von SANAA stellen keine Ansprüche an den Nutzer, sondern verführen ihn vielmehr durch ihren ständig wechselnden Zusammenhang, der die Beziehungen zwischen Privat und Öffentlich sowie zwischen Ewigkeit und Gegenwart verwischt. Zugleich sind sie großzügig genug, um auch das verwundbare, private Innenleben jedes Einzelnen zu behausen. Heute Abend wird das blaue Licht des Laptops seine eigenartige Identität von meinem Schreibtisch am Eckfenster in die Welt hinausstrahlen. Geduldig warte ich auf die nächste E-Mail, die mich meines Kontakts zur Außenwelt und damit meiner Existenz versichert. Wo ich mich gerade aufhalte, spielt dabei keine Rolle. Im Inneren der Gebäude von SANAA warte ich dagegen nicht auf Antworten. Dort lädt mich das Tageslicht ein, am Raum teilzuhaben – und mit dieser einfachen Geste wirkt Architektur am eindrucksvollsten. D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Per Olaf Fjeld absolvierte sein Masterstudium unter Louis Kahn an der University of Pennsylvania. Er ist Professor an der Architekturund Designhochschule in Oslo und Autor von Büchern und Zeitschriftenbeiträgen zur Architektur. Sein jüngstes Buch ist ‚Sverre Fehn, The Pattern of Thoughts‘ (2009). Per Olaf Fjeld war Gastprofessor an der Cornell University und der University of Arizona, und diente von 2005 bis 2008 als Präsident der European Association of Architectural Education (EAAE). Seit 1975 leitet Per Olaf Fjeld gemeinsam mit seiner Frau Emily Randall Fjeld ein eigenes Architekturbüro. JARMUND/ VIGSNÆS „WIR MÜSSEN DIE ÖKONOMIE DES TAGESLICHTS WIEDERENTDECKEN“ Die Arbeit der Architekten Jarmund/Vigsnæs ist tief in der norwegischen Kultur und Landschaft verwurzelt. In einer Umgebung, die oft von starken Gegensätzen geprägt ist, suchen ihre Gebäude ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen Schutzfunktion und Offenheit, Undurchsichtigkeit und Transparenz sowie zwischen unterschiedlichen Qualitäten von Tageslicht und Ausblicken. Interview mit Håkon Vigsnæs Fotos von Thekla Ehling Herr Vigsnæs, viele Ihrer Werke der zeitgenössischen norwegischen Architektur offenbaren eine besonders enge Verbindung zur norwegischen Landschaft und zu ihrem Licht. Welche Bedeutung hat diese Landschaft für die norwegische Kultur und für Sie persönlich? In Norwegen gab es nie eine besonders ausgeprägte Stadtkultur, und das gilt auch heute noch. Die Besiedlungsmuster in unserem Land sind traditionell nicht sehr dicht. Typische historische Behausungen waren kleine Häuser oder Bauernhöfe, die sich immer in Eigenbesitz befanden, da es in Norwegen nie ein feudales System gab. Viele Leute verdienten ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft oder Fischerei oder einer Kombination aus beidem. Obwohl die Landwirtschaft heutzutage nur noch eine geringe Rolle spielt, hat sich an der Siedlungsstruktur bis heute wenig geändert. Mehr als die Hälfte der norwegischen Bevölkerung lebt in eigenen Häusern, oft auf dem Land oder in enger Beziehung zur Natur. Für eine norwegische Familie ist es völlig normal, eine (meistens ziemlich kleine und schlichte) Sommer- oder Winterhütte auf dem Land zu besitzen. Die Natur prägt die norwegische Kultur sehr stark, was unser Alltagsleben und Raumverständnis anbelangt. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Landschaft ist das Klima und somit auch das Tageslicht. Häufig zeigt sich in der norwegischen Architektur ein fließender Übergang zwischen Schutzfunktion und Offenheit. Einerseits müssen unsere Häu- ser den Bewohnern physisch und mental Schutz vor den rauen Witterungsverhält- „Generell bauen wir in Norwegen nissen bieten, andererseits legen wir grokeine vollverglasten Wohngeßen Wert darauf, die Landschaft – und vor bäude, denn zum einen wäre das allem ihre unterschiedlichen Lichtverim Hinblick auf den Energieverhältnisse – in Gebäude einzubeziehen. brauch wenig sinnvoll und zum Diese traditionelle Dynamik beeinanderen wollen die Menschen von flusst die norwegische Architektur bis ihren Häusern ‚umarmt‘ werden.“ heute. Die Menschen wollen vor dem Klima geschützt werden, gleichzeitig aber Landschaft und Licht erfahren. Tageslicht ist bei uns in Norwegen vor allem im Gebäuden wider. Wir versuchen häufig, eine möglichst ergiebige und abwechsWinter ja eher ein spärliches Gut. Zudem fällt es häufig aus sehr flachen Winkeln lungsreiche Mischung von Licht aus ein – das macht es zur Herausforderung verschiedenen Richtungen zu erreichen, für jeden Architekten, dieses Licht in die indem wir Fensteröffnungen in allen FasHäuser zu bringen. saden und im Dach anbringen. Welche Strategien hat die norwegische Architektur entwickelt, um dieses oft schwache nordische Licht einzufangen? Die zeitgenössische Architektur ist bemüht, das angesprochene Gleichgewicht zwischen Schutz und Offenheit zu erreichen. Generell bauen wir in Norwegen keine vollverglasten Wohngebäude, denn zum einen wäre das im Hinblick auf den Energieverbrauch wenig sinnvoll und zum anderen wollen die Menschen von ihren Häusern ‚umarmt‘ werden. Obgleich norwegische Häuser immer schon eng mit der Natur verbunden waren, hatten sie früher relativ wenige Öffnungen. Das war zumindest bis zum Aufkommen der ersten Ferienhäuser um 1870 so, als Glasveranden in Mode kamen. Dieses differenzierte Verhältnis zum Tageslicht spiegelt sich auch in unseren Sie haben Gebäude in den nördlichsten Breitengraden gebaut, zum Beispiel das Svalbard Science Centre in Spitzbergen. In dieser Gegend ist es buchstäblich etwa ein halbes Jahr lang dunkel und ein halbes Jahr lang hell. Wie sind Sie dieser Herausforderung begegnet? Auch hier bildete das Klima den Ausgangspunkt für uns. In erster Linie wurde der Entwurf durch die Notwendigkeit bestimmt, Schneeanhäufungen rund um das Gebäude zu vermeiden. Deshalb haben wir ihm eine betont aerodynamische Form verliehen, die zuvor digital getestet wurde, um die Windverhältnisse und Schneeverwehungen vor Ort einschätzen zu können. Weil der Boden am Standort des Wissenschaftszentrums permanent gefroren ist, setzten wir das Gebäude auf Pfähle, um darunter Luft zirkulieren zu 85 Seiten 86/87 Das Hotel steht in einem der wichtigsten Wintersportgebiete Norwegens. Seine spannungsvolle Dachform greift die Silhouetten der umliegenden Gebirgsketten auf. „In der Architektur des Hotels finden die Visionen des Eigentümers Ausdruck, der schon immer von einem Turm in den Bergen träumte.“ lassen. Baut man nämlich ein Gebäude direkt auf Permafrostboden, lässt es durch seine Wärmeabstrahlung den Untergrund schmelzen, sodass die Gefahr des Abrutschens besteht. In der Gebäudehülle versuchten wir dasselbe Gleichgewicht zwischen Obdach und Offenheit zu erreichen wie in unseren Häusern in Norwegen. Allerdings konnten wir nicht allzu viele Fenster einsetzen, weil der Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen oft 50 bis 60 Grad Celsius beträgt und die Wärmeverluste zu extrem wären. Bei Gestaltung und Lage der Öffnungen standen daher für uns deren primäre Funktionen im Vordergrund: Auf den langgestreckten Gebäudeseiten, wo die Büros untergebracht sind, entschieden wir uns für breite horizontale Fenster, um den Nutzern die bestmögliche Aussicht auf den Horizont zu bieten. Die öffentlichen Bereiche hingegen sind mit vertikalen Fenstern und Oberlichtern ausgestattet, da in diesen Räumen ein großzügiger Lichteinfall ebenso wichtig ist wie die Aussicht. Sprechen wir kurz über das Turtagrø Hotel, ein Projekt, das auch in diesem Beitrag zu sehen ist. Welche Schlüsselfaktoren beeinflussten den Entwurf dieses Gebäudes? Das Turtagrø Hotel hat eine ganz spezielle Geschichte, weil die vormalige Hotelanlage abbrannte. Da der Eigentümer buchstäblich seinen ganzen Besitz in den Flammen verlor, wollte er das Geld der Versicherung in ein neues Hotel stecken. Da er es sich aber nicht leisten konnte, länger als ein Jahr auf Einkünfte zu verzichten, musste das Projekt in nur einer Saison fertiggestellt werden. Angesichts dieses extrem kurzen Zeitfensters begannen wir mit dem Bau anhand von Skizzen anstatt auf der Grundlage ausgearbeiteter Konstruktionszeichnungen. In der Archi- tektur des Hotels finden die Visionen des Eigentümers Ausdruck, der schon immer von einem Turm in den Bergen träumte. Unser Hotel ist zwar kein Turm, aus einem bestimmten Blickwinkel aber thront es wie ein solcher über der Landschaft. Für die Konstruktion verwendeten wir überwiegend traditionelle Materialien wie Naturstein und Holzverkleidungen, um eine Verbindung zu dem Nachbargebäude vom Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinen kunstvoll verzierten Holzveranden zu schaffen. Zum anderen vermitteln die Materialien ebenso wie die Gesamtform des Gebäudes den Bewohnern ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit in der rauen Berglandschaft. Ein dritter wichtiger Aspekt der Gesamtkonzeption war die Position der Fenster, die häufig leicht nach oben und nicht seitwärts ausgerichtet sind. Grund hierfür ist, dass man im Gebirge vom Hotelzimmer aus lieber auf die Gipfel und den Himmel blickt als zur Seite oder ins Tal. Links In den Innenräumen vermitteln mit Kalklasur gestrichene Wandoberflächen, Holzböden und Möbel aus geölter Eiche eine warme und natürliche Atmosphäre. Räumen unterschiedlicher Höhe die Dynamik der Architektur. Zudem erwies es sich als sinnvolle Strategie, in einem Gebäude auf überflüssige Quadratmeter zu verzichten. Viele unserer Häuser sind mit recht begrenztem Budget gebaut. Wenn ein Kunde bei gleichem Preis die Wahl hat zwischen einem Fertighaus mit 200 Quadratmetern und einem einfachen, aber individuell gestalteten Haus mit 140 Quadratmetern, müssen wir ihn davon überzeugen, dass 140 Quadratmeter für ihn völlig ausreichen und er uns mit dem Entwurf beauftragt. Hierbei müssen wir die Innenräume mit ihren unterschiedlichen Funktionen auf intelligente Weise zu einem Ganzen fügen – zum Beispiel, indem wir Räume nicht nebeneinander legen, sondern mit räumlichen Überschneidungen arbeiten. Welche Gebäude oder Orte haben Sie, abgesehen von Ihren eigenen Projekten, in der Vergangenheit ganz besonders durch die natürlichen Lichtbedingungen beeindruckt? Ich will kein bestimmtes Gebäude nennen, sondern betonen, dass sich aus der traditionellen Baukultur vieles lernen lässt. Das gesteigerte Bemühen um Energieeffizienz und Wärmekomfort Entwickeln Sie Ihre Entwürfe eher ‚von innen nach außen’ oder von außen nach innen? Es ist immer eine Mischung aus beidem. Am besten sieht man dies in unserem ‚Triangle House’ in Nesodden, in dem sich der Gesamtentwurf an Form und Lage der Fenster in der Fassade orientiert. Die Fenster ‚rahmen’ auf eine fast „Das Verständnis vom Zusammenromantische Weise verschiedene Blicke hang zwischen Gesundheit und auf die umgebende Landschaft und den Tageslicht sowie der Wunsch, ‚an nahegelegenen Fjord, die wir ganz gezielt der frischen Luft’ zu sein, sind in Relation zu den Innenräumen setzen wesentliche Elemente unserer wollten. Die Holzverkleidung der Fasphysischen und mentalen Tradition, saden wiederum steht in Verbindung die jedem hier von Kindesbeinen an mit den Fenstern: Sie ist in Flächen mit vertraut sind.“ horizontaler und vertikaler Verschalung unterteilt, deren Kanten jeweils mit den macht vollverglaste Gebäude heutzutage Rändern der Fenster fluchten. eigentlich unmöglich. Meiner Meinung Ihre Gebäude sind häufig durch komple- nach ist das für die Architektur sehr vorxe Querschnitte gekennzeichnet, fast im teilhaft, denn so müssen wir die BalanSinne eines ‚Raumplans’ nach Adolf Loos. ce zwischen Masse und Licht, zwischen Wänden und Fenstern überdenken. In Was ist der Grund? Die räumliche Komplexität und der ‚Fluss’ der Vergangenheit brachte diese Fokusder Innenräume sind für uns aus ver- sierung viele Architekten dazu, feinste schiedenen Gründen wichtig. Zunächst Details an den Fensterlaibungen herauszuarbeiten und Fenster durch spezieinmal steigert das Verhältnis zwischen 89 Rechts Die Hotelzimmer sind vergleichsweise breit und wenig tief und erhalten so reichlich Tageslicht. Durch die Dachfenster über das Tal und die Bergketten ringsum. Seiten 92/93 „Unsere Bauten sollen eine Balance zwischen Öffnung und Schutz vermitteln“, sagen Jarmund/Vigsnæs. Auch die Fassaden des Hotels mit ihren großen, aber weit zurückspringenden Fenstern spiegeln diesen Kontrast wider. „Wir diskutieren sehr oft mit unseren Kunden über das Tageslicht. In der Regel wollen sie Aussicht nach allen Seiten und Tageslicht von allen Seiten.“ elle Farben und Rahmen hervorzuheben. Solche Details spielen viel intelligenter mit dem Licht, als es heute der Fall ist, wo Fenster oft einfach als eine Glasscheibe in der Außenwand betrachtet werden. Traditionelle Architektur kann uns also in vielerlei Hinsicht Aufschluss über die architektonische Ökonomie des Lichts geben. Bei welchen Gelegenheiten haben Sie erkannt, wie sehr das Tageslicht unser Verhalten und Wohlbefinden beeinflussen kann? Wir hier im Norden neigen in der dunklen Jahreszeit zu Müdigkeit und Melancholie und leiden an Energiemangel. Deshalb ist es für mich oft wichtig, in der Mittagspause einfach einmal nach draußen zu gehen, um die Sonne zu sehen und zu spüren, oder früh von der Arbeit heimzukommen, um mich noch bei Tageslicht im Freien aufhalten zu können. Dieses Verständnis vom Zusammenhang zwischen unserer Gesundheit und der Qualität des Tageslichts sowie der Wunsch, an der frischen Luft zu sein, sind wesentliche Elemente unserer physischen und mentalen Tradition, die jedem hier von Kindesbeinen an vertraut sind. Sprechen Sie mit Bauherren über deren Präferenzen bezüglich des Tageslichts – und wenn ja, wie äußern sie sich? Wir diskutieren sehr oft mit unseren Kunden über das Tageslicht. In der Regel wollen sie Aussicht nach allen Seiten und Tageslicht von allen Seiten. Als einzige Sorge bleibt oftmals die Frage, an welcher Wand dann das jeweilige Lieblingsbild aufgehängt werden kann – aber das ist kein architektonischer Aspekt im eigentlichen Sinne. Wir erklären unseren Kunden oft, dass es für die Erfahrung verschiedener Lichtqualitäten und Ausblicke wichtig ist, ein Gleichgewicht 90 zwischen ihnen herzustellen, also in architektonischem Sinne ‚ökonomisch‘ mit ihnen umzugehen und eine Überfrachtung zu vermeiden. Manchmal müssen wir einen Bauherrn davon überzeugen, dass ein sehr niedriges Fenster – aus dem man zum Beispiel nur von der Badewanne aus nach draußen blickt – vorteilhaft sein kann, ein andermal, dass eventuell ein Fenster wichtig ist, das zwar keinen Ausblick bietet, aber Licht auf eine Wand oder den Fußboden wirft. Den Kunden solche architektonischen Belange zu vermitteln, ist oft schwierig, aber notwendig. Tageslicht ist sehr dynamisch und im ständigen Wandel. Wie berücksichtigen Sie dies in Ihren Gebäuden, vor allem bei der Gestaltung der Gebäudehülle? Ein gutes Beispiel ist unser Projekt ‚Farmhouse‘ in Toten westlich von Oslo. Wir haben das Haus neben einem verlassenen Bauernhof für eine Familie gebaut, die aus der Stadt dorthin zog. Zwei Dinge waren den Bauherren wichtig: Erstens gab es dort eine abbruchreife Scheune, von der die Familie eine Erinnerung behalten wollte. Also verkleideten wir das neue Haus mit dem einhundert Jahre alten Holz der Scheunenwände. Den Rest der Holzkonstruktion ließen wir stehen, um das neue Haus in den nächsten zwanzig Jahren kostenlos damit beheizen zu können. Der zweite Wunsch hatte mit der Topografie des Standorts und mit seinem Licht zu tun. Für die Familie, die zuvor in einer kleinen und dunklen Wohnung in Oslo lebte, wurde an diesem lichtüberfluteten Ort ein Traum wahr. Sorgfältig studierte sie den Lauf der Sonne in den verschiedenen Jahreszeiten und überlegte, wo sie durch Rodung kleiner Lichtungen bestimmte Blicke freilegen und wie sie ihren Alltag dem Lauf der Sonne anpassen konnte. An allen vier Fassaden des Hauses entlang verläuft nun ein durchgehendes, horizontales Fensterband, das das Bedürfnis der Familie nach ständiger Verbindung zum wechselnden Tageslicht deutlich widerspiegelt. Der Fensterstreifen variiert in der Höhe und An- ordnung und setzt so jeden Bereich des Innenraums in eine andere Beziehung mit den Lichtverhältnissen draußen – und an einigen Stellen auch mit der Abwesenheit von Licht. Die Tageslichtbedingungen in Städten sind häufig anders als auf dem Land. Gehen Sie mit natürlichem Licht in der Stadt anders um? In Städten gibt es häufig nicht nur weniger Tageslicht als auf dem Land, es besteht auch das Problem der Einblicke ins Haus. Wiederum ist also die Platzierung der Fenster von entscheidender Bedeutung, um ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen Privatsphäre und Offenheit den Nachbarn gegenüber. Wir haben bisher zahlreiche größere Gebäude im urbanen Kontext verwirklicht, aber nur ein Privathaus, das in einem Hinterhof in einem historischen Stadtteil Oslos steht. Hier lautete die Aufgabe, den Hinterhof visuell zu kontrollieren. Deshalb ist das eher kleine Haus zum Hinterhof hin sehr offen, auf den anderen drei Seiten hingegen durch bestehende Mauern komplett geschlossen, die wir auch nicht antasten durften. Durch diese Einschränkung war einerseits der Entwurf des Hauses klar vorgegeben, andererseits stellte diese ‚Reibung‘ zwischen Neu und Alt eine interessante Herausforderung dar. Das größte Übel für uns Architekten ist, wenn man so will, ein perfekter Standort mit unbegrenztem Budget – ein wirkliches Problem. Oft arbeiten wir dagegen mit steil geneigten Bauplätzen, wo das Sonnenlicht von der Bergseite einfällt und die Aussicht auf die andere Seite hinausgeht. Für uns ist das eine ziemlich gute Ausgangssituation – besser jedenfalls, als Licht und Aussicht in der gleichen Himmelsrichtung zu haben. D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 LACATON & VASSAL „TAGESLICHT BEDEUTET FREIHEIT“ Interview mit Anne Lacaton and Jean-Philippe Vassal „Freiheit ist ein Ziel, das wir in allen unseren Gebäuden zu verwirklichen suchen“, sagt Anne Lacaton vom Pariser Architekturbüro Lacaton & Vassal. Mit ihrem Partner Jean-Philippe Vassal hat die Architektin immer wieder bewiesen, dass flexible, großzügige Räume sich mit überraschend wenig Aufwand und zu geringen Kosten schaffen lassen. Für ihre Arbeit mit Tageslicht hat die VELUX-Stiftung Lacaton & Vassal den Daylight and Building Component Award 2011 verliehen. Von Brian Woodward Fotos von Thekla Ehling „Man muss Tageslicht aus zwei Rich- lichen suchen“, sagt Anne Lacaton, 55. tungen betrachten“, sagt der Architekt „Nicht ‚gerahmtes’ Tageslicht, sondern Jean-Philippe Vassal, 57, und lässt die dessen unmittelbare Wirkung auf den Hand über das Panorama der Pariser Menschen ist uns wichtig. Tageslicht Dächer vor dem Bürofenster schweifen. kann befreien, und wir lieben die totale „Tageslicht bedeutet Licht, das von drau- Freiheit.“ ßen kommt, aber es bestimmt auch, was wir beim Blick von drinnen nach drau- Frau Lacaton, Herr Vassal, gibt es geßen sehen. Die Grenzen eines Gebäudes meinsame Grundsätze, die Sie der Nutzung von Tageslicht in Ihren Gebäuden reichen so weit wie dieser Blick“, erklärt er. Daher ist die Optimierung des Tages- zugrunde legen? lichts ‚von innen nach außen’ eines der JPV: Wir wollen Wände in unseren Gewesentlichen Entwurfsprinzipien, das bäuden so weit wie möglich vermeiden. Vassal und seine Büropartnerin seit 24 Es reicht, wenn wir Ebenen, Stützen Jahren, Anne Lacaton, bei ihren Projek- und Träger verwenden. Keine Wände. ten verfolgen. Wir glauben, dass der freie Blick nach Oft haben sich Lacaton & Vassal mit der draußen das Beste ist, das jemand in seiSanierung von Bestandsbauten befasst. ner Wohnung haben kann. Selbst wenn Vom Umbau des Palais de Tokyo in Paris das, was er vor dem Fenster sieht, nicht bis zu ihren groß angelegten Sanierun- besonders angenehm ist, versuchen wir gen in den Banlieues von Paris zeichnen dem Nutzer eher die Freiheit zu geben, sich diese Projekte durch unkonventio- den Ausblick zu filtern, als ihm diesen nelle Materialien wie Gewächshauskon- komplett vorzuenthalten. struktionen, Aluminium-Wellblech und Diese Freiheit hat mit der LeistungsPolycarbonat aus. Nicht zuletzt aufgrund fähigkeit von Gebäuden zu tun. Beim ihrer experimentellen, aber stets ökono- Entwerfen fragen wir uns stets: „Was mischen Materialverwendung erhielten könnte ein Höchstmaß an Offenheit Lacaton & Vassal 2011 den Daylight and für ein Schlafzimmer sein?“, oder „Was Building Component Award der VELUX- wäre das Maximum für ein Bad?“ Fragen Stiftung. Der mit 100.000 Euro dotierte wie diese betreffen nicht nur das Tageslicht, sondern auch den Zugang zum Preis wurde den Pariser Architekten am Außenraum. Selbst einem Bewohner im 7. März in Kopenhagen verliehen. „Wir haben ein großes Interesse an 13. Obergeschoss sollte ein Balkon oder dieser architektonischen Übersetzungs- Wintergarten zur Verfügung stehen. arbeit. Im Grunde geht es dabei jedoch Das verbessert das Raumklima, erlaubt um Freiheit. Freiheit ist ein Ziel, das wir es, Pflanzen zu ziehen, und macht das in allen unseren Gebäuden zu verwirk- Alltagsleben angenehmer. Vor allem in 97 Seite 96 Die maschinenartige Ästhetik der Gewächshauskonstruktion und ihrer Bedienelemente prägt die Wintergärten bis heute – trotz aller Bestrebungen der Bewohner, ihnen mit individueller Möblierung einen wohnlichen Charakter zu verleihen. Rechts Die Wintergärten bleiben ganzjährig unbeheizt. Lediglich horizontale Raffstoren aus Textil unter der Raumdecke schützen vor Sonneneinstrahlung. Dennoch werden diese Räume über weite Teile des Jahres zumindest stundenweise genutzt. „Jedes Mal, wenn wir später mit den Bauherren sprachen, erzählten sie uns: ‚Es ist kaum zu glauben, wie sehr sich unser Leben wegen des Hauses verändert hat. Wir leben ständig im Tageslicht.‘“ unseren Sozialwohnungsbauten hat diese Strategie einen großen Unterschied bewirkt. AL: Ich denke auch, dass Tageslicht für das Wohlbefinden wirklich notwendig ist. Die Frage, wie man ein Maximum an Tageslicht in Innenräume bringt, interessiert uns sehr. Daher setzen wir oft Gewächshäuser auf oder an unsere Gebäude. Weil sie so offen für Tageslicht sein müssen, sind Gewächshauskonstruktionen äußerst leicht und werfen kaum einen Schatten auf den Fußboden. Diese Leichtigkeit ist für uns außerordentlich wichtig, weil wir den Eindruck der Schwere in unseren Gebäuden zu vermeiden suchen. Tageslicht hat mit Leichtigkeit zu tun, mit der Erfahrung des Klimas und damit, seiner Umgebung sehr nahe zu sein. Wir versuchen daher immer, Bauelemente zu verwenden, mit denen wir den Tageslichteinfall in unsere Gebäude maximieren können. Können Sie uns ein Beispiel nennen, wie Tageslicht einen Ihrer Gebäudeentwürfe konkret beeinflusst hat? JPV: Es ist schwer, das mit einem einzelnen Projekt zu illustrieren. Unsere Aufgabe als Architekten lautet ja nicht, Beton oder Stahl oder Glas herzustellen. Wir müssen vielmehr den Leerraum dazwischen schaffen, die Luft, das Klima und die Atmosphäre darin – und das schließt Tageslicht ein. Tageslicht ist in allem, was wir tun. Ich erinnere mich jedoch an die Sanierung eines Wohnhauses in einem sehr dunklen Teil von Bordeaux, dessen Bewohnerin uns sagte: „In diesem Haus wird es nie auch nur einen einzigen Lichtstrahl geben!“ Doch wir strengten uns an und setzten uns das Ziel, an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhr98 zeit ein kleines Dreieck aus Tageslicht Schutz notwendigen Systeme umfassen auf dem Boden aufscheinen zu lassen. – zum Schutz vor Blendung und Hitze, vor Sie wartete darauf, und es funktionierte Einblicken, vor der Kälte der Nacht und so weiter. Transparente Fassaden und – und sie war glücklich. geschosshohe Trennwände aus Glas AL: Vor zehn Jahren haben wir im Südwes- sind für uns wichtig, sowohl wegen des ten Frankreichs ein kleines Wohnhaus Tageslichts als auch zur Belüftung. auf dem Land entworfen. Auftraggeber Nicht zuletzt verwenden wir auch sehr war ein Ehepaar, das auf einem Weingut oft Gewächshäuser als ‚zweite Hülle’, in bei Bordeaux arbeitete. Zuvor hatten die der wir Bereiche mit unterschiedlichem beiden in einem noch kleineren Haus Raumklima schaffen können. Natürlich gewohnt, das von dem Wohnhaus des ist die Frage des Klimas eng mit TagesGutseigentümers verschattet wurde. Es licht und mit Komfort verbunden – mit hatte winzige Fenster, war schlecht be- bioklimatischem Komfort. lüftet und bot allgemein mangelhafte Lebensbedingungen. Welches Gebäude oder welcher Ort hat Unsere Bauherren baten uns, ein neu- Sie durch sein Tageslicht besonders bees Haus für sie auf einem sehr großen eindruckt? Grundstück zu entwerfen, das sie sehr JPV: Ich erinnere mich an die Staatsbillig erstanden hatten. Wir bauten zwei bibliothek von Hans Scharoun in Berlin, Gewächshäuser auf das Grundstück, ei- einen unglaublich großen Bau, in dessen nes neben dem anderen, und fügten darin Innerem man dennoch von jedem Punkt eine hölzerne ‚Kiste’ ein, die die beheiz- aus das Licht sehen kann, das durch die ten Räume des Hauses enthielt. Das Kon- Fassaden einfällt. zept war einfach, aber jedes Mal, wenn In der Architekturhochschule in wir mit ihnen später sprachen, erzählten Nantes haben wir versucht, die gleiche sie uns: „Es ist kaum zu glauben, wie sehr Wirkung zu erreichen. Das Gebäude ist sich unser Leben wegen des Hauses ver- 120 Meter lang und 18 Meter tief. Tagesändert hat. Wir leben ständig im Tages- licht fällt nur durch die Fassade ein, die licht.“ Als die Frau einige Jahre später an in jedem Geschoss sechs Meter hoch ist. Krebs starb, sagte uns ihr Ehemann nur: Wenn wir in der Gebäudemitte stehen, „Sie können sich nicht vorstellen, wie können wir – obwohl es dort selbst kaum sehr Ihr Haus die letzten Tage im Leben Tageslicht gibt – immer noch alles sehen, meiner Frau verschönert hat.“ So beein- was sich draußen abspielt. Wir sehen die flusste das Tageslicht ihr Leben, und es Menschen, wie sie sich bewegen, und beeinflusst unsere Entwürfe bis heute. sehen immer das Tageslicht, das durch die Fassade hereinscheint. Sogar wenn Welche anderen Aspekte des Tageslichts, nur ein einzelner Lichtstrahl hereinfällt abgesehen von den visuellen, sind Ihnen und ein paar tanzende Staubkörner aufbei der Arbeit wichtig? leuchten lässt, ist das ein wundervoller AL: Tageslicht ist in Gebäuden wich- Anblick. tig, weil es die Möglichkeit bietet, den Komfort der Nutzer durch die Wärme Gab es eine Situation, die Ihnen gezeigt hat, der Sonne zu steigern und Blicke nach wie sehr Raum und Tageslicht das Verhaldraußen zu öffnen. Wenn man Tageslicht ten des Menschen beeinflussen können? nutzt, benötigt man weniger Kunstlicht. JPV: Ein gutes Beispiel ist unser erstes Dennoch ist es sehr einfach, sich vor Haus, die Maison Latapie in Bordeaux. Es Tageslicht zu schützen, wenn man es war ein sehr billiges Gebäude, bei dem ein denn will. 60 Quadratmeter großes Gewächshaus In unseren Gebäuden verwenden wir das eigentliche Wohnhaus umhüllt. Wir daher sehr oft keine Wände, sondern als Architekten stellten uns diesen Bearbeiten mit offenen Konstruktionen reich als tropischen Wintergarten voller aus Stützen und Ebenen. Hinzu fügen Blumen vor. Die Bewohner haben jedoch wir transparente Fassaden, die alle zum etwas zehnmal Besseres daraus gemacht: D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Links Loftwohnen im Sozialwohnungsbau – diese eigentlich nicht bezahlbare Verbindung realisierten Lacaton & Vassal bei ihrem Projekt in Mulhouse. Selbst die Zweizimmerwohnungen sind mehr als 100 Quadratmeter groß. Sie stellten den größten Teil ihrer Möbel in dem Gewächshaus auf und verwenden diesen Raum, der unseren Plänen zufolge eigentlich nur für 30 Prozent des Jahres genutzt werden sollte, während 90 Prozent der Zeit. Sie haben den Raum wirklich angenommen und etwas Außerordentliches daraus gemacht, weil er so leicht und voller Tageslicht ist. In vielen Gebäuden verwenden Sie Tageslicht nicht nur zugunsten der Bewohner, sondern auch, um Pflanzen zu züchten. Woher stammt Ihr Interesse an Pflanzen und Gartenbau? JPV: Vermutlich bin ich es, der sich am meisten für Gartenbau interessiert. Ich habe eine Orchideensammlung hier im Büro, die mich fasziniert, weil Orchideen eine Pflanzengattung sind, die ein Maximum mit minimalen Ressourcen erreicht. Sie brauchen keine Erde, um zu wachsen, sondern haben alles dafür Notwendige in ihren Wurzeln. Welche Rolle spielt die Wirtschaftlichkeit in Ihren Gebäuden, und in welchem Bezug steht sie für Sie zur Lebensqualität? JPV: Kurz nachdem ich mein Studium in Bordeaux beendet hatte, verbrachte ich fünf Jahre in Niger. Diese Zeit hat mein Denken über Ökonomie und deren Beziehung zur Lebensqualität stark beeinflusst. Ich sage immer, dass ich fünf Jahre in Bordeaux studiert habe, aber in Wirklichkeit habe ich in Niger eine zweite fünfjährige Ausbildung erfahren. In Afrika habe ich das Leben von Menschen kennengelernt, die die meiste Zeit über in wirklich schwierigen Situationen stecken – ohne Nahrung, ohne Wasser. Dennoch haben sich ihre Fähigkeit und ihre schiere Intelligenz, mit der sie andauernd Dinge erfinden, mir eingeprägt. Ich lernte, wie man aus nichts etwas macht, und wie man dies sogar mit einer poetischen Geste und mit Humor tut. Alles, was sie taten, schien leicht – nie schwer oder kompliziert. Aber immer geschah es mit einem Minimum an Mitteln. Ein Auto, das wir hier in Europa verschrotten, könnte in Afrika noch 20 Jahre länger fahren. Man sieht dort Kinder, Seiten 102/103 Wohnen, Kochen, Arbeiten, Schlafen – im Erdgeschoss der Häuser spielt sich alles in einem einzigen, durchgehenden Großraum ab. Die Architekten verzichteten bewusst darauf, Funktionen für einzelne Bereiche vorzudefinieren. die ihre eigenen kleinen Spielzeuge erfinden und mit irgendwelchen Stahl- oder „Um die Kosten niedrig zu halten, Gummiteilen im Sand ‚Auto spielen’. muss man aus allem, mit dem man Man sieht Häuser, erbaut aus Zweigen, arbeitet, ein Maximum an Leistung die im Wüstensand stecken und mit bilherausholen: aus jeder Konstrukligem Aluminium-Wellblech verkleidet tion, jedem räumlichen System, sind. Es steckt eine große Freiheit in der jedem Material.“ Art und Weise, in der die Menschen dort Dinge tun. Wir versuchen, nach ähnlichen Prinzipien zu arbeiten. Es ist nicht notwendas so ist. Aber es ist faszinierend, dass dig, hier in Europa alles neu zu bauen; wir scheinbar alles möglich wird, wenn man müssen lediglich mit der bestehenden städtebaulichen Situation zurechtkom- sie von Räumen mit vordefinierter Funktion löst und stattdessen ‚frei verfügbamen. Es gibt viele Gebäude, von denen die ren’ Raum schafft. Bei jedem Besuch Menschen denken, dass sie abgerissen zeigt sich die Architekturhochschule werden müssen. Wir betrachten diese von einer anderen Seite. Wir gaben den lediglich als unvollendet. Gebäude haben oft eine größere Leistungsfähigkeit, Studenten Freiheit, und jetzt geben sie uns immerzu neue Interpretationen des wenn wir sie erhalten und umbauen. Raums zurück. Das verleiht dem GebäuAL: In vielen Projekten ist das Verhältnis de eine neue Art des Reichtums und der zwischen Kosten und Umfang des Projekts sehr ungünstig. Als Architekten kön- Fülle, und wir haben das Gefühl, dass wir bei unseren künftigen Bauten auf diesem nen wir großzügige und luxuriöse Dinge Weg fortfahren können. mit geringen Mitteln schaffen, aber um das zu tun, bedarf es genauer Kenntnisse Gibt es ein Bedürfnis der Nutzer nach soldarüber, was in der Bauphase die Kosten chen offenen Gebäuden, die sie ständig nach oben treibt. Um die Kosten niedrig neu auf ihre Bedürfnisse einstellen könzu halten, muss man aus allem, mit dem nen – und müssen? man arbeitet, ein Maximum an Leistung herausholen: aus jeder Konstruktion, je- AL: Ich glaube nicht, dass Menschen so etdem räumlichen System, jedem Materi- was wie ein natürliches Bedürfnis danach al. Unser Ziel ist nicht, billiger zu bauen, haben. Spreche ich aber mit ihnen, so ersondern das Bestmögliche mit einem be- zählen sie mir, dass sie mit den Gebäuden grenzten Budget zu erreichen. Wir stre- sehr glücklich sind. Obgleich sie es zuvor nie gedacht hätten, macht es für sie eiben nicht einfach danach, den Baupreis nen Unterschied, sich darin aufzuhalten. eines Gebäudes zu verringern, sondern Wir sind daher überzeugt, dass es kein mehr für weniger zu erhalten. Fehler ist, diese Art der Architektur mit Ihre eigenen Gebäude, wie die Architektur- offenen Grundrissen zu entwerfen, die ein Maximum an Licht und Freiheiten hochschule in Nantes, sind oft ihrerseits sehr offen für Umbauten und Umnutzun- lässt. Gleichzeitig müssen wir natürlich all die Systeme mit einplanen, die Mengen durch diejenigen, die in ihnen wohnen schen Schutz vor Sonne bieten und ihre oder arbeiten. Beobachten Sie, wie die Privatsphäre schützen. Wenn ein GebäuNutzer diese Räume an ihre Bedürfnisse de jedoch all diese Schichten enthält, die anpassen? jeden Grad der Öffnung von maximaler AL: Wir gehen ziemlich oft dorthin, und es ist erstaunlich zu sehen, dass manch- Transparenz bis totaler Dunkelheit erlauben, funktioniert es perfekt. mal überhaupt nichts in dem Gebäude geschieht und es ein anderes Mal wieder voller Aktivitäten ist, seien es nun Studenten bei der Arbeit oder Veranstaltungen. Wir verstehen nicht genau, warum 101 106 D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 EINE WELT DES LICHTS Um den International VELUX Award 2010 bewarben sich 696 Architekturstudenten aus allen fünf Kontinenten. Ihre Entwürfe reflektieren die Vielfalt des Tageslichts und seiner Wirkung auf die Architektur und unser Alltagsleben, unsere Wahnehmung und unser Wohlbefinden. Auf den folgenden Seiten stellt Daylight & Architecture die Siegerprojekte und lobend erwähnten Entwürfe vor. Ferner erläutern die Studenten ihre Entwurfsgedanken – und die Mitglieder der Jury berichten von ihren Eindrücken und Erwartungen an die kommende Architektengeneration. 107 „Für mich ist Licht Teil jeder Kultur. Soziale Aspekte, aber auch geografische Gegebenheiten, der Breitengrad, die Jahres- oder Tageszeit spielen dabei eine wichtige Rolle. Im Wettbewerb zeigten Teilnehmer aus Japan oder anderen asiatischen Ländern zum Beispiel ganz andere Lichtideen als ihre europäischen Mitbewerber. Aber auch Afrikaner und Amerikaner verfolgten konträre Ansätze, denn das afrikanische Licht ist ein völlig anderes als das amerikanische. […] Beim Klima gibt es ähnliche Gegensätze, die die Architektur beeinflussen: In Japan ist der Sommer sehr heiß und feucht, ganz anders als hier in Europa. Das aber versteht man erst, wenn man selbst dort war.“ „Arbeiten mit Licht kann poetisch oder pragmatisch sein, es berührt viele Aspekte der Architektur und des Städtebaus. Vor allem aber sollte man das Tageslicht auch als architektonischen Parameter verstehen […], den es bei jedem Projekt auf jeder Ebene zu berücksichtigen gilt. […] So abstrakt dies auch klingen mag, haben wir doch unter den Einsendungen viele praktische Lösungen für praktische Probleme gesehen. Selbst bei hypothetischen Lösungsvorschlägen spürte man das Interesse der Studenten an wirklich zentralen Fragen. Ihre Entwürfe geben einen Vorgeschmack auf die Zukunft.“ „In den Entwürfen der Studenten habe ich viele meiner eigenen Überlegungen zur Lebensqualität in den Städten wiedererkannt. Viele Entwürfe handelten von der Aufwertung vernachlässigter Orte in der Stadt, von infrastrukturellen Verbindungen – über und unter dem sowie quer durch das Gefüge der Stadt – und von der Sanierung von Bestandsbauten. Die Teilnehmer griffen bewährte Lösungen wie Fensterläden wieder auf, interpretierten sie jedoch auf einem ganz neuen Niveau mit universellen Anwendungsmöglichkeiten. Das fand ich sehr interessant.“ „Ich war hocherfreut, in vielen der Projekte [...] eine große Sensibilität für städtebauliche Themen zu erkennen. Durch die rapide Urbanisierung und stetig wachsende Besiedlungsdichte in vielen Teilen der Welt gestaltet sich das städtische Umfeld völlig neu. In der Bemühung um ein ansprechendes Stadtbild ist Licht einer der zentralen Aspekte, lebenswerte Räume in großen Metropolen zu schaffen.“ Natalie de Vries Will Bruder Natalie de Vries Momoyo Kajima Preisträger 1. Preis Constellation of light fields 108 2. Preis Condensation of Variational Sunlight Influences 2. Preis Lightscape between gaps D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Ausführliche Dokumentation aller Projekte auf iva.velux.com 1. Preis 2. Preise Constellation of light fields Studenten: Park Young-Gook, Kim Dae Hyun, Choi Jin Kyu, Kim Won Il Hanyang University, Seoul Betreuer: Masanori Tomii Condensation of Variational Sunlight Influences Studenten: Ma Xin, Wang Rui, Yang Meng. Architecture School of Tianjin University. Betreuer: Jianbo Zhao Das Team der Hanyang-Universität entwarf ein immaterielles Dach über einer Außenbühne im MarronnierPark in Seoul. Dieses Dach, gefertigt aus biegsamen und drehbaren ‚Möbiusbändern‘ aus Gewebe, lässt jede Art von Licht in den Bereich darunter strömen. Das veränderliche Tageslicht korreliert mit der großen Vielfalt an Aktivitäten unter dem Dach. Die Studenten erklären: „Licht ist das immaterielle architektonische Element, auf das der Mensch direkt mit seinen Sinnen reagiert. Durch Eliminierung der materiellen Elemente kann Licht Diversität in einem bestimmten Raum schaffen.“ „Das Projekt konzentriert sich auf den urbanen Raum und somit auf den wichtigen Aspekt, Licht zu kontrollieren, anstatt zu verstärken. Es berücksichtigt strukturelle, urbane und soziale Aspekte bei der Frage, wie man einen Raum neu beleben, bewohnbar und nutzbar machen kann. Nach Ansicht der Jury war die Projektidee sehr überzeugend und faszinierend. Insgesamt überzeugte das Projekt durch seine Realisierbarkeit und durch eine Idee, die auch in anderen Klimazonen Anwendung finden kann. Bei dem Projekt steht das Experimentieren im Vordergrund – was anhand einer Reihe von Darstellungen und Fotos sehr gut vermittelt wurde.“ (Aus dem Bericht der Jury) Bei diesem Projekt steht die Interaktion zwischen Sonnenlicht und dem Verhalten der Stadtbewohner im Vordergrund. Es betrifft die Umgestaltung eines Freiluftmarktes in Kashgar im Nordwesten Chinas mit Hilfe eines zweischichtigen Dachs. Jede der Ebenen verfügt über eine Vielzahl rechteckiger Öffnungen, die eine dramatische, immer bewegliche Wechselwirkung zwischen Licht und Schatten erzeugen. „Die Arbeit mit dem städtischen Platz birgt eine soziale Komponente. Erforscht wird, wie Aktivitäten und Verhaltensweisen durch Licht organisiert werden können, um Ordnung und Funktion ins Chaos zu bringen. Die Jury würdigt die Art und Weise, wie die Dachmuster und die Kombination der beiden Ebenen in einem maßstabgetreuen Modell erprobt wurden. Das Projekt ist sehr gut präsentiert und zeigt eine simple Idee, die sich problemlos im städtischen Umfeld realisieren lässt – nicht nur wegen der Wechselwirkung zwischen Sonnenlicht und Schatten, sondern auch aufgrund der natürlichen Belüftung durch das zweilagige Dach.“ (Aus dem Bericht der Jury) Lobende Erwähnungen Lightscape between gaps Student: Joe Wu Technische Universität Delft Betreuerin: Daliana Suryawinata Joe Wus Entwurf basiert auf seiner Kindheitserinnerung in einem Hochhaus von Hongkong. Das Fenster in seinem Zimmer wurde nur selten geöffnet, denn es war durch eine Nachbarmauer versperrt, aber die diagonalen Reflexionen des Sonnenlichts an der gegenüberliegenden Fassade schufen wundervolle Schattenspiele im Zimmer. Das Projekt besteht aus reflektierenden Platten individueller Form, die an jeder Hausfassade befestigt werden können und das Sonnenlicht zu einer bestimmten Tageszeit in ein Fenster auf der gegenüberliegenden Wand reflektieren. „Nach Ansicht der Jury besticht dieses sehr gut präsentierte Projekt durch Praktikabilität, Sensibilität und Schlichtheit. Es enthält eine Reihe von Gedanken über Privatsphäre und Raumgestaltung. Präsentiert wird eine Lösung, die universell in Großstädten auf der ganzen Welt realisierbar ist – vor allem in den engen Straßenschluchten dicht bebauter Stadtgebiete, wo niemals Licht hinfällt. Auch viele andere Projekte im Wettbewerb beschäftigten sich mit diesem Problem, aber keines mit dieser Klarheit.“ (Aus dem Bericht der Jury) Beauty in the UnDaylightable Studenten: Yan Shi, Chung-Kai Yang. Technische Universität Delft Betreuer: Lei Qu Window shutters Studenten: Ieva Maknickaite, Antanas Lizdenis, Lauryanas Vizbaras. Vilnius Gediminas Technical University. Betreuer: Linas Naujokaitis Light in side/Inside Student: Jiayi Zhu. Anhui University of Science & Technology, Beijing Betreuer: Yunfeng Huang Instant impressionism – light as a painter Studenten: Wang Fei, Zheng Kaijing School of Architecture, Tsinghua University, Beijing. Betreuer: Xin Zhang Sub-Terra apertures Student: Stephen Kaye. Parsons New School for Design, New York Betreuer: Philip Gabriel Section of light Studentin: Berte Daan. Eidgenössische Technische Hochschule Zürich Betreuer: Michael Umbricht Fluxional light under urban scaffolds Studenten: Yan Wenlong, Sheng Xiaofei, Fang Erqing, Kang Xiaopei. Tongji University, Shanghai Betreuer: Bin Hu Buoyant Light Studenten: Claire Lubell & Virginia Fernandez. University of Waterloo School of Architecture, Cambridge, Kanada. Betreuerin: Lola Sheppard 109 Wang Fei Beijing DIE ALLTÄGLICHE POESIE DES LICHTS Für uns alle ist unsere Wohnung ein Ort von besonderer Bedeutung. Das hat viele Gründe: die vertraute Umgebung voller Erinnerungen, die Dinge, die wir dort aufbewahren – und das spezielle Licht in unserem Zuhause. Dieses Licht haben die Sieger und Platzierten des International Velux Award 2010 in ihrem Fotoprojekt ‚Das Licht in meinem Raum’ näher erforscht. Von Louise Grønlund Halten wir hin und wieder mitten in unseren eigenen vier Wänden – in den Räumen, die uns jeden Tag umgeben – inne, um das Tageslicht zu sehen? Und nicht nur, um es zu sehen, sondern auch zu spüren? Wie wirkt es auf den Raum? Ist er nord-, süd-, ost- oder westwärts ausgerichtet? Welche Jahres- und welche Tageszeit haben wir? Wie sieht der Himmel draußen aus – ist er bedeckt? Welche Farbe hat das Licht? Wie verändert sich die Raumatmosphäre im Wandel des Lichts? Dies sind nur einige der Fragen, auf die Architekturstudenten aus allen Teilen der Welt bei ganz persönlichen Lichtportraits in ihrer eigenen Wohnung Antworten suchten. Die Idee Mit dem Projekt ‚Das Licht in meinem Raum‘ verbanden sich viele Ideen. Im Kern aber ging es für die Studenten darum, eine sensitive Sicht auf das Licht ihrer Umgebung zu entwickeln. Eine einmal veränderte Wahrnehmung des Lichts prägt die eigene Betrachtungsweise dauerhaft. ‚Das Licht in meinem Raum‘ sollte den Studenten daher ein Gespür für Licht vermitteln, das sie bei ihren Architekturprojekten nutzen können. Ein weiteres Ziel des Projekts war die Beobachtung einer ganz besonderen Lichtqualität: Tageslicht verändert sich stets und bleibt nie gleich. Daher widmete sich das Projekt dem den Übergängen zwischen den verschiedenen Lichtbedingungenim Wechsel der Tages- und Jahreszeiten. Ein zusätzlicher, interessanter Aspekt, der auf den Fotografien sichtbar wird, ist die enorm unterschiedliche Gestaltung von Wohnungen in aller Welt. Dies betrifft nicht nur die unterschiedliche Auslegung von Fenstern und Lichtöffnungen oder die Fensterverkleidung wie Jalousien oder Vorhänge, sondern auch die Möbel und Gegenstände, die wir in der Nähe oder im Lichteinfall der Fenster positionieren. Der Rahmen des Projekts Schauplatz des Projekts war das jeweilige Zuhause eines jeden Studenten. Die Aufgabe bestand darin, dort über zwölf Stunden das Tageslicht im Raum zu beobachten und zu dokumentieren. Jeder der Studenten sollte im Laufe eines Tages mindestens zwölf Fotos aus derselben Position bei ausschließlich natürlicher Beleuchtung machen. Zudem sollten die Studenten eine geeignete Einstellung für ihre Fotos finden und die Größe des abgebildeten Raums im Hinblick auf die Lichtwirkung optimieren. Das Licht im Raum Eingeladen zur Teilnahme an diesem Projekt waren die Gewinner von Preisen und Auszeichnungen beim International VELUX Award 2010. Insgesamt 19 Studenten aus aller Herren Länder lieferten ihren Beitrag zur speziellen Lichtsituation in ihrer Wohnung. Bei der Betrachtung der Fotos faszinieren diejenigen, die einen deutlichen Wandel des Lichts im Laufe eines Tages dokumentieren, nicht minder als die Fotoserien, in welchen das Licht den Raum nur in Nuancen verändert. Einen gravierenden Ein- fluss haben auch die Verschattungseinrichtungen wie etwa Vorhänge, die den Einfall des Lichts regulieren und somit seine vielfältigen Qualitäten sichtbar machen. Grundsätzlich lassen sich die Fotos in zwei Kategorien einteilen. Die erste stellt die Lichtöffnungen und Fenster selbst in den Fokus, die das Licht in den Raum führen, die zweite fängt das durch die Öffnungen einfallende Licht ein. Beide sind von grundsätzlicher Bedeutung und in Ergänzung hervorragend geeignet, um das Phänomen des Lichts zu beschreiben. Louise Grønlund schloss ihr Architekturstudium an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen 2006 ab und übernahm dort für weitere drei Jahre einen Lehrauftrag. Im Sommer 2009 begann sie ihre Doktorarbeit unter dem Titel ‚Lichtraum – Räumliche Potenziale von Fassaden’ an der Architekturschule Århus in Dänemark. Sie arbeitet als Architekturfotografin für das dänische Magazin Arkitekten und im Auftrag diverser dänischer Architekturbüros. Im Jahr 2006 gewann Louise Grønlund den ersten Preis beim International VELUX Award mit dem Projekt ‚Ein Museum der Fotografie’. Für den International VELUX Award 2010 organisierte sie den Studenten-Workshop ‚Porträt des Lichts in La Rochelle’ sowie das Fotoprojekt ‚Das Licht in meinem Raum’. 111 Wang Fei Beijing 01 Virginia Fernandez Cambridge 02 03 04 05 06 08 09 10 07 01 Ieva Maknickaite Vilnius 02 03 06 07 08 11 12 13 16 17 18 04 05 09 10 14 15 19 20 Tinyiu Fung Delft DAYLIGHT & ARCHITECTURE ARCHITEKTURMAGAZIN VON VELUX FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15 Herausgeber Michael K. Rasmussen Website www.velux.de/Architektur VELUX-Redaktionsteam Per Arnold Andersen Christine Bjørnager Lone Feifer Lotte Kragelund Torben Thyregod E-Mail [email protected] Redakteur, Institut für Internationale Architektur-Dokumentation Jakob Schoof Übersetzungen Sprachendienst Dr. Herrlinger Norma Kessler Sean McLaughlin Bildredaktion Torben Eskerod Art Direction & Layout Stockholm Design Lab ® Per Carlsson Lisa Fleck Björn Kusoffsky www.stockholmdesignlab.se Titelbild Gerry Johansson Korrektorat Gisela Faller ISSN 1901-0982 Dieses Werk und seine Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Wiedergabe, auch auszugsweise, bedarf der Zustimmung der VELUX Gruppe. Die Beiträge in Daylight & Architecture geben die Meinung der Autoren wider. Sie entsprechen nicht notwendigerweise den Ansichten der VELUX Gruppe. © 2011 VELUX Gruppe. ® VELUX und das VELUX Logo sind eingetragene Warenzeichen mit Lizenz der VELUX Gruppe. 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