Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Psychische Störungen – ein Überblick: Prävalenz, Diagnostik, Therapie Klaus Lieb Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Mainz Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Interessenkonflikte in der Medizin Definition aus Lieb et al., DÄB 2011 (angelehnt an Thompson, 2009): „Interessenkonflikte sind definiert als Situationen, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen oder Handeln, welches sich auf ein primäres Interesse bezieht, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst wird“ Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Erklärung eigener Interessenkonflikte • • • • Seit 2007 keinerlei persönliche Annahme von Geldern oder anderen Zuwendungen der Industrie Als Klinikdirektor Letztverantwortung für die Annahme von Honoraren für die Durchführung klinischer Studien im Studienzentrum unserer Klinik Verhaltenstherapeutische Ausrichtung Mitglied bei MEZIS e.V. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Psychische Störungen • • • Prävalenz und Bedeutung psychischer Erkrankungen Diagnosen und „burden of disease“ (DALYs) Behandlung psychischer Erkrankungen mit Psycho- und Pharmakotherapie Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Epidemiologie psychischer Störungen in Deutschland Bundes-Gesundheitssurvey 1998 Erwachsene Allgemeinbevölkerung 18-65 J. (n = 4181) • Psychische Störungen sind wesentlich häufiger als vielfach angenommen • Hohe Komorbidität (ca. 50% mehr als eine Diagnose) Wittchen und Jacobi, Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 2001 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Prävalenz psychischer Störungen Lebenszeit (lifetime) 12-MonatsPrävalenz ca. 40% ca. 30% 1-MonatsPrävalenz ca. 20% Wittchen HU, Jacobi F, Hoyer J (2003). Die Epidemiologie psychischer Störungen in Deutschland. Vortrag im Rahmen des Kongress: Psychosoziale Versorgung in der Medizin, Hamburg, 28.-30.9.2003. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen in Deutschland Wittchen und Jacobi, Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 2001 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Hinweise für Unterversorgung von Patienten mit psychischen Störungen • Mehrzahl der Betroffenen wird überhaupt nicht versorgt Behandlungsquote: 36.4% mindestens ein Kontakt nicht berücksichtigt: Art, Dauer, Adäquatheit der Behandlung keine Aussage über Fehlbehandlung • Rate der adäquat Behandelten wahrscheinlich sehr niedrig Verminderung der Lebensqualität Volkswirtschaftliche Mehrkosten Wittchen und Jacobi, Bundesgesundheitsbl-Gesundheitsforsch-Gesundheitsschutz 2001 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Arbeitsunfähigkeit Deutsches Ärzteblatt (27. März 2009) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Arbeitsunfähigkeit 2008 DAK Gesundheitsreport 2009 http://www.presse.dak.de Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Arbeitsunfähigkeit 68,7% Psych. Erkrankungen Infektionen Nervensystem, Auge, Ohr Muskel-Skelett-System Symptome AU-Tage insgesamt Veränderung des AU-Volumens 2004 in Relation zu 1997 nach Diagnosengruppen 5% Verletzungen Neubildungen Verdauungssystem Atmungssystem Kreislaufsystem -20 0 20 40 60 80 DAK Gesundheitsreport 2005 http://www.presse.dak.de Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Todesursachen Todesursachenim imVergleich Vergleich laut lautBundesamt Bundesamtfür fürStatistik/Gesundheitsberichterstattung Statistik/Gesundheitsberichterstattungdes desBundes Bundes(2004) (2004) Suizid 10733 Drogen 1385 Verkehr Mord Aids 5927 792 507 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Prävalenz psychischer Erkrankungen Fazit 1 Psychische Erkrankungen sind häufig, aber Diagnosen allein sagen noch nichts über Behandlungsnotwendigkeit Zunehmende Bedeutung für Arbeitsunfähigkeit Allokation von Mitteln zur Erforschung psychischer Störungen (incl. Suizidprävention) unverhältnismäßig niedrig Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Psychische Störungen • • • Prävalenz und Bedeutung psychischer Erkrankungen Diagnosen und „burden of disease“ (DALYs) Behandlung psychischer Erkrankungen mit Psycho- und Pharmakotherapie Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Psychiatrische Diagnostik Psychische Symptome Psychischer Befund Syndrom Charakteristische Konstellation von Symptomen Diagnose ICD-10 DSM-IV Ausschluss org. Ursachen Schweregrad Zeitlicher Verlauf (aktuelle Episode + Vorgeschichte) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klassifikationssysteme ICD-10 (WHO) DSM-IV (APA) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klassifikation psychischer Störungen nach ICD-10 F0 Organische psychische Störungen F1 Psychische Störungen durch psychotrope Substanzen F2 Schizophrenie und andere psychotische Störungen F3 Affektive Störungen F4 Angststörungen, Belastungs- und Anpassungsstörungen, Somatoforme Störungen F5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen F6 Persönlichkeitsstörungen F7 Intelligenzminderung F8 Entwicklungsstörungen F9 Psychische Störungen in Kindheit und Jugend Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Diagnosen definieren Schwellen und stellen diagnostische Übereinkünfte dar Bsp.: Borderline-Persönlichkeitsstörung Mindestens 5 der folgenden 9 Kriterien nach DSM-IV müssen erfüllt sein: 1.) 2.) 3.) 4.) 5.) 6.) 7.) 8.) 9.) Affektive Instabilität Impulsivität Instabile Beziehungen (Wechsel zw. Idealisierung und Abwertung) Schwierigkeiten, Ärger zu kontrollieren Identitätsstörungen Bemühen, allein sein zu verhindern Chronisches Gefühl der Leere Suizidalität und Selbstschädigendes Verhalten (Analgesie) Stress-abhängiges paranoides Erleben, Dissoziationen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Operationalisierte Diagnostik depressiver Störungen nach ICD-10 Hauptsymptome - gedrückte, depressive Stimmung =2 =2 =3 + + + =2 = 3-4 >4 und und - Interessenverlust, Freudlosigkeit - Antriebsmangel, erhöhte Ermüdbarkeit Zusatzsymptome - Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit - Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen - Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit und - Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven - Suizidgedanken / -handlungen Symptome > 2 Wochen - Schlafstörungen - Verminderter Appetit Schweregrad leichte mittelgradige schwere Depressive Episode Verlaufsaspekte ICD-10 monophasisch F 32.xx rezidivierend F 33.xx im Rahmen eines bipolaren Verlaufs F 31.xx Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Schwere der depressiven Symptomatik wahnhafte Depression schwere Depression Krankheit mittelschwere Depression leichte Depression minore und subdiagnostische Depression normale psycholog. Verstimmungen Häufigkeit Übergangsbereich Gesundheit Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie „Burden of Disease“ • • Messung der Bevölkerungsbelastung durch Erkrankungen Vergleich und Gewichtung aller Erkrankungen • Hauptmaß: DALYs (disability-adjusted life years), bestehend aus: YLL = Years of life lost YLD = Years lived with disability 1 DALY = Verlust eines Jahres voller Gesundheit • Beitrag psychischer Störungen weltweit zur Gesamtbelastung durch Krankheit ca. 12 % Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Global Burden of Disease (> 15. LJ) WHO 2003 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Global Burden of Disease (15. – 44. LJ) Unipolare Depression Hörverlust Eisenmangel Anämie COPD Alkohol Osteoarthritis Schizophrenie Stürze Bipolare Störung Asthma Angebore Erkrankungen Perinatale St. Demenz Katarakt Autounfälle Mangelernährung Zerebrovaskulär HIV/AIDS Migraine Diabetes 0 2 4 6 8 10 12 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie „Global Burden of disease“ im Jahr 2020 (nach: Murray CJL, Lopez AD: The global burden of disease. Harvard University Press) Depression, Depression, unipolar unipolar Alkoholmissbrauch Alkoholmissbrauch Osteoarthritis Osteoarthritis Demenz/andere Demenz/andere Degenerative Degenerative Erkr. Erkr. Schizophrenie Schizophrenie Häufigkeit verschiedener Erkrankungen, Erkrankungsjahre pro Bevölkerung, gewichtet mit der Schwere der Beeinträchtigung Bipolar Bipolar affektive affektive Störung Störung Zerebrovaskuläre Zerebrovaskuläre Erkrankung Erkrankung Obstr. Obstr. pulmonale pulmonale Erkrankung Erkrankung Autounfälle Autounfälle Diabetes Diabetes mellitus mellitus 00 2000 2000 4000 4000 6000 6000 8000 8000 10000 10000 12000 12000 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Unterschätzte Bedeutung der Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen FM Gore et al., Lancet 2011 Total DALYs: 18,5% 15,5% Davon 68% durch neuropsychiatrische Erkrankungen (in high-income-Ländern) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Konsum von Alkohol und illegalen Drogen als wichtigster Risikofaktor für DALYs bei 10-24 Jährigen in high-income-Ländern FM Gore et al., Lancet 2011 Männer Frauen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Diagnosen und „burden of disease“ Fazit 2 „Burden of disease“ als sinnvollerer Indikator für die Bedeutung von Erkrankungen als reine Diagnosen Bedeutung der Intervention bei Kindern/Jugendlichen für spätere Gesundheit (z.B. Rauchen, Alkohol, psych. Erkr.) Alkohol als wichtiger Risikofaktor für DALYs Gerechtere Ressourcenallokation durch DALYs möglich Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Psychische Störungen • • • Prävalenz und Bedeutung psychischer Erkrankungen Diagnosen und „burden of disease“ (DALYs) Behandlung psychischer Erkrankungen mit Psycho- und Pharmakotherapie Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Multimodale therapeutische Strategien Somatische Therapie v.a. Psychopharmaka Somatische Belastung Somatische Stressoren Neurobiologie Genetische Belastung Psychopathologie Biographische Belastung Soziale Stressoren Psychische Stressoren Sozialpsychiatrie Familientherapie Psychoedukation Psychotherapie Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Differentialtherapie der wichtigsten psychischen Erkrankungen Pharmakotherapie org. Psychosyndrome Psychosen affektive Erkrankungen Persönlichkeitsstörungen ADHD bei Erw. Angsterkrankungen Zwangserkrankungen PTBS Suchterkrankungen +++ +++ ++ (+) + + + + + Soziotherapie ++ ++ + + + + ++ Psychotherapie + + ++ ++ ++ +++ +++ +++ +++ Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Effektivere Kombinationstherapie (Nefazodon und kognitive Verhaltenstherapie) bei chronischen Depressionen Keller et al., N Engl J Med 2000 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Innovationskrise bei der Antidepressiva-Entwicklung 2. 3. NDRI MA/5-HT2-A 1. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Innovationskrise in der AntidepressivaEntwicklung Seit den 1990er Jahren nur „Schrittinnovationen“ (auch Scheininnovationen genannt) mit der Folge hoher Kosten Amitriptylin aus den 1950er Jahren ist bei schweren Depressionen am besten wirksam Alle neuen Wirkmechanismen (z.B. CRH- oder NK1-Antagonisten) haben versagt Ähnliches kann für die Antipsychotika gesagt werden Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Entwicklung evidenzbasierter, Schulenübergreifender Psychotherapie kontrastiert Finanzierungssystem nach Schulen Zwang Depression Borderline PTBS ADHS Anorexie Störungsorientierte evidenzbasierte Psychotherapien – auf dem Boden einer spezifischen Krankheitslehre – Allgemeine Psychotherapie – auf dem Boden wissenschaftlicher Psychologie und Psychopathologie – Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Entwicklung Störungsorientierter Evidenz-basierter Psychotherapieverfahren am Bsp. der Borderline-St. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Evidenzbasierte Psychotherapien der BPS Evidenzgrad Ia Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT) Ib Übertragungsfokussierte Therapie (TFP) IIa Schematherapie (ST) Mentalisierungs-basierte Therapie (MBT) Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Ausgaben für psychotherapeutische Einzelverfahren pro 100.000 Einwohner (gerundet) nach Schulen Verhaltenstherapie 0,4 Mio. € Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie 0,6 Mio. € Analytisch orientierte Psychotherapie 0,7 Mio. € Nach Melchinger et al., Nervenarzt 2006 Summe Richtlinienpsychotherapie: 1,7 Mio. € Verweildauer im Krankenhaus Mittlere Verweildauer (in Tagen) Spießl et al. Deutsches Ärzteblatt (2006) Wiederaufnahmerate (innerhalb eines Jahres) Psychiatrische Klinik der Universität Regensburg (475 Betten) Im Zeitraum 1995-2003 insgesamt 24.888 stationäre Fälle Kumulative Verweildauer unverändert Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie CAVE: Gefahr von Verzerrungen durch Interessenkonflikte (Beispiele) Geschenke und Einladungen an Ärzte durch Industrie sollen Verordnungszahlen erhöhen Ausbildungsinstitute für Psychotherapien haben Interesse an Beibehaltung der Schulen-Orientierung Wissenschaftler, die bestimmte Therapien entwickeln, haben Interesse an deren Verbreitung Ökonomische Ausrichtung von Psychotherapie bevorzugt weniger kranke und komplizierte Patienten Kliniken steigern Fallzahlen durch frühzeitige Entlassungen, um ökonomische Ziele zu erreichen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Beispiele für notwendige Veränderungen Sicherstellung der Ressourcenallokation an Patienten mit höchstem Bedarf, z.B. durch entsprechende Anreizsysteme Mehr Evidenzgenerierung durch unabhängige Studien hoher Qualität und umfangreichere Beteiligung der GKV an deren Finanzierung Maßnahmen zur Offenlegung und Minimierung von Interessenkonflikten Ausbau von Finanzierungssystemen, die Sektorengrenzen überschreiten