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DAYLIGHT & ARCHITECTURE Architekturmagazin von Velux
Frühjahr 2011 Ausgabe 15 10 Euro
Tageslicht für den Menschen
Frühjahr 2011 Ausgabe 15 Tageslicht für den Menschen
Daylight & Architecture Architekturmagazin von Velux
VELUX
EDITORIAL
TAGESLICHT
FÜR DEN MENSCHEN
Seit über einem Jahrhundert optimieren
Architekten und Lichtplaner den Einsatz
von Tageslicht in Gebäuden. Meist stehen
dabei der visuelle Komfort sowie ästhetische und – vor allem in jüngster Zeit – energetische Überlegungen im Vordergrund. Die
positiven Auswirkungen natürlichen Lichts
auf Gesundheit und Wohlbefinden sind
ebenfalls bekannt, doch nur selten findet
dieses Wissen auch seine Umsetzung in den
Bauvorschriften und in der täglichen Entwurfspraxis.
Gerade im vergangenen Jahrzehnt
haben Forscher jedoch Erkenntnisse über
zuvor unbekannte Vorteile des Sonnenlichts
gewonnen. Das Tageslicht ist ein wesentlicher Faktor für die zirkadianen Rhythmen
des Menschen. Ohne Tageslicht kann das
Zeitgefühl gestört werden, was wiederum
zu Schlafstörungen, Stress und Übergewicht führen kann. All dies betrifft die Arbeit
von Architekten unmittelbar: Der moderne
Mensch verbringt 80 bis 90 Prozent seiner
Zeit in Innenräumen. Viele Forschungsergebnisse belegen, dass die Menschen deshalb
weit weniger Tageslicht erhalten, als ihrer
Gesundheit zuträglich wäre. Leider ist das
Wissen über diese Zusammenhänge unter
Architekten bislang noch sehr gering – und
das hat seine Gründe: Die vorhandenen Informationen sind häufig komplex und wenig allgemeinverständlich, und die Forscher geben
ihre Ergebnisse selten an Architekten weiter. Ferner gibt es keine einfachen Faustformeln über die Abhängigkeiten von Tageslicht
und Gesundheit: Die Wissenschaft hat viele
Erkenntnisse darüber, wie Intensität, Zeit,
Dauer, Spektrum und Verteilung des Lichts
das Verhalten und die Körperfunktionen des
Menschen beeinflussen – aber sie kann nicht
genau beschreiben, welche Tageslichtsituation am besten für das Wohlbefinden ist.
Diese Ausgabe von Daylight & Architecture möchte zu einem besseren wechselseitigen Verständnis von Tageslichtforschung
und Planungspraxis beitragen. Sie enthält
Beiträge von vier führenden Forschern und
Theoretikern über die unterschiedlichen
Aspekte von Tageslicht und stellt diesen die
Arbeit vier international führender Architekten gegenüber.
Russell Foster, einer der weltweit führenden Forscher in diesem Bereich, erklärt
die Auswirkungen von Tageslicht auf die
Gesundheit und die ‚innere Uhr‘ des Menschen. Die amerikanische Umweltpsychologin Judith Heerwagen berichtet über
Nutzerbefragungen in Gebäuden und über
den hohen Stellenwert, den die Menschen
in diesen Studien dem Tageslicht beimessen.
Der britische Architekt Dean Hawkes analysiert, wie große Architekten von Sir Christopher Wren bis Peter Zumthor das Tageslicht
in ihren Gebäuden nutzten. Und schließlich
entwirft Brent Richards eine Vision, wie die
Tageslichtforschung und die Planungspraxis
zusammengeführt werden können, um künftig bessere und der Gesundheit zuträglichere
Gebäude zu entwerfen.
Die vier Architekten in dieser Ausgabe
von Daylight & Architecture stammen aus
vier unterschiedlichen Regionen der Erde:
SANAA aus Japan, Will Bruder aus den USA,
Lacaton & Vassal aus Frankreich und Jarmund/Vigsnæs aus Norwegen. Ihre Gebäude
sind so unterschiedlich wie die Kulturen
und klimatischen Bedingungen der Länder,
in denen sie stehen. Zugleich geht es ihnen
allen jedoch um die Befriedigung universeller menschlicher Bedürfnisse: Die Menschen
wünschen sich Schutz vor oft widrigen Witterungsverhältnissen, wollen jedoch zugleich
in engem Kontakt zur Natur stehen. Sie wollen – auch in einem sehr dicht bebauten urbanen Umfeld – bestmöglich das Tageslicht
nutzen. Und sie wünschen sich natürliches
Licht in ihren Gebäuden, gerade weil es sich
immer verändert und niemals statisch ist.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß bei der
Lektüre.
VELUX
1
FRÜHJAHR 2011
6
14
DIE INNERE UHR UND
DAS TA
T GESLICHT
TAGESLICHT ALS
T
LEBENSELIXIER
„Wir fristen unser Dasein in
dämmrigen Höhlen“, sagt der
Neurophysiologe Russell Foster.
Elektrisches Licht und die Entwicklung der ‚Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft‘ haben uns zunehmend von
den Rhythmen der Natur isoliert.
Welche Folgen das für den Menschen hat, schreibt Foster in seinem
Beitrag für Daylight & Architecture.
Warum bevorzugen Menschen das
T geslicht gegenüber künstlichen
Ta
Lichtquellen, selbst wenn beide
genug Licht zum Sehen spenden? Die
Umweltpsychologin Judith Heerwagen ist dieser Frage auf den Grund
gegangen und begründet die Präferenz aus der Evolution des Menschen
heraus, aber auch anhand aktueller
Forschungsergebnisse.
AUSGABE 15
INHALT
L
VELUX Editorial
Inhalt
Die innere Uhr und das Ta
T geslicht
T geslicht als Lebenselixier
Ta
Licht entwerfen: Wissenschaft und Ästhetik
der Ta
T geslichtplanung
Auf der Suche nach einer Anthropologie des Ta
T geslichts
4 x Architektur & Ta
T geslicht
Will Bruder: „Licht bestimmt unseren Lebensweg“
SANAA: Eine räumliche Einladung in die Gegenwart
Jarmund/Vigsnæs: „Wir müssen die Ökonomie
des Ta
T geslichts wiederentdecken“
Lacaton & Vassal: „Licht bedeutet Freiheit“
Eine Welt des Lichts: International VELUX Award 2011
Die alltägliche Poesie des Lichts
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D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
24
42
54
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LICHT ENTWERFEN:
WISSENSCHAFT UND
ÄSTHETIK DER TAGESLICHTPLANUNG
AUF DER SUCHE
NACH EINER
ANTHROPOLOGIE DES
TAGESLICHTS
4×
ARCHITEKTUR &
TAGESLICHT
WILL BRUDER:
„LICHT BESTIMMT
UNSEREN LEBENSWEG“
„Ohne natürliches Licht ist ein Raum
kein Raum“, hat der amerikanische
Architekt Louis Kahn einmal gesagt.
Sein britischer Kollege Dean Hawkes
untersucht in seinem Beitrag für
Daylight & Architecture, wie Kahn
und andere wegweisende Architekten in ihren Gebäuden mit Tageslicht
gearbeitet haben. Große Architektur, so Hawkes, basiert auf einer optimalen Verknüpfung quantitativer
und qualitativer Aspekte bei der Tageslichtnutzung.
Viele Architekten schätzen die funktionalen und ästhetischen Vorzüge
des Tageslichts, wissen aber nur
wenig über seine physiologische
Wirkung. Wie sich diese Wissensbereiche enger verknüpfen lassen,
untersucht Brent Richards in seinem
Beitrag. Sein Fazit: Beides ist notwendig – der ganzheitlich denkende
Architekt, aber auch interdisziplinäre Planungsteams, in denen sich
Spezialisten unterschiedlicher Fachrichtungen gegenseitig inspirieren.
Was ist Architekten bei der Arbeit mit Tageslicht wichtig? Wie
vermitteln sie zwischen universellen menschlichen Bedürfnissen und
den spezifischen Bedingungen des
Standorts, seines Klima und seiner
Kultur? Vier Architekten geben in
Daylight & Architecture Auskunft:
Will Bruder aus Phoenix, SANAA aus
Tokio, Jarmund/Vigsnæs aus Oslo
und Lacaton & Vassal aus Paris.
24
Der US-amerikanische Architekt
Will Bruder lebt seit über 40 Jahren in Phoenix/Arizona. Die Stadt,
die Wüstenlandschaft ringsum und
deren Licht haben einen bleibenden
Einfluss auf seine Arbeit hinterlassen. Im Gespräch mit Daylight & Architecture beschreibt Will Bruder,
wie er in seinen Gebäuden selbst die
einfachsten Strukturen und Materialien durch Licht ‚veredelt’.
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3
70
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SANAA:
EINE RÄUMLICHE
EINLADUNG IN
DIE GEGENWART
JARMUND/VIGSNÆS:
„WIR MÜSSEN DIE
ÖKONOMIE DES
TAGESLICHTS
WIEDERENTDECKEN“
LACATON&VASSAL:
„LICHT BEDEUTET
FREIHEIT“
DIE ALLTÄGLICHE
POESIE DES LICHTS
Freiheit, Offenheit und Ökonomie
der Mittel sind Schlüsselbegriffe in
der Arbeit von Lacaton & Vassal. Im
Interview erklären die Pariser Architekten, warum sie in ihren Gebäuden so gut wie nie Wände errichten
– und was zeitgenössische Architekten von Afrika lernen können.
Wie wir wohnen, bestimmt unser
Selbst – und wie wir wohnen, wird
wiederum entscheidend vom Tageslicht bestimmt. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, haben
die Sieger und Platzierten des International VELUX Award 2010 das
Tageslicht in ihrer Wohnung jeweils
einen Tag lang fotografisch festgehalten.
Die Gebäude von SANAA sind ein
Produkt der japanischen Kultur und
deren ganz eigener Beziehung zu
Tageslicht, Natur und Technologie.
Per Olaf Fjeld hat die Architektur der
Pritzker-Preisträger für Daylight &
Architecture untersucht. Tageslicht,
so schreibt er, dient bei SANAA nicht
zur Erzeugung visueller Effekte, sondern wird zum Mittel, mit dem sich
Räume formen lassen.
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4
Die Arbeit der Architekten
Jarmund/Vigsnæs ist tief in der norwegischen Kultur und Landschaft
verwurzelt. In einer Umgebung, die
oft von starken Gegensätzen geprägt ist, suchen ihre Gebäude ein
Gleichgewicht zu schaffen zwischen
Schutzfunktion und Offenheit, Undurchsichtigkeit und Transparenz
sowie zwischen unterschiedlichen
Qualitäten von Tageslicht und Ausblicken.
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D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
94
DIE INNERE UHR
UND DAS TAGESLICHT
Nicht nur für unseren Sehsinn
bildet das Auge die Verbindung
zur Außenwelt, sondern auch für
unser Zeitgefühl und für viele
zeitliche Abläufe in unserem
Körper.
In den letzten 150 Jahren haben uns künstliches Licht und veränderte
Arbeitszeiten scheinbar ‚befreit‘ vom täglichen Wechsel zwischen Licht
und Dunkelheit, den uns die Natur auferlegt. Jüngste Forschungen zeigen
jedoch, dass wir für diese Loslösung von der Natur einen hohen Preis in
Form gesundheitlicher und sozialer Probleme zahlen müssen. Die Rückkehr zum natürlichen Rhythmus ist dringend zu empfehlen und wird sich
auch in der Architektur bemerkbar machen.
Von Russell G. Foster
Illustrationen von Ulrika Nilsson Carlsson
Unser Leben wird von der Zeit bestimmt, die uns vorgibt, was wir zu tun
haben. Aber der Digitalwecker, der uns
morgens weckt, oder die Armbanduhr,
laut der wir zu spät zum Abendessen
kommen, sind rein künstliche Hilfsmittel. Unsere Biologie orientiert sich an
einem viel älteren Takt, der vermutlich
schon bei der Entstehung allen Lebens
zu schlagen begann. Nicht nur in unseren Genen verhaftet, sondern in nahezu
allen Lebewesen auf Erden angelegt sind
die Grundlagen für eine biologische Uhr,
die eine Zeitspanne von etwa 24 Stunden
umfasst. Biologische oder „zirkadiane“
Uhren (circa = über, dies = Tag) beeinflussen unsere Schlafmuster und Wachphasen, unsere Laune und Körperkraft,
unseren Blutdruck und vieles mehr. Unter normalen Umständen erfahren wir
ein 24-Stunden-Muster von Licht und
Dunkelheit, und unsere zirkadiane Uhr
nutzt entsprechende Signale, um die biologische Zeit an Tag und Nacht anzupassen. Sie antizipiert die unterschiedlichen
Erfordernisse des 24-Stunden-Tags und
stellt Physiologie und Verhalten im Vorhinein auf die jeweiligen Bedingungen ein.
Vor dem Zubettgehen sinkt die Körpertemperatur, der Blutdruck nimmt ab, die
Wahrnehmungsfähigkeit lässt nach, und
die Müdigkeit nimmt zu. Bei Anbruch der
Morgendämmerung hingegen wird der
Stoffwechsel in Erwartung gesteigerter
Aktivität hochgefahren.
Nur wenige von uns folgen dieser inneren Uhr, verleitet durch die vermeintliche
Freiheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit zu
schlafen, zu arbeiten, zu essen, zu trinken
oder zu reisen. Diese Freiheit ist jedoch
eine Illusion, denn in Wirklichkeit sind
wir nicht in der Lage, unabhängig von
der biologischen Ordnung zu handeln,
die uns die zirkadiane Uhr auferlegt. Wir
können nicht 24 Stunden lang gleichbleibende Leistung bringen. Das Leben hat
sich auf einem Planeten entwickelt, der
innerhalb von 24 Stunden einen grundlegenden Wechsel der Lichtverhältnisse
erfährt. Unsere Biologie sieht diese Veränderungen voraus und muss dem natürlichen Muster von Licht und Dunkelheit
ausgesetzt sein, um richtig zu funktionieren. Dennoch verweigern wir uns der
natürlichen Umwelt, machen mit Hilfe
elektrischen Lichts die Nacht zum Tag
und verschanzen uns in Häusern, die uns
vom natürlichen Licht abschirmen. Dieser Artikel verdeutlicht die wichtigsten
Konsequenzen, die unsere zunehmende
Abwendung vom Sonnenlicht mit sich
bringt.
Der innere Tag
An der Hirnbasis befindet sich der vordere Hypothalamus, ein Bündel von
etwa 50.000 Neuronen, den sogenannten suprachiasmatischen Nuklei oder
SCN. Wird dieser Bereich infolge eines
Schlaganfalls oder Tumors zerstört, geht
die 24-Stunden-Rhythmik verloren – die
physiologischen Funktionen verteilen
sich willkürlich über den Tag. Die Erkenntnis, dass einzelne, von allen ande-
ren Zellen isolierte SCN-Neuronen ihre
elektrische Aktivität an einem Rhythmus von etwa 24 Stunden ausrichten,
beweist, dass die grundlegenden Mechanismen der inneren Uhr Teil eines
subzellulären Molekularmechanismus
sein müssen. Heute werden etwa 14 bis
20 Gene und ihre Proteinprodukte mit
der Erzeugung zirkadianer Rhythmen
in Verbindung gebracht. Kernstück der
molekularen Uhr ist eine negative Rückkopplungsschleife mit folgendem Ablauf:
Die Uhr-Gene werden transkribiert, und
die Boten-RNA (mRNA) bewegt sich zum
Zytoplasma der Zelle, wo sie in Proteine
umgewandelt werden. Die Proteine interagieren, formen Komplexe und wandern
dann vom Zytoplasma in den Zellkern,
um die Transkription ihrer eigenen Gene
zu verhindern. Die hemmenden Uhr-Proteinkomplexe werden abgebaut und die
Uhr-Kerngene wieder freigesetzt, um erneut mRNA und somit frisches Protein zu
produzieren. Diese negative Rückkopplungsschleife erzeugt einen etwa 24-stündigen Rhythmus von Proteinproduktion
und -abbau und kodiert auf diese Weise
den biologischen Tag.
Ursprünglich ging man davon aus, dass
SCN-Neuronen kollektiv einen 24-Stunden-Rhythmus für Physiologie und Verhalten steuern oder festlegen. Die Entdeckung aber, dass auch isolierte Zellen aus
fast allen Körperorganen Gene und Proteine nach einem zirkadianen Zeitmuster
erzeugen, führte zu einem völlig neuen
Verständnis. Heute wissen wir, dass das
7
Taktgeber für das Leben:
Spezielle Fotorezeptoren in den
Zellen des Sehnervs synchronisieren unsere innere Uhr mit den
Hell-Dunkel-Zyklen der Umgebung – und so mit der jeweiligen
Ortszeit.
SCN-Neuron wie ein Schrittmacher
funktioniert und die Aktivität sämtlicher
Uhr-Zellen wie ein Orchesterdirigent
zeitlich koordiniert. Ohne SCN driften
die einzelnen Uhr-Zellen der Organsysteme auseinander, und die geordneten
zirkadianen Rhythmen kollabieren – ein
als interne Desynchronisation bezeichneter Zustand. Interne Desynchronisation ist der Hauptgrund, warum wir uns
bei einem Jetlag so schlecht fühlen: Alle
Organsysteme wie Gehirn, Leber, Darm,
Muskeln usw. arbeiten leicht zeitversetzt.
Erst nach der Neujustierung unserer inneren Uhr können wir wieder normal
funktionieren.
Innere Uhren sind verschieden –
eine Frage der Gene?
Die innere Uhr tickt nicht bei jedem gleich.
Wer morgens munter ist und abends früh
schlafen geht, ist eine „Lerche“, Morgenmuffel und nachtaktive Menschen hingegen sind „Eulen“. Diese Bezeichnungen
definieren unsere real bevorzugte Tageszeit – die Zeit, wann wir am liebsten
schlafen bzw. am besten arbeiten.
Teilweise wird die bevorzugte Tageszeit durch unsere Uhr-Gene bestimmt.
Jüngst haben interessante Studien
gezeigt, dass kleine Veränderungen in
diesen Genen ursächlich sind für die
schnellen Uhren (kürzer als 24 Stunden)
von Lerchen bzw. die langsamen Uhren
(länger als 24 Stunden) von Eulen. Aber
nicht nur unsere Gene regulieren unsere bevorzugte Tageszeit, die Schlafzeiten
verändern sich auch mit zunehmendem
Alter. In der Pubertät verlagern sich
Schlafzeit und Wachphase immer mehr
nach hinten. Die Tendenz, immer später aufzuwachen, zeigt sich bei Frauen
bis zum Alter von 19,5, bei Männern bis
21 Jahren. Dann findet eine Umkehr zu
früheren Schlaf- und Wachzeiten statt.
Im Alter von 55 bis 60 stehen wir so früh
auf wie ein zehnjähriges Kind.
Diese und ähnliche Ergebnisse belegen, dass Jugendlichen das frühe Aufstehen tatsächlich Probleme bereitet. Bei
Teenagern zeigt sich sowohl verzögerter
Schlaf als auch enormer Schlafmangel,
da sie spät zu Bett gehen, aber wegen der
Schule dennoch früh aufstehen müssen.
8
Diese realen biologischen Auswirkungen werden von der Zeitstruktur in den
Schulen weitgehend ignoriert. Spezielle
Untersuchungen belegen eine erhöhte
Aufmerksamkeit und gesteigerte mentale Leistungsfähigkeit der Schüler am
Vormittag bei späterem Schulbeginn. Ironischerweise tendieren Jugendliche zu
einer Leistungssteigerung im Laufe des
Tages, während die Leistung ihrer älteren
Lehrer im gleichen Zeitraum nachlässt.
Die Mechanismen für die altersabhängige Verlagerung der bevorzugten Tageszeit sind noch kaum geklärt, hängen aber
vermutlich mit den ausgeprägten Veränderungen in unseren Steroidhormonen
(z. B. Testosteron, Östrogen, Progesteron) und deren rapidem Anstieg in der
Pubertät bzw. allmählichem Rückgang
im Alter zusammen.
Lichtuhren und
Konzentrationsfähigkeit
Eine Uhr ist nur dann eine Uhr, wenn sie
auf die Ortszeit eingestellt werden kann.
Die molekularen Uhren in den SCN-Neuronen werden normalerweise durch die
tägliche Wahrnehmung des Lichts bei
Morgen- und Abenddämmerung über
das Auge reguliert bzw. in Bewegung gesetzt. Wird die Uhr keinem stabilen LichtDunkel-Zyklus ausgesetzt, führt dies zu
verschobenen oder „freischwingenden“
zirkadianen Rhythmen oder Zyklusunterbrechungen. In industrialisierten
Gesellschaften ist die Loslösung vom
natürlichen Tag durchaus üblich – der
Sonderfall der Schichtarbeiter wird später in diesem Beitrag noch diskutiert. Für
die Isolation von den morgendlichen und
abendlichen Lichtsignalen gibt es zahlreiche Beispiele. So herrscht auf Intensivstationen für Kinder und Erwachsene
häufig eine schwache und konstante Beleuchtung, die zwangsläufig zur Verschiebung und Desynchronisation der inneren
Uhr führt. Resultat ist ein geschwächter
Gesundheitszustand des Patienten (siehe das Folgekapitel „Uhrstörung“). Licht
bewirkt aber noch mehr als die zeitliche
Regulierung zirkadianer Rhythmen. Es
wirkt sich auch unmittelbar auf unsere
Wahrnehmungsfähigkeit und Leistung
aus. Hirnbilder nach Lichteinfluss zeigen
„Untersuchungen belegen eine
erhöhte Aufmerksamkeit und
gesteigerte mentale Leistungsfähigkeit der Schüler am Vormittag
bei späterem Schulbeginn.
Ironischerweise tendieren Jugendliche zu einer Leistungssteigerung
im Laufe des Tages, während die
Leistung ihrer älteren Lehrer im
gleichen Zeitraum nachlässt.“
eine erhöhte Aktivität vieler Hirnbereiche, die Aufmerksamkeit, Wahrnehmung
und Gedächtnis (Thalamus, Hippocampus, Hirnstamm) sowie die Stimmungslage (Amygdala) steuern. Zudem fördert
Licht erwiesenermaßen die Konzentration und die kognitive Leistungsfähigkeit bei gleichzeitiger Verringerung der
Schläfrigkeit. Unzureichender Lichteinfall in ein Gebäude führt also nicht
nur zu Schlafstörungen und verlagerten
Tagesrhythmen, sondern beeinträchtigt
auch Leistung und Aufmerksamkeit. Mit
diesem Thema wollen wir uns gleich beschäftigen.
Die Forschung, auf welche Weise das
Licht zirkadiane Rhythmen und Aufmerksamkeit steuert, hat in den letzten
Jahren durch die Entdeckung eines bislang unbekannten Fotorezeptorsystems
im Auge große Fortschritte erzielt. Dieser
neu entdeckte Fotorezeptor befindet sich
nicht im gleichen Teil des Auges wie die
Stäbchen (Nachtsicht) und Zapfen (Tagsicht), die uns die Welt bildlich darstellen,
sondern in den Ganglien des Sehnervs.
Üblicherweise stellen Ganglien eine
funktionale Verbindung zwischen Auge
und Gehirn her, einige spezielle Ganglien
(1–3 %) aber sind selbst lichtempfindlich
und projizieren auf Hirnbereiche, die
für die Steuerung von Tagesrhythmik,
Schlaf, Aufmerksamkeit, Gedächtnis
und Gemütslage verantwortlich sind.
Diese fotosensitiven Netzhautganglien
(pRGCs)enthalteneinlichtempfindliches
Pigment namens Opn4, das insbesondere
auf den Blaubereich des Spektrums mit
einer maximalen Empfindlichkeit von
480 nm reagiert. Dies entspricht in etwa
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Selbst die Farbe des Himmels hat
ihre Spuren in unseren Genen
hinterlassen: Auf blaues Licht
reagieren die Fotorezeptoren
unserer ‚inneren Uhr’ am empfindlichsten.
dem ‚Blau’ eines klaren blauen Himmels.
Dieses Lichtwahrnehmungssystem ist
anatomisch und funktional unabhängig
vom visuellen System und entwickelte
sich vermutlich noch vor dem Sehsinn,
um Licht wahrzunehmen und dadurch
tägliche Rhythmen auszulösen. Interessanterweise können die pRGCs auch
noch bei blinden Tieren oder Menschen
mit komplett zerstörten Stäbchen und
Zapfen Licht wahrnehmen und somit die
innere Uhr und die Wachsamkeit beeinflussen. Dies hat wichtige Folgen für die
Augenheilkunde, in der das neu entdeckte
Fotorezeptorsystem und dessen Einfluss
auf die menschliche Physiologie bislang
weitgehend unbekannt waren.
Die Farbempfindlichkeit des Opn4Pigments legt die Vermutung nahe, dass
blaues Licht die effektivste Wellenlänge
(Farbe) zur Verschiebung der Tagesrhythmik und Wachsamkeit ist. Alle
bisher durchgeführten Studien haben
dies bestätigt. Durch blaues Licht in der
Nacht lassen sich am effektivsten die innere Uhr verstellen, Schläfrigkeit reduzieren, Reaktionszeiten verbessern und
die Hirnbereiche aktivieren, welche die
Schlaf- und Wachphasen regulieren. Neben dem Farbspektrum wirken sich auch
Zeitpunkt, Dauer, Muster und Verlauf der
Lichteinwirkung auf die Tagesrhythmik
und Aufmerksamkeit aus. Der Zeitpunkt
der Lichteinwirkung ist besonders wichtig,dennabhängigvonderExpositionszeit
wird die innere Uhr entweder vorgestellt
(früher ins Bett gehen) oder zurückgestellt (später ins Bett gehen). Unter
natürlichen Umständen verursacht der
Lichteinfluss in der Abenddämmerung
eine Verzögerung der Uhr, Licht in der
Morgendämmerung hingegen stellt die
Uhr vor. Dieser Verschiebungseffekt des
Lichts verursacht die Abhängigkeit der
SCN-Neuronen vom Tageslicht und ist
von grundsätzlicher Bedeutung, um die
Auswirkung von Jetlag, Schichtarbeit
(siehe unten) sowie von Tageslicht in Gebäuden auf den Schlaf-Wach-Rhythmus
zu verstehen.
Da die pRGCs weniger lichtempfindlich als Stäbchen und Zapfen reagieren,
erkennen sie keine kurze Lichteinwirkung, die der Sehsinn sofort erfassen
würde. Über längere Dauer aber kann
auch schwaches Licht deutliche Wirkung zeigen. Selbst relativ gedämpftes Licht von Nachttischlampen oder
Computerbildschirmen (weniger als
100 Lux) beeinflusst unsere innere Uhr
und Wachsamkeit nachhaltig und kann
Schlafstörungen verschlimmern. In ihrer
Gesamtheit sind die Auswirkungen des
Lichts – spektrale Zusammensetzung,
Einflussdauer und Helligkeit – von klinischer und berufsbezogener Bedeutung:
Sie dienen nicht nur zur Behandlung von
Schlafstörungen und zur Bekämpfung
von Müdigkeit, sondern spielen auch für
die Architektur von Krankenhäusern,
Schulen, Büros, Geschäften und Wohnhäusern eine wichtige Rolle.
Uhrstörungen: Schichtarbeit
und die ‚24/7-Gesellschaft‘
Mit Erfindung des elektrischen Lichts
im 19. Jahrhundert und der einhergehenden Veränderung der Arbeitszeiten
wurden wir unabhängig vom natürlichen
24-Stunden-Rhythmus mit Licht und
Dunkelheit. In der Konsequenz aber
führte dies zur Störung der zirkadianen
Uhr und des Schlafsystems. Über die
Auswirkungen wurde viel geschrieben,
grundsätzlich dürften sie bekannt sein
(Tabelle 1). Ein gestörter Schlaf- und Tagesrhythmus resultiert in Leistungsdefiziten mit erhöhten Fehlhandlungen, herabgesetztem Konzentrationsvermögen,
schlechter Merkfähigkeit, reduzierten
mentalen und physischen Reaktionszeiten und geringer Motivation. Schlafentzug und -störungen werden zudem mit
einer Reihe von Stoffwechselkrankheiten
in Verbindung gebracht. Menschen mit
Schlafstörungen brauchen zum Beispiel
wegen der verringerten Insulinproduktion so lange zur Regulierung der Blutglukosewerte wie im Frühstadium einer Diabetes – Anomalien, die durch normalen
Schlaf wieder behoben werden können.
Forschungsergebnisse legen nahe, dass
langfristige Störungen von Schlaf- und
Tagesrhythmus zu chronischen Krankheiten wie Diabetes, Adipositas und Bluthochdruck beitragen können. Fettleibigkeit geht zudem häufig mit Schlafapnoe
und entsprechender Schlafbeeinträch-
tigung einher. Unter diesen Umständen
kommt es häufig zu einer gefährlichen
Wechselwirkung zwischen Fettsucht und
Schlafstörungen. Schlafdefizite und zirkadiane Rhythmusstörungen treten vor
allem bei Nachtarbeitern auf. Mehr als
20 % der Berufstätigen arbeiten zumindest teilweise außerhalb der Zeit von 7:00
bis 19:00 Uhr.
„Wegen des ständigen und problematischen Wechsels zwischen Licht und Dunkelheit bzw. Arbeits- und Ruhephase können Schichtarbeiter unter Symptomen
wie bei einem Jetlag leiden“, erläutert
Josephine Arendt von der University of
Surrey. „Während Reisende sich normalerweise auf die neue Zeitzone einstellen,
sind Schichtarbeiter ständig außer Takt
mit der Ortszeit.“ Sogar nach 20 Jahren
Nachtarbeit sind viele Betroffene nicht in
der Lage, ihre zirkadianen Rhythmen den
Anforderungen der Nachtarbeit anzupassen. Kein noch so komplexes Schichtsystem schafft es, die hiermit verbundenen
zirkadianen Probleme restlos zu beheben. Stoffwechsel, Konzentration und
Leistung laufen immer noch tagsüber
auf Hochtouren, wenn der Nachtarbeiter schlafen möchte, und fallen nachts
zur Arbeitszeit ab. Falsch ausgerichtete
Tabelle 1
Folgen von zirkadianen Rhythmusstörungen und Schlafmangel
Schläfrigkeit/Sekundenschlaf
abrupte Stimmungsschwankungen
erhöhte Reizbarkeit
Angstzustände und Depressionen
Gewichtszunahme
verminderte Sozialkompetenz und
eingeschränkter Humor
verminderter Antrieb
verringerte kognitive Leistung
reduzierte Konzentrations- und Merkfähigkeit
reduziertes Kommunikations- und
Entscheidungsvermögen
erhöhte Risikobereitschaft
eingeschränkte Kreativität und Produktivität
eingeschränkte Immunität gegen Krankheiten
Kältegefühl
reduzierte Fähigkeit zur Bewältigung komplexer
Aufgaben (Multitasking)
erhöhte Anfälligkeit für Drogenmissbrauch
(u.a. Alkohol, Koffein, Nikotin)
11
Die Evolution des Menschen
fand über weite Strecken im
hellen Sonnenlicht statt.
Das hat sich seit Beginn des
Industriezeitalters geändert –
mit Folgen für unsere Gesundheit und Psyche, die erst heute
allmählich bekannt werden.
Physiologie und Schlafmangel dürften
mitursächlich sein für das erhöhte HerzKreislauf-Versagen, das achtfach höhere
Auftreten von Magengeschwüren und das
höhere Krebsrisiko bei Nachtarbeitern,
von anderen Problemen wie erhöhtem
Unfallrisiko, chronischer Müdigkeit,
übermäßiger Schläfrigkeit, Schlafstörungen, Depressionen und vermehrtem
Drogenkonsum ganz zu schweigen.
Warum also stellen Schichtarbeiter
ihre Uhr nicht um? Schließlich erholen
wir uns auch auf Reisen durch verschiedene Zeitzonen vom Jetlag und passen
uns der Ortszeit an. Offensichtlich sind
die pRGCs, die das zirkadiane System
auslösen, relativ lichtunempfindlich. Die
innere Uhr reagiert stets eher auf helles
natürliches Sonnenlicht als auf mattes
Kunstlicht wie zum Beispiel am Arbeitsplatz. Man mag kaum glauben, dass das
natürliche Licht kurz nach der Morgendämmerung fast fünfzigmal heller ist als
die übliche Bürobeleuchtung (300–500
Lux); nachmittags ist das natürliche Licht
– selbst in Nordeuropa – oftmals 500- bis
1000-fach heller. Die Einwirkung des
starken natürlichen Lichts auf dem Weg
zu und von der Arbeit, kombiniert mit
dem geringen Lichteinfall am Arbeitsplatz, stellt den Nachtarbeiter auf die
Ortszeit ein, sodass seine biologische und
seine soziale Uhr dauerhaft auseinanderdriften. Erst in Ermangelung natürlichen
Lichts reagiert die Uhr letztendlich auf
künstliches Licht. Theoretisch könnte
diese Erkenntnis bei der Entwicklung
praktischer Gegenmaßnahmen für die
Probleme bei der Nachtarbeit hilfreich
sein. Die meisten der Betroffenen aber
wollen sich gar nicht einem umgekehrten
Schlaf-Wach-Rhythmus anpassen, weil
sie ihre Freizeit mit Familie und Freunden
verbringen möchten. Denkbar wäre, die
Arbeitskräfte auf Basis ihrer bevorzugten
Tageszeit auszuwählen: „Eulen“ können
sich mit zunehmender Tageszeit besser
konzentrieren und eignen sich deshalb
für die Nachtschicht, während „Lerchen“
eher die Frühschichten übernehmen sollten.
Immer mehr Forschungsergebnisse belegen die komplexe und wichtige
Wechselwirkung zwischen zirkadianen
12
Rhythmen, Schlafstörungen und dem
Immunsystem. Ratten mit Schlafentzug
sterben leicht an Blutvergiftung, und die
Aktivität der menschlichen Killerzellen
(Abwehrzellen) verringert sich nach
einer schlaflosen Nacht um bis zu 28 %.
Schlafstörungen wirken sich auch auf viele andere Aspekte des Immunsystems aus
wie die Zirkulation von Immunkomplexen, die Reaktion von Antikörpern und
die Aufnahme von Antigenen.
Cortisol stellt eine wichtige Verbindung zwischen Immunsystem, Schlaf
und psychologischem Stress her. Schlafstörungen und anhaltender psychologischer Stress erhöhen den Cortisolgehalt
im Blut. Nach nur einer schlaflosen Nacht
steigt der Cortisolgehalt am folgenden
Abend um fast 50 %. Große Cortisolmengen beeinträchtigen das Immunsystem,
sodass übermüdete Menschen anfälliger
für Infektionen sind. Nachtarbeiter sind
einem erhöhten Krebsrisiko ausgesetzt,
über dessen Ursache viel spekuliert
wurde. Ein geschwächtes Immunsystem, ausgelöst durch den beträchtlichen
physiologischen Stress und Schlafmangel
bei der Nachtarbeit, ist eine naheliegende
Erklärung für dieses Phänomen.
Fazit und Ausblick
Dieser Artikel befasst sich mit der Biologie
der inneren Uhr sowie mit einigen generellen Problemen, denen wir uns stellen
müssen, wenn wir die wichtige Rolle von
Schlaf und zirkadianem Rhythmus in unserem Leben ignorieren. Es besteht kein
Zweifel, dass die Anforderungen einer
24-Stunden-Gesellschaft zu Schlafmangel, Stimmungsschwankungen, verminderter kognitiver Leistung, reduzierter
Kommunikationsfähigkeit und einem
höheren Krankheitsrisiko führen. Zum
Ausgleich greifen viele tagsüber zu Stimulanzien und nachts zu Beruhigungsmitteln, um die normalerweise vom zirkadianen System auferlegte Ordnung zu
ersetzen. Über das Extrembeispiel der
Schichtarbeit wurde viel geschrieben,
dennoch sollten wir nicht die Tatsache
vergessen, dass auch viele Kinder in
der Schule, Mediziner im Krankenhaus,
Facharbeiter in der Fabrik und Angestellte im Büro vom natürlichen Licht
isoliert sind. Dies erhöht nicht nur die
Wahrscheinlichkeit von Rhythmus- und
Schlafstörungen, sondern beeinträchtigt
auch Wahrnehmung, Stimmungslage
und Wohlbefinden. Unsere Spezies hat
sich unter hellem Licht entwickelt. Selbst
an einem bewölkten Tag erreicht das natürliche Licht eine Stärke von etwa 10&000
Lux, an sonnigen Tagen sogar 100&000
Lux. Trotzdem leben wir in Häusern und
arbeiten in Büros, Fabriken, Schulen und
Krankenhäusern, in denen das fehlende
Tageslicht durch künstliche Beleuchtung
ersetzt wird, meist von etwa 200 Lux und
nur selten mehr als 400 bis 500 Lux. Wir
fristen unser Dasein in dämmrigen Höhlen. Modernes Architekturdesign lässt
Licht in unser Leben fluten und birgt das
Potenzial, die Menschheit von der Düsternis zu befreien und die Biologie unserer
Körper durch das natürliche Muster von
Licht und Dunkelheit zu optimieren.
Russell Foster ist Professor für zirkadiane Neurowissenschaften und Fachbereichsleiter für Augenheilkunde an der Universität Oxford. In seinen
Forschungen befasst er sich mit elementarer und
angewandter Tagesrhythmus- und FotorezeptorBiologie. Für seine Entdeckung von stäbchen- und
zapfenfremden Fotorezeptoren im Auge erhielt er
den Honma-Preis (Japan), den Cogan Award (USA)
und die Zoological Society Scientific & EdrideGreen Medals (GB). Er ist Mitautor der bekannten
wissenschaftlichen Abhandlung ‚Rhythms of Life‘
über zirkadiane Rhythmik. 2008 wurde der zum
Fellow of the Royal Society, der wichtigsten britischen Wissenschaftsvereinigung, gewählt.
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D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
TAGESLICHT ALS
LEBENSELIXIER
Blickverbindungen nach draußen
sind ein wesentliches Qualitätsmerkmal für architektonische
Räume – nicht nur in Bürogebäuden.
Zahlreiche Untersuchungen zeigen: Menschen ziehen Räume, die mit
Tageslicht beleuchtet werden, jenen Räumen vor, in denen es kein natürliches Licht gibt. Warum ist das so? Warum sollten Menschen eine
Lichtquelle gegenüber einer anderen bevorzugen, wenn beide doch
genug Licht zum Sehen spenden? Zur Beantwortung dieser Frage muss
man die über Jahrtausende entwickelte Beziehung zwischen Mensch
und Tageslicht verstehen.
Von Judith Heerwagen
Fotos von Gerry Johansson
Versetzen Sie sich für einen Moment
und Witterungsverhältnissen gab. Unsere
derungen des Lichts und deren Bezug
zurück in die vorgeschichtliche Zeit. Sie
Körperfunktionen – insbesondere unser
zu Wetteränderungen erkannte, war
und Ihre kleine Gruppe von Jägern und
Wach-Schlaf-Rhythmus – wurden ebensehr anpassungsfähig (Orians und
Sammlern wachen morgens mit dem
so wie die emotionale Reaktion auf Licht
Heerwagen, 1992).
ersten Sonnenstrahl auf. Sie machen
und Dunkelheit bestimmt von dem Hellsich auf, um bei hellem Tageslicht die
Dunkel-Rhythmus des Tageslichts. Un- • Faktoren Fernsicht und Geborgenheit.
essbaren Früchte und Beeren erkennen
sere heutige starke Präferenz für das TaHelligkeit in der Entfernung erweiund Tiere ausfindig machen zu können. geslicht in Gebäuden lässt erahnen, dass
tert das Blickfeld; Schatten dagegen
Um die Mittagszeit brennt die Sonne, die Evolution Spuren hinterlassen hat, die
vermitteln ein Gefühl der Geboruns wohl immer noch beeinflussen.
genheit (Appleton, 1975; Hildebrand,
und Sie suchen sich einen schattigen
Platz unter Bäumen. Während Sie sich
1999). Wenn es in der Entfernung hell
Auch wenn alle unsere Sinne in ihrem
unterhalten, sehen Sie, wie sich am
Zusammenspiel wichtig für das Überist, lässt sich vieles besser einschätHorizont schwere Gewitterwolken auf- leben waren, so ist das Sehen doch die
zen und planen, weil wichtige Dinge
bauen. Dunkle Wolken schieben sich vor
primäre Art und Weise, wie wir Informarechtzeitig vor der Durchführung eidie Sonne, aber lassen in einiger Entfer- tionen sammeln. Daher muss das Licht
ner Aktion erkannt werden. Aussichtsnung einzelne Strahlen durchbrechen. eine sehr große Rolle bei der Informatipunkte sind nützlich, wenn sie einen
Es regnet stark, aber nur kurz, und
onsverarbeitung und für das Überleben
ungehinderten Blick auf den Horizont
währenddessen suchen Sie Schutz un- gespielt haben. In den Lebensräumen unbieten und es hell ist (‚weiter Himmel‘).
ter einem vorspringenden Fels. Als Sie
serer Urahnen kamen dem Licht mehrere
Ein Gefühl von Geborgenheit entsteht
sich auf den Rückweg machen, bricht
Schlüsselfunktionen zu, die heute wichdurch den Schatten unter einem Laubdie Wolkendecke auf, ein Regenbogen
tig für die Gestaltung und den Betrieb
dach, überhängenden Felsen oder ansteht leuchtend am Himmel und signa- unserer gebauten Umwelt sind. Hierzu
deren natürlichen Formationen. Nach
gehören:
Mottram (2002) kann der Blick ins
lisiert das Ende des Gewitters. Mit dem
Einbruch der Dunkelheit legt sich ein
Unendliche (also üblicherweise zum
Grau über die Landschaft, das alle Ein- • Faktor Tageszeit. Das Tageslicht verHorizont) wohltuend wirken. Dies gilt
ändert sich stark im Laufe eines Tages
selbst dann noch, wenn der Betrachter
zelheiten verschwimmen lässt. Bald ist
und bietet damit einen Hinweis auf die
statt des realen Horizonts lediglich ein
es dunkel, und jeder rückt näher an die
Wärme und das Licht des Feuers herentsprechende Tageszeit. Dies war in
Abbild desselben sieht.
an, bevor alle im gedämpften Licht des
der gesamten Menschheitsgeschichte
ein entscheidender Überlebensfaktor. • Faktoren Sicherheit, Wärme und BeMondes schlafen gehen.
An einem sicheren Ort zu sein, wenn
haglichkeit. Die Sonne gilt zwar als
die Sonne untergeht, war überlebensTageslicht im Kontext
die Hauptquelle des Lichts in der
wichtig für unsere Vorfahren, und es
Natur, doch diente auch das Feuer als
der Evolution
ist auch heute noch wichtig für unser
eine Quelle für Licht sowie für phyBevor der Mensch Häuser baute, lebte er
in der freien Natur. Die täglichen Aktisische und psychische Behaglichkeit.
Wohlbefinden.
vitäten waren abhängig davon, ob es TaNach dem Anthropologen und Phygeslicht gab oder nicht, und davon, wie gut • Faktor Wetter. Das Licht verändert
siker Melvin Konner (1982) hatte das
das Licht war, das Hinweise zu Tageszeit
sich je nach Wetterlage. Wer die VeränLagerfeuer wichtige kognitive und
15
Lebewesen zieht es zur Natur
hin. Die Akzeptanz von Gebäuden hängt daher maßgeblich
davon ab, inwieweit sie Kontakt
zur Umwelt ermöglichen.
soziale Funktionen bei der Entwicklung menschlicher Gesellschaften.
Es verlängerte den Tag, erlaubte den
Menschen, ihre Aufmerksamkeit von
der täglichen harten Arbeit, Essen zu
finden und Übergriffe zu verhindern,
abzuwenden und sich der Zukunftsplanung sowie dem Festigen sozialer
Beziehungen durch das Erzählen von
Geschichten zuzuwenden.
•
Hilfe für periphere Informationsverarbeitung. Licht vermittelt auch Informationen über das, was jenseits des
unmittelbaren Aufenthaltsbereiches
geschieht. Es leuchtet die Umgebung
aus, die beständig Daten für unsere
periphere Informationsverarbeitung
bereithält. Die Bedeutung des Umgebungslichts wird deutlich, wenn man
bedenkt, wie unwohl sich viele Menschen in hellen Räumen mit dunklen
Randbereichen fühlen. Lichtforscher
nehmen an, dass die negative Reaktion auf dieses Halbdunkel in Zusammenhang stehen könnte mit dessen
natürlicher Funktion als ein frühes
Warnsignal, dass sich die Sichtverhältnisse verschlechtern (Shepherd
u. a., 1989).
•
Synchronisation von Biorhythmus und
sozialem Rhythmus. Für uns als tagaktive Lebewesen spielt Licht eine
entscheidende Rolle im Wach-SchlafRhythmus und synchronisiert auch
die sozialen Aktivitäten. Obwohl wir
unseren Aktivitätsrhythmus durch
die Verwendung von elektrischem
Licht verändern können, zeigen Forschungsergebnisse, dass Nachtarbeit
problematisch ist und häufig zu Schläfrigkeit, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen und verstärkten kognitiven Schwierigkeiten bei der Arbeit
führt (Golden u. a., 2005). Einige Einrichtungen, in denen nachts gearbeitet
wird, verwenden helles Licht, um den
Biorhythmus zu verändern und die
Aufmerksamkeit zu erhöhen. Es ist
auch nachgewiesen, dass Menschen
mit einer Winterdepression sich lieber in hell erleuchteten Räumen aufhalten (Heerwagen, 1990).
Zusammenfassend lässt sich sagen: Licht
es, wenn Sonnenlicht in einen Raum fällt.
vermittelt Informationen zur Orientie- Als die Gebäudenutzer in der oben gerung, Sicherheit und Überwachung, zur
nannten Studie jedoch gefragt wurden, ob
Interpretation sozialer Signale, zum
das Licht für ihre Arbeit ausreiche, erklärErkennen von Ressourcen und für die
ten nur 20 %, dass das Tageslicht allein
Aufmerksamkeit gegenüber Gefahren. für ihre Arbeit ausreichend sei. Die große
All diese Aspekte des Lichts waren evo- Mehrheit sagte, sie verwendeten das eleklutionär bedeutsam; sie halfen unseren
trische Deckenlicht „üblicherweise“ oder
Vorfahren bei der Entscheidung, wie sie „immer“ zusätzlich zum Tageslicht.
sich durch ihre Umwelt bewegen sollten,
Sogar diejenigen, die sagten, die Menwas sie essen sollten und wie sie Gefah- ge an Tageslicht an ihrem Arbeitsplatz sei
ren vermeiden konnten.
„genau richtig“, verwendeten das elektrische Licht sehr oft. Und auch diejenigen,
Wie Menschen das Tageslicht in
die das Tageslicht als „genau richtig“
Gebäuden wahrnehmen
beurteilten, verwendeten regelmäßig
Da der Homo sapiens während seiner ge- elektrisches Licht. Die Gründe hierfür
samten Entwicklung in einer natürlich
sind nicht ganz klar. Möglicherweise
belichteten Umgebung lebte, verwun- verringert elektrisches Licht, ob als Dedert es nicht, dass Gebäudenutzer genau
cken- oder Schreibtischbeleuchtung, die
die Elemente als angenehm empfinden, Helligkeitskontraste auf der Arbeitsoberdie typisch für Tageslicht in der Natur
fläche, die gelegentlich den Sehkomfort
sind. Nutzerbefragungen in Büroge- verringern.
bäuden ergeben eine hohe Präferenz für
Eine Nutzerbefragung im Philip MerRäume mit Tageslicht. In einer Studie in
rill Environmental Center (das erste Gesieben Bürogebäuden an der Nordwest- bäude, das in den USA den Platinstatus
küste Amerikas (Heerwagen u. a., 1992)
im LEED-Zertifizierungssystem erhielt)
gaben 90 % der Gebäudenutzer an, dass
zeigte eine sehr große Zufriedenheit der
sie Tageslicht und Sonnenlicht an ihren Angestellten mit Tageslicht (90 %). Die
Arbeitsplätzen „sehr“ mochten. 83 % ant- Zufriedenheit mit dem visuellen Komworteten, dass sie die jahreszeitlichen
fort war mit 65 % deutlich geringer
Veränderungen des Tageslichts schätz- (Heerwagen und Zagreus, 2005). Dies
ten, und 86 % zeigten eine Präferenz für
legt nahe, dass die Menschen die psydirektes Sonnenlicht. Interessanter- chologischen Vorteile von Tageslicht
weise wird bei der Tageslichtplanung
wertschätzen, auch wenn dieses zu
üblicherweise darauf geachtet, direkte
Problemen bei der Arbeit aufgrund von
Sonneneinstrahlung auf die Arbeits- Blendung oder unregelmäßiger Lichtplätze wegen der Blendwirkung und des
verteilung führt.
Wärmegewinns zu vermeiden.
Natürlich unterscheiden sich die AufIn der Auswertung der Daten hinsicht- gaben, die unsere Augen heute bei der Arlich des Standorts des Arbeitsplatzes er- beit zu leisten haben, sehr stark vom Tagklärten 100 % derjenigen, die in einem
werk unserer Vorfahren. Tätigkeiten wie
Eckbüro arbeiteten, die Menge des Ta- Kochen, Herstellung von Werkzeugen,
geslichts sei „genau richtig“, während es
Unterhaltungen, Suche nach Essbarem
bei denjenigen, die kein Eckbüro, son- und Jagen ließen sich erfolgreich relativ
dern ein Büro an einer Glasfassade hat- unabhängig von den Lichtverhältnissen
ten, 90 % waren. Sogar diejenigen, deren
durchführen. Dagegen fordert Lesen
Arbeitsplatz sich weiter innen im Raum
oder die Arbeit am Computer die Augen
befand, waren zufrieden mit dem Tages- in sehr viel stärkerem Maße, sodass das
licht, solange sie in einen von Tageslicht
Tageslicht hierfür vielfach nicht ausbeleuchteten Raum blicken konnten.
reicht. Dennoch fehlt einer gleichmäßig
ausgeleuchteten Arbeitsumgebung, die
Tageslicht und Arbeit
vielleicht für die Büroarbeit angemessen
Bekanntlich halten sich Menschen gerne
sein mag, der psychologisch und bioloin Räumen mit Tageslicht auf und mögen
gisch wertvolle Anteil an Tageslicht.
19
Ausblicke ins Freie gehören zu
den wichtigsten Kriterien für die
Akzeptanz von Gebäuden.
Sie bieten Abwechslung im
Alltag und verhindern, dass sich
ein Gefühl der Klaustrophobie
einstellt.
Einstellungen zu Tageslicht
und elektrischem Licht
In einer Studie in einem Bürohochhaus
in Seattle wurden die Mitarbeiter gebeten, die jeweiligen Vorteile von Tageslicht und elektrischem Licht in Bezug auf
allgemeines Wohlbefinden, Gesundheit
der Augen, Arbeitsleistung, den Sehkomfort bei Tätigkeiten, die besondere
visuelle Anforderungen stellen, sowie
auf die ästhetische Wirkung des Büros
zu vergleichen. Die Ergebnisse zeigten,
dass die Befragten Tageslicht in allen
Kategorien besser bewerteten als das
elektrische Licht, insbesondere in den
Kategorien allgemeines Wohlbefinden,
Gesundheit und Ästhetik. Als gleich gut
bewerteten sie Tageslicht und elektrisches Licht für Tätigkeiten, die genaues
Hinschauen erfordern.
Zum Zeitpunkt der Studie 1986 existierten nur wenige Erkenntnisse, die
einen Zusammenhang zwischen Tageslicht und Gesundheit nahelegten. Das
hat sich seither geändert, wobei sich besonders zahlreiche Untersuchungen mit
zirkadianen Rhythmen und mit Winterdepressionen befasst haben. Viele dieser
Arbeiten fanden im klinischen Umfeld
im Zusammenhang mit Lichttherapien
statt. Da dieser Aspekt an anderer Stelle in diesem Heft behandelt wird, soll
hier nicht darauf eingegangen werden.
Dennoch sei auf eine Laborstudie hingewiesen, die die Lichtpräferenzen von
Menschen mit Winterdepression im
Vergleich zu Menschen untersucht, die
keine Symptome einer Winterdepression zeigten. Diejenigen, die jahreszeitbedingten Stimmungsschwankungen
unterliegen, wählten signifikant höhere
Helligkeitswerte bei allen Lichtquellen.
Dies legt nahe, dass an Winterdepression Erkrankte tatsächlich ‚lichthungrig‘
sind und von Innenräumen mit sehr viel
Tageslicht, wie etwa Atrien oder Sonnenräume, und einer Platzierung direkt am
Fenster profitieren.
Was ist aber über andere gesundheitliche Auswirkungen des Tageslichts in Innenräumen bekannt? Untersuchungen
in Krankenhäusern hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Tageslichtniveau
in Räumen und der Gesundung der Pati-
enten ergaben, dass bipolare Patienten in
hellen, nach Osten ausgerichteten Räumen durchschnittlich 3,7 Tage weniger
im Krankenhaus blieben als Patienten
in nach Westen ausgerichteten Räumen
(Denedetti u. a., 2001). Zu ähnlichen
Ergebnissen kamen Beauchamin und
Hays (1996) bei stationär behandelten
Patienten mit psychischer Erkrankung.
Diejenigen, die in den hellsten Räumen
untergebracht waren, blieben durchschnittlich 2,6 Tage weniger im Krankenhaus. Keine dieser Studien macht
jedoch Angaben über die tatsächliche
Lichtmenge in den Patientenzimmern
beziehungsweise das Licht, das auf die
Netzhaut gelangt, und somit ist es schwer,
Schlüsse hinsichtlich der Expositionsniveaus zu ziehen.
In einer jüngeren Forschungsarbeit in
einem Krankenhaus in Pittsburgh wurde die Helligkeit in Zimmern gemessen.
Walch u. a. (2005) untersuchten 89 Patienten, die sich einer Operation an der
Gebärmutter oder der Wirbelsäule unterzogen haben. Die Hälfte der Patienten
war auf der hellen Seite des Krankenhauses untergebracht, und die andere Hälfte
lag in einem Flügel des Krankenhauses,
bei dem ein benachbartes Gebäude kein
Sonnenlicht in die Zimmer eindringen
ließ. Untersucht wurden die Medikation und Kosten sowie der psychische
Zustand am Tag nach der Operation
und am Entlassungstag. Hinzu kamen
umfangreiche fotometrische Messungen
in jedem Zimmer. Die Ergebnisse zeigten,
dass die Patienten in den helleren Zimmern eine 46 % höhere Sonnenlichtintensität hatten. Patienten in den sehr
hellen Zimmern nahmen 22 % weniger
Schmerzmittel ein, empfanden weniger
Stress und etwas weniger Schmerzen als
jene in den dunkleren Zimmern. Damit
waren die Medikamentenkosten für Patienten in den sehr hellen Zimmern um
21 % geringer. Wie jedoch helles Licht
und Schmerz genau zusammenhängen,
ist derzeit noch nicht bekannt.
Weitere mögliche Vorteile von Tageslicht in Räumen sind ein vitaleres
Lebensgefühl, weniger Müdigkeit während des Tages und geringere Angstgefühle. Eine groß angelegte Studie über
20
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Natürliches Licht am Arbeitsplatz ist nicht nur eine Frage
des Sehens. Nutzerbefragungen
haben ergeben, dass Menschen
Tageslicht auch dort schätzen,
wo keine direkte Blickverbindung ins Freie besteht.
Licht am Arbeitsplatz im Winter bei
schwedischen Büroangestellten hat gezeigt, dass Stimmung und Vitalität bei gesunden Teilnehmern durch helles Tageslicht verbessert wurden (Partonen und
Lönngvist, 2000). Einer anderen Studie
zufolge reduziert sich die nachmittägliche Müdigkeit bei gesunden Erwachsenen, wenn sie eine halbe Stunde in hellem
Tageslicht am Fenster saßen (Kaida u. a.,
2006). In dieser Studie schwankte das Niveau des Tageslichts zwischen 1000 Lux
und über 4000 Lux je nach Witterung.
Die Wirkung des Tageslichts, so die Studie, entsprach nahezu derjenigen eines
kurzen Mittagsschlafs.
Ist Tageslicht biophil?
E. O. Wilson machte den Begriff „Biophilie“ 1984 mit seinem Buch ‚Biophilia‘
bekannt. Der Begriff bezeichnet die Angewohnheit des Menschen, sich zum Leben
und lebensähnlichen Prozessen hingezogen zu fühlen. Wilson erklärte niemals
umfassend, was er mit‘lebensähnlichen
Prozessen‘ meinte. Betrachtet man jedoch die Wesenselemente von Leben, so
besitzt das Tageslicht mit Sicherheit einige hiervon. Das Tageslicht nimmt wäh-
rend des Tages mit dem Lauf der Sonne
Die lebensähnlichen und lebensunzu, es ‚wächst‘ also gewissermaßen und
terstützenden Eigenschaften des Tagesverändert seine Farbe und Intensität, es
lichts legen nahe, dass natürliches Licht
liefert wichtige Lebensgrundlagen, sei- zu den Grundbedürfnissen der Menschen
ne Abwesenheit in der Nacht verändert
gehört und nicht eine Ressource ist, die in
das Verhalten, und die länger werdenden
das Belieben des Gebäudebesitzers oder
Tage nach den langen Wintermonaten -planers gestellt werden kann. Das Vorsteigern Freude und Wohlbefinden.
handensein von Tages- und Sonnenlicht
Wilson und andere beschreiben Bio- in Gebäuden wirkt sich eindeutig darauf
philie als eine Entwicklungsanpassung, aus, wie Körper und Geist diesen Ort
die mit dem Überleben verbunden ist. wahrnehmen. Fehlt dieses Licht, entsteDie in diesem Artikel genannten Studi- hen leblose, fade, nichtssagende Räume,
en lassen vermuten, dass Tageslicht sehr
die unsere Verbindung zu unserem biotiefliegende Bereiche der Gesundheit und
logischen Erbe trennen.
Psyche positiv beeinflusst, die nur schwer
in Umgebungen mit elektrischem Licht
angesprochen werden können. Natürlich
lassen sich auch Innenräume mit elektrischem Licht gestalten, dessen Intensität
und Farbe sich verändert und das ande- Judith Heerwagen, PhD, ist Umweltpsycholore Elemente des Tageslichts nachahmt. gin in Seattle. Sie arbeitet als Gastdozentin am
Department of Architecture an der University of
Aber wird es sich genauso anfühlen? Kann
Washington, wo sie Seminare über bio-inspiriereine Umgebung mit elektrischem Licht
tes Planen und Nachhaltigkeit hält. Judith Heerbiologisch die gleiche Wirkung haben
wagen hält Vorträge über den Faktor Mensch im
wie Tageslicht? Die Antworten auf diese
Zusammenhang mit nachhaltiger Planung unter
Fragen sind noch nicht bekannt, aber klar
Berücksichtigung von Gesundheit, Psyche und Proist, dass solche Raumgestaltungen sehr
duktivität. Sie ist Mitautorin des Buches ‚Biophilic
energie- und ziemlich kostenintensiv
Design: The Theory, Science and Practice of Brinsind.
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LICHT ENTWERFEN:
WISSENSCHAFT UND
ÄSTHETIK DER
TAGESLICHTPLANUNG
Zur Kunst der natürlichen Belichtung gehört weitaus mehr, als viel
Sonnenlicht in ein Gebäude zu lassen. Es bedarf enormer architektonischer Kreativität, um die Funktionalität des Tageslichts in Raumschöpfungen von bestechender Schönheit zu transformieren. Um
diesen Prozess zu verstehen, lohnt die genauere Betrachtung einiger
historischer und zeitgenössischer Meisterwerke aus der Architektur.
Von Dean Hawkes
Fotos von Gerry Johansson
„Architektur entsteht bei der Schaffung
eines Raums. Ohne natürliches Licht ist
ein Raum kein Raum.“
Louis Kahn
Mit dieser vermeintlich schlichten
Aussage stellt Louis Kahn hohe Ansprüche. Implizit versteht er das Licht in der
Architektur nicht nur als Mittel zum
Zweck, sondern als Schlüssel für die Definition von Architektur schlechthin.
Zu den wichtigsten Errungenschaften
der angewandten Wissenschaft im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert
zählt die quantitative Erfassung und
Bestimmung unserer Bedürfnisse in
Gebäuden. Dies gilt insbesondere für das
Lichtdesign, zu dem es zahlreiche Handbücher und Ratgeber gibt mit Normen
für Beleuchtung, Planungsmethoden
und Faustregeln. Beispiele sind geometrische Formeln wie die ‚no-sky line’, eine
imaginäre Linie zwischen dem Fenstersturz in einem Raum und der Attika oder
dem First eines benachbarten Gebäudes, die bezeichnet, wie weit Tageslicht
in dicht bebauten Gebieten in einen
Raum eindringt. Eine andere Kennzahl,
die bereits Eingang in diverse Normen
gefunden hat, ist der Tageslichtquotient,
der das Verhältnis zwischen der Beleuchtungsstärke auf Höhe der Arbeitsfläche
in einem Raum und im Freien angibt. Solche Hilfsmittel sind äußerst nützlich und
schaffen ein solides Fundament für die
praktische Entwurfsarbeit. In jüngerer
Zeit werden sie unterstützt und ergänzt
durch rechnergestützte Berechnungsmethoden und Simulationswerkzeuge.
Die Tageslichtplanung umfasst jedoch weit mehr als diese Kennzahlen,
und wieder ist es Louis Kahn, der es
pointiert formuliert:
„Ich wünschte, die Wissenschaftler würden endlich begreifen, dass sie ständig die
Vision erfassen wollen und dass die Realität nur im Dienste der Vision steht. Alles
von Menschenhand Geschaffene muss
prinzipiell visionär sein.“
Hier präsentiert uns Kahn ein Rätsel.
Wo liegt der Wert von Quantifizierung
und Erfassung – des Messbaren –, wenn
wir eigentlich das Wesen der Architektur – das Nicht-Messbare – verstehen
wollen? Wie können wir diesen Widerspruch lösen?
Es ist eine Binsenweisheit, dass Architektur Kunst mit Wissenschaft verbindet.
Dies zeigt sich deutlich in den konventionellen Kategorien der Literatur zur
Architektur und in den Lehrplänen des
Architekturstudiums, wenngleich diese
die beiden Bereiche viel zu oft streng
trennen. Das hilft uns aber nicht, Kahns
Rätsel zu lösen – also was nun?
Christopher Wren:
Geometrie und Licht
Obwohl sicherlich viele Aspekte von
Kunst und Wissenschaft in die Architektur einfließen, bin ich der Überzeugung, dass man ihre wahre Natur nicht
wirklich mit Hilfe einer simplen Formel
wie ‚Kunst + Wissenschaft = Architektur’
erfassen kann. Die Antwort sollten wir
in den Gebäuden selbst suchen, in den
Werken der Architektur und in den substanziellen Aussagen von Architekten,
die, richtig interpretiert, tiefe Einblicke
in die Thematik gewähren.
Für mein Buch ‚The Environmental
Imagination‘ habe ich diverse Werke
bedeutender Architekten aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert
untersucht – also exakt aus jener Zeit,
als die Gestaltung unserer Umwelt mehr
und mehr quantitativen Aspekten zu folgen begann. In anderen Abhandlungen
bin ich zeitlich noch weiter zurückgegangen und habe mich mit Bauwerken
aus dem sechzehnten bis achtzehnten
Jahrhundert beschäftigt. Insgesamt bin
ich dabei zu dem Schluss gelangt, dass
das wesentliche Instrument zum Verstehen und Begreifen des Nicht-Messbaren
die Imagination ist, die ich persönlich als
‚Fähigkeit zur Entwicklung neuer Ideen‘
definiere. Zur Verdeutlichungnehme ich
Bezug auf einige Bauwerke, welche die
Anwendung der Imagination im Konzept
des Tageslichts veranschaulichen.
Als erstes Beispiel dienen mir die Bauwerke Sir Christopher Wrens. Er war sowohl Wissenschaftler als auch Architekt:
Vor seinem Wirken als Architekt arbeitete er als Professor für Astronomie in
London und in Oxford. In seinen Bauten
gelang es Wren, die beiden Bereiche von
(messbarer) Realität und (nicht messba27
cd/m 2
8000
5800
4100
3000
2100
1500
1100
800
Die Falschfarben-Fotos in diesem
Beitrag zeigen die Leuchtdichteverteilung in den abgebildeten Räumen.
Die Leuchtdichte wird in Candela pro
Quadratmeter (cd/m2) gemessen und
gibt die Helligkeit einer Oberfläche
an. Sie ist damit ein wichtiger quantitativer Indikator für die Lichtverteilung im Raum.
Seiten 26–30 Im zentralen Ausstellungsraum des Museo Canoviano in
Possagno hat Carlo Scarpa die Fenster als eigene, plastische ‚Lichtkörper’ gestaltet. Die kubischen
Glaselemente beleuchten nicht nur
den Innenraum, sondern erzeugen
gezielt Streiflicht auf den Wänden
und lassen so deren Oberflächenstruktur aus Putz und Naturstein
umso deutlicher hervortreten.
rer) Vision in echten Einklang zu bringen.
Zu Wrens größten architektonischen
Leistungen gehörte der Wiederaufbau
von mehr als fünfzig Londoner Kirchen,
die beim großen Brand von London im
Jahr 1666 zerstört wurden.
Am eindrucksvollsten ist vielleicht
die Kirche St. Stephen Walbrook (1672–
1680). Hier ist ein von einer Kuppel bekrönter Zentralraum eingebettet in einen längsgerichteten Rechteckgrundriss,
wodurch ein eigenartiger Hybrid aus
Zentralraum und Kirchenschiff entsteht. Dieser Ansatz führt zu immenser
Komplexität von Raum und Licht. Den
Lichteinfall durch die großen Fassadenfenster ergänzen gewölbte Lichtgaden
in den Gewölbekappen, die in alle vier
Himmelsrichtungen weisen, sowie der
zentrale Okulus der Kuppel. Wren legte
viel Wert auf funktionale Beleuchtung
für die kirchlichen Zeremonien, doch
gingen seine Intentionen weit darüber
hinaus, wie der Historiker Kerry Downes
feststellt:
„Wren betrachtete die Geometrie als Basis der ganzen Welt und als Manifestation
ihres Schöpfers. Licht machte diese Geometrie nicht nur sichtbar, sondern repräsentierte auch die Gabe logischen Denkens,
die für ihn in der Geometrie gipfelte.“
Die alternierenden Licht- und Schattenmuster in der Kirche sowie die unvermittelte, kurzzeitige Illumination der Säulenschafte, die den Innenraum je nach
Tages- und Jahreszeit immer wieder neu
definieren, zeugen in diesem Bauwerk
davon, dass Wrens wissenschaftliche
Auffassung von Licht mit bemerkenswerter Imaginationskraft verknüpft war.
Soane und Scarpa:
Poeten des Tageslichts
Ein anderer englischer Architekt, der
einen ähnlich visionären Zugang zum
Tageslicht besaß, war Sir John Soane.
Sein Schaffen fiel in die Zeit, als die industrielle Revolution die Bautechnik stark
veränderte. Soane interessierte sich sehr
für neue Konstruktionsmethoden, doch
wie Wren beschäftigte auch er sich mit
den qualitativen Aspekten des Lichts in
der Architektur.
30
„Die von den französischen Künstlern so erfolgreich praktizierte lumière mystérieuse
ist ein grandioses Mittel in den Händen
eines schöpferischen Mannes. Diese Kraft
kann man weder absolut begreifen noch
hoch genug schätzen. Dennoch wird sie in
unserer Architektur nur wenig beachtet –
offensichtlich, weil wir die Bedeutung des
Charakters unserer Gebäude unterschätzen, zu dem das Licht einen beachtlichen
Beitrag leistet.“
Soanes Meisterwerk ist sein Haus in
12–14 Lincoln’s Inn Fields im Zentrum
Londons, in dem er von 1792 bis zu seinem Tod im Jahr 1837 wohnte und arbeitete. Hier ergriff Soane die Gelegenheit,
den Charakter des natürlichen Lichts
zu erforschen und so sowohl den praktischen als auch den poetischen Bedürfnissen des Wohnens gerecht zu werden.
Er bediente sich hierzu einer Fülle teils
unkonventioneller, ebenso pragmatischer wie poetischer Mittel und kombinierte Seitenlicht mit Oberlichtern. Die
Bibliothek und der Salon im Erdgeschoss
des Haupthauses gehen ineinander über.
Die Bibliothek liegt an der Straßenfassade des Hauses im Süden, das Esszimmer
wird durch einen offenen Hof auf der
Nordseite belichtet. Die Wände beider
Räume in dunklem Pompejanischrot
absorbieren zwar einen Großteil des
einfallenden Tageslichts; dies wird aber
kompensiert durch eine Vielzahl großer
und kleiner Spiegel, die das Licht quantitativ verstärken und auch seine Qualität
verändern. Die größte Wirkung erzielen
diejenigen, in denen sich die Stützpfeiler
der Glasloggia auf der Südseite und die
Fensterläden spiegeln. So wirken die
Räume gleichzeitig düster und strahlend: lumière mystérieuse im Dienste
von Wohnkultur und Architektur.
Von den Beispielen aus dem zwanzigsten Jahrhundert wären zunächst die
Bauten Carlo Scarpas zu nennen. Boris
Podrecca schreibt über den italienischen
Architekten:
„(Carlo) Scarpas Werk verklärt die Tradition nicht nur durch die physische Präsenz
der Dinge, sondern auch durch das Licht,
ein lumen nicht von morgen, sondern aus
der Vergangenheit – das Licht goldenen
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9,7
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41
24
14
8,5
5
Den Lokschuppen der näheren Umgebung nachempfunden ist das Bürogebäude ‚Heelis’,
das Feilden Clegg Bradley für
den britischen National Trust
unweit des Bahnhofs von Swindon entwarfen. Statt durch
die Fassaden werden die tiefen
Bürogrundrisse fast ausschließlich durch das Dach belichtet.
Dabei nutzten die Architekten
auch die Tatsache aus, das zenitales Licht etwa dreimal stärker
ist als Seitenlicht.
Hintergrunds, schimmernder Flüssigkeit,
elfenbeinfarbener Täfelung, leuchtender
und schillernder Stoffe, in Marmor neu erschaffen. Es ist das Licht, in dem die Welt
widergespiegelt wird.“
Diese Eigenschaften zeigen sich eindrucksvoll in dem kleinen Anbau, den
Scarpa in den 50er-Jahren dem Museo
Canoviano in Possagno hinzufügte. Die
Komposition dreht sich um einen großen kubischen Raum, der durch vier
plastisch ausgebildete Eckfenster am
Schnittpunkt zwischen Wand und Decke
erhellt wird. Zwei dieser Fenster weisen
nach Westen und sind hoch und eher schmal und wie kubische Lichtkörper nach
innen in den Raum ‚eingestülpt’; die beiden anderen liegen an der Ostseite, sind
breiter und haben eine konvexe (nach
außen gewendete) Verglasung. Diese
Konfiguration fängt das Licht aus allen
Richtungen ein und lässt es – anders als
ein herkömmliches Wandfenster – im
flachen Winkel über die Wände selbst
streichen. Wenn die Sonne um das Gebäude wandert, wirken der Innenraum
sowie Canovas wertvolle und großartige Plastiken durch den variierenden
Lichteinfall lebendig, sie erscheinen
dem Betrachter geradezu als Lebewesen. Das Eckfenster war eine Erfindung
der klassischen Moderne; gute Beispiele
hierfür sind Wrights Präriehäuser und
Rietvelds Schröder-Haus. Scarpa jedoch
verlieh dem Eckfenster neue Bedeutung
und Wert. 1978 erklärte er zu seinem
Museum in Possagno: „Ich liebe das Tageslicht und wünschte, ich könnte das
Blau des Himmels einfangen.“ In diesem Schmuckstück wurde sein Wunsch
Wirklichkeit.
Gebäude für jeden Zweck
Vor allem Louis Kahn leistete unter den
Architekten des 20. Jahrhunderts einige
der wichtigsten Beiträge zur Verknüpfung der praktischen und poetischen
Eigenschaften des Lichts in der Architektur. Jedes seiner Spätwerke könnte
als Beispiel dienen; ich habe mich für das
Yale Center for British Art (1969–1974)
entschieden. Das Gebäude ist eine nüchterne Komposition aus Sichtbetonrah-
Seiten 32/33 Die Ausstellungsräume des Yale Center for British
Art von Louis Kahn sind in ein
gedämpftes Licht getaucht, wie
es für England – das Herkunftsland der meisten hier ausgestellten Gemälde – typisch ist.
men und Edelstahlverkleidung, Eichenholztäfelung und weißem Putz. Kahns
Entwurf sah vor, dass es vom Sonnenlicht durchflutet sein sollte – „ohne natürliches Licht ist ein Raum kein Raum“
–, daher ist die gesamte Dachfläche mit
einem System viereckiger Dachfenster
versehen. Die umlaufenden Galerien liefern zusätzliches Seitenlicht durch exakt
positionierte Vertikalfenster. Viele der
ausgestellten Gemälde hingen zuvor in
englischen Landhäusern; häufig stellen
sie englische Szenen unter englischem
Himmel dar. Durch einen geschickten
Griff in die architektonische Trickkiste
schafft Kahn die Illusion eines ebensolchen Schauplatzes im ganz anderen Licht
Connecticuts. Die versetzt angeordneten Dachfenster mit Außenjalousien und
internen Streufiltern dämpfen das helle
Licht und verleihen der zurückhaltenden Innenarchitektur etwas Düsteres.
Kahns umfangreiche Zeichenstudien
belegen, dass diese Effekte das Produkt
minutiöser Analyse waren.
Ein lebender Meister des imaginären Lichts ist Peter Zumthor. In den Gebäuden, die er gegen Ende des letzten
Jahrhunderts schuf, beweist er ein besonderes Gespür für die Gestaltung von
Räumen und Fügung von Materialien –
immer mit dem Ziel, das Tageslicht für
den jeweiligen Verwendungszweck des
Gebäudes optimal zu nutzen. Er selbst
schreibt:
„[Eine meiner Lieblingsideen] ist die: das
Gebäude zunächst als Schattenmasse zu
denken und dann nachher, wie in einem
Aushöhlungsprozess, Lichter zu setzen,
Licht einsickern zu lassen. [...] Die zweite Lieblingsidee ist, die Materialien und
Oberflächen bewusst ins Licht zu setzen.
Und dann zu schauen, wie sie reflektieren.
Also mit dem Bewusstsein, wie das reflektiert, die Materialien zu wählen und so ein
stimmiges Ding zu machen ...“
Die Umsetzung dieser Ideen zeigt sich
eindrucksvoll in dem Schutzbau für die
römischen Ausgrabungen in Chur, den
Zumthor 1986 fertigstellte. Das augenscheinlich schlichte Bauwerk besteht
aus drei von oben belichteten Baukör35
Seiten 36-39 Peter Zumthors
Schutzbau über den römischen
Ruinen in Chur besteht aus drei
mit Holzlamellen verkleideten,
kubischen Baukörpern. Durch die
diaphane Gebäudehülle sickert
diffuses Tageslicht in den Innenraum ein. Die wesentlichen
Lichtakzente setzen jedoch
große ‚Lichtkanonen’ im Dach,
die diagonal zum Konstruktionsraster jeweils mittig in den
Räumen angeordnet sind.
pern, welche die Umrisse der fragmentarischen Reste der römischen Anlage aufgreifen. Die Holzrahmenstruktur ist mit
Holzlamellen verkleidet, das Zinkdach
mit drei großen Dachfenstern versehen.
In dieser tektonischen Schlichtheit offenbart sich ein tiefes Verständnis für die
Natur und das Verhalten des Lichts. Die
Wände erscheinen undurchlässig, lassen
aber dennoch indirektes Licht durch die
Zwischenräume zwischen den Lamellen
dringen. So entsteht ein diffuser Schimmer im Inneren, dessen Farbton durch
den Holzfarbton erwärmt wird. Dramatisiert und verwandelt wird diese Wirkung
durch das kraftvolle zenitale Licht, das
kaskadenartig durch die Dachfenster
einströmt. Die großen asymmetrischen
Einfassungen der Dachöffnungen sind
schwarz gestrichen, wodurch sich das
Licht, das auf den blassgrauen Kiesboden fällt, noch intensiviert. All dies basiert auf Zumthors systematischer und
objektiver Betrachtung der Interaktion
zwischen Licht und Material. Der Effekt
ist faszinierend und originell.
Die Quantifizierung und Kodifizierung unserer gebauten Umwelt ging
Hand in Hand mit der Entwicklung
hochtechnisierter Gebäude im 20. Jahrhundert. Bürohäuser sind hierfür vielleicht das gängigste Beispiel und, wenn
man so will, auch der größte ‚Erfolg’, was
die Allgegenwart von Technik und den
Ersatz des Tageslichts durch künstliche
Lichtquellen betrifft. Es gibt allerdings
auch rühmliche Ausnahmen von der Regel. Ein Beispiel ist das ‚Heelis‘-Gebäude
in Swindon in Südengland, die Zentrale
des National Trust, der einen Großteil
des architektonischen Erbes Englands
verwaltet. Der Komplex wurde von dem
Architekturbüro Feilden Clegg Bradley
entworfen und 2005 fertiggestellt.
Das Gebäude befindet sich auf dem
Gelände eines ehemaligen Rangierbahnhofs, ursprünglich entworfen im
19. Jahrhundert durch den bedeutenden
Ingenieur Isambard Kingdom Brunel. In
seiner Form greift es die ehemalige Industrieanlage auf. Die Gebäudekubatur
dominieren eine Reihe Giebeldächer,
die große Mengen Tageslicht liefern
und die natürliche Belüftung fördern.
38
Seiten 40/41 In der Kirche St.
Stephen Walbrook in London
verband Christopher Wren die
auf strengen Geometrien basierende Architekturauffassung
seiner Zeit mit der Metaphysik des Lichts. Große Fenster in
allen vier Fassaden sorgen für
Zudem dienen sie als Träger für Fotovoltaikmodule zur Stromerzeugung.
Unter dem Dach wechseln sich zweigeschossige Büroflügel ab mit Gemeinschafts- und Sozialräumen, die über die
gesamte Gebäudehöhe reichen. Eine
Hauptintention des Entwurfs lautete,
alle Arbeitsplätze mit natürlichem Licht
zu versorgen – von jedem Arbeitsplatz
sollte ein Stück Himmel zu sehen sein.
Das bei der Tageslichtplanung verwendete Standard-Himmelsmodell ist im Zenit dreimal heller als am Horizont. Licht
von oben ist also deutlich kraftvoller als
Licht von der Seite. Zudem ist es eine
wohlbekannte, auch empirisch belegte
Tatsache, dass selbst der englische Himmel genügend Tageslicht für die meisten
praktischen Zwecke liefert. Dies wird im
Heelis-Gebäude auf elegante Weise umgesetzt, wo Tageslichtfaktoren von drei
Prozent unterhalb der Zwischenetagen
bis zu durchschnittlich neun Prozent
auf den Galerieebenen der Büroflügel
erreicht werden. In die doppelt hohen
Räume strömt das Licht ungehindert
ein, wirft lebendige Lichtflecken auf die
Raumoberflächen und stellt so eine dynamische Verbindung zwischen Natur
und Innenraum her. Durch seinen kunstvoll umgesetzten Pragmatismus wird das
Gebäude zu einem angemessenen Symbol für den Auftrag des National Trust.
Jedes der in diesem Beitrag vorgestellte Bauwerke stellt ganz bestimmte Anforderungen in den Mittelpunkt – seien
es die christliche Gottesverehrung, das
Stadtleben im neunzehnten Jahrhundert, die Präsentation und Erhaltung
von Kunstwerken, der Schutz fragiler
Überreste aus der Römerzeit oder die
praktischen und sozialen Ansprüche von
Firmenzentralen. In jedem Fall werden
die objektiven Anforderungen an Behausung, Schutz vor den Elementen
und Beleuchtung erfüllt. Was sie für uns
jedoch so interessant macht, ist die Art
und Weise, in der Gewöhnliches durch
die Vorstellungskraft von Architekten zu
Außergewöhnlichem wird. Dieser Prozess ist bei der Planung ‚alltäglicher‘ Gebäude allerdings nicht minder relevant
als bei Kulturbauten. Fast alle Funktionen in einem Gebäude lassen sich durch
die Grundbeleuchtung im Raum,
während die hoch gelegenen
Fenster des Lichtgadens und die
Laterne der Kuppel im Tagesverlauf einzelne Lichtstrahlen durch
dem Raum wandern lassen.
ein angemessenes Tageslichtkonzept
verbessern, das die Wechselwirkungen
von Licht und Schatten ebenso erlebbar
macht wie die tages- und jahreszeitabhängigen Sonnenzyklen und die Form
und Materialität eines Raums. Auf diese Weise kann Imagination die Lücke
zwischen Realität und Vision im Sinne
Kahns schließen. So werden Gebäude zu
Werken der Architektur.
Dean Hawkes (geb. 1938) ist Architekt und emeritierter Professor für Entwurfslehre an der Cardiff University sowie emeritierter Stipendiat des
Darwin College an der University of Cambridge.
Zu seinen Veröffentlichungen gehören ‚The Environmental Imagination’ (2008) sowie ‚Architecture and Climate’ (Veröffentlichung 2011). Seine
Gebäude wurden mit vier RIBA-Architekturpreisen
ausgezeichnet. 2011 erhielt er den von RIBA zweimal jährlich verliehenen internationalen ‚Annie
Spink Award‘ für herausragende Leistungen in
der Architekturlehre.
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0,39
0,2
AUF DER SUCHE NACH
EINER ANTHROPOLOGIE
DES TAGESLICHTS
Seit Hunderten von Jahren
arbeiten Architekten daran, die
Magie des Tageslichts in Gebäuden festzuhalten. Eine ständig sich erweiternde Palette an
Baumaterialien unterstützt sie
dabei.
In den Städten von heute wird Tageslicht immer häufiger durch
künstliches Licht ersetzt. Die Folge ist ein Verlust unserer
Verbindung zur Natur – und damit einhergehend unserer
Lebensqualität und unseres Wohlbefindens. Wenn Architektur
den körperlichen Bedürfnissen und psychologischen Erwartungen des Menschen gerecht werden will, muss sie neue Techniken im Umgang mit Tageslicht entwickeln und in einen engeren
Dialog mit der Wissenschaft treten.
Von Brent Richards
Fotos von Gerry Johansson
Tageslicht bedeutet für den Menschen das Grundbedürfnis, im Hellen und
nicht im Dunkeln zu sein, die Wärme des
Sonnenlichts statt der Kälte des Schattens
zu spüren. Dieses Bedürfnis ist bestimmt
von einem angeborenen Streben nach
physischer und emotionaler Interaktion
mit Tageslicht. Diese Interaktionen sind
vielgestaltig; sie umfassen die Wärme des
Tageslichts auf der Haut, dessen Wandel
vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang oder auch die bewusste Betrachtung von Licht und Wolken am Himmel.1
Tageslicht beeinflusst die Sinne und hat
Auswirkungen auf die Gemütsverfassung,
das Verhalten und das gesamte Wohlbefinden des Menschen, die damit wiederum abhängig von der Tageszeit und dem
Aufenthaltsort sind.
In vorgeschichtlicher Zeit lebte der
Mensch als Nomade in der freien Natur.
Dabei war er abhängig vom Tageslicht, um
Nahrung zu finden und sicher vor wilden
Tieren zu sein. Er bewohnte eine Natur,
die bestimmt wurde von dem stets gleich
ablaufenden Muster von Tag und Nacht.
Dieser Hell-Dunkel-Zyklus bildete den
Rahmen für die täglichen Aktivitäten des
Menschen und verband seine physiologische und psychologische Rhythmen eng
mit seinem natürlichen Lebensumfeld.
In vielen Kulturen war diese Beziehung
die Basis für die religiöse Verehrung des
Lichts und der Sonne.
Als die Menschen begannen, erste
Gebäude zu errichten, stellten sie die
Verbindung nach draußen durch einfa-
che Öffnungen und Fenster her. Diese gezielt gebauten Öffnungen ließen nicht nur „Der Verlauf des Tageslichts ist
Tageslicht und Luft eindringen, sondern
nicht linear, sondern folgt den
schufen auch eine symbolische Schnittwiederkehrenden
Zyklen der Tage
stelle zwischen innen und außen. Darüund
Jahreszeiten,
indem sich die
ber hinaus verbanden sie den Wohnalltag
Erde
um
ihre
eigene
Achse dreht
der Menschen, ihre täglichen Rituale und
und
ihre
Bahn
um
die
Sonne
ihren Wach-Schlaf-Rhythmus mit dem
24-Stunden-Zyklus des natürlichen
verfolgt.“
Lichts.
Ole Bouman
Vor dem Hintergrund dieser lebenswichtigen Symbiose von Mensch und Tageslicht hat die Architektur das Wechselspiel zwischen gebauter Umgebung und
dem natürlich belichteten Innenraum
immer wieder thematisiert. Architekten wurden sehr geschickt darin, den
Nutzerkomfort durch Licht zu optimieren, indem sie Blickverbindungen zum
Tageslicht schufen. Sie erlangten eine
Meisterschaft darin, das Tageslicht mit
transparenten, Licht streuenden und
reflektierenden Bauelementen in Gebäude zu leiten, zu verstärken und in die
gewünschte Richtung zu lenken. Damit
übernahmen sie die Kontrolle über die
Helligkeit und die Beleuchtungsstärke
im Innenraum, den Kontrast des Lichts
zwischen außen und innen sowie die
Beziehung des Lichts zu den jeweiligen
Raumfunktionen. Diese Wechselwirkung
zwischen Architektur und Tageslicht ist
nach wie vor lebendig. Sie wird begünstigt
durch die vielfach belegte Tatsache, dass
die Menschen das natürliche Licht dem
künstlichen Licht vorziehen, ungeachtet
der immer neuen technischen Innovati43
Die moderne Architektur verfügt
über Möglichkeiten, Tageslicht
an fast jeden gewünschten Ort
in Gebäuden zu bringen. Längst
nicht immer werden diese so
meisterhaft genutzt wie hier von
Louis Kahn.
„Licht ist Materie, und Licht ist ein
Rohstoff. Sobald wir verstanden
haben, wie sich Licht verändert
und wie es unsere Wahrnehmung
verändert, erweitert sich das
gestalterische Vokabular der
Architektur in einer Form, wie es
sich die klassische Architektur nie
hat träumen lassen […] Eine
Architektur der Flüchtigkeit wird
möglich.“
Jean Nouvel
44
onen bei der elektrischen Beleuchtung
und der ständig steigenden Effizienz der
Leuchtmittel.
Bauen mit Licht
Die menschliche Zivilisation hat sich
von einzelnen, verstreut stehenden Gebäuden zu den dichten Megastädten von
heute entwickelt, und damit ist Tageslicht zu einem Gut geworden, um das ein
zunehmender Wettstreit entstanden ist.
Diese Entwicklung wird wahrscheinlich
noch an Bedeutung gewinnen, da bis
2020 siebzig Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Gemeinschaften leben
werden. Aus den Menschen sind urbane
‚Höhlenbewohner‘ geworden, die sich zunehmend von der Natürlichkeit des Tageslichts (dessen Farbe, Rhythmus und
wiederkehrenden Elementen) entfernen
und immer seltener dessen Annehmlichkeiten in physischer und emotionaler
Hinsicht erfahren.
Zum Teil haben sich die Menschen
erfolgreich an diese Mangelsituation
angepasst, indem sie neue Lebensmuster entwickelten und ihre unmittelbare
Umgebung neu gestalteten. Eine gewisse
Kompensation schufen zum Beispiel das
Planungsrecht (wie etwa die Begrenzung
von Gebäudehöhen, die Festschreibung
von Abstandsflächen und die Forderung
nach Rücksprüngen bei Hochhäusern),
größere Glasanteile in Fassaden und der
Einsatz von ergänzenden künstlichen
Lichtquellen und Atrien in Gebäuden.
Ungeachtet aller Kompensationen
ist der Wunsch der Menschen, wichtige
Alltagsaktivitäten bei Tageslicht durchzuführen, lebendig geblieben. Darüber
hinaus wird zunehmend deutlich, dass
selbst in Räumen mit hoch effizienter und
optimal gesteuerter künstlicher Beleuchtung sowie konstanten normgerechten
Lichtbedingungen wichtige psychische
und biologische Voraussetzungen für das
menschliche Wohlbefinden fehlen.2 Die
Menschen wünschen sich Licht nicht nur
zur Beleuchtung, sondern auch aufgrund
der Stimulation, die nur die Sonne und
das Tageslicht bringen können.
Natürliches Licht verändert sich. Seine Intensität nimmt im Tagesverlauf erst
zu und dann wieder ab, und es wird von
klimatischen Bedingungen wie Wolken
und der Anzahl der Sonnenstunden
beeinflusst. Künstliches Licht dagegen
verändert seine Farbe (in der Regel) nicht
und besitzt auch viele phänomenologische Eigenschaften nicht, die aufgrund
der geografischen Lage eines Orts oder
seiner Nähe zum Wasser typisch für natürliche Lichteffekte sind. (Ein Beispiel
ist das besonders weiche, stets etwas
gedämpfte Licht in Venedig.) Der Lichtkünstler James Turrell beschreibt diese
Phänomene als „den Bereich räumlicher
und optischer Spannung“: Sich des Vorhandenseins von Licht bewusst zu sein
bedeutet mehr, als darin eine Quelle von
Helligkeit zu erkennen.3
In Anbetracht des uns von der Natur
vorgegebenen Bedarfs an Tageslicht hat
dessen Fehlen in unserem Alltag erhebliche gesundheitliche und psychologische
Belastungen zur Folge. Menschliches
Verhalten wird beeinflusst vom TagNacht-Rhythmus, der eng an die rhythmisch zu- und abnehmende Stärke des
natürlichen Umgebungslichtes gekoppelt ist. Obwohl wir uns heutzutage auf
elektronische Uhren verlassen, um unsere Alltagsaktivitäten termingerecht
auszuführen, wird unser Leben doch
von unserer ‚inneren Uhr‘ gesteuert. Sie
ist für Schlafrhythmen, Aufmerksamkeit, Gemütszustände und Blutdruck
(mit-)verantwortlich und bringt den Lebensrhythmus und den Stoffwechsel bei
Tag und Nacht miteinander in Einklang.
Täglich aufs Neue synchronisiert sich
die innere Uhr mithilfe des Tageslichts
mit der jeweiligen Ortszeit. Ist das nicht
möglich, entsteht ein lichtunabhängiger,
‚freilaufender‘ zirkadianer Rhythmus, der
eine Störung vieler Körperfunktionen
mit sich bringt.4
Störungen dieser inneren Uhr können
zu einer Reihe von Verhaltensstörungen
(etwa beim Schlafen und Essen) sowie zu
Gemütsschwankungen, in den Wintermonaten auch zu Depressionen führen.
Diese Auswirkungen legen nahe, dass
es einen für Menschen lebenswichtigen
Hell-Dunkel-Zyklus gibt, zu dem zeitliche und spektrale Komponenten gehören
und der für unser Wohlbefinden essenziell ist. Unser gegenwärtiger Lebensstil
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Seiten 46/47 Auch in Zeiten
elektrischen Lichts hat sich
wenig an dem grundlegenden
Bedürfnis der Menschen geändert, ihre Tätigkeiten im Licht
der Sonne zu verrichten.
Rechts Tageslicht unterstützt
uns nicht nur beim Sehen – der
Mensch spürt die Sonne auch,
und seine Psyche und Physis werden maßgeblich von
ihr beeinflusst. Beides muss
beim Entwerfen von Gebäuden
Berücksichtigung finden.
hängt jedoch sehr stark von der Nutzung
künstlichen Lichts ab. Dies führt nach
und nach dazu, dass sich die Menschen
insbesondere in den Städten in nicht
unerheblichem Maße von der Natur und
dem Tageslicht isolieren. So entsteht ein
Widerspruch zwischen dem Lebensstil
der Menschen und den Umwelteinflüssen, die sie benötigen, um Gesundheit
und Wohlbefinden im Gleichgewicht zu
halten.
Schlussfolgerungen für die
Architektur
All diese wissenschaftlichen Erkenntnisse und Alltagsbeobachtungen zeigen
deutlich, dass dem Menschen ein Verlangen nach Tageslicht angeboren ist, das
nicht adäquat von alternativen (künstlichen) Lichtquellen gestillt werden
kann. Daraus ergibt sich die Frage, wie
die Architektur – und insbesondere die
Gestaltung zukünftiger Gebäude – besser
auf die Interaktion zwischen Mensch und
Tageslicht eingehen kann.
Architektur hat bislang in einem
Vakuum gearbeitet, da sie abgekoppelt
war von den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Auswirkungen
des Tageslichts auf Psyche und Verhalten. Stattdessen maß sie den Nutzen des
Lichts vorwiegend an dessen funktionaler Zweckerfüllung (Beleuchtungsstärke
bei der Arbeitsplatzbeleuchtung usw.),
dem ästhetischen Ausdruck von Licht
und der künstlerischen Verwendung
von Tageslicht als Ausdrucksmittel der
Architektur selbst. Tageslicht bedeutet
jedoch, wie ausführlich dargelegt, noch
weitaus mehr für die Menschen. Dringend notwendig ist daher der Beitrag von
Experten aus anderen Fachgebieten, um
neue Handlungsansätze und Methoden
zur Einbindung von Tageslicht in die
Architektur der Zukunft zu entwickeln.
Insbesondere die Umweltpsychologie,
die Anthropologie und die Neurowissenschaften sind Kerngebiete, mit denen
sich die Architektur möglichst sofort auseinandersetzen sollte.
Damit es jedoch zu dieser interdisziplinären Zusammenarbeit kommen kann,
muss der Dialog zwischen der wissenschaftlichen Forschung und der Archi48
tektur erleichtert werden. Diese beiden
Felder waren traditionell zwei Seiten „Der Reiz des Tageslichts besteht
derselben Medaille, aber sie blieben in
darin, dass es unsere nachhaltigsihren jeweils eigenen Fachkreisen ver- ten Erinnerungen bildet, tief in
haftet; Überschneidungen gab es fast nur
unsere Wahrnehmung und Gefühle
im Bereich der Technologieentwicklung
einwirkt
und unsere Vorstellung
für Bauprozesse, -elemente und -provon
Zeit
und
Ort beeinflusst. Licht,
dukte. Die Wissenschaft stellt Fragen
und entwickelt pragmatische Untersu- das auf ein Gebäude fällt, macht
chungsmethoden, ohne dabei notwendi- dieses nicht komplett sichtbar; es
gerweise Antworten oder abschließende
schafft vielmehr einen ÜbergangsLösungen zu finden. Architektur dagegen
zustand, der einen Schleier über
siedelt sich zwischen Naturwissenschaf- die architektonische Form legt.
ten, Ingenieurtechnik und Kunst an. Ihre
Vorstellungen von Raum, TranspaVorgehensweise basiert auf Versuch und
renz, Helligkeit und Dunkelheit,
Irrtum (trial and error) sowie auf einer
massiv
und offen kommen aus
Abfolge iterativer Entwurfsschritte, die
diesem
Erinnerungspool, der
implizit Zukunftsszenarien projizieren.
unsere
Sinne
steuert und unser DaHäufig bedarf die Architektur daher eines
sein
ins
Gleichgewicht
bringt.“
Vertrauensvorsprungs, um das Bekannte
neu zu definieren, denn sie vertraut meist
Brent Richards
stärker auf die kreative Intuition als auf
wissenschaftliche Argumente.
Eine der großen Herausforderungen
ist in diesem Zusammenhang die Förde- visuellen Aspekte betrachtet werden.
Die nicht sichtbaren Auswirkungen sind
rung des Wissenstransfers zwischen der
Welt der Wissenschaftler – der Tages- ebenso real und von wesentlicher Bedeulichtspezialisten, Psychologen und Neu- tung. Ferner müssen alle Eigenschaften
rowissenschaftler – und den Architekten. des Lichts in Betracht gezogen werden.
Letztere müssen Form und Konstruktion, Licht ist nicht nur eine Quelle natürlicher
soziale und klimatische Aspekte – inklu- Energie im physikalischen Sinne. Auch
sive des Tageslichts – zu einer funkti- seine Dauer, Intensität und spektrale
Zusammensetzung wirken sich auf das
onal schlüssigen, aber auch ästhetisch
befriedigenden Lösung zusammenfüh- zirkadiane System des Menschen aus,
das sich über Tausende von Jahren entren. Zweifellos könnte die Architektur
wickelt hat. Künstliches Licht, unabhänpositive Auswirkungen auf die gebaute
gig davon, wie gut es ist, existiert erst seit
Umwelt und einen tiefgreifenden, ebenso
kurzer Zeit und hat auch deshalb nicht
positiven Einfluss auf das Wohlbefinden
die gleiche Wirkung auf die menschliche
der Menschen haben. Doch damit dies
Physiologie.
geschehen kann, ist ein kontinuierlicher
Zweitens kann Architektur nicht anAustausch von Ideen und Wissen in beide
Richtungen erforderlich, aus der Wissen- hand allgemeiner Prinzipien oder für
schaft in die Architektur und umgekehrt. nicht genau festgelegte Standorte geplant
werden, sondern muss entsprechend der
Bislang steckt die Erforschung der nicht
jeweiligen geografischen Koordinaten
sichtbaren Auswirkungen des Lichts auf
den Menschen noch in den Kinderschu- entwickelt werden. Bei Gebäuden ist
nicht nur die Ausrichtung wichtig, sonhen. Sie gilt es voranzutreiben, und ihre
dern auch der Breitengrad, die Anzahl der
Erkenntnisse müssen in der Architektur
Sonnenstunden am speziellen Standort,
genutzt werden.
die Nähe zu natürlichen Gegebenheiten
Alle diese Überlegungen werden sich
wie Wäldern, Seen oder dem Meer sowie
in Zukunft erheblich auf die Arbeit von
Architekten und Lichtplanern auswirken. die Offenheit des Grundstücks, um die
Zum einen kann Belichtung in Gebäu- Potenziale des Tageslichts optimal zu
nutzen.
den nicht mehr nur im Hinblick auf ihre
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Selbst in introvertierten Gebäuden kann Tageslicht eine wichtige Verbindung zur Natur
herstellen. Seine Variabilität und
ständigen Veränderungen sind
in der Wahrnehmung des Menschen positiv konnotiert und lassen sich durch künstliches Licht
kaum nachbilden.
Drittens sollten Architekten sehr gut
belichteten Räumen in Gebäuden Priorität einräumen, wie etwa Sonnenplätzen
in Erkern, der natürlichen Belichtung
auch tieferer Räume sowie deutlich mehr
Tageslicht insbesondere in Wohnräumen,
um signifikant höhere Tageslichtquotienten zu erreichen.
Ein Blick in die Zukunft
Die Verbindung der Architektur zum
Tageslicht umfasste schon immer eine
konstruktive und eine ästhetische Ebene.
Architekten nutzen Licht, um Formen
und räumliche Bezüge zu akzentuieren.
Licht dient ihnen aber auch dazu, Bauteile zu entmaterialisieren, der Materialität
entgegenzuwirken und auf diese Weise
Räumlichkeit zu erzeugen. Im Idealfall
stellt Licht so eine poetische Verbindung
zwischen Konstruktion und Raum her. 5
Die Architektur der Moderne strebte
danach, Licht und Raum gleichermaßen
mehr Freiheit zu geben. Mit Glas als
grundlegendem Baumaterial wollten
die Architekten der Moderne diese Verbindung zum Licht erreichen. Erkennbar
wird dies an Arbeiten wie dem Glaspavillon von Bruno Taut für die Werkbundausstellung in Köln (1914), dem Haus
Tugendhat in Brno (1928) sowie dem
deutschen Pavillon in Barcelona (1929)
von Mies van der Rohe und der Maison de
Verre in Paris von Pierre Chareau (1931).
Weitere bekannte Beispiele sind die Villa
Savoye in Poissy von Le Corbusier (1931)
und das Farnsworth House in Illinois von
Mies van der Rohe (1946). Diese Architekten arbeiteten erfolgreich mit Spiegelungen, Transparenz und Transluzenz und
strebten mit ihren Bauten nach einer
‚Entmaterialisierung‘ der Architektur,
um einen erhabenen Raum zu schaffen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte eine Reihe internationaler
Architekten wie Rafael Moneo, Toyo Ito,
Stephen Holl, Peter Zumthor, Herzog &
de Meuron, Erick van Egeraat, SANAA
und John Pawson das Streben nach Entmaterialisierung des Raumes fort. Dabei
legten sie den Fokus auf die sinnliche Erfahrung des Tageslichts und versuchten
so, Architektur um eine metaphysische
Komponente zu bereichern.
Die wichtigste Schnittstelle für Tageslicht in der Architektur – und zugleich
dessen Filter – war und ist das Fenster.
Durch die Verwendung von Glas ließ
sich das Fenster in die architektonische
Form integrieren und eine Gebäudehülle
erzeugen, die die Innenraumtemperaturen kontrolliert und zugleich die Vorteile
des Tageslichts für den Bewohner nutzbar macht. Die Gebäudehülle wurde so zu
einem wesentlichen Kennzeichen dafür,
wie Architekten ihre Vision von Architektur mit dem Wohlbefinden und der Behaglichkeit der Nutzer und Bewohner in
Einklang gebracht haben.
Heute bilden Fenster einen wesentlichen Teil jeder Gebäudehülle, und Glas
ist zur Schnittstelle von Tageslicht und
Wohnen, von Behaglichkeit und Wohlbefinden geworden. Aufbauend auf dem
Vermächtnis von Frank Lloyd Wright und
Mies van der Rohe sehen wir heute ein
neues Zeitalter humaner und nachhaltiger Architektur entstehen. In diesem
Zeitalter ist der Architekt ein Experte mit
breit gefächertem Wissen, der Komplexität und Wandel in seine Entwürfe einbeziehen kann; und er ist ein am Menschen
orientierter Architekt mit einem starken
Bewusstsein für den Wert des Tageslichts
als lebensspendende Substanz.
Notwendig sind heute intensive Forschungsarbeiten in einem neuen Bereich,
der sich als ‚Anthropologie des Tageslichts‘ oder als ‚Kultur der Transparenz‘
bezeichnen ließe und der alle Gebäudetypen betreffen sollte. Darüber hinaus
muss die Gelegenheit ergriffen werden,
das Wohlbefinden des Menschen stärker
in den Vordergrund der Architektur zu
rücken. Dabei muss aber auch deutlich
werden, dass diese Aufgabe nicht allein
den Architekten überlassen werden kann.
Es sind Expertenteams notwendig, um
das Wissen um Tageslicht zusammenzutragen und zu erweitern, neue Methoden
des Planens und Bauens zu entwickeln
und praxisorientiert statt nur theoretisch arbeiten. Denn schließlich steht
uns Tageslicht umsonst zur Verfügung,
und soweit heute erkennbar für immer
– es bietet den einzigen Weg, das Leben
in der Zukunft wirklich nachhaltig zu
gestalten.
Brent Richards ist Architekt, Designer und Wissenschaftler. Derzeit ist er Vorsitzender bei The
Design Embassy Europe, einer interdisziplinären Kreativ-Beratungsagentur in London, deren
Fokus auf Architektur, Raumkonzepten und
Versuchsumgebungen liegt. Darüber hinaus ist
Brent Richards Leiter für Europa und Skandinavien von Transpolis Global – Urban Designers and
Architects. Für seine wegweisenden Arbeiten zu
neuen Nutzungen der Glastechnologie erhielt er
1995 den International Benedictus Award (USA)
von Du Pont und dem American Institute of Architetcs (AIA).
Anmerkungen
1. Alexander, C. (1979): ‘The Timeless Way of Building’, Oxford University Press – ‘Patterns which
are alive’ (S. 111)
2. Heerwagen, J.H. (1990): ‘Affective Functioning,
Light Hunger and Room Brightness Preferences’. In:
Environment and Behavior, 22 (5), S. 608-635
3. Turrell, J. (2009): ‘Geometry of Light‘, Hatje
Cantz Verlag (S. 21)
4. Foster, R.G. (2011): ‘Body Clocks, Light, Sleep and
Heath’, in: Circadian and Visual Neuroscience
5. Richards, B. (2006): ‘Space Light and Transformation – Glass Architecture for the 21st Century’
Laurence King Publishers
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ARCHITEKTUR
& TAGESLICHT
Die Bedingungen, unter denen Architektur entsteht, sind in jedem Klima
und in jeder Kultur andere. Doch viele Bedürfnisse der Menschen, denen
diese Gebäude dienen, gleichen sich in aller Welt: Komfort, Schutz und
Geborgenheit, aber auch der Wunsch nach intensivem Kontakt zur Natur
und vor allem zum Tageslicht. Folglich muss jedes Gebäude aufs Neue
zwischen individuellen Ausgangsbedingungen und universellen menschlichen Bedürfnissen vermitteln. Wie das gelingen kann, zeigen auf den
folgenden Seiten vier Architekturbüros aus allen Teilen der Welt: Will
Bruder aus Phoenix, SANAA aus Tokio, Jarmund/Vigsnæs aus Oslo und
Lacaton & Vassal aus Paris.
Die Fotografien, die Thekla Ehling für Daylight & Architecture angefertigt
hat, machen die Gebäude der vier Architekten in ihrer Interaktion mit dem
Nutzer sichtbar. Die vielfältigen Ausprägungen des Lebens, die sich auf
den Abbildungen zeigen, lassen sich unmöglich beim Entwerfen vorausahnen. Doch Architekten können ihnen in ihren Gebäuden Raum geben
und so Gewähr dafür tragen, dass sie eine wirklich nachhaltige Wirkung
auf Mensch und Umwelt entfalten.
53
„Der Blick wandert an ihrer Oberfläche
entlang nach oben, bis zu der Linie, wo
sie den Himmel berühren. Und diese
Linie erklärt alles. [...]. Die besten
Gebäude in der Wüste sind diejenigen,
die einen perfekten Dialog zwischen
Schatten und Licht und zwischen Erde
und Himmel schaff
ffeen.”
Will Bruder
Will Bruder
Agave Library, Phoenix
54
Ein schmale
less Budget und eine
unübersichtl
tliiche städtebauliche
Situa
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on waren die Ausga
gan
n gs punk te für diesen Bibliotheksbau in
einem Außenbezirk von Phoenix
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Will Bruder entwar f eine off
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gten Materialien, die ihren
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gen Charak ter vor alle
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durch da
dass Tageslicht und den Bezug
zum angrenzenden Wüstenga
garr ten
erhält.
SANAA
SAN
Rolex Learning Center,
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Bibliothek, Hörsaal, Arbeitsplatz,
Cafeteria – da
dass Role
lexx Learni
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Center der Ecole Polytechni
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que
Féderale de Lausanne (EPFL) ist
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less in einem. Alle Nutzungen sind
in einem einzigen, 166 x 121 Meter
großen, lichten Raum zusammengefasst, den die Archi
hittek ten durch
Innenhöfe, Hügel und Täle
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D& A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 1 5
„Wir wollten, da
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lexx Learni
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nz un gestör t ble
leiiben, ohne je
jeg
gliche Einbauten. Dabei veränder t sich die
Decke ständig mit dem Tageslicht.“
Ryue Ni
Nisshi
hizzawa
SA N A A
„Tageslicht ist in Norwegen eher
ein spärliches Gut, vor alle
lem
m
im Winter. Zudem fällt es häufig aus sehr flachen Winkeln ein
– da
dass macht es zur Herausforderung für je
jed
den Archi
hittek ten, dieses Licht in die Häuser zu bringen.“
” Tageslicht hat mit Leichti
tig
gkeit
zu tun, mit der Er fahrung des
Klimas und da
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mit, seiner Umgebung sehr nahe zu sein.“
Anne Lacaton
Lacaton & Vassal
Håkon Vigsnæs
Jarmund/ Vigsnæs
Ja r m u n d / V i g s n æ s
Turtagrø Hotel, Sognefjell
lle
et
Das Hotel Tur tagrø steht an der
Wiege des norwegischen
Alpini
nissmus und ersetzt einen 20
200
01
abgebrannten Vorgä
gän
ngerbau. Halb
Haus, halb Turm, folgt da
dass Gebäude
mit seiner Dachsilhouette den
Formen der umliegenden
Gebirgskette. Die großen und doch
tieef ins Gebäude eingeschni
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nitttenen
Fenster symbolisieren Geborgenheit und Öff
ffn
nung – zwei Extreme,
die Jarmund/ Vigsnæs in all ihren
Entwür fen in Einklang zu bringen
su c h e n .
Lacaton & Vassal
Reihenhäuser, Mulhouse
Viel Raum und vi
vieel Tageslicht mit
begrenzten Budgets bereitzustelle
len
n
– dieses Ziel ver folgen Lacaton &
Vassal in all ihren Projek ten. Ihr
Gebäude in Mulhouse vereint 14
Einfamilienhäuser, deren Obergeschosse von Gewächshäusern aus
Stahl und Polycarbonat gebildet
werden. Wohnen, Essen, Schl
hlaafzimmer und Garage sind je
jew
weils Teil
eines Raumkonti
tin
nuums, da
dass sich über
zwei Etagen und über die gesamte
Gebäudeti
tieefe von rund 18 Metern
e r s t r e ck t .
55
WILL
BRUDER
„LICHT BESTIMMT
UNSEREN
LEBENSWEG“
Seit 40 Jahren lebt und arbeitet der amerikanische Architekt Will Bruder
in Phoenix (Arizona). Seine Architektur spiegelt die umliegenden Wüstenlandschaft, ihre Formen und Farben und ihr Tageslicht wider. Im Gespräch
mit Daylight & Architecture erläutert Will Bruder, wie Tageslicht
Menschen verbindet – miteinander, mit ihrer Umwelt, mit dem Faktor
Zeit und mit dem Universum.
Interview mit Will Bruder
Fotos von Thekla Ehling
Mr. Bruder, wir führen dieses Interview
um sechs Uhr morgens in Phoenix, wo Sie
leben und arbeiten. Mögen Sie die frühen
Morgenstunden?
Normalerweise stehe ich gegen fünf Uhr
auf, weil ich gerne die Sonne aufgehen
sehe. Licht gibt mir Kraft, und bei Sonnenaufgang bin ich am wachsten und
kreativsten. Weil wir uns momentan den
kürzesten Tagen im Jahr nähern, ist die
Sonne allerdings noch nicht aufgegangen, das wird noch mehr als eine Stunde
dauern.
diese Gegend mit ihrem Tageslicht so
besonders?
„Die Luft ist so klar, dass man
Die Landschaft in Arizona definiert sich
immer den Horizont sehen kann,
über ihre Grenzen. Selbst in der Wüste
auch noch in einer Entfernung von
wächst hier eine üppige Vegetation. Die
mehr als 70 Meilen. Ich sehe den
Luft ist so klar, dass man immer den HoHorizont selbst von meiner Wohrizont sehen kann, auch noch in einer
nung in Phoenix aus. Zudem kann
Entfernung von mehr als 70 Meilen. Ich
ich
an der Farbe des Lichts und an
sehe den Horizont selbst von meiner
den
Schatten auf den Bergen rings
Wohnung im Zentrum von Phoenix aus.
um
die
Stadt die Tageszeit
Zudem kann ich an der Farbe des Lichts
und an den Schatten auf den Bergen rings
ablesen.“
um die Stadt die Tageszeit ablesen.
Gibt es eine Art Architektur für die dunklen
Jahreszeiten?
In den frühen 90er-Jahren – es war im
Februar – machte ich erstmals mit den
Werken Alvar Aaltos Bekanntschaft. Ich
erkannte, dass Aaltos Architektur das
Tageslicht ebenso thematisiert wie das
mysteriöse Licht des skandinavischen
Winters. Bei Dunkelheit wirken seine
Gebäude nicht nur als ‚Laternen’ für die
umliegenden Gemeinden. Sie verstärken auch das wenige Licht, das bis zum
Erreichen völliger Finsternis herrscht.
Ich fand das sehr beeindruckend: Jeder
spricht von Alvar Aaltos Architektur im
Sommer, aber der Besuch dort im Winter führte mir die Subtilität von Licht und
Dunkelheit vor Augen.
Warum ist das Wüstenlicht in Arizona so
klar?
Aufgrund der Vegetation ist der Feinstaubgehalt der Luft relativ gering. Deshalb kann man hier weiter sehen als zum
Beispiel in Großstädten in der arabischen
Wüste, wo das Sichtfeld oft am Stadtrand
endet. Andererseits ist genug Staub in der
Luft, um das Licht erheblich zu mildern.
Das liegt an unserer verhältnismäßig
niedrigen Höhenlage. Weiter oben in den
Bergen ist die Luft noch klarer und das
Licht sehr grell, fast kristallin.
Ganz besonders interessant sind auch
die Sonnenwinkel hier in Arizona. Wegen
der relativ geringen Höhe scheint die Sonne während etwa vier Monaten im Sommer auf die Nordseite der Gebäude.
All diese Faktoren nehmen großen Einfluss auf unsere Architektur. In der Wüste
ist das Licht für uns Architekten ein essenzieller Bestandteil jedes Entwurfs.
Die meisten Ihrer Gebäude bauten Sie in
Arizona, einer völlig anderen Landschaft
als der Wirkungsstätte Aaltos. Was macht
59
Will Bruder vergleicht die Bibliothek mit einem ‚offenen Buch’, in
dem sich Architektur lesen und
verstehen lässt. Nahezu alle
Elemente des Innenraums bis hin
zur Haustechnik sind sichtbar;
kaum etwas wurde verkleidet.
„Bei Bauten an lichtdurchfluteten
Orten bleiben kein Defekt und kein
Mangel unentdeckt. Die Kraft des
Lichts offenbart alle Eigenschaften einer Maueroberfläche, ob gut
oder schlecht.“
60
Wie reagieren Ihre Gebäude auf das Licht
in Arizona?
Schon früh machte ich eine Erfahrung
mit dem Licht hier, die einen bleibenden
Eindruck hinterließ. Ich bin in Minneapolis im Norden der USA aufgewachsen
und kam zum ersten Mal mit Anfang
zwanzig in die Wüste Arizonas, um bei
Paolo Soleri in seinen Cosanti Studios
zu arbeiten. Wenig später, noch während
meiner Ausbildung, arbeitete ich am Bau
einer kleinen, sehr einfachen Schulturnhalle. Sie war eigentlich nur ein Mauergeviert mit einem Dach darüber, und es
war nicht Bestandteil des Auftrags, Tageslicht in die Halle zu bringen. Eines Tages
aber betrat ich den halbfertigen Bau, die
Wände waren schon hochgezogen und
die vorgefertigten Betonplatten für das
Dach bereits positioniert. Es war zwölf
Uhr mittags, daher fiel das Licht genau
von oben ein. Weil das Dach noch nicht
eingedeckt und gedämmt war, gab es eine
schmale Lücke von etwa einem Zentimeter zwischen den Dachplatten und den
Mauerwänden. Durch diese Lücke drang
das Sonnenlicht, ließ die ganze Wand bis
zum Boden erstrahlen und offenbarte
jede Nuance im Mauerwerk. Da erkannte
ich, dass ich mit dieser simplen Struktur
einen Tempel geschaffen hatte. Niemals
hätte ich mir träumen lassen, solch einen
erstaunlichen Raum zu kreieren.
Nur eine Woche später kam ich wieder
auf die Baustelle: Das Dach war fertig und
mein Tempel im wahrsten Sinne des Wortes verschwunden. Ich aber behielt diese
Erfahrung in meiner Erinnerung, bis ich
den Bauauftrag für die Phoenix Central
Library erhielt und somit Gelegenheit
bekam, meinen ‚Tempel’ nachzubauen.
Der hier vom Sonnenlicht erzielte Effekt
ist nahezu derselbe. Vorgefertigte Betonmauern, jede mindestens 2½ Meter
dick und nahezu fugenlos, flankieren den
großen Lesesaal. Wieder gibt es eine Lücke zwischen Dach und Mauerwerk. Bei
normalem Licht sehen die Wände völlig
glatt und eben aus. Mittags aber, wenn die
Sonne senkrecht über dem Gebäude steht
und die Mauern in Streiflicht taucht, offenbart sich jede Unregelmäßigkeit. Mit
schwindendem Sonnenlicht jedoch sehen die Wände wieder perfekt aus.
Das hat mich gelehrt, dass bei Bauten
an lichtdurchfluteten Orten kein Defekt und kein Mangel unentdeckt bleiben. Die Kraft des Lichts offenbart alle
Eigenschaften einer Maueroberfläche, ob
gut oder schlecht.
Etwa fünfzehn Jahre nach der Phoenix
Central Library haben Sie die Agave Library in Phoenix fertig gestellt, die auch in
diesem Beitrag zu sehen ist. Welche Vorstellungen von Tageslicht, Material und
Raum waren für Sie bei diesem Gebäude
entwurfsbestimmend?
Ebenso wie die Phoenix Central Library kombiniert die Agave Library eine
schlichte, pragmatische Lösung mit
der Poesie des Lichts. Bei dem Gebäude
waren drei Elemente entwurfsbestimmend: ein riesiges, halbdurchlässiges
‚Screen’ entlang der Straße, das Gebäude
selbst mit dem benachbarten Garten, und
schließlich der Innenraum.
Das Screen grenzt das Gebäude und
den angrenzenden Garten vom öffentlichen Raum ab und verleiht der Bibliothek eine stärkere Präsenz in ihrem
suburbanen Umfeld. Die Wirkung dieser
Kulissenwand ist mit den überhöhten
Fassaden der Häuser in Westernfilmen
vergleichbar. Eine weitere Inspiration
waren die alten Autokinos, deren riesige Leinwände früher mitten in der Natur
der amerikanischen Landschaft aufragten. Gefertigt ist sie aus galvanisierten
Hohlprofilen aus Metall, die auf einem
freitragenden Stahlrahmen montiert
sind.
Auf dem Screen steht in großen Lettern das Wort ‚Agave’ aus einer reflektierenden Kunststofffolie, die üblicherweise für Autobahnschilder benutzt wird.
Fällt das Licht aus einem bestimmten
Winkel auf die Folie, wird der Name des
Gebäudes für die Passanten sichtbar.
Aber nicht nur dann: Manchmal konnte
ich beim Landeanflug auf Phoenix am
frühen Morgen oder späten Nachmittag den Schriftzug ‚Agave‘ vom Fenster
des Flugzeugs aus einer Höhe von 1.500
Metern lesen. Eine wunderbare und eindrucksvolle Erfahrung!
Das zweite grundlegende Entwurfselement sind das Gebäude selbst und der
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Im Innenraum kombinierte
Will Bruder zwei wesentliche Tageslichtquellen: kreisrunde Oberlichter für die diffuse
Grundbeleuchtung und senkrechte Wandschlitze in der
Südfassade, um scharf umrissene ‚Lichtbalken’ auf den Boden
zu projizieren.
Wüstengarten auf seiner Südseite. Die
Bibliothek ist ein schlichter Steinbau,
dessen Fassaden klar in geschlossene
Wandflächen und Tageslichtöffnungen
gegliedert sind. Die leicht grünlichen
Steine der Außenmauern harmonieren
farblich mit der Landschaft. Die Mauersteine wurden nicht im traditionellen Verbund vermauert, sondern mit
Hilfe von Stahlstangen nachträglich
verspannt. Das erlaubte uns eine plastischere Gestaltung der Fassaden.
Auf der Nordseite fügten wir in Fußgängerhöhe senkrechte Schlitze ins Mauerwerk ein und drehten ganze Stapel von
Steinen leicht aus der Wandebene heraus.
Auf diese Weise entsteht auf der Fassade
ein Muster aus Flächen und (Schatten-)
Linien, das an ein Mondrian-Gemälde
erinnert.
Die Südfront des Gebäudes ist das
genaue Gegenteil: Hier scheint ein massiver Mauerblock auf Glas zu schweben.
Auf Fußgängerhöhe ist die Fassade komplett geöffnet, lediglich unterbrochen
durch schlanke Stahlstützen, die das
Mauerwerk darüber tragen. Nachdem
man das Gebäude durch die geschlossene
Nordfassade betreten hat, öffnet es sich
unvermittelt zu völliger Transparenz
und gibt den Blick auf den Garten an der
Südseite frei. Bibliothek und Garten verschmelzen miteinander.
Das dritte Entwurfselement ist der
Innenraum. Es handelt sich um einen
durchgehenden Großraum, in dem sich
alles auf sein Zentrum – eine elliptische,
von oben natürlich belichtete Informationstheke – konzentriert. Die Agave Library ist einzigartig in Amerika, weil es hier
nur einen einzigen Servicepunkt gibt, der
von allen Teilen des Gebäudes einsehbar
ist und selbst das gesamte Gebäude ‚im
Blick’ hat.
Innen wie außen präsentiert sich die
Bibliothek als schlichte, zweckmäßige
‚Box‘ mit Sichtmauerwerk und sichtbaren
Holzträgern. Die Holzstruktur des Dachs
liegt komplett offen, ebenso die darin und
darunter verlaufenden Rohrschächte.
Durch die Dachfenster einströmendes
Tageslicht betont die Struktur zusätzlich.
Das gesamte Gebäude verfügt über zwei
verschiedene Lichtöffnungen: einerseits
Dachfenster, die diffuses Licht verbreiten,
andererseits senkrechte Schlitze in den „Ich interessiere mich für das
Fassaden, die breite Lichtstriche auf die
Spannungsfeld zwischen der
Innenwände und Böden projizieren.
Herstellung von Dingen und ihrer
Inwieweit basiert die Agave Library auf
Ihren vorherigen Erfahrungen mit der
Phoenix Central Library?
Die Verwandtschaft zwischen den beiden
Gebäuden zeigt sich, denke ich, ganz offensichtlich. Beide Gebäude zeichnen
sich durch intuitive Schlichtheit aus.
Beide sind wie offene Bücher, in denen
man Architektur ‚lesen‘ kann; sie offenbaren dem Nutzer ihre Konstruktion bis
in den Kern. Nichtsdestotrotz wohnt beiden Gebäuden eine gewisse Poesie durch
die bewusste Formung von Material und
Licht inne. Sie bereichern unsere Wahrnehmung des Tageslichts und schärfen
unsere Sinne für die subtilen Feinheiten
der Wüste im Hintergrund.
poetischen Wahrnehmung. Immer
versuche ich, Gewöhnliches
außergewöhnlich zu gestalten. Bei
jedem Betonblock, Holzstück oder
auch bei ‚alltäglichem’ Licht stelle
ich mir stets dieselbe Frage: ‚Wie
kann man diesem gewöhnlichen
Ding Raum geben, um Außergewöhnliches zu schaffen?‘“
Ursprünglich ließen Sie sich zum Bildhauer ausbilden, stark beeinflusst durch
die großen amerikanischen Land-ArtKünstler wie Robert Irwin und Walter de
Maria. Inwiefern wirkt sich das auf Ihre
Architektur aus?
Ich interessiere mich für das Spannungsfeld zwischen der Herstellung von Dingen und ihrer poetischen Wahrnehmung.
Immer versuche ich, Gewöhnliches außergewöhnlich zu gestalten. Bei jedem
Betonblock, Holzstück oder auch bei
‚alltäglichem’ Licht stelle ich mir stets
dieselbe Frage: „Wie kann man diesem
gewöhnlichen Ding Raum geben, um
Außergewöhnliches zu schaffen?“ .
Ein weiterer Aspekt ist die Beziehung
meiner Gebäude zu ihrer Umgebung.
Beim Wandern durch die Wüste Arizonas tauchen die Gebäude plötzlich wie aus
dem Erdboden auf. Der Blick wandert an
ihrer Oberfläche entlang nach oben, bis
zu der Linie, wo sie den Himmel berühren.
Und diese Linie erklärt alles. Man trifft
dieses Phänomen in den Wüsten überall
auf der Welt an, sei es in Marokko, im mittleren Osten oder eben in Arizona. Die besten Gebäude in der Wüste sind diejenigen,
die einen perfekten Dialog zwischen Dunkelheit und Licht und zwischen Erde und
Himmel schaffen.
63
Seite 66 Zu ebener Erde öffnet
sich nahezu die gesamte Südfassade der Bibliothek zum angrenzenden Wüstengarten. Schlanke
Rundstützen aus Stahl halten die
massive Mauerwerkswand, die
den oberen Teil der Fassade einnimmt.
Seiten 67–69 Mit einem durchlässigen ‚Screen’ aus Hunderten
einzelner Metallprofile schirmt
sich die Bibliothek von ihrer
Umgebung ab. Gleichzeitig verleiht dieses frei stehende Element dem Gebäude in seinem
kommerziellen Umfeld Präsenz.
“Bedenken Sie, welch positive
Auswirkungen die kreative
Nutzung des Tageslichts auf das
Arbeitsverhalten und die Arbeitsstrukturen von Menschen haben
kann.”
Welchen Einfluss nehmen Aspekte wie
Tageslicht und Ausblick auf Ihre Wohnhäuser?
Auch das lässt sich am besten an einem
konkreten Beispiel verdeutlichen. Das
Haus Hill/Shepard, das wir 1993 entworfen haben, liegt in einem bergigen
Stadtteil von Phoenix. Weniger als einen
Kilometer davon entfernt – und 500 Meter höher – befindet sich eine Bergspitze,
auf die die Ausblicke aus dem Gebäude
fokussiert sind. Der Zugang zum Gebäude führt von Osten nach Westen von der
Straße eine Außentreppe hinauf und
durch einen Hof ins Haus. .
Über dem großen Wohn- und Esszimmer haben wir ein Dachfenster eingefügt, das ebenfalls von Osten nach
Westen ausgerichtet ist. Es funktioniert
dadurch wie eine Art Sonnenuhr. Die
privateren Räume im Haus versahen wir
mit einer Reihe kleinerer rechteckiger
Lichtöffnungen, die ich persönlich nicht
als Fenster, sondern als eine Art Kameralinsen definiere. Dahinter steckte die
Absicht, den Bewohnern immer wieder
eine neue Wahrnehmung ihres ansonsten
vertrauten Umfelds zu vermitteln. Die
Position dieser Öffnungen legten wir in
der Planungsphase noch nicht fest, sondern nur ihre Anzahl: 13. Erst als die Holzrahmenkonstruktion des Hauses stand
und die Wände temporär mit Sperrholz
beplankt waren, ging ich mit den beiden
Hauseigentümern und ihrem Sohn durch
das Haus, um die Anordnung der Fenster
zu bestimmen. Ausgerüstet mit einem
Hammer und einem dicken Nagel schlug
ich an jeder Stelle eines vorgesehenen
Fensters ein Loch, durch das wir hinausblickten und über die Lage diskutierten.
So positionierten wir unter anderem ein
quadratisches, bodentiefes Fenster in der
64
Bibliothek und ein nur 25 Zentimeter großes Fenster exakt auf Augenhöhe – dort,
wo Linda, die Hauseigentümerin, ihren
Schreibtisch einrichten wollte. Diese
Fenster wirken wie Wandgemälde, sind
aber nicht statisch, sondern lebendig.
Ein recht ungewöhnlicher Weg zur Bestimmung der Fensteranordnung. Warum wurde die Anzahl der Fenster vorab
festgelegt?
Es schien mir einfach eine angemessene
Zahl zu sein. Bei zu vielen Fenstern gäbe
es nichts mehr zu entdecken, bei zu wenigen bekämen die Bewohner gar nichts
vom Geschehen draußen mit. Zudem war
unser Budget begrenzt.
Als ich kürzlich ein ehemaliges Kino
in Scottsdale (Arizona) zu einem Kunstmuseum umbaute, entschied ich mich
aus ähnlichen Gründen für eine vergleichbare Vorgehensweise. Dort haben
wir für den Ausstellungsraum StandardDachfenster verwendet.
In Kunstgalerien wird häufig darüber
diskutiert, ob Tageslicht den Kunstwerken schadet. Aber in vielen großen Museen auf der Welt zeigt sich auch, welchen
wertvollen Beitrag natürliches Licht zur
Kunstbetrachtung leisten kann. Deshalb
konnten wir den Museumsdirektor in
Scottsdale schließlich davon überzeugen, kleine Öffnungen in das Dach einzubauen. Weil in unserem 2-MillionenDollar-Budget für den Umbau nur 2000
Dollar für Dachfenster einkalkuliert
waren, kauften wir bei ‚Home Depot’ elf
Standard-Dachfenster zum Preis von 150
Dollar pro Stück. Für manche Ausstellungen werden sie abgedunkelt, für andere
nicht. Im letzteren Fall ist der Lichteffekt
jedes Mal atemberaubend.
Welche Orte und Gebäude – neben Ihren
eigenen – haben Sie aufgrund ihres Tageslichts inspiriert?
Sehr interessant finde ich es, auf einer
Straße in Manhattan zu stehen, quer
über die Stadt zwischen East River und
Hudson zu blicken und zu sehen, wie die
Gebäudeschluchten das Licht im Laufe
des Tages trichterartig konzentrieren.
Das Licht, das ich an einem Ort vorfinde, ist für mich immer eine unschätz-
bare Quelle der Inspiration, nicht nur
in Städten. Im letzten Herbst fuhr ich
durch Indiana im amerikanischen Mittleren Westen. Ständig begegneten mir
die Tabakscheunen, wie sie für diese
Gegend typisch sind – luftdurchlässige
Gebäude zum Trocknen des Tabaks, mit
holzverkleideten Wänden auf beiden Seiten, durch deren offene Fugen die Luft
zirkuliert und die darin hängenden Tabakblätter trocknet. Steht man in einer
solchen Scheune, wird man sofort der
Dynamik ihrer Lichtfilterung gewahr.
Das ist ein einzigartiges Lichterlebnis,
dessen Schönheit mit ganz einfachen
Mitteln geschaffen wurde.
Welche weiteren Bedeutungen hat das
Tageslicht für Sie, abgesehen von den rein
visuellen Aspekten?
Licht bestimmt unseren Lebensweg.
Diese Erfahrung lässt sich bereits machen, wenn man den Weg des Lichts
durch einen Raum verfolgt. Ich sitze
zum Beispiel momentan in unserem
Büro, das ursprünglich ein Tanzstudio
war und nur ein Fenster auf der Ostseite
hatte. Wir haben ein weiteres Fenster in
der Nordwand, unmittelbar neben meinem Arbeitsplatz, eingefügt, dazu noch
fünf kleine Dachfenster. Durch das Ostfenster begrüßen wir den Tag, während
uns das Licht durch die Dachfenster die
Jahreszeit anzeigt. Tagsüber beschatten
wir das Ostfenster mit einem perforierten Sonnenschutz, und die Dachfenster
liefern immer noch genügend Licht und
Energie für den Raum, ohne diesen aufzuheizen.
Dieser Entwurf hat uns den Wert des
Lichts nicht nur für unsere Wahrnehmung, sondern auch in funktionaler Hinsicht verdeutlicht – als kostenlosen Energiespender. Bedenken Sie, welch positive
Auswirkungen die kreative Nutzung des
Tageslichts auf das Arbeitsverhalten und
die Arbeitsstrukturen von Menschen haben kann.
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
SANAA
EINE RÄUMLICHE
EINLADUNG IN
DIE GEGENWART
Bei weitem nicht alle Nutzungsmöglichkeiten im Gebäude sind
vorgegeben. Wie oft in der
Architektur von SANAA erhalten viele Bereiche erst durch die
Anwesenheit der Nutzer ihre
konkrete Definition.
In den besten Gebäuden des japanischen Architekturbüros SANAA formt
das Tageslicht den Raum. Eine neuartige Beziehung zwischen Struktur
und Licht gibt den Bauten Identität, schafft vielfältige Verbindungen
zwischen innen und außen und lässt den Nutzer dadurch das Umfeld des
Gebäudes und dessen räumliches Potenzial erfahren.
Von Per Olaf Fjeld.
Fotos von Thekla Ehling
Aus meinem Eckfenster blicke ich
auf eine schwach beleuchtete Straße im
Zentrum von Oslo und beobachte, wie
ein Nachbar diese langsam überquert.
Er weicht den vereisten Stellen auf der
Fahrbahn aus und blickt sich nochmals
um, ob sich ein Fahrzeug nähert. Die
Szene spielt sich in einem trüben, nordischen Winterlicht ab. Ich selbst sitze unterdessen im bläulichen Schein
meines Laptops. Er strahlt die gleichen
allgegenwärtigen Lichtstrahlen aus, die
Schreibtische, Züge, Busse, und Teenagerzimmer in aller Welt beleuchten.
Doch würden wir ihn deshalb als Lichtquelle betrachten?
Der Laptop ist nur ein Beispiel dafür,
wie die weltweite Konsumgüterindustrie immer stärker auf unsere physische
Umgebung einwirkt – bis hin zum Licht,
mit dem wir uns umgeben. Schnell wird
jedes neue technische Objekt Teil des
Hintergrunds für unser Alltagsleben.
Zugleich verändern sich die Rahmenbedingungen für unser Leben ständig.
Sie werden maßstabslos; die Grenzen
zwischen Privatem und Öffentlichem
sind unablässig in Bewegung.
Die japanische Kultur hat sich der
Technik und ihrer Potenziale seit jeher
auf eine andere Weise bemächtigt als unsere. Sicher hat das Land einen Teil der
weltweit sich ausbreitenden Technologien absorbiert. Doch das öffentliche Alltagsleben in Japan hat sich sein menschliches Antlitz erhalten und Traditionen,
den Dienst am anderen, das Handwerk,
den Zugang zu Naturräumen sowie
Räume der Kontemplation bewahrt. Es
scheint in Japan eine stillschweigende
Übereinkunft darüber zu geben, was
wichtig für das Gemeinwohl ist. Selbst
in den am dichtesten bebauten urbanen
Zentren orientiert sich der öffentliche
Raum am menschlichen Maßstab, und
in der vielschichtigen Stadtgesellschaft
existiert eine hohe Disziplin bezüglich
der Trennung zwischen Öffentlichem
und Privatem. Gerade weil der öffentliche Raum jedermann offensteht, bleibt
der private Raum in sich gekehrt. Der
gemeinsame Nenner zwischen beiden
Räumen ist dabei ihr Bezug zur Natur.
Das Architekturbüro SANAA spiegelt
dieses Bild des modernen Japan in vielfältiger Weise wider. Das Büro ist ein Kollektiv, in dem jedes individuelle Talent
den Wert der Gruppe respektiert. SANAA
bezieht seine Kraft und Vitalität aus einer
fortwährenden Erforschung der Grundprinzipien der Architektur, deren Integrität und der essenziellen Rolle des Tageslichts in diesem Zusammenhang. Es geht
dabei nicht um die Dramatisierung von
Licht- und Schatteneffekten zum Zweck
des künstlerischen Ausdrucks oder der
Unterhaltung, sondern um das Potenzial
von Licht als Raumbestandteil, der unser Wohlbefinden bereichert. Um seine
räumliche Energie freizusetzen, bedarf
es der Interaktion mit dem Menschen.
Einerseits zeichnet sich die Architektur
von SANAA durch höchste Präzision
aus; ihr ist nichts hinzuzufügen oder
wegzunehmen. Andererseits vermittelt
sie ein Gefühl von Abwesenheit, das den
Nutzer unaufdringlich dazu einlädt, sich
auf sie einzulassen. Die Bauten sind nicht
vollständig ohne diese Verbindung zum
Nutzer; ganz gleich, ob es sich hierbei um
einen Museumsbesucher, einen Hausbesitzer oder einfach einen Passanten handelt. Als verbindendes Element wirkt in
jedem Fall das Tageslicht im Inneren des
Gebäudes und im Freien.
Licht, Struktur und Bewohner
Damit Tageslicht Raum formt, wie es in
vielen Gebäuden von SANAA der Fall
ist, müssen diese eine neue Beziehung
zwischen Struktur und Licht entstehen
lassen, die zugleich die Wahrnehmung
von Masse verändert. In einigen Projekten des Büros bilden zahlreiche schlanke
Stützen eine Klammer, die dem Raum
eine ganz eigene Identität verleiht. Noch
wesentlicher ist jedoch die neuartige Beziehung zwischen Konstruktion, Schatten
und Tageslicht, die diese Stützen eingehen. Es ist eindeutig das Tageslicht, das
den Raum formt, nicht die Stütze und ihr
Schatten. Dieser transluzente, sich mit
dem Tageslicht fortwährend verändernde Raum erlaubt dem Nutzer zahlreiche
Möglichkeiten der Aneignung und der
Bezugnahme auf sein Umfeld.
Tageslicht ist nicht das einzige Element, das in den Gebäuden von SANAA
räumliche Bezüge schafft. Pflanzen, Bäume, Gras und Felsen werden von den
Architekten mit der gleichen Präzision
73
An den Grenzen zwischen innen
und außen bricht und reflektiert
sich das Licht ständig aufs Neue.
Je nach Tageszeit und Wetterlage sind Innen- und Außenraum
einmal Teil eines Kontinuums und
dann wieder optisch klar voneinander getrennt.
behandelt wie neue oder bestehende
Bauelemente. Auf diese Weise ist das
Verhältnis Japans zur Natur und zu seiner Architekturtradition im Werk von
SANAA noch immer sehr präsent. Sie
treten jedoch mit verändertem Schwerpunkt auf, wobei die Definitionen von
Schutz, Komfort, Ausblick, Licht und
Zeit neu formuliert und gewichtet
werden. Das Ergebnis sind energetisch
aufgeladene Räume, die die Gegenwart
eines Nutzers erfordern. Eine aufgeklärte Beziehung zwischen Architektur und
Natur reicht weit über die Erfüllung von
Grundbedürfnissen wie dem Schutz vor
Naturgewalten hinaus. SANAA schrecken vor dieser Komplexität nicht zurück
und machen auch nicht den Versuch, das
Tageslicht aus der Gesamtheit der Natur
herauszulösen.
Licht zwischen innen und aussen
In vielen Gebäuden sind SANAA bestrebt,
den Innenraum und seine Aktivitäten mit
dem ständig sich verändernden Außenraum zu verbinden. Die Grenze zwischen
innen und außen kann je nach Situation
als hermetisch oder, später, bei anderen
Lichtverhältnissen, als diffus erscheinen.
Der Innenraum zieht die Konzentration
des Nutzers auf sich und veranlasst ihn
zum Handeln. Dennoch wirkt das, was
draußen geschieht, auf seine Wahrnehmung des Innenraums zurück. Dieser
Innen-außen-Bezug schafft räumliche
Sequenzen, die sich durch unterschiedliche Lichtverhältnisse differenzieren.
Diese beeinflussen wiederum die Bewegungen des Nutzers im Raum und seine
Handlungen. Auf diese Weise schaffen
SANAA durch Tageslicht eine räumliche
Vielfalt, für die das Nutzungsprogramm
oder die Wünsche des Auftraggebers nur
ein erster, ungefährer Ausgangspunkt
sind.
Die offenen Innenhöfe, die oft im
Werk von SANAA zu finden sind, vermitteln zwischen innen und außen sowie
zwischen Kultur, Raumprogramm und
Natur. Sie lassen das Tageslicht tief in die
Innenräume dringen, besitzen jedoch
zugleich eine eigene Räumlichkeit. Auf
diese Weise entsteht kein Widerstreit
zwischen dem Gebäudeinneren und den
74
einzelnen Innenhöfen mit ihrem Licht.
Um diesen Effekt zu erreichen, wählen
SANAA jedes Baumaterial mit äußerster
Sorgfalt aus und beurteilen seine Fähigkeit, Lichtqualitäten zu verstärken oder
zu verändern. Eine breite Palette an Gläsern, von transparent über opak bis hin
zu aufgedruckten Mustern aus Keramikglasuren, filtert und verändert das Tageslicht. Die komplexe Schichtung der Fassaden beeinflusst jedoch nicht nur das
Licht im Innenraum, sondern auch den
Ausblick auf die umliegende Landschaft.
Das Fassadenmaterial leistet dem Blick
Widerstand und abstrahiert ihn zugleich.
Auf diese Weise aktiviert die Fassade die
Grenze zwischen innen und außen eher,
als sie zu determinieren.
Lichträume statt Lichttechnik
Technologie als Mittel, um natürliches
Licht mit größerer Präzision zu nutzen, hat eine lange Tradition in der Architektur, vor allem in Japan. Doch der
Einfluss moderner Technik und ihrer
globalen Vermarktung auf die heutige
Architektur ist weit vielschichtiger. Unglücklicherweise diente Lichttechnik in
den vergangenen Jahrzehnten oft zur
Kompensation für die Unfähigkeit, die
Licht-Raum-Beziehungen innewohnende Energie bestmöglich zu nutzen. Was
zunächst als ‚energetisch aufgeladener’
Raum erscheint, ist so in Wirklichkeit oft
nur eine Anhäufung moderner Leuchten- und Medientechnik. Diese Raumwirkung altert selten in Würde.
Zwar ist auch die Arbeit von SANAA
stark von Technologie durchdrungen;
diese hat jedoch stets räumlichen Zielsetzungen zu dienen. Technik veraltet,
aber die räumliche Stärke und das stets
variierende Tageslicht verleihen den Gebäuden ihre Individualität und reagieren
zugleich auf die sich verändernde Umgebung. So gerät der Alterungsprozess
eines Produkts gegenüber der Frage in
den Hintergrund, wie gut es räumliche
Anforderungen erfüllt.
Das Museum für zeitgenössische
Kunst in Kanazawa verdeutlicht einige
dieser wichtigen Aspekte. Die Ausstellungsräume, die Innen- und Außenhöfe
und die Zwischenräume zwischen den
Hauptnutzflächen lassen eine geschichtete räumliche Vielfalt entstehen, in
der jeder Nutzer sich seinen eigenen
Weg bahnt. Der Tageslichtraum des
Künstlers James Turrell liegt im Zentrum dieses Raumgefüges. Er bildet ein
bewegliches Stillleben, eine zum Himmel geöffnete Lichtkammer. Tageslicht
und Abendlicht sowie der Mond und die
Sterne am Nachthimmel proben in diesem Raum eine unendliche Geschichte.
Jeder Besuch ist anders, Regen, Wind,
Strohhalme und Schnee sind ebenfalls
ständige Gäste in diesem Raum. Die eigentliche Öffnung jedoch besteht aus purem Licht. Die Tiefe und Intensität der
Raumerfahrung basieren auf der Natur,
ihrem Licht und der Wahrnehmung des
Besuchers.
Ein weiteres Kernelement des Raumkonzepts ist die Beziehung zum Erdboden. Der Fußboden des Museums und
die Erdoberfläche liegen auf einer Ebene,
wodurch ein nicht aufzulösender Bezug
zur Erde hergestellt wird. Der Museumshorizont ist der Erdhorizont, kein illusionärer Horizont, der durch den Rand
einer Geschossdecke definiert wird.
Viele der räumlichen Fragestellungen aus dem Museum finden sich auch
im Rolex Learning Center in Lausanne
wieder. Hier jedoch werden sie neu verhandelt. Noch immer modifizieren die
Raumstruktur und ihr Material das Tageslicht, aber die Beziehung zwischen
Gebäudequerschnitt und Erdboden ist
aktiver. Die ‚Raumschleife’ des Learning
Center lässt mit ihrer Bewegung ein
Raumkontinuum entstehen; der Nutzer
befindet sich zugleich auf dem Erdboden
und schwebt darüber. Dies hat sehr interessante Auswirkungen auf die Umgebung des Gebäudes. Da die Teile des
Innenraums über dem Geländeniveau
liegen, lösen sich Gebäudehorizont und
Erdboden teils voneinander. Der Außenraum definiert sich auf diese Weise nicht
nur durch seine Konfrontation mit den
Fassaden des Gebäudes, sondern auch
durch die Räume unter dem Gebäude
und durch seine Lichthöfe.
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Rechts Bibliothek, Café,
Arbeitsraum und Hörsaal –
viele Funktionen sind in diesem
Gebäude vereint. Fast nirgends
wurden zu ihrer Abgrenzung
Innenwände benötigt. Lediglich
Wellenberge und -täler zonieren
den Innenraum, indem sie ihn in
Sichtabschnitte unterteilen.
Seiten 78/79 Die Innenhöfe
spielen eine wesentliche Rolle
im Gebäudekonzept. Sie versorgen nicht nur die angrenzenden Räume mit Licht, sondern
bestimmen durch ihre unterschiedliche Größe auch das
Gefühl der Nähe oder Distanz
zwischen ihnen.
Licht und städtischer Kontext
Das Verständnis des Gebäudeumfelds
und der Respekt davor gehören zum
Kern der kreativen Arbeit von SANAA.
Stets versuchen die Architekten, die Qualitäten bestehender Gebäude und ihrer
Umgebung hervorzuheben. Zerstörung
oder ‚Tabula-rasa’-Konzepte spielen in
ihrer Arbeit keine Rolle; vielmehr geht
es ihnen um eine Herangehensweise,
die das Bestehende zu erkunden und
verstärken sucht. Die Lichtverhältnisse
in Bestandsgebäuden sind hierin eingeschlossen. Ein Beispiel hierfür ist die
Umgestaltung des Japanischen Pavillons
bei der 7. Architekturbiennale in Venedig
(2000). Dabei unterschieden SANAA
nicht in ihrer Bewertung von Bestehendem und Zukünftigen; vielmehr war ihre
Reaktion auf den Kontext vielschichtig,
flexibel und fragend und wirkte dadurch
intensiv auf den Betrachter ein.
In einigen Gebäuden von SANAA im
Ausland vermisst man jedoch einen Teil
der Präzision, die ihre Werke in Japan
so einzigartig macht. Das New Museum
of Contemporary Art in New York illustriert diese Problematik. Das Gebäude
tritt mit all seiner spürbaren und intellektuellen Verwundbarkeit in einen
Dialog mit der Stadt, doch New York ist
nicht in der Lage, darauf mit gleicher Offenheit zu antworten. Es wäre zu einfach,
diesen Mangel an Energie einzig dem
Museumsgebäude zuzuschreiben. Die
Situation illustriert vielmehr eine tiefer
liegende Frage – nämlich die, wie gut Architekturkonzepte auf Ortswechsel reagieren. Der Begriff der Dauerhaftigkeit,
wie er in Japan verstanden wird, unterscheidet sich von seiner Bedeutung im
Westen, und diese Bedeutung ist für ein
Verständnis des modernen städtischen
Raums in Japan essenziell. In den Werken von SANAA entsteht räumliche
Präzision im Zusammenklang mit dem
veränderlichen Umfeld und dessen Tageslicht. Die Städte der westlichen Welt
bleiben dagegen ihrer Vorstellung von
Ewigkeit verhaftet. Ihre Architektur
reagiert auf dieses Ewigkeitsbild und
bleibt damit objekthaft, und dies wirkt
sich auch auf die Qualität ihrer Zwischenräume aus.
76
Licht zwischen Privatheit und
Öffentlichkeit
Die Architektur von SANAA verlangt
nach neuen Beziehungen zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre und initiiert diese auch. Das gilt nicht nur für
öffentliche Bauten, sondern auch für
private Wohngebäude. Im städtischen
Japan definiert sich der Privatraum nie
ohne Kenntnis der angrenzenden öffentlichen Bereiche. Umgekehrt erhalten die
Gemeinschaftsbereiche ihre Identität
durch die Privaträume. In Tokio und
anderen japanischen Großstädten lassen die minimalen Grundstücksgrößen
unweigerlich ein vielschichtiges und abstraktes Raumgefühl entstehen, das stets
auf dieser Gegenseitigkeit beruht. Viele
japanische Architekten, darunter auch
SANAA, haben sich über die Jahre hiervon inspirieren lassen. Oft spielt dabei der
Zwischenbereich zwischen öffentlichem
und privatem Tageslicht eine tragende
Rolle in den Gebäudekonzepten. Dies ist
zum Beispiel in dem kleinen M. House in
Tokio von 1997 der Fall, wo das Gebäude
ins Gelände eingegraben wurde. In dem
Haus existiert eine Raumzone, die zwar
als privat angesehen werden kann, ihren
visuellen Reiz und ihre Energie jedoch
vor allem durch den angrenzenden öffentlichen Bereich erhält.
Im Inneren eines japanischen Hauses
oder einer Wohnung wird der Bewohner
mit einer intimen und direkten Beziehung
seines Körpers zum Raum konfrontiert.
Die japanische Kultur fasst Privatraum
weniger als realen denn als mentalen
Raum auf, der im Nutzer selbst entsteht.
Die Bauten von SANAA in ihrer Heimat
spiegeln diese Situation wider. Jeder
Raum wird durch seine Wechselwirkung
mit den Nachbarräumen erweitert und
ist Teil eines größeren Zusammenhangs,
der private und öffentliche Bereiche
umfasst. Tageslicht ist omnipräsent und
vermittelt zwischen den Räumen, wobei
das Licht im Innenraum durch Raumund Materialschichtung in seiner Farbe
und Intensität verändert werden kann.
Vor allem in den kleinen Privathäusern
von SANAA wird dies deutlich. Möbel
und persönliche Objekte sind Teil der
Raumsequenz und daher von enormer
Wichtigkeit. Die Form eines Stuhls oder
der Standort eines Tischs können leicht
den Raum und dessen Licht verändern.
Umgekehrt begrenzt auch der Raum die
Anzahl der darin enthaltenen Objekte.
Eine neue Bedeutung
Der amerikanische Architekt Louis I.
Kahn sprach in seinen Vorlesungen oft
davon, was Ordnung in der Architektur
sei. Er sagte, dass er das Bemühen, Ordnung durch Inhalte zu definieren, nach
vielen Versuchen aufgegeben habe. Er
erwähnte jedoch auch, dass Ordnung
sich nie als statisches Instrument auffassen ließe, sondern abhängig von den
angestrebten Wechselbeziehungen
zwischen Mensch und Raum veränderbar bleiben müsse. Die besten Arbeiten
von SANAA vermitteln eine Sensibilität
gegenüber dieser Art von Ordnung, die
neue Beziehungen zwischen Konstruktion, Schatten und Licht schafft. Tageslicht erhält seine präzise Form durch die
konstruktive Leichtigkeit der Gebäude
und wird so zum raumbildenden Element. Auf diese Weise erfüllt SANAA
das Kahn’sche Diktum „Order is ...“ neu
mit Leben und vermittelt zugleich ungemein starke Architekturerfahrungen.
Die Räume von SANAA stellen keine
Ansprüche an den Nutzer, sondern verführen ihn vielmehr durch ihren ständig
wechselnden Zusammenhang, der die
Beziehungen zwischen Privat und Öffentlich sowie zwischen Ewigkeit und
Gegenwart verwischt. Zugleich sind sie
großzügig genug, um auch das verwundbare, private Innenleben jedes Einzelnen zu behausen.
Heute Abend wird das blaue Licht des
Laptops seine eigenartige Identität von
meinem Schreibtisch am Eckfenster in
die Welt hinausstrahlen. Geduldig warte
ich auf die nächste E-Mail, die mich meines Kontakts zur Außenwelt und damit
meiner Existenz versichert. Wo ich mich
gerade aufhalte, spielt dabei keine Rolle. Im Inneren der Gebäude von SANAA
warte ich dagegen nicht auf Antworten.
Dort lädt mich das Tageslicht ein, am
Raum teilzuhaben – und mit dieser einfachen Geste wirkt Architektur am eindrucksvollsten.
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Per Olaf Fjeld absolvierte sein Masterstudium
unter Louis Kahn an der University of Pennsylvania. Er ist Professor an der Architekturund Designhochschule in Oslo und Autor von
Büchern und Zeitschriftenbeiträgen zur Architektur. Sein jüngstes Buch ist ‚Sverre Fehn, The
Pattern of Thoughts‘ (2009). Per Olaf Fjeld war
Gastprofessor an der Cornell University und der
University of Arizona, und diente von 2005 bis
2008 als Präsident der European Association
of Architectural Education (EAAE). Seit 1975
leitet Per Olaf Fjeld gemeinsam mit seiner Frau
Emily Randall Fjeld ein eigenes Architekturbüro.
JARMUND/
VIGSNÆS
„WIR MÜSSEN
DIE ÖKONOMIE
DES TAGESLICHTS
WIEDERENTDECKEN“
Die Arbeit der Architekten Jarmund/Vigsnæs ist tief in der norwegischen
Kultur und Landschaft verwurzelt. In einer Umgebung, die oft von
starken Gegensätzen geprägt ist, suchen ihre Gebäude ein Gleichgewicht
zu schaffen zwischen Schutzfunktion und Offenheit, Undurchsichtigkeit
und Transparenz sowie zwischen unterschiedlichen Qualitäten von
Tageslicht und Ausblicken.
Interview mit Håkon Vigsnæs
Fotos von Thekla Ehling
Herr Vigsnæs, viele Ihrer Werke der zeitgenössischen norwegischen Architektur
offenbaren eine besonders enge Verbindung zur norwegischen Landschaft und zu
ihrem Licht. Welche Bedeutung hat diese
Landschaft für die norwegische Kultur und
für Sie persönlich?
In Norwegen gab es nie eine besonders
ausgeprägte Stadtkultur, und das gilt
auch heute noch. Die Besiedlungsmuster in unserem Land sind traditionell
nicht sehr dicht. Typische historische
Behausungen waren kleine Häuser oder
Bauernhöfe, die sich immer in Eigenbesitz befanden, da es in Norwegen nie ein
feudales System gab. Viele Leute verdienten ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft oder Fischerei oder einer Kombination aus beidem.
Obwohl die Landwirtschaft heutzutage nur noch eine geringe Rolle spielt, hat
sich an der Siedlungsstruktur bis heute
wenig geändert. Mehr als die Hälfte der
norwegischen Bevölkerung lebt in eigenen Häusern, oft auf dem Land oder in
enger Beziehung zur Natur. Für eine norwegische Familie ist es völlig normal, eine
(meistens ziemlich kleine und schlichte)
Sommer- oder Winterhütte auf dem Land
zu besitzen. Die Natur prägt die norwegische Kultur sehr stark, was unser Alltagsleben und Raumverständnis anbelangt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Landschaft ist das Klima und somit auch das
Tageslicht. Häufig zeigt sich in der norwegischen Architektur ein fließender
Übergang zwischen Schutzfunktion und
Offenheit. Einerseits müssen unsere Häu-
ser den Bewohnern physisch und mental
Schutz vor den rauen Witterungsverhält- „Generell bauen wir in Norwegen
nissen bieten, andererseits legen wir grokeine vollverglasten Wohngeßen Wert darauf, die Landschaft – und vor
bäude,
denn zum einen wäre das
allem ihre unterschiedlichen Lichtverim
Hinblick
auf den Energieverhältnisse – in Gebäude einzubeziehen.
brauch
wenig
sinnvoll und zum
Diese traditionelle Dynamik beeinanderen wollen die Menschen von
flusst die norwegische Architektur bis
ihren Häusern ‚umarmt‘ werden.“
heute. Die Menschen wollen vor dem
Klima geschützt werden, gleichzeitig aber
Landschaft und Licht erfahren. Tageslicht ist bei uns in Norwegen vor allem im
Gebäuden wider. Wir versuchen häufig,
eine möglichst ergiebige und abwechsWinter ja eher ein spärliches Gut. Zudem
fällt es häufig aus sehr flachen Winkeln
lungsreiche Mischung von Licht aus
ein – das macht es zur Herausforderung
verschiedenen Richtungen zu erreichen,
für jeden Architekten, dieses Licht in die
indem wir Fensteröffnungen in allen FasHäuser zu bringen.
saden und im Dach anbringen.
Welche Strategien hat die norwegische
Architektur entwickelt, um dieses oft
schwache nordische Licht einzufangen?
Die zeitgenössische Architektur ist bemüht, das angesprochene Gleichgewicht
zwischen Schutz und Offenheit zu erreichen. Generell bauen wir in Norwegen
keine vollverglasten Wohngebäude, denn
zum einen wäre das im Hinblick auf den
Energieverbrauch wenig sinnvoll und
zum anderen wollen die Menschen von
ihren Häusern ‚umarmt‘ werden. Obgleich norwegische Häuser immer schon
eng mit der Natur verbunden waren, hatten sie früher relativ wenige Öffnungen.
Das war zumindest bis zum Aufkommen
der ersten Ferienhäuser um 1870 so, als
Glasveranden in Mode kamen.
Dieses differenzierte Verhältnis zum
Tageslicht spiegelt sich auch in unseren
Sie haben Gebäude in den nördlichsten
Breitengraden gebaut, zum Beispiel das
Svalbard Science Centre in Spitzbergen.
In dieser Gegend ist es buchstäblich etwa
ein halbes Jahr lang dunkel und ein halbes
Jahr lang hell. Wie sind Sie dieser Herausforderung begegnet?
Auch hier bildete das Klima den Ausgangspunkt für uns. In erster Linie wurde der Entwurf durch die Notwendigkeit
bestimmt, Schneeanhäufungen rund um
das Gebäude zu vermeiden. Deshalb haben wir ihm eine betont aerodynamische
Form verliehen, die zuvor digital getestet wurde, um die Windverhältnisse und
Schneeverwehungen vor Ort einschätzen
zu können. Weil der Boden am Standort
des Wissenschaftszentrums permanent
gefroren ist, setzten wir das Gebäude auf
Pfähle, um darunter Luft zirkulieren zu
85
Seiten 86/87 Das Hotel steht in
einem der wichtigsten Wintersportgebiete Norwegens. Seine
spannungsvolle Dachform greift
die Silhouetten der umliegenden
Gebirgsketten auf.
„In der Architektur des Hotels
finden die Visionen des Eigentümers Ausdruck, der schon immer
von einem Turm in den Bergen
träumte.“
lassen. Baut man nämlich ein Gebäude
direkt auf Permafrostboden, lässt es
durch seine Wärmeabstrahlung den Untergrund schmelzen, sodass die Gefahr
des Abrutschens besteht.
In der Gebäudehülle versuchten wir
dasselbe Gleichgewicht zwischen Obdach und Offenheit zu erreichen wie in
unseren Häusern in Norwegen. Allerdings konnten wir nicht allzu viele Fenster einsetzen, weil der Temperaturunterschied zwischen drinnen und draußen
oft 50 bis 60 Grad Celsius beträgt und
die Wärmeverluste zu extrem wären.
Bei Gestaltung und Lage der Öffnungen
standen daher für uns deren primäre
Funktionen im Vordergrund: Auf den
langgestreckten Gebäudeseiten, wo die
Büros untergebracht sind, entschieden
wir uns für breite horizontale Fenster,
um den Nutzern die bestmögliche Aussicht auf den Horizont zu bieten. Die öffentlichen Bereiche hingegen sind mit
vertikalen Fenstern und Oberlichtern
ausgestattet, da in diesen Räumen ein
großzügiger Lichteinfall ebenso wichtig
ist wie die Aussicht.
Sprechen wir kurz über das Turtagrø Hotel,
ein Projekt, das auch in diesem Beitrag zu
sehen ist. Welche Schlüsselfaktoren beeinflussten den Entwurf dieses Gebäudes?
Das Turtagrø Hotel hat eine ganz spezielle Geschichte, weil die vormalige Hotelanlage abbrannte. Da der Eigentümer
buchstäblich seinen ganzen Besitz in den
Flammen verlor, wollte er das Geld der
Versicherung in ein neues Hotel stecken.
Da er es sich aber nicht leisten konnte,
länger als ein Jahr auf Einkünfte zu verzichten, musste das Projekt in nur einer
Saison fertiggestellt werden. Angesichts
dieses extrem kurzen Zeitfensters begannen wir mit dem Bau anhand von Skizzen
anstatt auf der Grundlage ausgearbeiteter
Konstruktionszeichnungen. In der Archi-
tektur des Hotels finden die Visionen des
Eigentümers Ausdruck, der schon immer
von einem Turm in den Bergen träumte.
Unser Hotel ist zwar kein Turm, aus einem bestimmten Blickwinkel aber thront
es wie ein solcher über der Landschaft.
Für die Konstruktion verwendeten wir
überwiegend traditionelle Materialien
wie Naturstein und Holzverkleidungen,
um eine Verbindung zu dem Nachbargebäude vom Anfang des 20. Jahrhunderts
mit seinen kunstvoll verzierten Holzveranden zu schaffen. Zum anderen vermitteln die Materialien ebenso wie die Gesamtform des Gebäudes den Bewohnern
ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit
in der rauen Berglandschaft.
Ein dritter wichtiger Aspekt der Gesamtkonzeption war die Position der
Fenster, die häufig leicht nach oben und
nicht seitwärts ausgerichtet sind. Grund
hierfür ist, dass man im Gebirge vom
Hotelzimmer aus lieber auf die Gipfel
und den Himmel blickt als zur Seite
oder ins Tal.
Links In den Innenräumen vermitteln mit Kalklasur gestrichene Wandoberflächen,
Holzböden und Möbel aus geölter
Eiche eine warme und natürliche
Atmosphäre.
Räumen unterschiedlicher Höhe die Dynamik der Architektur. Zudem erwies es
sich als sinnvolle Strategie, in einem Gebäude auf überflüssige Quadratmeter zu
verzichten. Viele unserer Häuser sind mit
recht begrenztem Budget gebaut. Wenn
ein Kunde bei gleichem Preis die Wahl
hat zwischen einem Fertighaus mit 200
Quadratmetern und einem einfachen,
aber individuell gestalteten Haus mit 140
Quadratmetern, müssen wir ihn davon
überzeugen, dass 140 Quadratmeter für
ihn völlig ausreichen und er uns mit dem
Entwurf beauftragt. Hierbei müssen wir
die Innenräume mit ihren unterschiedlichen Funktionen auf intelligente Weise
zu einem Ganzen fügen – zum Beispiel,
indem wir Räume nicht nebeneinander
legen, sondern mit räumlichen Überschneidungen arbeiten.
Welche Gebäude oder Orte haben Sie, abgesehen von Ihren eigenen Projekten, in
der Vergangenheit ganz besonders durch
die natürlichen Lichtbedingungen beeindruckt?
Ich will kein bestimmtes Gebäude nennen, sondern betonen, dass sich aus der
traditionellen Baukultur vieles lernen
lässt. Das gesteigerte Bemühen um
Energieeffizienz und Wärmekomfort
Entwickeln Sie Ihre Entwürfe eher ‚von
innen nach außen’ oder von außen nach
innen?
Es ist immer eine Mischung aus beidem.
Am besten sieht man dies in unserem
‚Triangle House’ in Nesodden, in dem
sich der Gesamtentwurf an Form und
Lage der Fenster in der Fassade orientiert. Die Fenster ‚rahmen’ auf eine fast „Das Verständnis vom Zusammenromantische Weise verschiedene Blicke
hang zwischen Gesundheit und
auf die umgebende Landschaft und den Tageslicht sowie der Wunsch, ‚an
nahegelegenen Fjord, die wir ganz gezielt
der frischen Luft’ zu sein, sind
in Relation zu den Innenräumen setzen
wesentliche Elemente unserer
wollten. Die Holzverkleidung der Fasphysischen und mentalen Tradition,
saden wiederum steht in Verbindung
die jedem hier von Kindesbeinen an
mit den Fenstern: Sie ist in Flächen mit
vertraut
sind.“
horizontaler und vertikaler Verschalung
unterteilt, deren Kanten jeweils mit den
macht vollverglaste Gebäude heutzutage
Rändern der Fenster fluchten.
eigentlich unmöglich. Meiner Meinung
Ihre Gebäude sind häufig durch komple- nach ist das für die Architektur sehr vorxe Querschnitte gekennzeichnet, fast im
teilhaft, denn so müssen wir die BalanSinne eines ‚Raumplans’ nach Adolf Loos. ce zwischen Masse und Licht, zwischen
Wänden und Fenstern überdenken. In
Was ist der Grund?
Die räumliche Komplexität und der ‚Fluss’ der Vergangenheit brachte diese Fokusder Innenräume sind für uns aus ver- sierung viele Architekten dazu, feinste
schiedenen Gründen wichtig. Zunächst
Details an den Fensterlaibungen herauszuarbeiten und Fenster durch spezieinmal steigert das Verhältnis zwischen
89
Rechts Die Hotelzimmer sind
vergleichsweise breit und wenig
tief und erhalten so reichlich
Tageslicht. Durch die Dachfenster über das Tal und die Bergketten ringsum.
Seiten 92/93 „Unsere Bauten
sollen eine Balance zwischen
Öffnung und Schutz vermitteln“,
sagen Jarmund/Vigsnæs. Auch
die Fassaden des Hotels mit ihren
großen, aber weit zurückspringenden Fenstern spiegeln diesen
Kontrast wider.
„Wir diskutieren sehr oft mit
unseren Kunden über das Tageslicht. In der Regel wollen sie
Aussicht nach allen Seiten und
Tageslicht von allen Seiten.“
elle Farben und Rahmen hervorzuheben.
Solche Details spielen viel intelligenter
mit dem Licht, als es heute der Fall ist, wo
Fenster oft einfach als eine Glasscheibe
in der Außenwand betrachtet werden.
Traditionelle Architektur kann uns also
in vielerlei Hinsicht Aufschluss über die
architektonische Ökonomie des Lichts
geben.
Bei welchen Gelegenheiten haben Sie erkannt, wie sehr das Tageslicht unser Verhalten und Wohlbefinden beeinflussen
kann?
Wir hier im Norden neigen in der dunklen Jahreszeit zu Müdigkeit und Melancholie und leiden an Energiemangel.
Deshalb ist es für mich oft wichtig, in der
Mittagspause einfach einmal nach draußen zu gehen, um die Sonne zu sehen und
zu spüren, oder früh von der Arbeit heimzukommen, um mich noch bei Tageslicht
im Freien aufhalten zu können. Dieses
Verständnis vom Zusammenhang zwischen unserer Gesundheit und der Qualität des Tageslichts sowie der Wunsch,
an der frischen Luft zu sein, sind wesentliche Elemente unserer physischen und
mentalen Tradition, die jedem hier von
Kindesbeinen an vertraut sind.
Sprechen Sie mit Bauherren über deren
Präferenzen bezüglich des Tageslichts –
und wenn ja, wie äußern sie sich?
Wir diskutieren sehr oft mit unseren
Kunden über das Tageslicht. In der Regel
wollen sie Aussicht nach allen Seiten und
Tageslicht von allen Seiten. Als einzige
Sorge bleibt oftmals die Frage, an welcher
Wand dann das jeweilige Lieblingsbild
aufgehängt werden kann – aber das ist
kein architektonischer Aspekt im eigentlichen Sinne. Wir erklären unseren
Kunden oft, dass es für die Erfahrung
verschiedener Lichtqualitäten und
Ausblicke wichtig ist, ein Gleichgewicht
90
zwischen ihnen herzustellen, also in architektonischem Sinne ‚ökonomisch‘ mit
ihnen umzugehen und eine Überfrachtung zu vermeiden. Manchmal müssen
wir einen Bauherrn davon überzeugen,
dass ein sehr niedriges Fenster – aus dem
man zum Beispiel nur von der Badewanne aus nach draußen blickt – vorteilhaft
sein kann, ein andermal, dass eventuell
ein Fenster wichtig ist, das zwar keinen
Ausblick bietet, aber Licht auf eine Wand
oder den Fußboden wirft. Den Kunden
solche architektonischen Belange zu
vermitteln, ist oft schwierig, aber notwendig.
Tageslicht ist sehr dynamisch und im
ständigen Wandel. Wie berücksichtigen
Sie dies in Ihren Gebäuden, vor allem bei
der Gestaltung der Gebäudehülle?
Ein gutes Beispiel ist unser Projekt
‚Farmhouse‘ in Toten westlich von Oslo.
Wir haben das Haus neben einem verlassenen Bauernhof für eine Familie gebaut,
die aus der Stadt dorthin zog. Zwei Dinge
waren den Bauherren wichtig: Erstens
gab es dort eine abbruchreife Scheune,
von der die Familie eine Erinnerung behalten wollte. Also verkleideten wir das
neue Haus mit dem einhundert Jahre alten Holz der Scheunenwände. Den Rest
der Holzkonstruktion ließen wir stehen,
um das neue Haus in den nächsten zwanzig Jahren kostenlos damit beheizen zu
können.
Der zweite Wunsch hatte mit der Topografie des Standorts und mit seinem
Licht zu tun. Für die Familie, die zuvor
in einer kleinen und dunklen Wohnung
in Oslo lebte, wurde an diesem lichtüberfluteten Ort ein Traum wahr. Sorgfältig
studierte sie den Lauf der Sonne in den
verschiedenen Jahreszeiten und überlegte, wo sie durch Rodung kleiner Lichtungen bestimmte Blicke freilegen und
wie sie ihren Alltag dem Lauf der Sonne
anpassen konnte.
An allen vier Fassaden des Hauses
entlang verläuft nun ein durchgehendes, horizontales Fensterband, das das
Bedürfnis der Familie nach ständiger
Verbindung zum wechselnden Tageslicht deutlich widerspiegelt. Der Fensterstreifen variiert in der Höhe und An-
ordnung und setzt so jeden Bereich des
Innenraums in eine andere Beziehung
mit den Lichtverhältnissen draußen –
und an einigen Stellen auch mit der Abwesenheit von Licht.
Die Tageslichtbedingungen in Städten sind
häufig anders als auf dem Land. Gehen Sie
mit natürlichem Licht in der Stadt anders
um?
In Städten gibt es häufig nicht nur weniger Tageslicht als auf dem Land, es besteht auch das Problem der Einblicke ins
Haus. Wiederum ist also die Platzierung
der Fenster von entscheidender Bedeutung, um ein Gleichgewicht zu schaffen
zwischen Privatsphäre und Offenheit den
Nachbarn gegenüber.
Wir haben bisher zahlreiche größere
Gebäude im urbanen Kontext verwirklicht, aber nur ein Privathaus, das in einem Hinterhof in einem historischen
Stadtteil Oslos steht. Hier lautete die
Aufgabe, den Hinterhof visuell zu kontrollieren. Deshalb ist das eher kleine
Haus zum Hinterhof hin sehr offen, auf
den anderen drei Seiten hingegen durch
bestehende Mauern komplett geschlossen, die wir auch nicht antasten durften.
Durch diese Einschränkung war einerseits der Entwurf des Hauses klar vorgegeben, andererseits stellte diese ‚Reibung‘
zwischen Neu und Alt eine interessante
Herausforderung dar.
Das größte Übel für uns Architekten ist,
wenn man so will, ein perfekter Standort
mit unbegrenztem Budget – ein wirkliches Problem. Oft arbeiten wir dagegen
mit steil geneigten Bauplätzen, wo das
Sonnenlicht von der Bergseite einfällt
und die Aussicht auf die andere Seite hinausgeht. Für uns ist das eine ziemlich gute
Ausgangssituation – besser jedenfalls, als
Licht und Aussicht in der gleichen Himmelsrichtung zu haben.
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
LACATON &
VASSAL
„TAGESLICHT
BEDEUTET FREIHEIT“
Interview mit Anne Lacaton and
Jean-Philippe Vassal
„Freiheit ist ein Ziel, das wir in allen unseren Gebäuden zu verwirklichen
suchen“, sagt Anne Lacaton vom Pariser Architekturbüro Lacaton &
Vassal. Mit ihrem Partner Jean-Philippe Vassal hat die Architektin immer
wieder bewiesen, dass flexible, großzügige Räume sich mit überraschend
wenig Aufwand und zu geringen Kosten schaffen lassen. Für ihre Arbeit
mit Tageslicht hat die VELUX-Stiftung Lacaton & Vassal den Daylight
and Building Component Award 2011 verliehen.
Von Brian Woodward
Fotos von Thekla Ehling
„Man muss Tageslicht aus zwei Rich- lichen suchen“, sagt Anne Lacaton, 55.
tungen betrachten“, sagt der Architekt „Nicht ‚gerahmtes’ Tageslicht, sondern
Jean-Philippe Vassal, 57, und lässt die
dessen unmittelbare Wirkung auf den
Hand über das Panorama der Pariser
Menschen ist uns wichtig. Tageslicht
Dächer vor dem Bürofenster schweifen. kann befreien, und wir lieben die totale
„Tageslicht bedeutet Licht, das von drau- Freiheit.“
ßen kommt, aber es bestimmt auch, was
wir beim Blick von drinnen nach drau- Frau Lacaton, Herr Vassal, gibt es geßen sehen. Die Grenzen eines Gebäudes
meinsame Grundsätze, die Sie der Nutzung von Tageslicht in Ihren Gebäuden
reichen so weit wie dieser Blick“, erklärt
er. Daher ist die Optimierung des Tages- zugrunde legen?
lichts ‚von innen nach außen’ eines der JPV: Wir wollen Wände in unseren Gewesentlichen Entwurfsprinzipien, das
bäuden so weit wie möglich vermeiden.
Vassal und seine Büropartnerin seit 24
Es reicht, wenn wir Ebenen, Stützen
Jahren, Anne Lacaton, bei ihren Projek- und Träger verwenden. Keine Wände.
ten verfolgen.
Wir glauben, dass der freie Blick nach
Oft haben sich Lacaton & Vassal mit der
draußen das Beste ist, das jemand in seiSanierung von Bestandsbauten befasst. ner Wohnung haben kann. Selbst wenn
Vom Umbau des Palais de Tokyo in Paris
das, was er vor dem Fenster sieht, nicht
bis zu ihren groß angelegten Sanierun- besonders angenehm ist, versuchen wir
gen in den Banlieues von Paris zeichnen
dem Nutzer eher die Freiheit zu geben,
sich diese Projekte durch unkonventio- den Ausblick zu filtern, als ihm diesen
nelle Materialien wie Gewächshauskon- komplett vorzuenthalten.
struktionen, Aluminium-Wellblech und
Diese Freiheit hat mit der LeistungsPolycarbonat aus. Nicht zuletzt aufgrund
fähigkeit von Gebäuden zu tun. Beim
ihrer experimentellen, aber stets ökono- Entwerfen fragen wir uns stets: „Was
mischen Materialverwendung erhielten
könnte ein Höchstmaß an Offenheit
Lacaton & Vassal 2011 den Daylight and
für ein Schlafzimmer sein?“, oder „Was
Building Component Award der VELUX- wäre das Maximum für ein Bad?“ Fragen
Stiftung. Der mit 100.000 Euro dotierte
wie diese betreffen nicht nur das Tageslicht, sondern auch den Zugang zum
Preis wurde den Pariser Architekten am
Außenraum. Selbst einem Bewohner im
7. März in Kopenhagen verliehen.
„Wir haben ein großes Interesse an
13. Obergeschoss sollte ein Balkon oder
dieser architektonischen Übersetzungs- Wintergarten zur Verfügung stehen.
arbeit. Im Grunde geht es dabei jedoch
Das verbessert das Raumklima, erlaubt
um Freiheit. Freiheit ist ein Ziel, das wir
es, Pflanzen zu ziehen, und macht das
in allen unseren Gebäuden zu verwirk- Alltagsleben angenehmer. Vor allem in
97
Seite 96 Die maschinenartige
Ästhetik der Gewächshauskonstruktion und ihrer Bedienelemente prägt die Wintergärten
bis heute – trotz aller Bestrebungen der Bewohner, ihnen mit
individueller Möblierung einen
wohnlichen Charakter zu verleihen.
Rechts Die Wintergärten bleiben ganzjährig unbeheizt. Lediglich horizontale Raffstoren aus
Textil unter der Raumdecke
schützen vor Sonneneinstrahlung. Dennoch werden diese
Räume über weite Teile des Jahres zumindest stundenweise
genutzt.
„Jedes Mal, wenn wir später mit
den Bauherren sprachen, erzählten
sie uns: ‚Es ist kaum zu glauben,
wie sehr sich unser Leben wegen
des Hauses verändert hat. Wir
leben ständig im Tageslicht.‘“
unseren Sozialwohnungsbauten hat diese Strategie einen großen Unterschied
bewirkt.
AL: Ich denke auch, dass Tageslicht für
das Wohlbefinden wirklich notwendig
ist. Die Frage, wie man ein Maximum an
Tageslicht in Innenräume bringt, interessiert uns sehr. Daher setzen wir oft
Gewächshäuser auf oder an unsere Gebäude. Weil sie so offen für Tageslicht
sein müssen, sind Gewächshauskonstruktionen äußerst leicht und werfen
kaum einen Schatten auf den Fußboden.
Diese Leichtigkeit ist für uns außerordentlich wichtig, weil wir den Eindruck
der Schwere in unseren Gebäuden zu
vermeiden suchen. Tageslicht hat mit
Leichtigkeit zu tun, mit der Erfahrung
des Klimas und damit, seiner Umgebung
sehr nahe zu sein. Wir versuchen daher
immer, Bauelemente zu verwenden, mit
denen wir den Tageslichteinfall in unsere
Gebäude maximieren können.
Können Sie uns ein Beispiel nennen, wie
Tageslicht einen Ihrer Gebäudeentwürfe
konkret beeinflusst hat?
JPV: Es ist schwer, das mit einem einzelnen Projekt zu illustrieren. Unsere Aufgabe als Architekten lautet ja nicht, Beton
oder Stahl oder Glas herzustellen. Wir
müssen vielmehr den Leerraum dazwischen schaffen, die Luft, das Klima und
die Atmosphäre darin – und das schließt
Tageslicht ein. Tageslicht ist in allem, was
wir tun.
Ich erinnere mich jedoch an die Sanierung eines Wohnhauses in einem
sehr dunklen Teil von Bordeaux, dessen
Bewohnerin uns sagte: „In diesem Haus
wird es nie auch nur einen einzigen Lichtstrahl geben!“ Doch wir strengten uns an
und setzten uns das Ziel, an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhr98
zeit ein kleines Dreieck aus Tageslicht Schutz notwendigen Systeme umfassen
auf dem Boden aufscheinen zu lassen. – zum Schutz vor Blendung und Hitze, vor
Sie wartete darauf, und es funktionierte Einblicken, vor der Kälte der Nacht und
so weiter. Transparente Fassaden und
– und sie war glücklich.
geschosshohe Trennwände aus Glas
AL: Vor zehn Jahren haben wir im Südwes- sind für uns wichtig, sowohl wegen des
ten Frankreichs ein kleines Wohnhaus Tageslichts als auch zur Belüftung.
auf dem Land entworfen. Auftraggeber
Nicht zuletzt verwenden wir auch sehr
war ein Ehepaar, das auf einem Weingut oft Gewächshäuser als ‚zweite Hülle’, in
bei Bordeaux arbeitete. Zuvor hatten die der wir Bereiche mit unterschiedlichem
beiden in einem noch kleineren Haus Raumklima schaffen können. Natürlich
gewohnt, das von dem Wohnhaus des ist die Frage des Klimas eng mit TagesGutseigentümers verschattet wurde. Es licht und mit Komfort verbunden – mit
hatte winzige Fenster, war schlecht be- bioklimatischem Komfort.
lüftet und bot allgemein mangelhafte
Lebensbedingungen.
Welches Gebäude oder welcher Ort hat
Unsere Bauherren baten uns, ein neu- Sie durch sein Tageslicht besonders bees Haus für sie auf einem sehr großen eindruckt?
Grundstück zu entwerfen, das sie sehr JPV: Ich erinnere mich an die Staatsbillig erstanden hatten. Wir bauten zwei bibliothek von Hans Scharoun in Berlin,
Gewächshäuser auf das Grundstück, ei- einen unglaublich großen Bau, in dessen
nes neben dem anderen, und fügten darin Innerem man dennoch von jedem Punkt
eine hölzerne ‚Kiste’ ein, die die beheiz- aus das Licht sehen kann, das durch die
ten Räume des Hauses enthielt. Das Kon- Fassaden einfällt.
zept war einfach, aber jedes Mal, wenn
In der Architekturhochschule in
wir mit ihnen später sprachen, erzählten Nantes haben wir versucht, die gleiche
sie uns: „Es ist kaum zu glauben, wie sehr Wirkung zu erreichen. Das Gebäude ist
sich unser Leben wegen des Hauses ver- 120 Meter lang und 18 Meter tief. Tagesändert hat. Wir leben ständig im Tages- licht fällt nur durch die Fassade ein, die
licht.“ Als die Frau einige Jahre später an in jedem Geschoss sechs Meter hoch ist.
Krebs starb, sagte uns ihr Ehemann nur: Wenn wir in der Gebäudemitte stehen,
„Sie können sich nicht vorstellen, wie können wir – obwohl es dort selbst kaum
sehr Ihr Haus die letzten Tage im Leben Tageslicht gibt – immer noch alles sehen,
meiner Frau verschönert hat.“ So beein- was sich draußen abspielt. Wir sehen die
flusste das Tageslicht ihr Leben, und es Menschen, wie sie sich bewegen, und
beeinflusst unsere Entwürfe bis heute. sehen immer das Tageslicht, das durch
die Fassade hereinscheint. Sogar wenn
Welche anderen Aspekte des Tageslichts, nur ein einzelner Lichtstrahl hereinfällt
abgesehen von den visuellen, sind Ihnen und ein paar tanzende Staubkörner aufbei der Arbeit wichtig?
leuchten lässt, ist das ein wundervoller
AL: Tageslicht ist in Gebäuden wich- Anblick.
tig, weil es die Möglichkeit bietet, den
Komfort der Nutzer durch die Wärme Gab es eine Situation, die Ihnen gezeigt hat,
der Sonne zu steigern und Blicke nach wie sehr Raum und Tageslicht das Verhaldraußen zu öffnen. Wenn man Tageslicht ten des Menschen beeinflussen können?
nutzt, benötigt man weniger Kunstlicht. JPV: Ein gutes Beispiel ist unser erstes
Dennoch ist es sehr einfach, sich vor Haus, die Maison Latapie in Bordeaux. Es
Tageslicht zu schützen, wenn man es war ein sehr billiges Gebäude, bei dem ein
denn will.
60 Quadratmeter großes Gewächshaus
In unseren Gebäuden verwenden wir das eigentliche Wohnhaus umhüllt. Wir
daher sehr oft keine Wände, sondern als Architekten stellten uns diesen Bearbeiten mit offenen Konstruktionen reich als tropischen Wintergarten voller
aus Stützen und Ebenen. Hinzu fügen Blumen vor. Die Bewohner haben jedoch
wir transparente Fassaden, die alle zum etwas zehnmal Besseres daraus gemacht:
D&A FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Links Loftwohnen im Sozialwohnungsbau – diese eigentlich nicht bezahlbare Verbindung
realisierten Lacaton & Vassal
bei ihrem Projekt in Mulhouse.
Selbst die Zweizimmerwohnungen sind mehr als 100 Quadratmeter groß.
Sie stellten den größten Teil ihrer Möbel
in dem Gewächshaus auf und verwenden
diesen Raum, der unseren Plänen zufolge eigentlich nur für 30 Prozent des
Jahres genutzt werden sollte, während
90 Prozent der Zeit. Sie haben den Raum
wirklich angenommen und etwas Außerordentliches daraus gemacht, weil er so
leicht und voller Tageslicht ist.
In vielen Gebäuden verwenden Sie Tageslicht nicht nur zugunsten der Bewohner,
sondern auch, um Pflanzen zu züchten.
Woher stammt Ihr Interesse an Pflanzen
und Gartenbau?
JPV: Vermutlich bin ich es, der sich am
meisten für Gartenbau interessiert. Ich
habe eine Orchideensammlung hier im
Büro, die mich fasziniert, weil Orchideen eine Pflanzengattung sind, die ein
Maximum mit minimalen Ressourcen
erreicht. Sie brauchen keine Erde, um
zu wachsen, sondern haben alles dafür
Notwendige in ihren Wurzeln.
Welche Rolle spielt die Wirtschaftlichkeit
in Ihren Gebäuden, und in welchem Bezug
steht sie für Sie zur Lebensqualität?
JPV: Kurz nachdem ich mein Studium
in Bordeaux beendet hatte, verbrachte
ich fünf Jahre in Niger. Diese Zeit hat
mein Denken über Ökonomie und deren Beziehung zur Lebensqualität stark
beeinflusst. Ich sage immer, dass ich fünf
Jahre in Bordeaux studiert habe, aber in
Wirklichkeit habe ich in Niger eine zweite fünfjährige Ausbildung erfahren. In Afrika habe ich das Leben von Menschen
kennengelernt, die die meiste Zeit über
in wirklich schwierigen Situationen stecken – ohne Nahrung, ohne Wasser. Dennoch haben sich ihre Fähigkeit und ihre
schiere Intelligenz, mit der sie andauernd Dinge erfinden, mir eingeprägt. Ich
lernte, wie man aus nichts etwas macht,
und wie man dies sogar mit einer poetischen Geste und mit Humor tut. Alles,
was sie taten, schien leicht – nie schwer
oder kompliziert. Aber immer geschah es
mit einem Minimum an Mitteln.
Ein Auto, das wir hier in Europa verschrotten, könnte in Afrika noch 20 Jahre länger fahren. Man sieht dort Kinder,
Seiten 102/103 Wohnen,
Kochen, Arbeiten, Schlafen
– im Erdgeschoss der Häuser
spielt sich alles in einem einzigen, durchgehenden Großraum
ab. Die Architekten verzichteten bewusst darauf, Funktionen
für einzelne Bereiche vorzudefinieren.
die ihre eigenen kleinen Spielzeuge erfinden und mit irgendwelchen Stahl- oder „Um die Kosten niedrig zu halten,
Gummiteilen im Sand ‚Auto spielen’. muss man aus allem, mit dem man
Man sieht Häuser, erbaut aus Zweigen,
arbeitet, ein Maximum an Leistung
die im Wüstensand stecken und mit bilherausholen: aus jeder Konstrukligem Aluminium-Wellblech verkleidet
tion,
jedem räumlichen System,
sind. Es steckt eine große Freiheit in der
jedem
Material.“
Art und Weise, in der die Menschen dort
Dinge tun.
Wir versuchen, nach ähnlichen Prinzipien zu arbeiten. Es ist nicht notwendas so ist. Aber es ist faszinierend, dass
dig, hier in Europa alles neu zu bauen; wir
scheinbar alles möglich wird, wenn man
müssen lediglich mit der bestehenden
städtebaulichen Situation zurechtkom- sie von Räumen mit vordefinierter Funktion löst und stattdessen ‚frei verfügbamen. Es gibt viele Gebäude, von denen die
ren’ Raum schafft. Bei jedem Besuch
Menschen denken, dass sie abgerissen
zeigt sich die Architekturhochschule
werden müssen. Wir betrachten diese
von
einer anderen Seite. Wir gaben den
lediglich als unvollendet. Gebäude haben oft eine größere Leistungsfähigkeit, Studenten Freiheit, und jetzt geben sie
uns immerzu neue Interpretationen des
wenn wir sie erhalten und umbauen.
Raums
zurück. Das verleiht dem GebäuAL: In vielen Projekten ist das Verhältnis
de
eine
neue Art des Reichtums und der
zwischen Kosten und Umfang des Projekts sehr ungünstig. Als Architekten kön- Fülle, und wir haben das Gefühl, dass wir
bei unseren künftigen Bauten auf diesem
nen wir großzügige und luxuriöse Dinge
Weg
fortfahren können.
mit geringen Mitteln schaffen, aber um
das zu tun, bedarf es genauer Kenntnisse
Gibt es ein Bedürfnis der Nutzer nach soldarüber, was in der Bauphase die Kosten
chen offenen Gebäuden, die sie ständig
nach oben treibt. Um die Kosten niedrig
neu auf ihre Bedürfnisse einstellen könzu halten, muss man aus allem, mit dem
nen
– und müssen?
man arbeitet, ein Maximum an Leistung
herausholen: aus jeder Konstruktion, je- AL: Ich glaube nicht, dass Menschen so etdem räumlichen System, jedem Materi- was wie ein natürliches Bedürfnis danach
al. Unser Ziel ist nicht, billiger zu bauen, haben. Spreche ich aber mit ihnen, so ersondern das Bestmögliche mit einem be- zählen sie mir, dass sie mit den Gebäuden
grenzten Budget zu erreichen. Wir stre- sehr glücklich sind. Obgleich sie es zuvor
nie gedacht hätten, macht es für sie eiben nicht einfach danach, den Baupreis
nen Unterschied, sich darin aufzuhalten.
eines Gebäudes zu verringern, sondern
Wir
sind daher überzeugt, dass es kein
mehr für weniger zu erhalten.
Fehler ist, diese Art der Architektur mit
Ihre eigenen Gebäude, wie die Architektur- offenen Grundrissen zu entwerfen, die
ein Maximum an Licht und Freiheiten
hochschule in Nantes, sind oft ihrerseits
sehr offen für Umbauten und Umnutzun- lässt. Gleichzeitig müssen wir natürlich
all die Systeme mit einplanen, die Mengen durch diejenigen, die in ihnen wohnen
schen Schutz vor Sonne bieten und ihre
oder arbeiten. Beobachten Sie, wie die
Privatsphäre
schützen. Wenn ein GebäuNutzer diese Räume an ihre Bedürfnisse
de
jedoch
all
diese
Schichten enthält, die
anpassen?
jeden Grad der Öffnung von maximaler
AL: Wir gehen ziemlich oft dorthin, und
es ist erstaunlich zu sehen, dass manch- Transparenz bis totaler Dunkelheit erlauben, funktioniert es perfekt.
mal überhaupt nichts in dem Gebäude
geschieht und es ein anderes Mal wieder
voller Aktivitäten ist, seien es nun Studenten bei der Arbeit oder Veranstaltungen. Wir verstehen nicht genau, warum
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EINE
WELT
DES
LICHTS
Um den International VELUX Award 2010 bewarben sich 696 Architekturstudenten aus allen fünf Kontinenten. Ihre Entwürfe reflektieren
die Vielfalt des Tageslichts und seiner Wirkung auf die Architektur und
unser Alltagsleben, unsere Wahnehmung und unser Wohlbefinden.
Auf den folgenden Seiten stellt Daylight & Architecture die Siegerprojekte und lobend erwähnten Entwürfe vor. Ferner erläutern die
Studenten ihre Entwurfsgedanken – und die Mitglieder der Jury berichten von ihren Eindrücken und Erwartungen an die kommende Architektengeneration.
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„Für mich ist Licht Teil jeder Kultur.
Soziale Aspekte, aber auch geografische Gegebenheiten, der Breitengrad, die Jahres- oder Tageszeit
spielen dabei eine wichtige Rolle.
Im Wettbewerb zeigten Teilnehmer aus Japan oder anderen asiatischen Ländern zum Beispiel ganz
andere Lichtideen als ihre europäischen Mitbewerber. Aber auch Afrikaner und Amerikaner verfolgten
konträre Ansätze, denn das afrikanische Licht ist ein völlig anderes als
das amerikanische. […] Beim Klima
gibt es ähnliche Gegensätze, die die
Architektur beeinflussen: In Japan
ist der Sommer sehr heiß und feucht,
ganz anders als hier in Europa. Das
aber versteht man erst, wenn man
selbst dort war.“
„Arbeiten mit Licht kann poetisch
oder pragmatisch sein, es berührt
viele Aspekte der Architektur und
des Städtebaus. Vor allem aber sollte
man das Tageslicht auch als architektonischen Parameter verstehen […],
den es bei jedem Projekt auf jeder
Ebene zu berücksichtigen gilt. […]
So abstrakt dies auch klingen mag,
haben wir doch unter den Einsendungen viele praktische Lösungen für
praktische Probleme gesehen. Selbst
bei hypothetischen Lösungsvorschlägen spürte man das Interesse
der Studenten an wirklich zentralen
Fragen. Ihre Entwürfe geben einen
Vorgeschmack auf die Zukunft.“
„In den Entwürfen der Studenten habe
ich viele meiner eigenen Überlegungen zur Lebensqualität in den Städten wiedererkannt. Viele Entwürfe
handelten von der Aufwertung vernachlässigter Orte in der Stadt, von
infrastrukturellen Verbindungen –
über und unter dem sowie quer durch
das Gefüge der Stadt – und von der
Sanierung von Bestandsbauten.
Die Teilnehmer griffen bewährte Lösungen wie Fensterläden wieder auf,
interpretierten sie jedoch auf einem
ganz neuen Niveau mit universellen Anwendungsmöglichkeiten. Das
fand ich sehr interessant.“
„Ich war hocherfreut, in vielen der
Projekte [...] eine große Sensibilität
für städtebauliche Themen zu erkennen. Durch die rapide Urbanisierung
und stetig wachsende Besiedlungsdichte in vielen Teilen der Welt gestaltet sich das städtische Umfeld
völlig neu. In der Bemühung um ein
ansprechendes Stadtbild ist Licht
einer der zentralen Aspekte, lebenswerte Räume in großen Metropolen
zu schaffen.“
Natalie de Vries
Will Bruder
Natalie de Vries
Momoyo Kajima
Preisträger
1. Preis
Constellation of light fields
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2. Preis
Condensation of Variational
Sunlight Influences
2. Preis
Lightscape between gaps
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Ausführliche Dokumentation aller Projekte auf
iva.velux.com
1. Preis
2. Preise
Constellation of light fields
Studenten: Park Young-Gook, Kim
Dae Hyun, Choi Jin Kyu, Kim Won Il
Hanyang University, Seoul
Betreuer: Masanori Tomii
Condensation of Variational
Sunlight Influences
Studenten: Ma Xin, Wang Rui, Yang
Meng. Architecture School of Tianjin University.
Betreuer: Jianbo Zhao
Das Team der Hanyang-Universität
entwarf ein immaterielles Dach über
einer Außenbühne im MarronnierPark in Seoul. Dieses Dach, gefertigt
aus biegsamen und drehbaren ‚Möbiusbändern‘ aus Gewebe, lässt jede
Art von Licht in den Bereich darunter
strömen. Das veränderliche Tageslicht korreliert mit der großen Vielfalt
an Aktivitäten unter dem Dach. Die
Studenten erklären: „Licht ist das immaterielle architektonische Element,
auf das der Mensch direkt mit seinen
Sinnen reagiert. Durch Eliminierung
der materiellen Elemente kann Licht
Diversität in einem bestimmten Raum
schaffen.“
„Das Projekt konzentriert sich auf
den urbanen Raum und somit auf den
wichtigen Aspekt, Licht zu kontrollieren, anstatt zu verstärken. Es berücksichtigt strukturelle, urbane und
soziale Aspekte bei der Frage, wie
man einen Raum neu beleben, bewohnbar und nutzbar machen kann.
Nach Ansicht der Jury war die Projektidee sehr überzeugend und faszinierend. Insgesamt überzeugte das
Projekt durch seine Realisierbarkeit
und durch eine Idee, die auch in anderen Klimazonen Anwendung finden
kann. Bei dem Projekt steht das Experimentieren im Vordergrund – was
anhand einer Reihe von Darstellungen
und Fotos sehr gut vermittelt wurde.“
(Aus dem Bericht der Jury)
Bei diesem Projekt steht die Interaktion zwischen Sonnenlicht und
dem Verhalten der Stadtbewohner
im Vordergrund. Es betrifft die Umgestaltung eines Freiluftmarktes in
Kashgar im Nordwesten Chinas mit
Hilfe eines zweischichtigen Dachs.
Jede der Ebenen verfügt über eine
Vielzahl rechteckiger Öffnungen, die
eine dramatische, immer bewegliche
Wechselwirkung zwischen Licht und
Schatten erzeugen.
„Die Arbeit mit dem städtischen
Platz birgt eine soziale Komponente.
Erforscht wird, wie Aktivitäten und
Verhaltensweisen durch Licht organisiert werden können, um Ordnung
und Funktion ins Chaos zu bringen. Die
Jury würdigt die Art und Weise, wie
die Dachmuster und die Kombination
der beiden Ebenen in einem maßstabgetreuen Modell erprobt wurden. Das
Projekt ist sehr gut präsentiert und
zeigt eine simple Idee, die sich problemlos im städtischen Umfeld realisieren lässt – nicht nur wegen der
Wechselwirkung zwischen Sonnenlicht und Schatten, sondern auch
aufgrund der natürlichen Belüftung
durch das zweilagige Dach.“
(Aus dem Bericht der Jury)
Lobende Erwähnungen
Lightscape between gaps
Student: Joe Wu
Technische Universität Delft
Betreuerin: Daliana Suryawinata
Joe Wus Entwurf basiert auf seiner Kindheitserinnerung in einem
Hochhaus von Hongkong. Das Fenster in seinem Zimmer wurde nur selten geöffnet, denn es war durch eine
Nachbarmauer versperrt, aber die
diagonalen Reflexionen des Sonnenlichts an der gegenüberliegenden Fassade schufen wundervolle
Schattenspiele im Zimmer. Das Projekt besteht aus reflektierenden Platten individueller Form, die an jeder
Hausfassade befestigt werden können und das Sonnenlicht zu einer bestimmten Tageszeit in ein Fenster
auf der gegenüberliegenden Wand
reflektieren.
„Nach Ansicht der Jury besticht
dieses sehr gut präsentierte Projekt durch Praktikabilität, Sensibilität und Schlichtheit. Es enthält
eine Reihe von Gedanken über Privatsphäre und Raumgestaltung.
Präsentiert wird eine Lösung, die universell in Großstädten auf der ganzen Welt realisierbar ist – vor allem in
den engen Straßenschluchten dicht
bebauter Stadtgebiete, wo niemals
Licht hinfällt. Auch viele andere Projekte im Wettbewerb beschäftigten
sich mit diesem Problem, aber keines
mit dieser Klarheit.“
(Aus dem Bericht der Jury)
Beauty in the UnDaylightable
Studenten: Yan Shi, Chung-Kai Yang.
Technische Universität Delft
Betreuer: Lei Qu
Window shutters
Studenten: Ieva Maknickaite, Antanas Lizdenis, Lauryanas Vizbaras.
Vilnius Gediminas Technical University. Betreuer: Linas Naujokaitis
Light in side/Inside
Student: Jiayi Zhu. Anhui University
of Science & Technology, Beijing
Betreuer: Yunfeng Huang
Instant impressionism –
light as a painter
Studenten: Wang Fei, Zheng Kaijing
School of Architecture, Tsinghua University, Beijing. Betreuer: Xin Zhang
Sub-Terra apertures
Student: Stephen Kaye. Parsons
New School for Design, New York
Betreuer: Philip Gabriel
Section of light
Studentin: Berte Daan. Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Betreuer: Michael Umbricht
Fluxional light under
urban scaffolds
Studenten: Yan Wenlong, Sheng
Xiaofei, Fang Erqing, Kang Xiaopei.
Tongji University, Shanghai
Betreuer: Bin Hu
Buoyant Light
Studenten: Claire Lubell & Virginia
Fernandez. University of Waterloo
School of Architecture, Cambridge,
Kanada. Betreuerin: Lola Sheppard
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Wang Fei
Beijing
DIE ALLTÄGLICHE
POESIE DES LICHTS
Für uns alle ist unsere Wohnung ein Ort von besonderer Bedeutung. Das hat viele
Gründe: die vertraute Umgebung voller Erinnerungen, die Dinge, die wir dort
aufbewahren – und das spezielle Licht in unserem Zuhause. Dieses Licht haben die
Sieger und Platzierten des International Velux Award 2010 in ihrem Fotoprojekt
‚Das Licht in meinem Raum’ näher erforscht.
Von Louise Grønlund
Halten wir hin und wieder mitten in
unseren eigenen vier Wänden – in
den Räumen, die uns jeden Tag umgeben – inne, um das Tageslicht zu
sehen? Und nicht nur, um es zu sehen,
sondern auch zu spüren? Wie wirkt
es auf den Raum? Ist er nord-, süd-,
ost- oder westwärts ausgerichtet?
Welche Jahres- und welche Tageszeit haben wir? Wie sieht der Himmel
draußen aus – ist er bedeckt? Welche
Farbe hat das Licht? Wie verändert
sich die Raumatmosphäre im Wandel des Lichts?
Dies sind nur einige der Fragen,
auf die Architekturstudenten aus
allen Teilen der Welt bei ganz persönlichen Lichtportraits in ihrer eigenen
Wohnung Antworten suchten.
Die Idee
Mit dem Projekt ‚Das Licht in meinem
Raum‘ verbanden sich viele Ideen. Im
Kern aber ging es für die Studenten
darum, eine sensitive Sicht auf das
Licht ihrer Umgebung zu entwickeln.
Eine einmal veränderte Wahrnehmung des Lichts prägt die eigene
Betrachtungsweise dauerhaft. ‚Das
Licht in meinem Raum‘ sollte den
Studenten daher ein Gespür für Licht
vermitteln, das sie bei ihren Architekturprojekten nutzen können.
Ein weiteres Ziel des Projekts
war die Beobachtung einer ganz besonderen Lichtqualität: Tageslicht
verändert sich stets und bleibt nie
gleich. Daher widmete sich das Projekt dem den Übergängen zwischen
den verschiedenen Lichtbedingungenim Wechsel der Tages- und Jahreszeiten.
Ein zusätzlicher, interessanter
Aspekt, der auf den Fotografien
sichtbar wird, ist die enorm unterschiedliche Gestaltung von Wohnungen in aller Welt. Dies betrifft nicht
nur die unterschiedliche Auslegung
von Fenstern und Lichtöffnungen
oder die Fensterverkleidung wie Jalousien oder Vorhänge, sondern auch
die Möbel und Gegenstände, die wir
in der Nähe oder im Lichteinfall der
Fenster positionieren.
Der Rahmen des Projekts
Schauplatz des Projekts war das jeweilige Zuhause eines jeden Studenten. Die Aufgabe bestand darin, dort
über zwölf Stunden das Tageslicht
im Raum zu beobachten und zu dokumentieren. Jeder der Studenten
sollte im Laufe eines Tages mindestens zwölf Fotos aus derselben Position bei ausschließlich natürlicher
Beleuchtung machen. Zudem sollten die Studenten eine geeignete
Einstellung für ihre Fotos finden und
die Größe des abgebildeten Raums
im Hinblick auf die Lichtwirkung optimieren.
Das Licht im Raum
Eingeladen zur Teilnahme an diesem
Projekt waren die Gewinner von
Preisen und Auszeichnungen beim
International VELUX Award 2010.
Insgesamt 19 Studenten aus aller
Herren Länder lieferten ihren Beitrag zur speziellen Lichtsituation in
ihrer Wohnung.
Bei der Betrachtung der Fotos
faszinieren diejenigen, die einen deutlichen Wandel des Lichts im Laufe
eines Tages dokumentieren, nicht
minder als die Fotoserien, in welchen
das Licht den Raum nur in Nuancen
verändert. Einen gravierenden Ein-
fluss haben auch die Verschattungseinrichtungen wie etwa Vorhänge,
die den Einfall des Lichts regulieren
und somit seine vielfältigen Qualitäten sichtbar machen.
Grundsätzlich lassen sich die
Fotos in zwei Kategorien einteilen.
Die erste stellt die Lichtöffnungen
und Fenster selbst in den Fokus, die
das Licht in den Raum führen, die
zweite fängt das durch die Öffnungen einfallende Licht ein. Beide sind
von grundsätzlicher Bedeutung und
in Ergänzung hervorragend geeignet,
um das Phänomen des Lichts zu beschreiben.
Louise Grønlund schloss ihr
Architekturstudium an der Königlich
Dänischen Kunstakademie in
Kopenhagen 2006 ab und übernahm
dort für weitere drei Jahre einen
Lehrauftrag. Im Sommer 2009
begann sie ihre Doktorarbeit unter
dem Titel ‚Lichtraum – Räumliche
Potenziale von Fassaden’ an
der Architekturschule Århus
in Dänemark. Sie arbeitet als
Architekturfotografin für das
dänische Magazin Arkitekten und
im Auftrag diverser dänischer
Architekturbüros. Im Jahr 2006
gewann Louise Grønlund den ersten
Preis beim International VELUX
Award mit dem Projekt ‚Ein Museum
der Fotografie’. Für den International
VELUX Award 2010 organisierte sie
den Studenten-Workshop ‚Porträt
des Lichts in La Rochelle’ sowie das
Fotoprojekt ‚Das Licht in meinem
Raum’.
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Wang Fei
Beijing
01 Virginia Fernandez
Cambridge
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01 Ieva Maknickaite
Vilnius
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Tinyiu Fung
Delft
DAYLIGHT & ARCHITECTURE
ARCHITEKTURMAGAZIN
VON VELUX
FRÜHJAHR 2011 AUSGABE 15
Herausgeber
Michael K. Rasmussen
Website
www.velux.de/Architektur
VELUX-Redaktionsteam
Per Arnold Andersen
Christine Bjørnager
Lone Feifer
Lotte Kragelund
Torben Thyregod
E-Mail
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Redakteur,
Institut für Internationale
Architektur-Dokumentation
Jakob Schoof
Übersetzungen
Sprachendienst Dr. Herrlinger
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Björn Kusoffsky
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Titelbild
Gerry Johansson
Korrektorat
Gisela Faller
ISSN 1901-0982
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bedarf der Zustimmung der VELUX
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® VELUX und das VELUX Logo sind
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der VELUX Gruppe.
DAYLIGHT & ARCHITECTURE Architekturmagazin von Velux
Frühjahr 2011 Ausgabe 15 10 Euro
Tageslicht für den Menschen
Frühjahr 2011 Ausgabe 15 Tageslicht für den Menschen
Daylight & Architecture Architekturmagazin von Velux
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