werden mu. Es bedeutet, Sensibilität für den Stadtteil und die Lebenslagen der Menschen (professionell) zu ent­ wickeln und trotz Spezialisierung für bestimmte Arbeitsbereiche den Blick für das Ganze zu erhalten. In den groen Einrichtungen, in denen dieser Blick meist nicht allen Mit­ arbeiterinnen möglich ist und statt­ dessen Geschäftsführer Innen, Lei­ terinnen überlassen bleibt, besteht die Gefahr, da sich kein gemeinsa­ mes Verständnis entwickelt. Richtige und notwendige Ver­ änderungen werden dann nicht akzeptiert, sondern als dirigistisches Eingreifen in die Autonomie der Arbeitsbereiche empfunden. Ein Rezept für die Lösung dieses Problems konnte die Tagung nicht leisten. Dennoch lassen sich einige Punkte näher bestimmen: - Mitarbeiterinnen müssen die Möglichkeit haben, über den Rand des Arbeilsbereiches hinauszu- blicken; das betrifft die Verplanung von Arbeitszeit, die Transparenz, Bereitstellung von Informationen und die Vermittlung der Basisphi­ losophie gerade auch bei neuen Mitarbeiterinnen. - die Zweckbindung von Finanzmit­ teln, die der Umverteilung von Arbeitszeit oft im Wege steht, mu im jedem Einzelfall daraufhin ge­ prüft und "ausgereizt" werden. - die Gemeinsamkeit der Arbeit mu einen konkreten Niederschlag fin­ den. Möglich sind etwa gemein­ same Themen (Bsp.: Armut, Woh­ nen etc.) oder kontinuierliche Zu­ sammenarbeit über" die Bereichs­ grenzen hinweg (Bsp.: einmal wöchentlich "Tag der oflenen Tür"). Im Auen Verhältnis, unter dem "ge­ meinsamen Dach" des Stadtteils oder Wohngebietes mu die Einrich­ tung Teil des Ganzen sein, also trägerübergreifend arbeiten. Es geht nicht darum, alles 'selbsi" zu machen, sondern da Notwendiges gemacht wirdAuch nach auen mu Transparenz und Offenheit hergestellt werden. Allein formale Offenheit (Bsp.: öffen­ tliche Vereinssitzungen) reichen in der Regel nicht aus. Um den Men­ schen im Stadtteil die Möglichkeit zu bieten, die Einrichtung zu beein­ flussen, bedarf es aktivierender Manahmen. informeller Foren und phantasievoller Öffentlichkeit. Auch die 'Zellteilung", also die Dezentralisierung und Auslagerung von Arbeitsbereichen Bsp.: (Stadtleilcafe) ist kein Widerspruch zur Idee des einen Daches. Der Anspruch ist sicherlich unvoll­ kommen eingelöst (welcher An­ spruch ist das nicht?) und viele Beiträge verblieben im "sollte", "müsste" und "könnte". Dennoch gab es keinen Anla, diesem An­ spruch und den z.T. sehr un­ terschiedlichen Realisierungsversu­ chen den Rücken zu kehren. Prof. Dieter Oßtschläget: Traditionslinien sozial-kultureller Arbeit Begriffsklärung Der Begriff sozialkulturelle Arbeit wird in einem weiten und einem engen Sinn benutzt. In seiner wei­ ten Fassung wird er synonym be­ nutz! mit einer Vielzahl ähnlicher Begriffe, deren geläufigste sind: sozio-kulturelle Arbeit, soziale Kul­ turarbeit, kulturelle Sozialarbeit. Diese Begriffe stammen aus un­ terschiedlichen institutionellen Zu­ sammenhängen. Gemeinsam be­ zeichnen sie ein Feld, wo sich Kulturpädagogik und Kulturarbeit, die sich als eine {Wieder-jBelebung kultureller Öffentlichkeit und als För­ derung historischer Identität verste­ hen. einerseits und Sozialarbeit, die auf Aktivierung und Autonomisierung individueller und sozial­ räumlicher Millieus zielt, anderer 6 seits verzweigen. Sozial-kulturelle Arbeit beinhaltet also sozialarbeiteri­ sche und kulturpädagogische Pers­ pektiven. Sozialkulturelle Arbeit soll aber im lolgenden in einem engeren Sinne benutzt werden. So kennzeichnet sie die Arbeit der deutschen Nacbbarschaftsheime oder entsprechen­ der Einrichtungen, die im Verband lür sozial-kulturelle Arbeit zusam­ mengeschlossen sind, Es sind dies 27 Einrichtungen un­ terschiedlicher Art, die vorwiegend in Berlin und NRW angesiedelt sind. Über deren konkrete Arbeit wird sicher noch während dieser Tage zu reden sein. Hier noch so viel: Merkmale dieser gemeinwe­ senorientierten und lebenswe»bezo­ genen Arbeit sind: - die theoretische und praktische Orientierung an der Lebensweise und Kultur der Menschen, d.h. bei­ spielsweise die Berücksichtigung unterschiedlicher Kulturen in einem Gemeinwesen - die generations- und zielgruppenübergreifende Orientierung der Arbeit - die Verbindung von sozialer und kultureller, d.h. auch künstlerischer Arbeit - die Betonung der Eigenaktivität und der individuellen wie kollektiven Handlungsmöglichkeilen der Men­ schen - die Einmischung in (lokale) Politik. Damit sind - wie wir sehen wer­ den - auch Traditionslinien sozial­ kultureller Arbeit benannt, die wie RUNDBRIEF 1/90 die Entwicklung aller gesellschaft­ lichen Phänomene in der Wider­ sprüchlichkeit von Kontinuität und Bruch innerhalb der letzten 100 Jahre stehen. Nachbarschaftsheime Man versteht unter einem Nach­ barschaftsheim ein soziales Zen­ trum, das sich um die Entwicklung eines Programmes im Bereich von Bildung, der sozialen Dienste und der Freizeitgestaltung bemüh!, um den Bedürfnissen einer Nachbar­ schaft in diesen Bereichen gerecht zu werden, ungeachtet der Nationa­ lität, Rasse oder Weltanschauung des einzelnen. So definiert der In­ ternationale Verband der Nachbarschaflsheime ( International Federation of Settlements and Neighbourhood Centres/IFSNC) das Nachbarschaftsheim. Jede der Mitgliedseinrichtungen des deutschen Verbandes ist als einzel­ ner. eingetragener Verein autonom, jedoch haben sich alle Einrich­ tungen auf folgende Definition ihres Zwecks geeinigt: "Die Arbeit in den Nachbarschaftsheimen und sozialkulturellen Zentren soll ansetzen an den Bedürfnissen und Problemen von Bevölkerungsgruppen ohne Rücksicht auf Zugehörigkeit zu Parteien, Konfessionen, Passen usw., die aufgrund ihrer ökonomischen Lage gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen benachteiligt oder deren materielle, physische und/oder psychische Existenz durch gesellschaftliche Strukturen gefährdet oder nicht gesichert sind. Die Arbeit dient dem Ziel, die soziale Situation dieser Bevölkerungsgruppen zu verbessern und sie zu befähigen, ihre Interessen selbst gemeinsam zu vertreten. Durch gemeinsames. partnerschaftliches Planen und Handeln von Trägergremien, Mitarbeitern und Betroffenen soll emanzipato/ische pädagogische Arbeit geleistet werden. In diesem Rahmen arbeiten alle Mitgliedseinrichtungen des Verbandes mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, älteren Menschen, ausländischen Mitbürgern. Die Arbeit ist stadtteilbezogen" (vgl.Paragr. 1 der Verbandssatzung). RUNDBRIEF 1/90 Dieser Paragraph atmet noch den Geist der 70er Jahre - man merkt es an der Terminologie - seine Grundgedanken haben aber auch bei geänderten gesellschaftlichen Bedingungen unverändert Geltung. die Grenzen der Universität, zu­ nächst aus humanitären und religiö­ sen Motiven und beeindruckt von den gesellschaftlichen Verhältnis­ sen ihrer Zeit- Wir hatten in der BRD Ende der 60er /Anfang der 70er Jahre eine ähnliche Entwick­ Die Nach barschaflsheime sind im "Verband für sozial kulturelle Arbeit lung. 1867 zog Edward Dennison in in Deutschland e.V." zusam­ ein Armenviertel Ost-Londons, 1875 mengeschlossen. Er hat gegenwär­ folgte Arnold Toynbee, 1884 wurden tig 27 Mitgliedseinrichtungen und die ersten Settlements. Toynbee befindet sich gerade in der Phase Hall und Oxford House gegründet. Die Setiler trafen auf die von der der Erweiterung. Industrialisierung ausgelöste soziale Da die Einrichtungen autonom Situation: Die Arbeitszeit betrug um arbeiten, findet sich im Verband ein diese Zeit 10 Stunden bei Männern, breites Spektrum von Aktivitäten: Frauen und Kindern. Die Lohnhöhe von der traditionellen Arbeil mit deckte knapp die Existenzgrundlage Zielgruppen in der Nachbarschaft ab. Wohn-. Gesundheits- und bis zur Koordination lokaler Initiati­ Bildungswesen waren total un­ ven in der Sozialplanung, von der terentwickelt. Man kann das nach­ Arbeit eines sozialen und kulturellen Zentrums, das auch stadtteilüber­ lesen in dem empirischen Klassiker greifend arbeitet, bis zur Projektar­ "Die Lage der arbeitenden Klasse in beit im Quartier. Allerdings über­ England"von Friedrich Engels. wiegt noch der Typ des Nach­ Die Settier hatten erkannt, da barschaftsheimes, der von einer sozialpolitische und bildungspoliti­ "generationsübergreifenden Arbeit"' sche Unterprivilegierung einander ausgehend, drei Bereiche in sich bedingten und deshalb auch zur vereinigt: sozialen die geistige Emanzipation gehörte. Sie lehnten das Almo­ - Kinderarbeit ( Kindertagesstätte, sengeben ab, ebenso jede Bevor­ Hort; Schularbeitenhilfe) mundung, jeden Klassendünkel. Sie - Jugendarbeit { in der Regel in der wollten die Hilfsbedürftigen durch Bildung, Organisation und Gemein­ Form der "Offenen Tür") wesenarbeit erziehen, ihnen Wege - Altenarbeit ( Altentagesstätte, zur Selbsthilfe weisen und Ver­ Aitenclub) ständnis zwischen Besitzenden und Bei dieser Beschreibung ist das Besitzlosen wecken. Wörtchen "noch" besonders zu be­ Dem englischen Vorbild lolgend tonen. da gerade die neuen Einrich­ gründete Stanton Coit, Universi­ tungen, die in den letzten beiden tätsdozent. 1886 eine ent­ Jahren dazugekommen sind, auch sprechende Einrichtung in New neue Akzente setzen. York. Hull-House in Chicago, South- Die Soziale Arbeitsgemein­ schaft Berlin Ost Wenn wir im folgenden Traditions­ linien sozialkulfureller Arbeit verfol­ gen, so konzentrieren wir uns auf zwei entscheidende Punkte: - die Arbeit der SAG Berlin Ost und -die Neugründung barschaftsheimen 2. Weltkrieg von Nach­ nach dem Die Wurzeln der Nachbarschafts­ heimarbeit liegen in der Arbeit der Settlements in England und den USA. In England überschritten junge Akademiker und Studenten End-House in Boston und viele andere folgten. 1901 wurde unter direktem Einfluss der Settlementbewegung von Wal­ ter Claasen das Volksheim Ham­ burg gegründet, das eine für die Nachbarschaftsheimbewegung eher untypische Entwicklung nahm. Es orientierte sich (auch noch in der Nachkriegszeit) an sozialistischen Positionen. 1911 zog der Theologe und ehema­ lige Pfarrer an der Hofkirche in Potsdam mit seiner Familie und wenigen Freunden in den Berliner Osten; dorthin, wo die Arbeiter wohnten. Die soziale Frage dieser 7 Zeit war die Arbei(erfrage. Zu seinen Beweggründen sagt er selbst: "Die innere Zerrissenheit unseres Volkes He uns keine Ruhe, da wir in dem groen Krieg zwischen Arbeiterbevölkerung und sogenannten herrschenden Klassen ohne unser Zutun Partei waren, ja da wir gegen unseren Willen und den des Evangeliunis auf die Seite der Reichen gegen die Armen gestoen wurden, war für uns unerträglich. Bedeutete die Kluft zwischen Arbeitern und Gebildeten zugleich eine Abschneidung der Arbeiterschaft von allen Quellen der Kraft, die uns durch die Erfahrungen unseres Lebens bekannt waren... Erst wenn zwischen ihnen und uns wieder eine soziale Arbeitsgemeinschaft gegründet ist. wird ihnen ein Zugang zu dem inneren Leben des deutschen Volkes geöffnet sein". Neben den Erfahrungen der Settlements. deren Arbeit SiegmundSchultze aus eigener Anschauung kannte, spielt hier auch der Einflu der Universitätsausdehnungsbewegung eine Rolle. Diese Bewegung geht von Wien aus. In Wien gründ­ eten 1895 liberale Professoren den "Wiener Volksbildungsverein" und hielten über diesen "volkstümliche Universitätsvorträge" und "extramurale Kurse" ab, die sich an jedermann, insbesondere aber an die Arbeiter richteten. Die Be­ wegung grilf auf Deutschland über und ist auch eine Wurzel der deut­ schen Volkshochschulbewegung. Die Idee der Klassenversöhnung, die der Initiative Siegmund-Schultzes zugrunde lag, zeigte sich auch in der Satzung der von ihm gegrün­ deten "Sozialen Arbeitsgemein­ schaft Berlin Ost" (SAG). Dort heit es im Paragr.2. die SAG bestrebe "persönliche Freundschaft zwischen Angehörigen der verschiedenen Volksklassen zu (ordern und auf Grund der groen, allen Volksangehörigen gemeinsamen Aufgabe für das Volksganze, für wahrhaftigen Frieden zwischen den verschiedenen Volksklassen, politischen Parteien und religiösen Bekenntnissen zu wirken." Die Settier Zweck planten zu - Kinder- und Jugendarbeit 8 diesem - Gründung eines Ferienvereins - ein Kaffeehaus, um der Trunk­ sucht von Jugendlichen und Er­ wachsenen entgegenzuwirken - Bildungstungen und Kulturveranstal­ - Untersuchungsarbeit in sozialpoliti­ scher Absicht. Tatsächlich wurden nach der Gründung folgende Arbeiten auf­ genommen: Knabenclubs, Jugendgerichtshilfe, Männerabende und Rechtsberatung. Hinzu kam bald die "Kaffee-klappe", den heuti­ gen Teestuben vergleichbar. Die Kinder- und Jugendarbeit der SAG holte diese von der Strae und organisierte sie in Klubform; durch­ aus eine frühe Form von streetwork. 1913 wurde eine "Frauenkolonie" gegründet. Sie bestand aus Ge­ schäftsstelle, gemeinsamen Wohnund Ezimmer der im Haus und in der Nachbarschaft wohnenden Mit­ arbeiterinnen. Klubzimmer für Mädchenclubs und einer "Lese­ halle" für Frauen und Mädchen. Neben der Bildungsarbeit ging es um Mithilfe und Beratung bei den in der Nachbarschaft wohnenden Familien in Haushalt und Erziehung. Während des 1. Weltkrieges wurde die Arbeit der SAG hauptsächlich von der Frauenkolonie aufrechter­ haften. In Notzeiten, so nach dem Kriege, spielte auch die materielle Hilfe in der Arbeit der SAG eine groe Rolle. obwohl das "Almosenveneilen" den Ziel Vorstellungen der Settier wider­ sprach. Von 1918-1923 machten die Ernährungsfürsorge und andere materielle Unterstützungsleistungen einen beträchtlichen Teil der Arbeit aus; eine Problematik, die im Ge­ folge der Weltwirtschaftskrise, in­ sbesondere im Hungerwinter 1929/ 30, wieder aktuell wurde. Während jedoch Anfang der zwanziger Jahre die Not nur durch Hilfe von auen (z.B. Ouäkerspeisung) einigermaen überwunden werden konnte, war 1929/30 die Hilfe zur Selbsthilfe im Umkreis der SAG schon so weit entwickelt, da die funktionierende Nachbarschaft dem Hunger gemein­ sam zu Leibe rücken konnte (ge­ meinsame Küchen und Mittagsti­ sche). Die umfangreiche Arbeit der SAG kann hier gar nicht vollständig dar­ gestellt werden, zu ihr gehörten Kulturveranstaltungen mil nam­ haften Künstlern, das Heilerzie­ hungsheim Ulmenhof, kommunalund sozialpolitische Initiativen ( z.B. Einflunahme auf das RJWG). Noch ein paar Worte zur Organisa­ tionsstruktur: Vor 1933 waren in der SAG 11 Personen. 8 Frauen und 3 Männer, hauptberuflich beschäftigt (wahrscheinlich ohne die Einrich­ tung Ulmenhof). Hinzu kamen etwa 70 - 80 regelmäig mitarbeitende Ehrenamtliche. Über ein Delegiertensystem, regelmäige "Groe Arbeitsbes­ prechungen" und durch ein vielgetesenes Mitteilungsblatt wurde der Gesamtzusammenhang gehalten und die Koordination gewährleistet. Seit 1914 besland die SAG in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Für die fürsorgerischen Leistungen Ulmenhof u.a. wurden die gesetz­ lichen Zuschüsse in Anspruch ge­ nommen, ebenso für Teile der Volksbildungsarbeil, besonders für die Erwerbslosenkurse. Eine zweite Quelle war der spendenfreudioe Kreis ■'Freunde des SAG", wohl zum gröten Teil ehemalige Mitarbei­ ter. Die direkte Nachbarschafts- und Clubarbeit wurde jedoch zum gröten Teil selbst finanziert, getreu den Prinzipien der Selbsthilfe und Un­ abhängigkeil. Nach 1920 entstanden weitere Arbeitsgemeinschaften und Volks­ heime in allen Teilen Deulschlands, die sich 1925 zur "Deutschen Ver­ einigung der N ach barsch aftssiedlungen" zusammenschlössen. Diese Geschichte mu noch ge­ schrieben werden. Nach der Machtergreifung durch die Faschisten muten viele dieser Ein­ richtungen ihre Arbeit aulgeben, die anderen wurden - wie die SAG 1940 - geschlossen. Ihre führenden Persönlichkeiten (Friedrich Sieg­ mund-Schultze. Herta Kraus u.a.) wurden in die Emigration ge­ zwungen. RUNDBRIEF 1/90 Nachbarschaftsheime in der Nachkriegszeit 1947 wurden die ersten Nach­ barsch aftsheime in den Westzonen und Berlin gegründet (u.a. der Mit­ telhof in Berlin, das Quä-kernachbarschaftsheim in Köln, Einrich­ tungen in Darmstadl, Frankfurt, Lud­ wigshafen und Braun schweig). Englische und amerikanische reli­ giöse Organisationen - vornehmlich die Quäker, aber auch YWCA und Mennoniten - nahmen die Tradition der SAG Berlin Ost und der Settlemenis wieder auf. Dies geschah zu einer Zeit, wo die dringendste Nachkriegsnot noch keineswegs überwunden war. Fast ein Viertel der Bevölkerung der Westzonen waren Vertriebene und Flüchtlinge. Aus diesen Zuwan­ derungen und den erheblichen Kriegszerstörungen resultierte eine ungeheure Wohnungsnot. Knapp ein Drittel der Bevölkerung wohnte auerhalb von Normalwohnungen. Hinzu kam bis zu Beginn der 50er Jahre eine hohe Arbeitslosigkeit. von der besonders die Jugendlichen betroffen waren. Viele Menschen waren, um sich am Leben zu erhal­ ten. nicht sehaft. Deshalb war die vordringliche Aufgabe aller sozialer Aktivitäten und Dienste die Bekämp­ fung der unmittelbaren materiellen Not. Vielfach war es die freie Wohl­ fahrtspflege, die die Lücke zwischen den Notsituationen und ihrer Lösung durch die öffentliche Fürsorge schlo. weil sie die flexibleren Hilfsmöglich­ keiten, nicht zuletzt dank ausländi­ scher Unterstützung, hatte. Die Tätigkeit der Nachbarschaft­ sheime dieser Zeit spiegelt sich in Satzungen und ersten Jahresberich­ ten. So sah sich beispielsweise das Nachbarschaftsheim Braunschweig als "Träger der von ihm allein oder gemeinsam zu leistenden sozialen Hilfsarbeit für Flüchtlinge und andere Hilfsbedürftige" und das Nach­ barschaftsheim Mittelhof in Berlin verstand sich als Einrichtung, "die ausschlielich zur unentgeltlichen, persönlichen und wirtschaftlichen Hilfeleistung für bedürftige Personen bestimmt ist". Zu diesem Zweck gingen die Gründer wie­ derum in die Stadtteile und orien­ tierten sich mit hohen persönlichem RUNDBRIEF 1/90 Einsatz an den unmittelbaren, aktuellen Bedürfnissen der Men­ schen. zig Jahre später die Gemeinwe­ senarbeit. bei deren deutscher Rezeption die Nachbarschaftsheime eine wichtige Rolle spielten. Entsprechend den Wertvorstel­ lungen der Gründer und im Zusam­ 1951 wurde der "Verband deutscher menhang mit dem Re-Education- Nachbarschaftsheime" gegründet. Programmen der Alliierten sollten 1952 schlössen sich die Berliner die Nachbarschaftsheime einen Bei­ Einrichtungen zu einer Land­ trag zur Umerziehung des deut­ esgruppe zusammen. Anlass der schen Volkes zur Demokratie Zusammenschlüsse waren Kürz­ leisten. In ihnen wurde durch un­ ungen der finanziellen Hilfen aus terschiedliche Mitspracheformen dem Ausland; die Gründung des "Demokratie im Modell" gelehrt. Dachverbandes sollte den Zugriff zu Traditionslinien und Einflu der All­ öffentlichen Geldern erleichtern. iierten spielten hier in einmaliger in den 50er Jahren wurde auch das Weise zusammen, waren es doch in Personal der ausländischen Hilfsor­ vielen Fällen Schüler und Freunde ganisationen weitgehend aus den Siegmund-Schultzes, die aus dem Nachbarschaftsheimen zurückgezo­ Exil zurückkehrten und sich im Auf­ gen; die Leitung der Einrichtungen trag der Hilfsorganisationen am Auf­ ging an deutsche Mitarbeiter über. bau der deutschen NachbarschaftWie die sich ändernden wirtschaft­ sheime beteiligten. So setzte die lichen und politischen Verhältnisse amerikanische Militärregierung Prof. in den letzten 40 Jahren auch die Herta Kraus, die vor ihrer Emi­ Arbeit der Nachbarschaftsheime be­ gration in der SAG tätig war, als einfluten und wie sich deren Arbeit Beraterin für Settlementarbeit ein. In bis zum heutigen Tage entwickelte, dieser Funktion entwickelte sie kann leider nicht Gegenstand die­ Grundsätze für die Nach barsch aftses Referates sein. sheimarbeit, die eine direkte Fort­ führung des Gedankenguts der SAG waren. Aus einem Interview mit der amerikanischen Sozialarbei­ terin und Sozialwissenschaftlerin Thesen Margret Anton wissen wir, da es im Nachbarschaftsheim Neukölln auch Mit einigen Thesen möchte ich das Referat abschlieen. Damit komme eine direkte Kontinuität gegeben ich auf die Merkmale sozialkulturel­ hat: ehemalige "settler" und Be­ ler Arbeit zurück, die ich eingangs sucher des SAG Berlin Ost waren benannt habe: auch wieder dabei, afs das Nach­ barschaftsheim Neukölln gegründet - die theoretische und praktische wurde. Orientierung an Lebenswelt und Le­ bensweise der Menschen - die generattons- und zielgruppenüberDie Nachbarschaftsheime wurden greifende Orientierung - die Verbin­ zu Modellen für die Arbeit kleiner dung von sozialer und Kulturarbeit freier Träger, die in einem engen die Betonung von Selbsthilfe und Miteinander von ehrenamtlichen Eigenaktivität und hauptamtlichen Mitarbeitern be­ stand. Diese Funktion haben die Einrichtungen des Verbandes noch 1. Die Tradition der Nachbarschaflheute. Sie hatten und haben sie sheime ist eine Tradition bürger­ nicht zuletzt deswegen, weil die lichen Gemeinsinnes und bür­ Nachbarschaftsheime aufgrund gerschaftlicher Initiative. Die Settler ihrer vielfältigen internationalen Kamen von auen in die Lebenswelt Kontakte wesentlich zur Vermittlung der Menschen. Ihr Ziel war die der Methoden der Sozialarbeit bei­ Behebung sozialen (und psychi­ trugen. Hier wurden sie rezipiert, schen) Elends durch Selbsthilfe, propagiert, erprobt und nicht selten nicht durch Selbstorganisation. gegen Widerstände durchgehalten. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit war In der Nachkriegszeit war es die ßtldungsarbeit. Die Vorstellung war Methode der Gruppenarbeit, zwan­ die einer Möglichkeit der Emanzipa- 9 tion von Benachteiligten, einer Mil­ derung sozialen Elends, einer demokratischen Neuorientierung durch Verbesserung des Bil­ dungsstandes der Betroffenen. Dabei war immer die ganze Breite von Bildung zu sehen: - berufliche Bitdung einer gegebenen gesellschaftlichen Situation in einem konkreten Raum den Menschen zu einer Verbesserung ihrer Lebenslage helfen würde'. Diese Verbesserung lag lür sie auch wesentlich in einer Ver­ änderung des Umganges miteinan­ der. In der Arbeiterbewegung hätte man wohl Solidarität dazu gesagt. - unmittelbar nützliche Bildung - kulturelle Bildung - politische Bil­ dung. 2. Eine weitere Traditionslinie ist die. dorlhin zu gehen, wo die Men­ schen leben, sich an ihren Konkre­ ten Problemen und Möglichkeiten zu orientieren. Wem der Begrill "Nachbarschaft" zu antiquiert oder zu eng erscheint, der mag ihn durch den modernen Begriff 'lebensweit" ersetzen. Die Settier und die Gründer der Nachbarschaftsheime wollten nicht weiter von auen agieren, sondern sie wurden Teil der Lebenswelt der Betroffenen, ohne ihre Identität aufzugeben. Ihre Veränderunsperspektive war der Nahraum. Oder wie Herbert Scherer mir geschrieben hat, "das. was in 3. Hervorzuheben ist die Tradition der Kulturarbeit in der Nach­ barschaftsheimbewegung. Auffal­ lend ist der Mut der Settier, den Arbeitern auch die "bürgerliche" Kultur nahezubringen. Allerdings und da sollten die Linien weiter gezogen werden - ist in den Quellen wenig zu lesen von einer Förderung kultureller Eigentätigkeit der Men­ schen. 4. Es mu noch einmal die Bedeu­ tung der SAG und der Nach­ barschaftsheime hinsichtlich des methodischen Arbeitens hervorge­ hoben werden. Hier wurden z.T. intuitiv, z.T. systematisch immer wieder neue Wege gegangen: - streetwork - Gruppenarbeit - Gemeinwesen arbeit. 5. Die Settier verbanden ihre Arbeit immer auch mit sozialpolitischen Aktivitäten auf kommunaler und ge­ setzgeberischer Ebene. Viele von ihnen waren parlamentarisch tätig (Sozial- und JugendhÜfegesetzgebung); sie bewirkten Veränderungen in der kommunalen Sozialpolitik (Gesundheilsversorgung, Jugendp­ flege etc.) Allerdings hat die Idee "Demokratie im Modell" diese politi­ sche Auenorientierung zurückge­ drängt. Sie zurückzugewinnen, ist eine - in Widersprüchen verlaufende - Traditionslinie des Verbandes seil Beginn der siebziger Jahre. Heute müssen wir uns wieder neu die Frage stellen, was die einzelnen Einrichtungen und was der Verband zur Gestaltung unserer Gemeinwe­ sen beizutragen haben. ♦ Dr.Hans Langnickel: Einige Anmerkungen zur Soziokultur heute Die Diskussion um das Verhältnis von Kultur und Wohlfahrtspflege ist nicht neu. In den siebziger Jahren gab es z.B. den Streit zwischen sozialer Kulturarbeit und kultureller Sozialarbeit und vor allem - bis heute nicht abgeschlossen, sondern sogar insti-tutionell in verschie­ denen Verbänden verfestigt - den Streit zwischen Sozial- und Sozio- kultur. Die soziokulturelle Bewegung ist noch recht jung, vor allem, wenn man sie mit der langen Tradition der Nachbarschaftsheime und der aus ihr hervorgegangenen sozial-kul­ turellen Arbeit vergleicht, die bis in die Weimarer Republik und interna­ tional sogar bis ins vergangene 10 Jahrhundert zurückreicht. Untrenn­ bar verbunden ist sie mit der Ge­ schichte der Bürgerinitiativen in der Bundesrepublik, und in diesem Zu­ sammenhang lassen sich insgesamt drei Quellen benennen, aus denen Soziokultur als eigenständiges Arbeitsfeld ihre Legitimation bezieht: 1. Da war zunächst die Kritik an der herkömmlichen Kulturpolilik, einem elitären, esoterischen Kulturbegriff je nach Präferenzen wurde Anfang der 70er Jahre die ' Kultur von unten ", "Kultur für alle " oder ' Kultur von allen " propagiert. Kultur wurde von Anfang an jedenfalls als politischer Begriff - eben "Soziokultur" - benutzt, und damit For­ derungen nach Demokratisierung etablierter Kulturinstitutionen , Bür­ gernähe und Stadtteilorienlierung der Kulturarbeit verbunden. 2. Ein wichtiger Entwicklungszu­ sammenhang für die Soziokultur be­ steht aber auch mit der seit Ende der 60er Jahre intensiv formulierten Kritik an den bürokratischen Formen traditioneller SozialarDeiV-pädagogik, vor allem an der sligmalisierenden und allein delizilorientierten sozialarbeiterischen Einzelfallhille. Forderungen nach Siadtteilbezug, Betrolfenen- und Bürgernähe sowie die Hinwendung zu den ge­ sellschaftlichen Rahmenbe­ dingungen individueller "Hilfebedürf­ tigkeit" und damit zur Gemeinwe­ senarbeit sind Orientierungen, die RUNDBRIEF 1/90