Der neue Bildungsplan 2016: Professionelle Rollen von Lehrkräften Prof. Dr. Anne Sliwka [email protected] Wo wurden Defizite im Bildungsplan von 2004 gesehen? Kompetenzformulierung wurden als teilweise „unpräzise“ angesehen (-> unklare Anforderungen) Kompetenzformulierungen waren nicht gestuft (kein „Fördergerüst“) Fächerverbünde waren zwischen den Schularten nicht kompatibel (-> Flaschenhals bei der Durchlässigkeit) Bildungsstandards passten teilweise nicht zu den KMK-Bildungsstandards (systematischer Abgleich) Was ist eigentlich neu am Bildungsplan 2016? Nicht mehr Schularten sondern Niveau-Stufen (grundlegendes, mittleres, erweitertes Niveau) expliziert inhaltliche und prozessbezogene Kompetenzen domainspezifische Förderung und Durchlässigkeit schwächt die „Logik der Selektion“ und stärkt die „Logik der Förderung“ ermöglicht „formative Rückmeldung“ anhand der „kriterialen Bezugsnorm“ Zieldimensionen von Schule und Herausforderungen, vor denen wir jetzt stehen Drei gleichwertige Ziele des Schulsystems Chancengerechtigkeit (Equity) anspruchsvolle Leistungen (Excellence) Wohlbefinden (Well-Being) Herausforderung: Chancengerechtigkeit Risikogruppe auf Kompetenzstufe I in allen PISA Literacies bei ca. 16 % starker Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg Aufgabe: bessere Förderung für Schüler aus strukturell benachteiligten Sozialmilieus Zum Beispiel: PISA 2000, 2003, 2006, 2009, 2012; IGLU 2006 und 2009 Herausforderung: Exzellenz Im internationalen Vergleich schmale Spitzengruppe auf Kompetenzstufe 5 und 6, keine Entwicklung in der Spitzengruppe seit 2000 Aufgabe: mehr Förderung an der Leistungsspitze (Ziel: breitere und höhere Spitze) E. Klieme (PISA 2009): nach einem Jahrzehnt PISA sind „keine Verbesserungen in der Leistungsspitze erkennbar. Gerade in den Gymnasien mangelt es an individueller Förderung“. Herausforderung: Wohlbefinden subjektiv wahrgenommenes Stress-Erleben im Bezug auf Schule mangelnde Möglichkeiten der Teilhabe und Selbstbestimmung Aufgabe: mehr Selbstbestimmung und Eigenverantwortung Zum Beispiel: IEA Civic Education Studie (2000), Eltern unter Druck (KAS 2008), Deutscher Kinderschutzbund (2012), UNICEF Studie (2013) zum objektiven und subjektiven Wohl von 11 bis 15-Jährigen Was wir heute über Lernen wissen und was das für Schulen bedeutet Dumont, Istance & Benavides (Hrsg.) (2010): The Nature of Learning: Using Research to Inspire Practice. Paris: OECD. OECD Learning Principles Wirksame Lernumgebungen: gehen sensibel mit menschlicher Individualität um und nehmen Vorerfahrungen und Vorwissen von Lernenden ernst aktivieren die Lernenden und entwickeln in ihnen eine Verständnis des eigenen Lernprozesses erkennen Motivation und Emotion als treibende Kräfte von Lernprozessen verstehen Lernen als sozialen Prozess und organisieren eine Vielfalt an lernförderlichen Sozialsituationen OECD Learning Principles Wirksame Lernumgebungen: bieten Lernenden Herausforderungen und erwarten von ihnen Leistung in ihrer jeweils nächsten Zone der Entwicklung schaffen Transparenz in Bewertungskriterien und sehen Leistungsrückmeldung im Dienste der Lernund Entwicklungsförderung schaffen horizontale Vernetzungen zwischen Wissensgebieten und zur Lebenswelt Lernprinzip 1 (OECD, 2010) Wirksame Lernumgebungen gehen sensibel mit menschlicher Individualität um und nehmen Vorerfahrungen und Vorwissen von Lernenden ernst. Von der Homogenität zu Diversität Unterschiede werden nicht anerkannt . Die Lernenden werden als unterschiedlich betrachtet. Es werden kleinere Modifikationen vorgenommen, um ihren unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Unterschiedlichkeit wird als Herausforderung gesehen, der man sich stellen muss. Diversität Die Lernenden werden als vergleichbar betrachtet und erhalten daher die selbe Behandlung Heterogenität Homogenität Sliwka, A. (2010) in: Educating Teachers for Diversity. Paris: OECD, S. 214. Die Lernenden werden als unterschiedlich gesehen. Ihre Unterschiedlichkeit dient als Ressource für individuelles und wechselseitiges Lernen und Entwicklung. Unterschiede werden als Gewinn und als Lernchance gesehen. Kooperatives Lernen Methoden des kooperativen Lernens zur Differenzierung nach Interesse Leistungsniveau/ Schwierigkeitsgrad Beispiel: Placemat-Methode: strategischer Einsatz in homogenen und heterogenen Gruppen Differenzierung im Projekt Kompetenzentwicklung motiviert durch eigene Interessen Projekt „Wir schreiben Bücher“ Neubergschule, Grundschule in Dossenheim Freiarbeitsphasen In den Hauptfächern: Zwei von vier Wochenstunden in der Freiarbeitswerkstatt Freiarbeitsordner für jeden Schüler ○ Individualisierte Pflichtaufgaben ○ Wahlaufgaben ○ Erledigung der Aufgaben wird vom Schüler dokumentiert drei nebeneinanderliegende Räume: ○ Einzelarbeitsraum/Gruppenarbeitsraum/Stillarbeitsraum Kurfürst-Friedrich-Gymnasium, Heidelberg Lernhaus Stundenweise selbstreguliertes und individualisiertes Arbeiten an Aufgaben, die noch geübt und trainiert werden müssen (Diagnostik!) Projekten, die eigenen Interessen entsprechen. Johann-Sebastian-Bach-Gymnasium, Mannheim Dalton-Stunden Feste Stunden im Stundenplan, in denen sich die Schüler Ein Fach und eine Lehrkraft aussuchen, in deren Raum sie an konkreten Aufgaben zur Verbesserung der Kompetenz in diesem Fach arbeiten möchte. Die Lehrkraft steht in multiplen Rollen zur Verfügung. Gymnasium Alsdorf (bei Aachen) Trainings- und Forscherkurse Einrichtung eines neuen Zeitfensters (85 Minuten pro Woche) durch Kürzung aller Doppelstunden um 5 Minuten verpflichtende „Trainingskurse“ in Kleingruppen für alle Schüler, die in den Hauptfächern auf der Notenstufe 4 und schlechter stehen (Diagnose und individuelle Förderung) Angebot von „Forscherkursen“ nach Wahl für Schüler, die keinen „Förderkurs“ belegen müssen (Enrichment) Carl-von-Ossietzky-Schule in Hamburg Individuelle Lern- bzw. Programmpläne Alle Schüler mit besonderen Förderbedarfen haben ILPs, auch Schüler mit besonderen Begabungen Reihenfolge: 1. Ausgangsdiagnostik 2. ILP-Planungsgespräch (mit Schüler und ggf. Eltern) 3. Individualisierung während der Laufzeit des ILP 4. Nach ca. 4 Monaten Abschlußgespräch bzw. Fortschreibung des ILP Alle Provinzen in Kanada, wird auch in Australien und Neuseeland praktiziert Flexible Gruppierungen nach Leistungsstand bzw. Interesse Montag bis Donnerstag: Beginn in der Stammgruppe 90 Minuten Literacy nach Leistungsstand 70 Minuten Mathematik nach Leistungsstand Andere Fächer in Kursen Kunst/Musik/Sport in Interessengruppen Freitag: Projekttag mit mehrwöchigen Projektphasen in altersgemischten Gruppen Calgary District School Board, Kanada Lernband Feste Zeitschiene für den Musikunterricht aller 5. und 6. Klassen Die Schüler wählen (drei abgestufte Präferenzen), ob sie Musik mit Orchester Musik mit Big Band Musik mit Chor oder Musik mit Percussion belegen möchten. Bonhoeffer-Gymnasium in Weinheim Lernprinzip 2 (OECD 2010) Wirksame Lernumgebungen aktivieren die Lernenden und entwickeln in ihnen ein Verständnis des eigenen Lernprozesses. Guter Unterricht: worauf es ankommt (Kunter und Voss 2013) Classroom Management: effektive Nutzung der Lernzeit für Lernaktivitäten Kognitive Aktivierung: mentale Auseinandersetzung, vertieftes Nachdenken Konstruktive Unterstützung: strukturierende adaptive Hilfestellungen, Geduld bei Schwierigkeiten, konstruktiver Umgang mit Fehlern Guter Unterricht: worauf es ankommt (Hattie 2009) Klarheit der Instruktion .75 Formative Diagnostik und Feedback .73 Schüler-Lehrerbeziehung .72 Metakognitive Strategien .69 Beispiele Zeit für kognitive Aktivierung und eine Balance von Instruktion und Konstruktion längere Lernblöcke (90 Minuten) Lernen in längeren Projekten z.B. „Projekt Herausforderung“ Erkunden und Verstehen des eigenen Entwicklungsprozesses Entwicklungsportfolio Lernprinzip 3 (OECD 2010) Wirksame Lernumgebungen erkennen Motivation und Emotion als treibende Kräfte von Lernprozessen. Selbstbestimmungstheorie der Motivation (Deci & Ryan) Ich erlebe mich als kompetentes Individuum. Ich darf bestimmte Dinge über mein Lernen selbst entscheiden. Ich gehöre dazu und fühle mich wohl in meiner Schule. Zusammenhang zwischen Leistung und Selbstkonzept Fixed Mindset/Statisches Selbstkonzept „Du bist wohl nicht so der Mathetyp.“ „Fremdsprachen – das konnte in unserer Familie noch niemand“ „Naja, Mädchen und Physik, das ist ja so eine Sache“. Growth Mindset/Dynamisches Selbstkonzept „Wenn du dich jetzt anstrengst und das übst, dann wirst du dich verbessern!“ „Heute hast du gezeigt, dass du dich in Französisch richtig reinhängen kannst: Wenn du so weitermachst, dann wird das laufen.“ Dweck, Carol (2009): Selbstbild: Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt. München: Piper. Lernprinzip 4 (OECD 2010) Wirksame Lernumgebungen verstehen Lernen als sozialen Prozess und organisieren eine Vielfalt an lernförderlichen Sozialsituationen. Beispiele Balance zwischen Lehrervortrag einerseits und individuellem, kooperativen und kompetitiven Lernen andererseits - - Individuell: Freiarbeit, Wochenplan Kooperativ: kooperative Methoden, Buddy-System, Klassenrat, Projekt Kompetitiv: Wettbewerbe in oder zwischen Schulen Lernprinzip 5 (OECD 2010) Wirksame Lernumgebungen bieten Lernenden Herausforderungen und erwarten von ihnen Leistung in ihrer individuellen „Zone der nächsten Entwicklung“. Zone der nächsten Entwicklung zwischen Unterforderung und Überforderung (Vygotsky) Beispiele Formative Rückmeldung (Black & Wiliam 1998; Hattie 2009) Lerncoaching (Selbst- und Fremdeinschätzung) Student-led conferences Lernprinzip 6 (OECD 2010) Wirksame Lernumgebungen schaffen Transparenz in Bewertungskriterien und sehen Leistungsrückmeldung im Dienste der Lern- und Entwicklungsförderung. „Assessment is for Learning“: Vom Primat der „sozialen Bezugsnorm“ zu einer strategischen Nutzung der Bezugsnormen Soziale Bezugsnorm Individuelle Bezugsnorm Kriteriale Bezugsnorm Die Leistung des Lernenden wird mit der Leistung anderer Lerner verglichen. Die Leistung des Lernenden wird mit den eigenen Vorleistungen verglichen. Die Leistung des Lernenden wird mit gestuften Bildungsstandards verglichen. Lernprinzip 7 (OECD 2010) Wirksame Lernumgebungen schaffen horizontale Vernetzungen zwischen Wissensgebieten und zur Lebenswelt. Beispiele Lernen an außerschulischen Lernorten und mit außerschulischen Partnern Ko-operative Bildung Vernetzte Schule Lernen durch Engagement Implikationen für die Schulentwicklung Was soll der Bildungsplan 2016 leisten? Stärkere Kohäsion und Abstimmung zwischen den Bildungsplänen Sek I und Gymnasium zur Erhöhung der Durchlässigkeit Schaffung von Niveau-Stufen , die innerhalb der „zweiten Säule“ zu unterschiedlichen Bildungsabschlüssen führen Schaffung einer Handlungsgrundlage für die individuelle Förderung (Niveau-Stufen) Kohärenz mit den bundesweiten KMK-Standards Ziele des Bildungsplans im internationalen Kontext Die Bildungsstandards haben zwei zentrale Funktionen: 1. Individuelle Rückmeldung und Förderung: Wo steht der Schüler in Relation zu einem altersangemessenen Bildungsstandard? -> formative Rückmeldung mit der kriterialen Bezugsnorm 2. Bildungsmonitoring: Wie erfolgreich ist die Schule bzw. das Schulsystem darin, Schüler auf bestimmte Bildungsniveaus zu führen? -> Bildungsmonitoring mit dem Ziel der strategischen Systemverbesserung Beispiel Alberta/Kanada vierstufiges Kompetenzmodell: Stufe 3 als Zielstufe für alle („Provincial Standard)“. besondere Förderung für Schüler auf Kompetenzstufe 1 und 2 besondere Angebote auf Kompetenzstufe 4 (z.B. Advance Placement Kurse) 15% der Schüler haben IPPs (Individuelle Programmpläne): „special educational needs“, auch Hochbegabung Ziele des Bildungsplans im internationalen Kontext Die meisten Schulsysteme weltweit nutzen nun Bildungsstandards in den Kernbereichen schulischer Bildung Beispiel Alberta/CA: Bildungsstandards für die Bereiche: English, mathematics, social studies, natural sciences Vier Levels: Level I: Below standard Level II: Approaching standard Level III: Provincial standard Level IV: Standard of excellence Ziele des Bildungsplans im internationalen Kontext: Praxis in Alberta Individuelle Rückmeldung und Förderung: 1. 2. 3. Student Learning Assessment in Klasse 3, 6 und 9 (dazwischen flexible Assessment-Instrumente) Formative Rückmeldung mit der kriterialen Bezugsnorm Abgestimmte Förderstrategie (domain- und levelspezifisch) Bildungsmonitoring: 1. 2. Nutzung der Assessment-Daten (codiert wegen Datenschutz) auf Ebene Einzelschüler, Klasse, Schule, Schulamtsbezirk und Provinz Sichtung der Daten und Zielvereinbarungen der Führungskräfte auf allen Ebenen mit der jeweils nächsthöheren Ebene. („Alignment“) Inklusion: Adapted und Modified Programmes Adapted programming Programme, die sich an den Bildungsstandards orientieren und in denen schulische Bildungswege so adaptiert werden, dass ein Schüler diese Standards mit besonderen Mitteln und auf besonderen Wegen erreichen kann. Modified programming Programme, in denen die Bildungsziele signifikant von den Bildungsstandards der Provinz abweichen und gezielt auf besondere Bedürfnisse eines Schülers zugeschnitten sind. Die professionellen Rollen der Lehrkräfte Die „Hüte“ der Lehrkraft (Collins, Brown & Newman, 1989) Modelling: Wissen strukturieren, anschaulich machen, vernetzen Coaching: geschicktes Fragen zur Diagnose und zur Beratung (Beratungsgespräch) Scaffolding: „Lerngerüste“ bauen, dort, wo es notwendig ist (Adaptieren der Lernaufgaben) Fading: Sich in den Hintergrund zurückziehen, dort wo Schüler kompetent und selbstwirksam arbeiten (beobachten und Resonanz geben) Erläuternde Graphik Seminar Lernumgebungen gestalten/Blended Learning, Dr. Thomas Eberle, Universität Passau Die „Hüte“ der Lehrkraft (Collins, Brown & Newman, 1989) Articulation: Schüler auffordern ihre Denkstrategien und –prozesse offenzulegen („laut denken“) Exploration: Schüler ermutigen Hypothesen zu bilden und zu prüfen Reflection: Schüler anleiten ihre eigenen Denk- und Handlungsstrategien rückwirkend kritisch zu evaluieren Professionelle Lerngemeinschaften (Schleicher 2016) Wenn Schulen als „professionelle Lerngemeinschaften“ organisiert sind, wirkt sich das positiv aus auf: Lernergebnisse von Schülern Berufszufriedenheit von Lehrkräften Professionelle Lerngemeinschaften Arbeit in multi-professionellen Teams im Kontext von Förderung und Inklusion Entwicklung und Abstimmung pädagogischer Konzepte in Teams Diskussion und strategische Nutzung von bildungsplanbasierten Assessment-Daten zur Interventionsplanung Der Implementation Dip 1. Ausgangszustand: bestimmtes Handlungsgleichgewicht 2. Beginn der Innovation: Euphorie 4. Transformative Führung, wechselseitige Unterstützung, und Beratung, Fortbildung 3. Erste Frustration: Wissensdefizite, Widerstände Quelle: Fullan, 2001 6. Höheres Handlungsgleichgewicht 5. Erste Erfolgserlebnisse: Kompetenzzuwachs Selbstwirksamkeit Michael Fullans Change Prinzipien Schulentwicklung ist eine Reise und kein Plan. Veränderung ist nicht-linear, beinhaltet immer Unsicherheit und Irritation, Euphorie und manchmal Chaos. Probleme sind unsere Freunde. Probleme sind in komplexen Entwicklungsprozessen unvermeidlich, und ohne sie können wir nicht lernen. Wie sollen wir die Segel setzen? „We cannot command the wind, but we can set the sails“ (Leitbild des Durham Board of Education) Herzlichen Dank Kontakt: Prof. Dr. Anne Sliwka Universität Heidelberg [email protected]