Ethik im Praxisalltag: Handeln und Entscheiden Methodische

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Ethik im Praxisalltag: Handeln und Entscheiden
Ethik im Praxisalltag: Handeln und Entscheiden
3.5
Methodische Ansätze der Medizinethik
3.5.1
Für die Lösung medizinethischer Probleme sollten vier Ansätze im Blick behalten werden:
π Prinzipienethik
π Fürsorgeethik
π |narrative Medizinethik
π |kasuistische Medizinethik
Zentraler Kritikpunkt an den Formen der Prinzipienethik nach Beauchamp und
Childress ist, dass sie oft dem schwierigen, wertbeladenen medizinischen Kontext in
der Praxis und der Komplexität der Entscheidungssituationen nicht gerecht werden.
So stellt sich anhand des Beispiels der Akutbehandlung in der physiotherapeutischen
Praxis trotz tatsächlich erheblicher Wartezeiten die Frage: Welches Prinzip steht im
Vordergrund? Ist ausreichend Zeit und Kompetenz für eine Entscheidung vorhanden?
Als alternative Grundlagen für eine Entscheidung wurden einige andere Ansätze entwickelt.
Die Fürsorgeethik hebt, ähnlich wie die narrative Medizinethik, den Beziehungskontext der Patienten hervor, sie betont eher die emotionale Lage der Patienten, weniger die rationalen Argumente. Die Grundlage bildet die Kenntnis und das Bewusstsein
um die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen. Probleme werden durch geteilte
Empfindungen und Empathie gelöst. Hierbei soll es dem Therapeuten gelingen, sich
in die Situation des betroffenen Patienten realistisch einzufühlen.
Bei der narrativen Medizinethik liegt der Schwerpunkt auf der individuellen Interpretation. Die Lebens- und Krankheitsgeschichte der Patienten sollen berücksichtigt
werden [Abb. 2]. Die Krankheitsgeschichte zu erzählen, hat therapeutische Wirksamkeit
für den Erzählenden. Sie birgt für Therapeuten oder Ärzte das Wissen um die Erfahrungen der Patienten, die Einsicht in Unterschiede der Wahrnehmung und den Unterschied der Perspektiven. Nur unter Einbeziehung der individuellen Geschichte und
Situation ist ein ethisches Problem lösbar. Diese Lösung ist im physiotherapeutischen
Alltag, begründet durch knappe zeitliche Ressourcen, teilweise schwer umzusetzen.
Mitunter lässt sich trotzdem ein Gespräch ermöglichen, welches entweder eine kurzfristige therapeutische Lösung oder eine Alternative zur Linderung der akuten Beschwerden thematisiert.
Die kasuistische Medizinethik orientiert sich an |paradigmatischen Fällen. Hier
geht es in erster Linie um eine |pragmatische Lösung, die gut zu handhaben ist. Sie
geht davon aus, dass ein Fall anhand der Kenntnis von Fallgeschichten zu lösen ist. In
einer physiotherapeutischen Praxis lässt sich z. B. ein Akutbehandlungszeitraum für
klar definierte „(Not-)Fälle“ einrichten.
Ethische Entscheidungskompetenz und Reflexion
narrativ
erzählerisch
narrare, lat. = erzählen
kasuistisch
Betrachtung von Einzelfällen
in einem Fachgebiet
casus, lat. = der Fall
paradigmatisch
Eine Handlung ist an Beispielen oder Mustern orientiert.
pragmatisch
Eine Handlung richtet sich
nach bekannten Gegebenheiten und verzichtet auf eine
theoretische Analyse.
[2] Therapeuten sollten sich ausreichend Zeit nehmen, Patienten
beim Beschreiben ihrer Krankheitsgeschichte zuzuhören.
3.5.2
Die Ethik ist eine traditionsreiche Wissenschaft mit zahlreichen Untergebieten, die
über viele Jahrhunderte Unmengen von Wissen angehäuft hat. Es gibt kaum ethisches
Wissen, welches nicht für die Praxis nutzbar wäre. Nun stellt sich die Frage, welche
Teile davon für die verschiedenen Professionen der Gesundheitsberufe wichtig sind.
Ressourcen an Geld (Behandlungssätze der Krankenkassen), und daraus resultierend
Zeit (Behandlungszeit), sind in der Praxis meist knapp bemessen, es geht also um eine
„minimale“ Auswahl an Kompetenzen.
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Ethik im physiotherapeutischen Alltag
Arn und Weidmann-Hügel (2009) prägten den Begriff der Ethikkompetenz und teilten
diese in sieben Grund- oder Elementarkompetenzen auf. Die Auswahl kann als Leitlinie für die Praxis genutzt werden, um ethische Probleme zeitnah zu lösen.
π Kenntnis der Grundbegriffe; ethische Grundbegriffe sollten bekannt sein, um
diese gezielt anzuwenden
π Werte von Fakten unterscheiden können; Differenzierung zwischen |normativen und |deskriptiven Aussagen
π Systematisieren der Werte; Verhältnisse zwischen den Werten erkennen, Werttypen
π Würde und |Autonomieanspruch des Menschen als zentrale Werte in der Medizin erkennen
π Modelle zur Entscheidungsfindung kennen (Was leistet Ethik | 55 )
π spezifische ethische Probleme für das eigene Berufsfeld herausfiltern
π Selbstreflexion hinsichtlich der eigenen Werte, der des eigenen Berufs und bewusster Umgang mit anderen Berufsgruppen und deren Werte bzw. Normen
normativ | 56
deskriptiv | 56
Autonomie | 51
Fort- und Weiterbildung | 88
Handlungskompetenz | 107
Ethikkompetenz zu besitzen, bedeutet noch nicht, ethisch zu handeln. Daher muss das
konkrete Üben ethischer Kompetenzen – zunächst unter Anleitung – ein Bestandteil
der Ausbildung sein. Letztlich wird kontinuierliche |Fort- und Weiterbildung |Handlungskompetenzen entstehen lassen, die sich entlastend auf den Alltag auswirken und
damit die Arbeitsqualität erhöhen und die Berufszufriedenheit verbessern. Entscheidend ist also die erfolgreiche Anwendbarkeit im physiotherapeutischen Alltag.
Für die Anwendung ethischer Reflexion im medizinischen und physiotherapeutischen Alltag beschreibt das Modell der Pflegeethikerin Marianne Rabe (2009) [Abb. 1]
drei Grundschritte [Tab. 1]. Es gibt Anregung und Anleitung zur ethischen Reflexion und
zum Nachdenken über Werte und Prinzipien, die das Handeln in einer bestimmten
Problemsituation bestimmen.
[1] Marianne Rabe (geb. 1954)
1. Situationsanalyse
2. Ethische Reflexion
3. Ergebnisse
persönliche, eigene Reaktionen
Benennen des ethischen Problems
ethisch begründete Beurteilung
Sichtweise aller am Fall beteiligten
­ ersonen berücksichtigen
P
Formulieren der normativen Orientierung Konsens oder Dissens
(Normen und Werte) und Prinzipien, z. B.
Autonomie, Gerechtigkeit
alternative Handlungsmöglichkeiten und
ihre Folgen für die Betroffenen betrachten
Verantwortungsebenen benennen (persönlich, institutionell oder gesellschaftspolitisch)
nötige praktische Konsequenz und deren
Durchsetzung
[Tab. 1] Schritte für die ethische Reflexion nach Rabe
Beispiel Die Patientin Gülnur, eine junge Muslimin, soll für die Manuelle Therapie
durch Dirk die Bekleidung des Oberkörpers ablegen. Dies ist für die optimale Behandlung erforderlich, stößt aber auf Widerstand bei der Patientin. Dirk reagiert mit Unbehagen und Ärger auf diese Reaktion, denn für ihn steht die optimale Versorgung der
Patientin im Vordergrund.
In diesem Beispiel gilt es nun, alle Beteiligten (Physiotherapeuten, verordnenden Arzt,
Patientin) sowie deren Sichtweisen und (religiöse) Normen zu beachten. Alternativ
wäre z. B. der Einsatz einer weiblichen Therapeutin angeraten oder die Diskussion des
islamischen Rechtsprinzips, dass die Notlage (in diesem Fall Schmerzen durch eine
Blockierung) das Verbotene erlaubt. Eine andere Möglichkeit des Konsens wäre, die
Kleidung nur zu einem für das Verständnis der Patientin vertretbaren Teil zu entfernen.
Dies setzt immer eine Aufklärung der Patientin über die Behandlung voraus.
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3
Berufsethik und berufsethische Kodizes
Berufsethik und berufsethische Kodizes
3.6
Viele Berufe, Berufsgruppen und Vereinigungen, wie z. B. Parteien, haben berufs­
ethische Kodizes für die Durchführung ihrer |Profession erarbeitet und sich selbst zur
Einhaltung der darin festgehaltenen Leitlinien verpflichtet. Dazu gehört die Einhal­
tung qualitativer Standards ebenso wie die Verpflichtung zur gleichen Behandlung von
Angehörigen verschiedener Religionen. Allgemein formuliert umfassen die berufs­
ethischen Kodizes eines jeden Berufes sowohl die persönlichen Werte, die bei der Aus­
übung eines Berufes Beachtung finden, als auch die |Werte und |Normen eines be­
stimmten Berufsstandes, welche bei der Ausübung von den Berufstätigen beachtet
werden müssen.
Werte und Normen unterliegen gesellschaftspolitischen Einflüssen und finden ­somit
auch Einzug in die |Kodizes der einzelnen Berufsgruppen. Wie es um die beruflichen
Kodizes der Physiotherapie bestellt ist, wird im Abschnitt 3.6.3 genauer betrachtet. Das
Erstellen von eigenen Kodizes stellt ein wichtiges |Professio­nalisierungsmerkmal
eines Berufes dar.
Berufsethische Kodizes in der Medizin
Profession | 102
Werte | 53
Normen | 53
Professionalisierung | 102
Kodex
Sammlung von Grundsätzen,
Verhaltensregeln, Leitlinien
bzw. die Selbstverpflichtung
der Einhaltung selbiger; fin­
det sich in verschiedenen Be­
rufsgruppen und Vereini­
gungen, wie z. B. ärztlicher
Kodex
3.6.1
In der Medizin stehen verschiedene Kodizes für eine hohe
Professionalisierung. Stellvertretend sollen hier einige
genannt werden:
π Hippokratischer Eid: Dies ist die älteste bekannte
Form der Berufsethik in der Medizin. Er beinhal­
tet die Verpflichtungen, stets zum Nutzen der
­Patienten zu handeln, keine Sterbehilfe zu leisten,
gleiche Behandlungen walten zu lassen, die
Schweigepflicht sowie die Achtung und Ehrer­
bietung gegenüber dem eigenen Lehrer.
π Nauheimer Gelöbnis: Das Nauheimer Gelöbnis
wurde auf der Ärztetagung der westdeutschen
Landesärztekammern in Bad Nauheim im Juni
1947 beschlossen. Dies geschah als unmittelbare
Reaktion auf die Nürnberger Ärzteprozesse
[2] Nürnberger Ärzteprozess in den Jahren 1946/47
1946/47 [Abb. 2]. In diesen Prozessen wurden
­Mediziner angeklagt, die während der Zeit des
National­sozialismus in Konzentrationslagern
­Versuche an Menschen durchgeführt hatten. Im
­Vergleich zum religionsbezogenen Anfang des
säkular
­Hippokratischen Eides sind die Wurzeln des Nau­
weltlich; von der Religion ge­
heimer Gelöbnisses |säkular. Ethische Werte wie
trennt
Menschlichkeit fanden Einzug in das Gelöbnis.
π Genfer Gelöbnis von 1949: Das Genfer Gelöbnis oder auch die Genfer Deklara­
tion des Weltärztebundes stellt eine moderne Form des Hippokratischen Eides
dar, die im Laufe der Jahre mehrfach aktualisiert wurde, zuletzt im Jahr 2006.
π Code of Nurses: Der Code of Nurses beinhaltet die ethischen Richtlinien für
www.bundesaerztekammer.de/
downloads/Genf.pdf
Pflegeberufe und deren grundlegenden Verantwortungen.
π Islamic Code of Medical Ethics: Dies ist ein Beispiel für einen Kodex unter reli­
Unter dieser Adresse finden Sie
die deutsche Übersetzung des
giösen Aspekten.
Genfer Gelöbnises.
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Ethik im physiotherapeutischen Alltag
Ethikorganisationen
3. 6. 2
Deklaration von Helsinki | 55
Organisationen, die sich mit Ethik befassen, gibt es auf verschiedenen Ebenen. Die
Entstehung von Ethikkommissionen geht auf die |Deklaration von Helsinki zurück. In
Deutschland gibt es mehrere Organisationen, die ethisch relevante Themen, wie Embryonenforschung, Einrichtung von Biobanken, moralisch einwandfreie Arzneimittelforschung und Ressourcenverteilung, aufgreifen, entsprechende Richtlinien herausgeben und konkrete Entscheidungshilfen geben.
Deutscher Ethikrat
www.ethikrat.org
Auf dieser Website finden Sie
Veröffentlichungen und Ver­
anstaltungen des Deutschen
Ethikrates.
www.rki.de
Hier finden Sie Informationen
über das Robert Koch-Institut.
Eine zentrale Rolle spielt hier der Deutsche Ethikrat. Der Ethikrat wurde per Gesetz
(Ethikratgesetz EthRG) am 16. Juli 2007 eingerichtet. Im Deutschen Ethikrat sind mit
26 Mitgliedern Vertreter aus den Bereichen Naturwissenschaften, Theologie, Medizin,
Philosophie, Ethikwissenschaften, Soziologie, Ökonomie und Recht zusammengekommen. Er ist eine unabhängige Einrichtung mit gesetzlich vorgegebenem Auftrag.
Seine Aufgaben bestehen darin, ethische Fragen und deren Folgen für Individuum und
Gesellschaft zu untersuchen.
Aus den Untersuchungen des Ethikrates werden Stellungnahmen erarbeitet und
Empfehlungen für politisches Handeln und die Gesetzgebung herausgegeben. Die
Stellungnahmen werden dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung vor der
Veröffentlichung zugeleitet. Ein weiterer Auftrag besteht in der Information der Öffentlichkeit und der damit verbundenen Förderung der Diskussion in der Gesellschaft.
Viele Veranstaltungen sind öffentlich.
Zentrale Ethik-Kommission
Die Zentrale Ethik-Kommission der Landesärztekammern versteht sich als Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und in angrenzenden Gebieten, z. B. der Biologie. Sie entspricht dabei den Werten des Grundgesetzes und
nimmt im Wesentlichen Bezug auf die |Genfer Deklaration. Universitäten und Forschungseinrichtungen, stellvertretend sei das Robert Koch-Institut [Abb. 1]
genannt, haben eigene Ethikkommissionen.
Genfer Deklaration | 71
Auch Kliniken haben heute Ethikkommissionen, die in konkreten Fragen
innerhalb der Einrichtung, wie z. B. der Patientenfixierung, Unterstützung
bei Entscheidungen geben. Entsprechend der Prägung und Werte der Institution werden die Entscheidungen unterschiedlich ausfallen. So fließen z. B. bei
konfessionell geführten Häusern christliche Werte in Entscheidungsprozesse
ein.
Über medizinische Ethik wird heute in vielen Fachbüchern und Zeitschriften
publiziert. Ein Beispiel ist die „Zeitschrift für medizinische Ethik“, die von
der wissenschaftlichen, katholisch geprägten Görres-Gesellschaft herausgegeben wird. Sie ist die auflagenstärkste deutschsprachige Zeitschrift auf dem
Gebiet der Medizinethik und will „Arzt und Christ“ praxisorientiert helfen,
Problemlösungen bei ethischen Fragestellungen zu finden.
[1] Robert Koch-Institut in Berlin
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Berufsethik und berufsethische Kodizes
Berufsethik und Verbände in der Physiotherapie
3.6.3
Gibt es eine spezielle Ethik im Beruf des Physiotherapeuten?
Neben den vielen spektakulären Ethikbereichen, die in der Forschungsmedizin vertreten sind, wie z. B. der Embryonenforschung, nimmt die Physiotherapie bisher einen
vergleichbar bescheidenen Platz ein. Die Frage nach einer speziellen Berufsethik in der
Physiotherapie erhält erst in jüngster Zeit näheres Interesse. Ethische Fragen erwachsen hier eher aus Alltagssituationen.
Die Frage nach einer physiotherapeutischen Berufsethik geht eng mit der Eigenständigkeitsdiskussion zur |Profession der Physiotherapie im Gesundheitswesen einher.
Profession | 102
Dabei stellt sich die Frage nach berufsspezifischen Werten im therapeutischen Alltag.
Von besonderer Bedeutung ist, dass Physiotherapeuten sehr viel mit therapeutischen
Berührungen arbeiten [Abb. 2]. Die dabei aufgeworfenen berufstypischen ethischen Fragestellungen, wie nach Autonomie und Patientenzufriedenheit, müssen in der Ausbildung und im physiotherapeutischen Alltag stärker Beachtung finden. Eine große Bedeutung im Rahmen der Ausbildung kommt der Sensibilisierung für ethische
Problemsituationen zu, denn in der physiotherapeutischen Praxis ist buchstäblich Fingerspitzengefühl gefragt.
Im direkten Patientenkontakt mit den Händen treten Physiotherapeuten in eine
nonverbale Kommunikation mit dem Patienten. Wie in der verbalen Kommunikation
soll die Berührung nicht zufällig sein und eine Antwort des Körpers auf die Berührung
muss, wie die Antwort in einem Gespräch, abgewartet werden. Im zwischenmenschlichen Kontakt mit dem Patienten spielt das Fingerspitzengefühl im übertragenen
Sinne eine ganz besondere Rolle. So kann z. B. während einer Behandlung durch zu
frühes „Handanlegen“ die Therapeut-Patient-Interaktion durch körperliche Abwehrreaktionen gestört werden, wenn der Patient noch nicht ausreichend Gelegenheit hatte, sich auf die Behandlung einzustellen. Häufig entstehen derartige Situationen durch
Routine und Zeitdruck. Aus diesem Grunde sollte die Reflexion von Behandlungen ein
wichtiger Bestandteil der physiotherapeutischen Praxis sein.
Die passende Frageformulierung, der richtige Moment für kritische Rückmeldungen
und das richtige Maß von Nähe und Distanz zum Patienten sind abhängig von der
|Empathie. Welche Formen von Empathie im Therapiealltag angebracht sind, muss
jeweils im Rahmen einer |ethischen Reflexion sorgfältig analysiert werden.
Professionelle Empathie sollte mit dem Ende der therapeutischen Situation abgeschlossen werden, damit der Therapeut die Probleme und Sorgen des Patienten nicht
„mit nach Hause nimmt“.
Systematisierung in der physiotherapeutischen Ethik
Physiotherapeutische Ethik wird in den USA bereits seit 1935 thematisiert. In Europa
und v. a. in Deutschland begann die Ethikdebatte erst in jüngster Zeit mit der Akademisierung. Die amerikanische Physiotherapeutin und Professorin für Ethik Ruth B.
Purtilo gehört zu den Fachleuten, die sich seit vielen Jahren mit ethischen Themen in
der Physiotherapie beschäftigen. Sie ist Mitglied der Ethikkomission der „American
Physical Therapie Association“ (APTA). Purtilo (2000) identifizierte zwei Phasen, welche die Berufsethik der Physiotherapeuten beeinflusst haben:
π Zeitraum der eigenen Persönlichkeitsfindung im Beruf (the period of self-identity)
π Zeitraum, der den Patienten in den Mittelpunkt stellt (the period of patient-­
focused identity)
[2] Therapeutische Berührungen
sind typisch bei der Arbeit eines
Physiotherapeuten und erfordern ein besonderes ethisches
Bewusstsein.
Empathie
Einfühlungsvermögen; Fähigkeit, die Gedanken, Gefühle und Weltbilder eines
anderen Menschen nachzuempfinden
ethische Reflexion
nachträgliche Beurteilung einer Situation in Bezug auf
ethische Fragestellungen
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Ethik im physiotherapeutischen Alltag
In diesen beiden Phasen sind angemessene echte Fürsorge und Pflege sowie Verant­
wortlichkeit für professionelles Handeln die wichtigsten Bestandteile der physiothera­
peutischen Ethik. Gleichzeitig fordert Purtilo einen dritten Schritt:
π Zeitraum der gesellschaftlichen Einordnung der Persönlichkeit im Berufsfeld
(the period of social identity).
First Contact Practioner | 114
Autonomie | 51
Akademisierung | 12
Profession | 102
Kompetenzen | 107
Interdisziplinarität | 143
Hier fordert sie die Physiotherapeuten zur Auseinandersetzung mit dem medizi­
nischen Fortschritt sowie wirtschaftlichen und politischen Fragen der Gesellschaft auf.
Damit tritt der Physiotherapeut aus dem rein ausführenden Tätigkeitsbereich heraus
und wird mehr in die gesellschaftliche und ethische Verantwortung einbezogen. Dies
ist für die angestrebte Stellung der Physiotherapeuten als |First Contact Practitioner
von zentraler Bedeutung. Das First Contact Practitioning ermöglicht den Patienten
einen schnelleren, adäquateren Zugang zu entsprechenden Behandlungen bei einem
Physiotherapeuten. In den USA ist es seit 1957 möglich, Patienten ohne ärztliche Ver­
ordnung zu behandeln, wobei die Vorschriften in den Bundesstaaten variieren.
Aus der Forschung
In einer Literaturstudie stellt Jurgons (2009) fest, dass in Deutsch­
land, trotz Debatte über die |Autonomie und |Akademisierung der Physiotherapie und
die Entwicklung zur |Profession, ethische Ansprüche nur unzureichend thematisiert
werden. Ganz anders in den USA: Hier existiert ein Ethikkodex mit hohem Stellenwert,
der jährlich überprüft und gegebenenfalls aktualisiert wird. Als einen Grund für diese
Diskrepanz führt Jurgons die Zersplitterung in mehrere Berufsverbände in Deutsch­
land an – in den USA werden die Physiotherapeuten von einer Organisation vertreten.
Ein anderer Grund ist, dass die amerikanischen Physiotherapeuten die Bedeutung der
Ethik für ihre Funktion als First Contact Practitioner erkannt haben.
Supervision
spezielle Beratungsform, die
von einer speziell ausgebil­
deten Fachkraft, dem Super­
visor, angeleitet wird zur Re­
flexion und Verbesserung
beruflichen oder ehrenamt­
lichen Handelns
Der amerikanische Physiotherapeut Herman L. Triezenberg (1996) von der Central Michi­
gan University unterscheidet drei Kategorien in der Berufsethik der Physiotherapie:
π Patientenrechte und -wohl: Hier thematisiert Triezenberg Probleme, welche
sich aus dem direkten Patientenkontakt und den Patientenrechten ergeben. Be­
sonders gewichtet er das Thema Missbrauch in der therapeutischen Beziehung.
π berufsbezogene Fragen: Fachliche |Kompetenzen und |interdisziplinäres Arbei­
ten spielen hier die zentrale Rolle. Konkret werden die Verpflichtung zur Siche­
rung der fachlichen Kompetenz, die Verantwortung für die |Supervision des eige­
nen Personals oder die Pflicht, Fehlverhalten von Kollegen zu melden, genannt.
π ökonomische Fragen: Hier werden unternehmerische und ökonomische
­Aspekte, die Abrechnung von Leistungen, der Wettbewerb und die Gefahren
von ­finanziellen Abhängigkeiten zum Schaden der Patienten thematisiert.
Ethische Positionen der Physiotherapieverbände
Verbände | 20
ethische Kompetenz | 69
Leitlinien
systematisch entwickelte
Empfehlungen von (medizi­
nischen) Fachgesellschaften,
die den Therapeuten bei Ent­
scheidungen unterstützen
sollen
Physiotherapeuten sind international, national und auf Bundesländerebene organi­
siert. Der größte deutsche |Verband ist der ZVK.
Derzeit werden unter Mitarbeit des ZVK |Leitlinien für die Physiotherapie entwi­
ckelt, die es bisher in Deutschland noch nicht gab. Sie enthalten allerdings noch nicht
in ausreichendem Maße spezifisch physiotherapeutisch- |ethische Kompetenzen. Zu­
dem wird vom ZVK in der Darstellung des Berufsbildes innerhalb der Berufsordnung
lediglich auf die ethischen Grundsätze der Heilberufe allgemein verwiesen, ohne auf
eine spezifische physiotherapeutische Ethik einzugehen. Die Leitlinien bündeln aber
aktuelle Erkenntnisse zu Krankheitsbildern und machen diese Erkenntnisse in der
Behandlungspraxis nutzbar.
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Berufsethik und berufsethische Kodizes
Länder wie England, Schweden, Norwegen und Holland besitzen eigene berufsspezifische Leitlinien mit stärkerer Betonung ethischer Kompetenzen. So hat der britische
Verband Chartered Society of Physiotherapy in seinem Regelwerk ethische Vorgaben,
wie die Achtung verschiedener Glaubensbekenntnisse, verankert. Der VPT (Verband
Physikalische Therapie) und der IFK (Verband freiberuflicher Krankengymnasten) setzen sich als Interessenvertreter für selbstständige Physiotherapeuten in Deutschland
ebenfalls für die First-Contact-Berechtigung von Therapeuten ein.
Ethische Aspekte der Physiotherapie halten bisher nur geringfügig Einzug in
Behandlungsempfehlungen und Berufsbildbeschreibungen. Verschiedene nationale
Verbände der Physiotherapie, z. B. PhysioAustria in Österreich, haben die vom |WCPT
herausgegebenen ethischen Richtlinien in der Physiotherapie aufgenommen und als
verbindlich erklärt. In Deutschland finden sich diese bisher kaum.
Die acht ethischen Prinzipien des WCPT für Physiotherapie von 2007:
π Physiotherapeuten respektieren die Rechte und Würde aller Individuen.
π Physiotherapeuten akzeptieren die Rechte und Regelungen zur Ausübung des
Berufes im jeweiligen Land.
π Physiotherapeuten haben die Pflicht, nach besten Erkenntnissen zu behandeln.
π Physiotherapeuten arbeiten kompetent, aufrichtig und verantwortungsvoll.
π Physiotherapeuten sind zu hoher Arbeitsqualität verpflichtet.
π Physiotherapeuten haben einen Anspruch auf angemessene Entlohnung.
π Physiotherapeuten geben Patienten, Institutionen und der Gesellschaft genaue
Informationen über ihre Arbeit.
π Physiotherapeuten wirken bei Planung und Entwicklung von Gesundheitsdienstleistungen mit.
WCPT | 110
www.wcpt.org
Policies
Ω Declarations
Ω Ethical principles
Hier finden Sie die ethischen
Prinzipien des WCPT und im
Appendix eine ausführliche Interpretation.
Ethik und professionelles Handeln in der Physiotherapie
Die Physiotherapie gehört zu den medizinisch-therapeutischen Berufen und wurde
lange Zeit als medizinischer Hilfsberuf bezeichnet. Heute ist sie ein selbstständiger
Teil der Schulmedizin. Vielen Lernenden ist zum Anfang nicht ganz klar, ob Physiotherapie ein „Handwerk“ oder eine „Wissenschaft“ ist. Die Antwort lautet: „Sie muss
das eine bleiben und das andere werden“(Schämann 2005, S. 208). In Deutschland gibt
es neben der Ausbildung an |Berufsfachschulen auch aufbauende |Fachhochschulstudiengänge für Physiotherapie, in anderen Ländern ist die Physiotherapie bereits insgesamt auf Fachhochschulebene angesiedelt.
Der Aspekt der Ethik in der Physiotherapie ist von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die Akademisierung des Berufes und hat damit berufspolitische Bedeutung.
Neben den alltäglichen ethischen Herausforderungen, z. B. Engagement für den einzelnen Patienten oder Zeiteinsatz, ist die berufsspezifische Ethik für den Prozess der
|Professionalisierung, wie in anderen Berufen, von elementarer Bedeutung und Voraussetzung für diese. Auf der internationalen Ebene gehört die ethische Kompetenz
eines Berufsstandes zu den Kenngrößen seiner Professionalisierung. Vor diesem Hintergrund sind auch die Richtlinien des WCPT zu sehen.
Die Akademisierung erö¤net den Physiotherapeuten die Forschung als neues
Handlungsfeld. In diesem Bereich ist es besonders wichtig, ethische Richtlinien einzuhalten, um die Qualität und Seriosität der Forschung zu gewährleisten.
Die |evidenzbasierte Praxis gewinnt für die Physiotherapie im Hinblick auf die Wahl
der e¤ektivsten Behandlungsmethode und vor dem Hintergrund der Professionalisierung und Akademisierung immer mehr an Bedeutung. Hierzu muss der Physiotherapeut in der Lage sein, fachlich, sozial, ökonomisch und gesellschaftlich verantwortlich
zu entscheiden.
Berufsfachschulen | 78
Fachhochschulstudium | 84
Professionalisierung | 102
evidenzbasierte Praxis | 118
Evidenzbasierung; Clinical
Reasoning
Band „Wissenschaftliches
Arbeiten“
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Ethik im physiotherapeutischen Alltag
Die Physiotherapy Evidence Database (PEDro) ist eine internationale Plattform für
evidenzbasiertes Fachwissen und eine wichtige Grundlage für verantwortungsvolles,
professionelles Handeln [Abb. 1]. Die Klassifikation nach |ICF und |Clinical-ReasoningFormen, hier vor allem das ethische Reasoning, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle für
ein strukturiertes und ethisch korrektes Handeln.
[1] Logo der Physiotherapy
­Evidence Database (PEDro)
www.pedro.org.au
Auf dieser Seite erhalten Sie
Zugang zur Datenbank Physio­
therapy Evidence Database.
Beispiel Herr Schüller kommt mit einer Bänderläsion im oberen Sprunggelenk in die
Praxis von Frau Lahn. Sie beurteilt die Verletzung nicht nur nach der Größe des geschä­
digten Bereiches, sondern auch nach dem Funktionsverlust und dessen Folgen für den
Patienten. Sie misst den Behandlungserfolg nicht allein anhand der verheilten Läsion,
sondern berücksichtigt auch das Wiedererlangen der Funktion und die Integration des
Patienten in den Alltag. Für die Wahl ihrer Behandlungsmethode orientiert sich neben
ihrer Berufserfahrung an evidenzbasierter Fachliteratur. Hierbei ist die Anwendung
der evidenzbasierten Praxis von elementarer Bedeutung, um die effizienteste Thera­
piemethode zu finden.
Die europäische Sektion des WCPT hat 2003 das |Benchmark Statement verabschiedet.
In dieser Stellungnahme sind u. a. auch ethische Prinzipien für die Physiotherapie
verankert, die im Folgenden genannt werden:
π A1 Berufliche Autonomie und Verantwortung des Physiotherapeuten:
­Verständnis der rechtlichen Verantwortungsbereiche und ethischen Erwä­
gungen der beruflichen Praxis
π B2 Allgemeine fördernde Kompetenzen: Identifikation und Anerkennung der
physischen, psychologischen und kulturellen Bedürfnisse von Individuen und
Gemeinschaften
π C1 Wissenschaftliche Grundlage der Physiotherapie: Prinzipien der Eva­
luierung und Forschungsmethodologie, die die Integration der theoretischen
­Perspektiven und Forschungserkenntnisse in die Konzeption und die
­Implementierung der effektiven Physiotherapie ermöglichen
π C2 Kontext der Leistungserbringung und der beruflichen Praxis:
Der Diplominhaber weist Kenntnisse und Verständnis auf ethischen,
­rechtlichen und beruflichen Problemfeldern auf, die Einfluss auf die
­physiotherapeutische Praxis haben.
ICF | 83
Clinical Reasoning | 118
Benchmark Statement | 110
Die Ethik hat also eine theoretisch-philosophische und eine praktisch-problemorien­
tierte Seite. Oft erscheint die theoretische Seite der Ethik als Wissenschaft sehr abstrakt.
Wenn der Ausdruck „philosophieren“ jedoch als eine Art „Lebenshilfe“ verstanden wird,
kann das der Weg zur praktischen Seite der Ethik sein. In diesem Verständnis hilft Ethik
dem Physiotherapeuten, mit schwierigen Fragen umzugehen und Lösungen zu finden.
Die Umsetzung in die Praxis dient der Überprüfung ethischer Theorien, die Distanz
der theoretischen Ethik hilft, „gute“ Lösungen zu finden. In der Physiotherapie sollte
Ethik Raum bekommen als „Nachdenken, um des Denkens willen“ und als Werkzeug
zur Lösung von „Fällen“.
[2] „Der Denker“ von Auguste Rodin
zeigt, dass Denken nicht immer
leicht ist.
Die Präsidentin des österreichischen Berufsverbandes PhysioAustria, Silvia MeriauxKratochvila, schreibt über das Thema Ethik in der Physiotherapie:
„Im täglichen Umfeld mit PatientInnen ist
sie ein Gradmesser für die Behandlungs­
qualität. Ethik in Gesundheitsberufen ist,
den Menschen (PatientInnen) in ihrer psy­
chosomatischen Ganzheit zu begegnen.
Und das steht der Physiotherapie, die sich
seit jeher als ganzheitliche Behandlungs­
methode versteht, sehr gut zu Gesicht.“
—
Silvia Meriaux-Kratochvila, 2010, S. 1
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