Systemtheoretische Soziologie

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Fachhochschule Potsdam
University of Applied Sciences
Fachbereich Sozialwesen
Prof. Dr. Heiko Kleve
Systemtheoretische Soziologie
Einige einführende Materialien
(c) Prof. Dr. Heiko Kleve, 2005
Tel. 0331-580 1114, Raum 3078
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Prof. Dr. Heiko Kleve
Inhaltsverzeichnis:
Soziologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit / Sozialarbeiterische
Soziologie / Soziologie der Sozialen Arbeit ............................................................... 3
Soziologie der Sozialen Arbeit.................................................................................... 4
Niklas Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme.............................................. 5
Gesellschaftliche Differenzierung: Gesellschaft als Ausdifferenzierung von
Funktionssystemen ...................................................................................................... 7
Gesellschaftliche Evolution......................................................................................... 8
Gesellschaftliche Differenzierung: (Funktions-)Systeme und Lebenswelten
(Luhmann-Habermas-Synthese).................................................................................. 9
Gesellschaftliche Teilhabe/Soziale Partizipation: Integration/Desintegration und
Inklusion/Exklusion................................................................................................... 10
Soziale Ordnung – Rollen und Erwartungen – Soziale Systeme.............................. 12
„Intervention“ in psychische und soziale Systeme ................................................... 14
Weiterführende Literatur zum Vertiefen................................................................... 16
Interessante Links...................................................................................................... 18
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Soziologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit / Sozialarbeiterische
Soziologie / Soziologie der Sozialen Arbeit
Soziologie ist eine spätestens im 19. Jahrhundert aus der Philosophie
hervorgegangene sozialwissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Beobachtung
(Beschreibung, Bewertung und Erklärung bzw. dem Verstehen) sozialer Strukturen
und Prozesse beschäftigt. Soziologie beobachtet – theoretisch wie empirisch –
soziales Handeln und Kommunizieren in der sozialen Interaktion, Organisation
sowie in der Gesellschaft allgemein. Für die wissenschaftliche Soziale Arbeit
(Sozialarbeitswissenschaft) ist die Soziologie neben Disziplinen wie etwa
Psychologie,
Pädagogik,
Bezugswissenschaft;
Politologie,
insofern
sollte
Jurisprudenz,
im
Sozialmedizin
sozialarbeiterischen
eine
Kontext
die
sozialarbeiterische Soziologie bzw. die Soziologie der Sozialen Arbeit interessieren.
Soziologische Klassiker: Auguste Comte (1798-1857), Karl Marx (1818-1883),
Emile Durkheim (1858-1917), Max Weber (1864-1920).
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GRUNDFRAGEN DER SOZIOLOGIE:
Was ist Gesellschaft/das Soziale?
Wie entsteht soziale Ordnung/Differenzierung/Entwicklung?
Wie ist das Verhältnis von Individuen zur Gesellschaft/zu Sozialsystemen vorstellbar?
Soziologie der Sozialen Arbeit
Soziologie der
sozialarbeiterischen
Interaktion
(Interaktionstheorie –
Mikrosoziologie)
Soziologie der
sozialarbeiterischen
Organisation
(Organisationstheorie Mesosoziologie)
Soziologie der Sozialarbeit
in der
(modernen/postmodernen)
Gesellschaft
(Gesellschaftstheorie –
Makrosoziologie)
- beobachtet auf eher
- beobachtet auf einer sehr
- beobachtet potentiell alle
konkreten Ebene potentiell
(formalen und informellen)
abstrakter und
alles soziale Handeln und
Kommunikationen, die sich in sozialphilosophischer Ebene
Kommunizieren unter
rechtlich, bürokratisch und
gesellschaftliche Strukturen
(Differenzierungen) und
Anwesenden, also in der
rational (arbeitsteilig)
Face-to-Face-Kommunikation
strukturierten sozialen
Prozesse (Dynamiken), um
etwa solche sozialen
(z.B. Strukturen und Prozesse
Gebilden wie etwa in
in der sozialarbeiterischen
Fachhochschulen,
Entwicklungen und Probleme
wie Individualisierung,
Beratung/ Gesprächsführung) Sozialämtern, kleinen freien
sozialarbeiterischen Trägern
Pluralisierung,
etc., eben in sozialen
Postmodernisierung,
Organisationen vollziehen
Risikozuwachs, Verarmungstendenzen etc. zu erklären.
(Einige) GRUNDFRAGEN DER SOZIOLOGIE DER SOZIALEN ARBEIT
Was sind soziale Probleme (als ‚Gegenstandsbereich‘ der Sozialen Arbeit)? Wie
entstehen diese? Wie sind sie lösbar?
Welche Funktionen hat Soziale Arbeit in der modernen/postmodernen Gesellschaft?
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Niklas Luhmanns Theorie selbstreferentieller Systeme
Niklas Luhmann (1927-1998), Jurist und Soziologe, lehrte von 1968 bis zu seiner
Emeritierung, 1993, an der Universität Bielefeld Soziologie. Sein soziologisches
Interesse und Ziel bestand darin, eine umfassende Soziologie/Theorie sozialer
Systeme zu entwickeln, die es ermöglicht, Entstehung und Dynamik jeder sozialen
Tatsache zu beobachten (unterscheiden, bezeichnen, beschreiben und erklären). Die
soziologische Theorie, die Luhmann konstruierte, die Theorie selbstreferentieller
Systeme, ist inzwischen zu einer der einflussreichsten soziologischen Theorien
geworden. In allen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen – von der
Jurisprudenz bis hin zur Politikwissenschaft, von der Religion bis hin zur
Literaturwissenschaft, von Ökonomie bis hin zur Sozialen Arbeit – wird Luhmanns
Theorie inzwischen rezipiert. Insofern scheint Luhmann seinen Anspruch gerecht
geworden zu sein, jedes soziale (etwa rechtliche, politische, religiöse, literarische,
ökonomische oder sozialarbeiterische) Handeln beobachten zu können.
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Theorie selbstreferentieller Systeme als Antwort auf soziologische
Grundfragen
Was ist Gesellschaft/das Soziale?
... ein systemischer Zusammenhang, der aus Kommunikationen besteht. Kommunikationen –
und nicht Menschen – sind die Elemente des Sozialen, der Gesellschaft. Soziales entsteht und
vergeht mit dem Entstehen und Vergehen von Kommunikationen. Menschen sind demnach
Umwelt des Sozialen und umgekehrt.
Wie entsteht soziale Ordnung/Differenzierung/Entwicklung?
... durch Kommunikation, die dann zwangsläufig anläuft, wenn wechselseitig intransparente
psychische Systeme aufeinander treffen. Nur durch Kommunikationen (Mitteilungen von
Informationen, die verstanden werden) können soziale Strukturen und Prozesse entstehen, die
sich differenzieren vom Psychischen und Biologischen und eine eigene (emergente) – eben
soziale – Qualität hervorbringen.
Wie ist das Verhältnis von Individuen zur Gesellschaft/zu Sozialsystemen vorstellbar?
... als System/Umwelt-Verhältnis. Individuen sind als Einheiten psychischer und biologischer
Systeme nicht Teil der sozialen Systeme, sondern deren Umwelt. Im Verhältnis zum System ist
die Umwelt immer komplexer; so gilt umgekehrt: das Soziale ist die Umwelt der psychischen
und biologischen Systemen. Der Zusammenhang zwischen Mensch und Gesellschaft ist ein
kommunikativer Kopplungszusammenhang, der mit theoretischen Konzepten wie
Inklusion/Exklusion beschrieben werden kann.
Theorie selbstreferentieller Systeme als Antwort auf Grundfragen der Soziologie der
Sozialen Arbeit
Was sind soziale Probleme? Wie entstehen diese? Wie sind sie lösbar?
... soziale Probleme sind kommunikative Probleme/Kommunikationsprobleme, die durch
Attributions-, d.h. durch Zurechnungsprozesse entstehen, zum Ausdruck kommen bzw.
konstruiert werden, wenn Personen die Teilnahme (Inklusion) an gesellschaftlicher
Kommunikation nicht realisieren können und kommunikativ exkludiert (ausgeschlossen)
werden/bleiben.
Welche Funktionen hat Soziale Arbeit in der modernen/postmodernen Gesellschaft?
... soziale Arbeit versucht soziale Problem zu lösen, indem sie Personen dabei hilft, dass diese
neue Attributionen erlernen bzw. wieder an gesellschaftlicher Kommunikation teilnehmen
(inkludieren) können. Solange eine solche Inklusion nicht gelingt, inkludiert Soziale Arbeit
stellvertretend für andere gesellschaftliche Systeme.
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Gesellschaftliche Differenzierung: Gesellschaft als Ausdifferenzierung von
Funktionssystemen
Die moderne Gesellschaft ist eine funktional differenzierte Gesellschaft, d.h. alle
wichtigen gesamtgesellschaftlichen Funktionen werden – spezialisiert – in sich
voneinander unterscheidenden und getrennten Systemen erfüllt. Funktionssysteme
können ihre gesellschaftliche Umwelt (andere Funktionssysteme, die Lebenswelten)
nur entsprechend ihrer spezifischen binären Codierung beobachten, alles
Beobachtete erscheint den Systemen in der Form ihrer jeweiligen binären Codes. Die
Kommunikation in den Systemen wird durch spezifische (Kommunikations-)Medien
strukturiert.
Übersicht der Funktionssysteme, ihrer binären Codierung und Kommunikationsmedien in
Anlehnung an Walter Reese-Schäfer, Luhmann zur Einführung, Hamburg 1992:
Funktionssystem
Code
(Kommunikations-)Medium
Wirtschaft
Haben/Nichthaben bzw.
Zahlen/Nichtzahlen
Geld bzw. Eigentum
Recht
recht/unrecht
Recht (=Gesetze,
Entscheidungen)
Wissenschaft
wahr/unwahr
Wissenschaftliche Erkenntnisse
Politik
Macht/Ohnmacht bzw.
Regierung/Opposition
Macht (öffentliche Ämter)
Religion
Immanenz/Transzendenz
Glaube
Erziehung
gute/schlechte Bewertung
Karriereerwartungen bzw.
„Das Kind“ bzw.
Bildung
Soziale Arbeit
Hilfe/Nichthilfe bzw.
Fall/Nichtfall bzw.
bedürftig/nicht-bedürftig
Hilfe bzw.
Fürsorglichkeit bzw.
Klient bzw.
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Gesellschaftliche Evolution
Vormoderne Gesellschaften
Stammesgesellschaft
„Urgesellschaft“
segmentäre
Differenzierung
Moderne Gesellschaft
Schichten- und
Klassengesellschaft
kapitalistische Gesellschaft
Arbeitsgesellschaft
bürgerliche Gesellschaft
spätkapitalistische Gesellschaft
Konsumgesellschaft
Risikogesellschaft
Wissensgesellschaft
Zweidrittelgesellschaft
Dienstleistungsgesellschaft
Kommunikationsgesellschaft
Weltgesellschaft
„feudalistische
und
frühkapitalistische
Gesellschaft“
stratifikatorische
Differenzierung
Postmoderne Gesellschaft
primär funktionale Differenzierung
funktionale und reflexive Differenzierung
realsozialistische Gesellschaft
zum Teil noch bzw. wieder stratifikatorische und ‚gezähmte‘
(staatlich-politisch eingeschränkte) funktionale Differenzierung
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Gesellschaftliche Differenzierung: (Funktions-)Systeme und Lebenswelten
(Luhmann-Habermas-Synthese)
Nach Jürgen Habermas differenziert sich die moderne Gesellschaft in den Bereich
der Lebenswelt und in den Bereich der (Funktions-)Systeme. Systeme und
Lebenswelten stehen sich als zwei gegensätzliche gesellschaftliche Bereiche
gegenüber. In dem systemischen Bereich wird nach rationalisierten Regeln
(verrechtlicht, verwaltungsförmig, bürokratisch) kommuniziert, während in den
Lebenswelten
unspezifisch,
spontan,
eher
nicht
verrechtlicht,
nicht
verwaltungsförmig und nicht bürokratisch kommuniziert wird.
FUNKTIONSSYSTEME DER GESELLSCHAFT
Wirtschaft
Politik
Recht
Wissenschaft
Erziehung
Religion
Soziale
Arbeit
Instrumentelle Kommunikation (Rationalität, formale Organisation, Bürokratie/Verwaltung)
öffentlicher Bereich
Zwischen den Funktionssystemen und den Lebenswelten
bestehen strukturelle Widerspruchsverhältnisse.
Die Systeme tendieren dazu, die Lebenswelten zu
kolonialisieren (Jürgen Habermas).
LEBENSWELTEN DER GESELLSCHAFT
Familien
Freundschaftsbeziehungen
Netzwerke (der
Gunsterweise)
soziale Milieus
unspezifische
Interaktionen etc.
Verständigungsorientierte Rationalität strukturiert durch Werte/Normen und Moral
privater bzw. vertrauter Bereich
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Gesellschaftliche Teilhabe/Soziale Partizipation: Integration/Desintegration und
Inklusion/Exklusion
So wie die Gesellschaft aus der soziologischen Beobachtungsperspektive
(insbesondere der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas) in
zwei verschiedene Bereiche differenziert werden kann, in Lebenswelte(n) und
System(e), läßt sich auch die soziale Partizipation, die Teilhabe an der Gesellschaft
differenzieren:
in
Integration/Desintegration
und
Inklusion/Exklusion.
Integration/Desintegration bezeichnet die soziale(n) Teilhabe/Nicht-Teilhabe(Möglichkeiten) an den Lebenswelten, Inklusion/Exklusion bezeichnet die soziale(n)
Teilhabe/Nicht-Teilhabe(-Möglichkeiten) an den Funktionssystemen. Wichtig:
Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion verhalten sich zueinander –
mathematisch gesprochen – nicht proportional, sondern eher umgekehrt proportional:
ein hohes Maß an Integration/Desintegration korreliert (zumindest theoretisch) mit
einem niedrigen Niveau an Inklusion/Exklusion.
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LEBENSWELTEN
Exklusionsbereich der Gesellschaft
Integration/Desintegration
sozial
moralisch
handlungsbezogen
Familien, Freundschaftsbeziehungen, Netzwerke,
soziale Milieus, unspezifische
Interaktionen
Werte/Normen,
Einstellungen, Moral,
Weltbilder
Kreativität, Flexibilität,
Mobilität
Gesellschaftliche Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion sind gegenläufig.
FUNKTIONSSYSTEME
Desintegrationsbereich der Gesellschaft
Inklusion/Exklusion
Produktion/Kommunikation, Verteilung und Verwaltung sozio-ökonomischer Ressourcen
soziale Partizipation in Form von funktionalisierten Rollen, z.B. als Konsument, Produzent, Arbeitnehmer,
Arbeitgeber, Wähler, Schüler, Student, Steuerzahler etc., unter der Voraussetzung, daß mit Medien wie Geld,
Macht, Bildung, Recht etc. kommuniziert werden kann.
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Soziale Ordnung – Rollen und Erwartungen – Soziale Systeme
Soziale Systeme (Kommunikationen) entstehen, wenn psychische Systeme aufeinandertreffen (sich
gegenseitig beobachten). Da psychische Systeme jeweils füreinander undurchsichtig (intransparent)
sind, erleben sie doppelte Kontingenz, d.h. – erstens – jedes System ist mit der Unsicherheit
konfrontiert, dass das jeweils andere Systeme immer auch anders handeln kann als erwartet
(Erwartungsunsicherheit bzw. Erwartungskontingenz), und – zweitens – jedes System kann selbst
wählen, wie es – „so oder anders“ – handeln will (Handlungsfreiheit bzw. Handlungskontingenz).
Derartig ‚unsichere‘ Situationen, in denen jede/r der Beteiligten kontingent, also immer auch anders
handeln kann, werden durch Kommunikationen ‚sicherer‘, sie strukturieren sich durch das
kommunikative Entstehen einer sozialen Ordnung. Eine soziale Ordnung ist eine Ordnung von
Erwartungen, die als relativ sicher erwartet werden können. JedeR TeilnehmerIn an einem sozialen
System erwartet – zum einen – bestimmtes Verhalten von den anderen TeilnehmerInnen und – zum
anderen – dass die anderen TeilnehmerInnen ebenfalls bestimmtes Verhalten erwarten. Daher
spricht man diesbezüglich auch von Erwartungs-Erwartungen (reflexive Erwartungen), denn
Erwartungen (von Verhaltensweisen) werden erwartet. Eine soziale Ordnung zeichnet sich nun
durch mehr oder weniger psychisch und sozial akzeptierte, sachlich und zeitlich dimensionierte
Erwartungsbündel aus.
Solche Erwartungsbündel sind zum Beispiel soziale Rollen (oder auch Institutionen und Normen).
„Eine soziale Rolle ist die Summe [das Bündel; H.K.] der Erwartungen, die dem Inhaber einer
sozialen Position über sein Verhalten entgegengebracht werden. [...] Der Rollenbegriff vereinigt die
folgenden [...] Aspekte: Steuerung des Verhaltens einer Person in einer sozialen Position durch die
Rollenerwartungen; die Wahrnehmung und Interpretation solcher Erwartungen durch den
Rollenträger; die Umsetzung der Rollenerwartungen in konkretes Rollenverhalten durch den
Rollenträger; die Verinnerlichung [Internalisierung; H.K.] von Rollenerwartungen; der langfristige
Einfluß von Rollenerwartungen auf den Prozeß der Persönlichkeitsbildung des Rollenträgers“
(Lexikon zur Soziologie, Opladen 1988, S. 651).
Soziale Systeme sind von ihrer Umwelt abgegrenzte Sinnbereiche mit bestimmten
Kommunikationsregeln. In diesen sozialen Sinnbereichen wird die Komplexität (der
Möglichkeitsspielraum, die Vielfalt, die Uneindeutigkeit) von doppelt kontingenten Situationen,
also von Situationen, in denen jede/r der Beteiligten sowohl mit Erwartungsunsicherheit (bezüglich
des Verhaltens der anderen Beteiligten) als auch mit Handlungsfreiheit (bezüglich des eigenen
Verhaltens) konfrontiert ist, so reduziert, dass jede/r im Rahmen gewisser Freiheitsgrade
(Spielräume, Kontingenzen) weiß, wie zu handeln ist und was von anderen erwartet werden kann.
Dieses Wissen über die Erwartungen und die eigenen Handlungsmöglichkeiten geht einher mit der
Einnahme von bestimmten Rollen (z.B. StudentIn/DozentIn; SozialarbeiterIn/KlientIn etc.). Auch
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Eine Rolle ist ein Bündel von Erwartungen und erlaubt die Selbst- und Fremdorientierung in
sozialen Situationen. Wenn man in sozialen Situationen, also während der Teilnahme an
Kommunikation jeweils weiß, welche Rollen Personen einem gegenüber einnehmen (können) und
welche Rolle(n) man selbst einnimmt, dann weiß man bestenfalls auch, welche Handlungen man
erwarten und welche Handlungen man selbst zeigen/praktizieren kann und welche eben nicht; man
weiß – mit anderen Worten – was sozial erlaubt und erwünscht ist und was Enttäuschungen (von
Erwartungen) produziert oder gar verboten ist.
Wenn man sich in sozialen Systemen anders als systemisch erwartet verhält, dann wird man
schlimmstenfalls als „verrückt“ oder als „böse“ gebrandmarkt. „‘Mad or bad?‘ – ‚Verrückt oder
böse?‘, das ist die Frage, die sich stellt, wenn jemand den Rahmen der gewohnten Spielregeln
verlässt und ihre Gebote und Verbote missachtet.“ (Fritz B. Simon, Meine Psychose, mein Fahrrad
und ich. Zur Selbstorganisation der Verrücktheit, Heidelberg 1995, S. 66f.) Soziale Systeme
schränken also die Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten und -erwartungen auf ein verarbeitbares
Maß ein. Die Struktur, die dies u.a. leistet, ist die soziale Rolle.
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„Intervention“ in psychische und soziale Systeme
In psychische und soziale Systeme kann aus systemtheoretischer Sicht nicht direkt hinein
interveniert werden. Da psychische und soziale Systeme als autopoietische, als selbstreferentiellgeschlossene Systeme verstanden werden (siehe dazu auch das Glossar von Woltmann-Zingsheim
und Vogel), die nur auf ihre eigenen Zustände (z.B. auf Bewusstsein/Gedanken im Falle psychischer
Systeme; auf Kommunikationen im Falle sozialer Systeme) Bezug nehmen können, lassen sich
diese Systeme von außen, von der Umwelt (z.B. von SozialarbeiterInnen) lediglich zur
Selbstveränderung anregen. Denn diese Systeme können niemals direkt miteinander Operationen
austauschen. Gedanken verbleiben in den psychischen Systemen, Kommunikationen verbleiben in
den sozialen Systemen. Wenn zwei psychische Systeme (z.B. SozialarbeiterIn und KlientIn)
miteinander interagieren, dann entsteht etwas Drittes, ein soziales System, das sich von den
jeweiligen psychischen Systemen abgrenzt und abhebt. Insofern wird das, was ein psychisches
System aufgrund seiner gedanklichen Intentionen (seines ‚Wollens‘), also bewusst mitteilen will
(oder auch unbewusst, nicht gewollt mitteilt) gebrochen an der Grenze zum sozialen System und
eingebunden in die Regeln und Verständnisse der Kommunikation (des sozialen Systems), die nicht
mehr die Regeln und Verständnisse des psychischen Systems (der Gedanken, des Bewusstseins)
sind. Umgekehrt, also an der Grenze vom sozialen System zum psychischen System ereignet sich
Analoges: Die Kommunikationen, die Mitteilungen von Informationen werden an der Grenze zum
psychischen System gebrochen und eingebunden in die höchstpersönlichen, individuell-subjektiven
Regeln und Verständnisse des jeweiligen psychischen Systems, die nicht mehr die Regeln und
Verständnisse des sozialen Systems sind (siehe dazu die Darstellung auf der Rückseite).
Soziale Systeme sind die Untersuchungsobjekte der (systemtheoretischen) Soziologie. Mit der
Bestimmung dieses Untersuchungsgegenstandes markiert die Soziologie eine Differenz, und
zwar die Differenz von Psyche (die von der Psychologie erforscht wird) und Sozialsystem (das
von der Soziologie, von den Sozialwissenschaften erforscht wird). Psyche und Sozialsystem
sind zwei sich gegenseitig voraussetzende gekoppelte Systeme, die beide sinnhaft, aber nach
jeweils eigenen Regeln und Dynamiken operieren.
Die systemtheoretische Erklärung der Unmöglichkeit von instruktiver Intervention schließt an die
alte (normativ-ethische) sozialarbeiterische „Grundregel“ an, dass die sozialarbeiterische Hilfe für
KlientInnen dann hilfreich ist, wenn sie deren eigene Selbsthilfepotentiale aktiviert. Was
SozialarbeiterInnen, aber auch alle anderen gesellschaftlichen Akteure, die sinnhafte psychische und
soziale Systeme verändern wollen, in dieser Hinsicht können müssen, ist, „förderliche“
Rahmenbedingungen in der Umwelt der zu verändernden Systeme zu schaffen (z.B. in der
Sozialarbeit durch das kompetente Anwenden der vielfältigen Kommunikationsmethoden
sozialarbeiterischer Beratung, durch Case-Management, Empowerment, Netzwerkarbeit und nicht
zuletzt durch die Herstellung tragfähiger helfender Beziehungen), die diese Systeme anregen, sich
selbst so zu verändern, dass dies von diesen Systemen selbst, also von den Klientensystemen und
von außen als „positiv“ bewertet werden kann.
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Differenz und (strukturelle) Kopplung psychischer und sozialer Systeme
1. Bruch:
Grenze Psychisches – Soziales
psychisches System
Dieses System ist
geschlossen, weil nur die
eigenen Gedanken an die
eigenen Gedanken
anschließen können. Die
Kommunikation regt dieses
System gewissermaßen zum
Denken an.
2. Bruch
Grenze Soziales – Psychisches
soziales System
Dieses System ist
geschlossen, weil nur
Kommunikationen an
Kommunikationen
anschließen können. Die
psychischen Systeme regen
dieses System zur
Kommunikation an.
strukturelle Kopplung über
das Medium Sinn*
psychisches System
Dieses System ist
geschlossen, weil nur die
eigenen Gedanken an die
eigenen Gedanken
anschließen können. Die
Kommunikation regt dieses
System gewissermaßen zum
Denken an.
strukturelle Kopplung über
das Medium Sinn*
* Sinn ist das Medium der psychischen und sozialen Bedeutungsgebung. Alles, was gedacht und kommuniziert wird,
liegt in Form von Sinn vor, d.h. es hat innerhalb der jeweiligen psychischen und sozialen Systeme eine aktuelle Bedeutung,
die aus einer Vielfalt von möglichen Bedeutungen (die in Zukunft ebenfalls aktuell werden können) ausgewählt wurde.
Literatur zur systemtheoretischen Intervention zum Vertiefen:
Fuchs, Peter (1999): Intervention und Erfahrung. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Kersting, Heinz (1994): Intervention: Die Störung unbrauchbarer Wirklichkeiten, in ders. u.a.: Irritation als Plan. Aachen: Kersting: S. 108-133
Willke, Helmut (1994): Systemtheorie II: Interventionstheorie. Stuttgart/Jena: Fischer
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Weiterführende Literatur zum Vertiefen
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Soziale Arbeit. Begriffsbestimmungen in einem unübersichtlichen Feld. Freiburg/Br.: Lambertus:
S. 177-206.
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(Hrsg.): Neue Anforderungsprofile in der Sozialen Arbeit. Probleme, Projekte, Perspektiven:
Aachen: Kersting: S. 41-54.
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mit Dirk Baecker, in: Bardmann, Th. M. (Hrsg.): Zirkuläre Positionen. Konstruktivismus als
praktische Theorie. Opladen: Westdeutscher Verlag: S. 91-106.
Baecker, Dirk (2002): Wozu Systeme. Berlin: Kadmos.
Baecker, Dirk (2004): Wozu Soziologie. Berlin: Kadmos.
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Bardmann, Theodor M. (1997): Unterscheide! Konstruktivistische Perspektiven in Theorie und
Praxis. Aachen: Kersting.
Bardmann, Theodor M.; Hansen, S. (1996): Die Kybernetik der Sozialarbeit. Ein Theorieangebot.
Aachen: Kersting.
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Bommes, Michael; Scherr, Albert (2000): Soziologie der Sozialen Arbeit. Eine Einführung in
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Willke, Helmut (1995): Systemtheorie III. Steuerungstheorie. Stuttgart/Jena: Fischer.
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Interessante Links
Arbeitskreis systemische Sozialarbeit, Beratung und Supervision:
http://members.telering.at/asys.austria
Das gepfefferte Ferkel. Online-Journal für systemisches Denken und Handeln:
http://www.ibs-networld.de/ferkel
Masterstudiengang Systemische Sozialarbeit an der FH Merseburg:
http://www.systemische-sozialarbeit.de
Portal für soziologische Systemtheorie: http://www.soziale-systeme.de
Soziale Arbeit und soziologische Systemtheorie: http://www.sozialarbeit.ch
Soziale Systeme – Zeitschrift für soziologische Systemtheorie: http://www.soziale-systeme.ch
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Prof. Dr. Heiko Kleve, 2005
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