Aufsatz Wer war verantwortlich für das Massaker von - Journal-dl

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Aufsatz
Hartmut Rüß
Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar?
Den Abschluß der Schlacht bei Kiev durch die Heeresgruppe Süd a m 26. September 1941 —• die Stadt w u r d e a m 19. September erobert •— kommentierte der offizielle Wehrmachtbericht am folgenden Tag so: »Ein Schlachtensieg ist damit errungen, wie ihn die Geschichte bisher nicht gekannt hat 1 .«
Zwei Tage später, genauer am 29. und 30. September, geschah a m Kiever Stadtrand, in der Schlucht von Babij Jar, ein Massenverbrechen, dessen A u s m a ß e in der
Geschichte der Menschheit ebenfalls einmalig gewesen sein dürften. Darüber
schwiegen allerdings die offiziellen Wehrmachtberichte. In den nur für einen engen Kreis Auserwählter bestimmten »Ereignismeldungen UdSSR« verbuchte die
SS diese makabre Ruhmestat als ihr Verdienst: »Das Sonderkommando 4a hat in Zusammenarbeit mit Gruppenstab und zwei Kommandos des Polizei-Regiments Süd
am 29. und 30.9.1941 in Kiew 33 771 Juden exekutiert 2 .«
Wenige Tage später w u r d e gemeldet: »Die Aktion selbst ist reibungslos verlaufen. Irgendwelche Zwischenfälle haben sich nicht ergeben. Die gegen die Juden
durchgeführte >Umsiedlungsmaßnahme< hat durchaus die Z u s t i m m u n g der Bevölkerung gefunden. Daß die Juden tatsächlich liquidiert wurden, ist bisher k a u m
bekanntgeworden, w ü r d e auch nach den bisherigen Erfahrungen kaum auf Ablehnung stoßen 3 .«
1
2
3
»Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt...« Hrsg. von Günter Wegmann,
Bd 1: Wehrmachtberichte 1939-1941, Osnabrück 1982, S. 682.
Ereignismeldung (EM) Nr. 101, Einsatzgruppe C, 2.10.1941, abgedr. in: Die Schoáh von
Babij Jar, hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 1991, S. 453. Vgl. auch Helmut Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppen des Weltanschauungskrieges 1938-1942, Frankfurt a.M. 1985, S. 164 f. Das SK 4a war durch Teile der 3. Kompanie des Waffen-SS-Bataillons z.b.V. und durch den 3. Zug der 3. Kompanie des Polizeireservebataillons verstärkt. Bei den zwei Kommandos des dem SS-Obergruppenführer Jeckeln unterstehenden Polizeiregiments Rußland-Süd handelte es sich um die Polizeibataillone 45 und
305. Belegt ist auch die Anwesenheit ukrainischer Miliz. Vgl. Landgericht Darmstadt,
Verfahren gegen Callsen und Andere, Urteil vom 29.11.1968, Ks 1 / 6 7 (Generalstaatsanwalt — GStA), Bl. 441,442. Die Zahl von 33 771 Getöteten ist ebenfalls im Tätigkeits- und
Lagebericht Nr. 6 für Oktober 1941 gemeldet, vgl. Nbg.Dok. 102-R, Der Prozeß gegen
die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (International
Military Tribunal), Nürnberg, 14. Nov. 1945-1. Okt. 1946 (IMT), Bd 38, Nürnberg 1949,
S. 279-303. Der Versuch Joachim Hoffmanns, Stalins Vernichtungskrieg, 2. Aufl., München 1996, S. 184 f., die Zahl mit Hinweis auf ihre »auffällige« Exaktheit, die Aussagen
Paul Blobels in Nürnberg (!) und auf voneinander stark abweichende Nachkriegsschätzungen unterschiedlicher politischer Provenienz, die aber z.T. nicht zwischen dem Septembermassaker und den jüdischen Gesamtopfern in Kiev differenzieren, in Zweifel zu
ziehen, muß als wissenschaftlich unseriös eingestuft werden. Die exakte Zahl erklärt sich
aus der Tatsache, daß die Opfer neben ihren Wertsachen auf dem Weg zur Hinrichtung
ihre Pässe abgeben mußten. Vgl. Verfahren gegen Callsen, Bl. 443.
EM Nr. 106, Egr C, 7.10.1941, zitiert in: Die Schoáh von Babij Jar (wie A r n 2), S. 458 f.
Laut EM Nr. I l l , Egr C, vom 12.10.1941 hatte das SK 4a zu diesem Zeitpunkt 51 000 Menschen exekutiert, und dies, abgesehen von der Aktion in Kiev, ohne jegliche Hilfe »von
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Am 3. November 1941 nahm eine Ereignismeldung der Einsatzgruppe C
nochmals Bezug auf die Vorgänge in Kiev und rühmte in dem Zusammenhang besonders die »geschickte Organisation« der Massenerschießung:
»Die sich bei Durchführung einer solchen Großaktion ergebenden Schwierigkeiten — vor allem hinsichtlich der Erfassung — wurden in Kiew dadurch überwunden, daß durch Maueranschlag die jüdische Bevölkerung zur Umsiedlung
aufgefordert worden war. Obwohl man zunächst nur mit einer Beteiligung von
etwa 5000 bis 6000 Juden gerechnet hatte, fanden sich über 30 000 Juden ein,
die infolge einer überaus geschickten Organisation bis unmittelbar vor der Exekution noch an ihre Umsiedlung glaubten4.«
Das Oberkommando der 6. Armee hielt es nicht für opportun, das in ihrem Operationsgebiet begangene Massaker als Erfolgsmeldung zu verbuchen: Es wurde
schlichtweg totgeschwiegen. Als ob außerhalb ihres Kompetenzbereiches geschehen, ließ man es absichtlich undokumentiert. Der Grund war freilich nicht, daß
man nichts damit zu tun hatte. Untere Chargen waren von einer solchen kalkulierten Enthaltsamkeit in der Berichterstattung, zumal wenn sie dem Ereignis der
Judentötung keine aus dem Rahmen des Ostkrieges fallende Qualität beimaßen, weniger beeinflußt.
So enthält das Kriegstagebuch der 454. Sicherungsdivision den Bericht eines
Kriegsverwaltungsrates vom 2. Oktober 1941, der ohne ein Zeichen von Betroffenheit und Emotion, mit buchhalterischem Gleichmut die Mordtat von Babij Jar
bilanziert und zugleich damit dokumentiert, daß der Vorfall in Wehrmachtkreisen
bekannt war: »Die Juden der Stadt waren aufgefordert worden, sich zwecks zahlenmäßiger Erfassung und zur Unterbringung in einem Lager5 an bestimmter Stelle einzufinden. Es meldeten sich etwa 34 000 einschließlich der Frauen und Kinder. Alle wurden, nachdem sie ihre Wertsachen und Kleidungsstücke hatten abgeben müssen, getötet, was mehrere Tage in Anspruch nahm6.« Und drei Tage nach
4
5
6
außen« (»without any outside assistance«; zit. ebd., S. 465), wie mit Genugtuung festgestellt wurde.
EM Nr. 128, zit. in: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. »Unternehmen Barbarossa« 1941. Hrsg. von Gerd R. Ueberschär und Wolfram Wette. Uberarb. Neuausgabe,
Frankfurt a.M. 1991, S. 319. Von »Umsiedlung« war im Maueranschlag nicht die Rede,
sie wurde durch Diktion und Inhalt lediglich suggeriert. Vgl. dazu weiter unten S. 11.
Daß alle Juden bis unmittelbar vor der Exekution an ihre Umsiedlung geglaubt hätten,
wird durch den Erlebnisbericht Dina Pronicevas, die das Massaker überlebte, widerlegt.
Der Bericht ist abgedruckt in: »Gott mit uns«. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten
1939-1945. Hrsg. von Ernst Klee und Willi Dreßen, Frankfurt a.M. 1989, S. 119-133 und
ist dem dokumentarischen Roman von Anatolij Kuznecov, Babij Jar. Roman-Dokument,
2. Aufl., Frankfurt a.M. 1973 entnommen, dessen Verfasser als Knabe Augenzeuge des
Todesmarsches der Juden nach Babij Jar war.
Dies ist eine unzutreffende Wiedergabe des Maueranschlags, der keinen direkten Hinweis auf die Absicht seiner Urheber enthielt. Es wurde mündlich lanciert, daß die Juden
umgesiedelt würden. EM Nr. 106 (wie Anm. 3). Vgl. auch Verfahren gegen Callsen (wie
Anm. 2), Bl. 441. Dennoch existierten unter den Opfern bis zur letzten Minute auch andere Versionen über ihr Schicksal (Arbeitseinsatz, Austausch mit deutschen Gefangenen
usw.). Vgl. Lev Ozerov, Kiev-Babi Yar, in: Die Schoáh von Babij Jar (wie Anm. 2), S. 147.
Vgl. auch Anm. 4.
Vgl. Anlageband Nr. 3 zum Kriegstagebuch Nr. 1 (vom 15.5. bis 31.12.1941) der Sich.Div. 454. Tätigkeitsberichte vom 1.9. bis 31.12.1941. Bundesarchiv-Militärarchiv, Freiburg
(BA-MA), RH 26-454/28. Nur wenige Tage nach dem Massaker von Kiev sprach man
darüber in den Kasinos der deutschen Offiziere in Paris. Vgl. Ulrich Herbert, Aus der
Mitte der Gesellschaft, in: »Die Zeit«, Nr. 25,14.6.1996, S. 6. Ein Gefreiter der 296. Inf.Div.
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diesem Eintrag, am 5. Oktober, schrieb der Beauftragte des Ministeriums für die
besetzten Ostgebiete bei der Heeresgruppe Süd, Hauptmann Dr. Koch: »Als Sühne für die offensichtliche Sabotage wurden am 29. und 30. September die Juden
der Stadt liquidiert, insgesamt (nach Angaben der SS-Einsatzkommanden) rund
35 000 Menschen, zur Hälfte Frauen 7 .« Diese Liquidierungen erfolgten nach den
Feststellungen des Gerichts im Callsen-Verfahren in der folgenden Weise:
»In einer dieser langgestreckten, mehrere hundert Meter langen Schluchten, die
zahlreiche Windungen aufwies, waren mehrere Schießkommandos [...] tätig,
die in regelmäßigen Abständen abgelöst wurden. Die Schießtrupps bestanden
aus einem Schützen mit Maschinenpistole, zwei Mann, die Magazine nachluden und mehreren Leuten, die die Opfer in der Schlucht herbeitrieben. Die Opfer wurden v o m Rand der Schlucht zur Sohle hinab und z u m Exekutionskomm a n d o getrieben. Sie mußten sich dann mit dem Gesicht zur Erde auf die blu-
7
schrieb in einem wahrscheinlich sukzessive verfaßten Feldpostbrief aus Kiev am 28.9.1941 :
»Die Stadt brennt schon acht Tage, alles machen die Juden. Darauf sind die von 14 bis 60
Jahre alten Juden erschossen worden, und es werden auch noch die Frauen der Juden
erschossen, sonst wird's nicht Schluß damit...«. Zit. in: Vernichtungskrieg. Verbrechen
der Wehrmacht 1941 bis 1944. Ausstellungskatalog. Hrsg.: Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 1996, S. 78.
Zittert in: Die Schoáh von Babij Jar (wie Anm. 2), S. 454. Das Massaker in Babij Jar war
bereits während des Krieges auch im Ausland bekannt: Eine Note der Sowjetregierung
an die Alliierten, datiert vom 6.1.1942 und unterzeichnet vom Außenminister Molotov,
gibt eine Beschreibung des Massenmords und zeigt auf, daß die Opfer »eine große Zahl
von Juden, einschließlich Frauen und Kinder aller Altersstufen« waren. Vgl. Heinz Roschewski, Babij Jar und die Schweiz, in: Die Schoáh von Babij Jar (wie Anm. 2), S. 329. Die
»Außerordentliche Staatskommission« zur Untersuchung der deutschen Verbrechen in
Kiev legte ihren Bericht am 29.2.1944 vor und stützte sich dabei auf Aussagen von Augenzeugen (N.F. Petrenko, N.T. Gorbaceva) und die von deutschen Kriegsgefangenen
freigelegten Massengräber in Babij Jar, wobei als Täter Einheiten der SS, des SD und der
Feldgendarmerie bezeichnet wurden. Vgl. Nazi Crimes in Ukraine 1941-1944. Documents and Materials, Kiev 1987, S. 192-204. (Dok. 54). Am 15.12.1943 veröffentlichte die
sozialdemokratische Schweizer »Volksstimme« einen Artikel mit der Uberschrift »Die
Ermordung der Juden von Kiew« (siehe den zit. Aufsatz von H. Roschewski). »Ein Offizier der Auslandsabwehr habe Admirai Canaris berichtet, daß trotz aller Anstrengungen des Reichskommissars Erich Koch, das Massaker vor den ausländischen Korrespondenten geheimzuhalten, diese ihm erzählt hätten, darüber genauestens Bescheid zu
wissen [...].« Vgl. Erhard Roy Wiehn, Die Schoáh von Kiew-Babij Jar, in: Die Schoáh von
Babij Jar (wie Anm. 2), S. 92. Daß die Kiever Bevölkerung über das Schicksal der Juden
Kenntnis hatte, geht u.a. aus einer Tagebuchaufzeichnung von Irina Aleksandrovna
Chorosunova vom 30.9.1941 (»Man sagt, daß alle Juden erschossen werden.«) und
2.10.1941 hervor: »Alle sagen, daß die Juden getötet werden. Nein, nicht getötet werden,
sondern sie sind schon tot. Alle, ohne Unterschied, Alte, Frauen, Kinder [...]. Die Leute
haben gesehen, wie Lastwagen warme Kleidung und andere Sachen vom Friedhof wegtransportierten [...] Ich schreibe, aber die Haare stehen mir zu Berge [...]. Gab es schon mal
so etwas in der Geschichte der Menschheit? [...] Man kann nicht schreiben, man kann
nicht versuchen zu verstehen, denn vom Bewußtsein des Geschehenen werden wir verrückt [...]. Verfluchtes Jahrhundert, verfluchte schreckliche Zeit!« Die »Kiever Aufzeichnungen 1941-1944« von Chorosunova sind abgedruckt in: Die Schoáh von Babij Jar (wie
Anm. 2), S. 263-325, hier zit. S. 292-293 [Übersetzung des Autors]. Der dort erwähnte
Abtransport von »Kleidung und anderen Sachen« wird durch eine deutsche Quelle (EM
132,12.11.1941) bestätigt: Von den 139 Lastkraftwagenladungen mit Kleidung, die man
den Juden in Zitomir und Babij Jar abgenommen und für die Volksdeutschen der Ukraine bestimmt hatte, wurden einige Ende Oktober an Arme in Kiev verteilt, so daß nun jedermann in der Stadt das Schicksal der Juden klar sein mußte. Vgl. Gerald Reitlinger,
Endlösung in Kiew, in: Die Schoáh von Babij Jar (wie Anm. 2), S. 137.
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tigen Leichen der bereits Erschossenen legen. Wenn sie es nicht freiwillig taten,
wurden sie geschlagen und niedergerissen. Die Schützen traten dann, auf den
schwankenden Haufen der Leichen hin- und hergehend, hinter die Opfer und
schössen von hinten auf den Kopf. So wurde die Schlucht mit mehreren Schichten der Opfer von hinten nach vorne und von Rand zu Rand gefüllt [...]. Viele
der Opfer waren nicht sogleich tödlich getroffen worden [...].
Soweit sie noch dazu fähig waren, versuchten sie sich nachts aus ihrer Lage zu
befreien und sich fortzuschleppen. Einige wurden von Posten gestellt und erschossen, einigen gelang es, zu entfliehen. Die anderen wurden, sofern sie bis
dahin nicht qualvoll gestorben waren, nach Abschluß der Exekution lebendig
begraben, weil die Schluchtränder fast vollständig abgesprengt wurden und
das herabfallende Erdreich alles zuschüttete 8 .«
Von den unmittelbar an der Planung und Durchführung des Massakers in Babij
Jar Beteiligten wurden drei Männer im sog. Nürnberger Einsatzgruppenprozeß
1947-1948 von den alliierten Richtern zur Verantwortung gezogen 9 .
Es waren dies Dr. Dr. Otto Rasch, Führer der Einsatzgruppe C, Paul Blobel, Führer des Sonderkommandos 4a, und Waldemar von Radetzky, nach Blobel und neben Callsen ranghöchster Offizier dieses Sonderkommandos. Zwar stritt Blobel 10
in Nürnberg überhaupt seine Anwesenheit in Babij Jar ab, aber das Gericht glaubte
ihm nicht und spätere Zeugenaussagen erwiesen seine Behauptung als unwahr 1 1 .
Der ehemalige Obersturmführer im SK 4a, August Häfner, gab in einer Vernehmung vor dem Landgericht Darmstadt zu, im Nürnberger Prozeß Blobel und die
B
9
10
11
Verfahren gegen Callsen (wie Anm. 2), Bl. 443-445. Vgl. auch die Aussagen von Höfer und
Werner in: »Schöne Zeiten«. Judenmord aus der Sicht der Täter und Gaffer. Hrsg. von Emst
Klee [u.a.], Frankfurt a.M. 1988, S. 66-70, sowie die Beschreibung des Erschießungsvorgangs aus Opfersicht durch die überlebende Dina Proniceva in: »Gott mit uns« (wie
Anm. 4), S. 127 f. Die Sprengungen wurden am 1. Oktober von Wehrmachtspionieren
durchgeführt, mit denen der Adjutant von Einsatzgruppenchef Dr. Rasch, Schulte, die vorbereitenden Verhandlungen geführt hatte. Vgl. Verfahren gegen Callsen, BI. 445 und
Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 209.
Vgl. den sog. »Fall 9« gegen Otto Ohlendorf und 23 weitere Mitglieder der Einsatzgruppen vom 3.7.1947-10.4.1948, abgedruckt in: Trials of War Criminals before the
Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Nürnberg October
1946-April 1949, vol. 4, Washington D.C. 1951. Siehe auch: Fall 9. Das Urteil im Einsatzgruppenprozeß. Hrsg. von Kazimierz Leszczynski, Berlin (Ost) 1963.
SS-Standartenführer Paul Blobel, geb. 1894 in Potsdam und von Beruf Architekt, befehligte das Sonderkommando 4a der Einsatzgruppe C von Juni 1941 bis Januar 1942 und
war in dieser Eigenschaft für die Tötung von ca. 60 000 Menschen verantwortlich. Im
März 1942 äußerte er gegenüber dem Gestapo-Mann Albert Hartl bei der Vorbeifahrt an
Babij Jar: »Hier liegen meine Juden begraben.« Vgl. Reitlinger, Endlösung (wie Anm. 7),
S. 138. Der ehemalige Sturmbannführer (ab 1944) und Regierungsrat (ab 1945) Kuno Callsen, geb. 1911, bis Oktober 1941 Mitglied des SK 4a, ab September 1943 persönlicher Referent des Amtschefs III-SD-Inland im RSHA, Otto Ohlendorf, wurde am 29.11.1968 vom
Landgericht Darmstadt zu 15 Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.
Ein als Schütze in Babij Jar eingeteilter Kraftfahrer des SK 4a konnte sich in einer Vernehmung durch die Kriminalpolizei Hildesheim 1964 genau an einige Fangschüsse abgebende oder vom Muldenrand aus zuschauende SS-Führer erinnern, »darunter bestimmt Blobel«. Vgl. Vernehmungsschrift K. Werner, 28.5.1964, Landeskriminalamt Baden-Würtemberg — Zentrale Stelle — Tgb.Nr. SK.ZSt: 1 /5-154/60, Bl. 22. »Blobel hatte
die Oberleitung über die gesamte Organisation und Durchführung der Exekution.« Vernehmungsprotokoll des Zugwachtmeisters einer Polizeikompanie vom 19.11.1965, zit.
in: Die Ermordung der europäischen Juden. Eine umfassende Dokumentation des Holocaust 1941-1945. Hrsg. von Peter Longerich, München, Zürich 1989, S. 123 f.
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anderen SS-Führer des »Leitenden Dienstes« auf dessen Veranlassung durch eine
eidesstattliche Versicherung, sie seien vor der Aktion in Kiev auf dem Rückweg ins
Reich gewesen, gedeckt zu haben12.
Dr. Rasch starb noch während des Gerichtsverfahrens 1948 im Gefängnis, Radetzky wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, später vom amerikanischen Hochkommissar McCloy begnadigt und 1951 aus der Landsberger Haft entlassen, Blobel wurde zum Tode durch den Strang13 verurteilt und 1951 hingerichtet14. In seinem Schlußwort in Nürnberg stritt Blobel, wie erwähnt, seine Beteiligung am Massaker von Babij Jar ab, behauptete ferner, daß das Sonderkommando 4a insgesamt
bei allen Aktionen einschließlich der Kiever nicht mehr als 10 000 bis 15 000 Personen getötet habe — was immer noch eine ungeheuerliche Zahl ist! — und berief
sich besonders nachdrücklich auf seinen Status als Soldat, der ausschließlich in der
vordersten Kampfzone und nicht im rückwärtigen Heeresgebiet zum Einsatz gekommen sei. In diesem Zusammenhang führte er aus, daß er dem Hauptquartier
der 6. Armee unterstellt gewesen sei und daß alle Exekutionen, an denen er teilgenommen habe, vom Oberbefehlshaber der 6. Armee, Feldmarschall von Reichenau,
angeordnet worden seien15.
Da Blobel offensichtlich die Unwahrheit sagte und sich in viele Lügen verstrickte, wie die dem Gericht vorliegenden Dokumente, insbesondere die oben zitierten »Ereignismeldungen UdSSR« bewiesen16, ließen sich die Richter von seiner
Verteidigungsstrategie, das von ihm geführte Sonderkommando 4a als Exekutionskommando der Wehrmacht hinzustellen und Erschießungen von Juden und
Kommunisten als zulässige völkerrechtliche Repressalie zu rechtfertigen, nicht beeindrucken. Sie sahen in ihm einen verantwortlichen, nicht unter Befehlsnotstand17
12
13
14
15
16
17
Vgl. Vernehmung Häfner, 16.6.1965, Js 4 / 6 5 (GStA), Bl. 16.
Blobel wies in Nürnberg die Verantwortung für alle Exekutionen des Sonderkommandos
4a von sich, da während seiner häufigen krankheitsbedingten Abwesenheiten das Kommando ebenfalls Massenhinrichtungen durchgeführt habe. Affidavit Paul Blobel, 6.6.1947,
Nbg.Dok. NO-3824, Trials of War Criminals (wie Anm. 9), S. 213.
Die Todesstrafe wurde außerdem an Ohlendorf (Einsatzgruppe D), Naumann (Einsatzgruppe B) und Braune (Einsatzkommando IIa) vollstreckt, der ebenfalls zum Tode verurteilte Eduard Strauch (Einsatzkommando 2) starb in belgischer Haft. Die erhebliche
Abmilderung der Strafen für die in Landsberg einsitzenden NS-Verbrecher durch den
amerikanischen Hochkommissar aufgrund Gnadengesuchs kam einem breiten Wunsch
in der damaligen bundesrepublikanischen Gesellschaft entgegen. Ausdrücklich betonte allerdings McCloy, daß die Begnadigung keine Revision bzw. Rücknahme der von den
Richtern in Nürnberg ausgesprochenen Schuld der Angeklagten bedeute. Auf die eindeutig politische Motiviertheit der Amnestie angesichts der bevorstehenden Westintegration und Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und der Verschärfung des Kalten
Krieges verweist Thomas Alan Schwartz, Die Begnadigung deutscher Kriegsverbrecher.
John J. McCloy und die Häftlinge von Landsberg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 38 (1990), S. 375-414.
Vgl. Trials of War Criminals (wie Anm. 9), S. 396 f.
Blobels Kommando wurden mindestens 16 Massenerschießungen angelastet. Ebd., S. 527.
Befehlsnotstand bzw. Putativ-Notstand, letzterer in der Bedeutung der irrtümlichen Annahme, daß eine Weigerung zur Befehlsausführung eine unmittelbare persönliche Gefahr
für Leib und Leben nach sich ziehe, spielten in den NS-Prozessen eine wichtige Rolle. Zwar
soll es einen Befehl Himmlers gegeben haben, daß niemand zu Erschießungen gezwungen werden dürfe, dagegen stehen die Drohungen in seiner bekannten Posener Rede
vom 14.10.1943: »Sollte einmal einer dem Führer oder dem Reich untreu werden, und sei
es auch nur in Gedanken, so haben Sie dafür zu sorgen, daß er aus dem Orden kommt,
und wir werden dafür sorgen, daß er aus dem Leben kommt.« Vgl. Nbg.Dok. 1919-PS,
IMT (wie Anm. 2), Bd 29. Ein ehemaliges Mitglied der SS, Oberführer Dr. Ehrlinger, be-
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handelnden Täter, den das Unrecht seines Tuns, welches alle menschliche Vorstellungskraft überstieg, bewußt sein mußte und der mit fadenscheinigen Gründen
die eigene Verantwortung leugnete und auf höhere Personen und Instanzen, in
diesem Fall auf Reichenau und das Armeeoberkommando 6, abwälzte. Da das Gericht offensichtlich von der Auffassung ausging, daß die SS-Einsatzgruppen ihre Untaten losgelöst vom übrigen Kriegsgeschehen in völlig eigener Verantwortung und
Initiative ausübten und Blobel sich im übrigen bereits allzusehr durch unwahre
Aussagen diskreditiert hatte, ging es der Substanz seines Vorwurfs an die Adresse des Oberbefehlshabers der 6. Armee nicht näher nach. Dieses Versäumnis hat
sich bis in die heutige Forschung hinein verlängert, die zwar inzwischen zu der
allgemeinen Erkenntnis vorgedrungen ist, daß Teile der Wehrmacht in und an Verbrechen aus rassistischen Motiven »verwickelt«, »verstrickt«, »beteiligt« usw. gewesen sind 18 . Die Frage nach der Verantwortung, in diesem Fall für das Verbrechen
von Babij Jar, und damit zusammenhängend die Problematik der Befehlsstruktur
auf dem östlichen Kriegsschauplatz generell bedarf aber nach der Blobelschen Behauptung in Nürnberg, der Oberbefehlshaber der 6. Armee, dem seine Einheit unterstellt gewesen sei, habe die Massenerschießungen, u.a. in Babij Jar, angeordnet,
unbedingt der Prüfung ihres historischen Wahrheitsgehaltes, denn nicht allein
schon deshalb, weil diese Aussage von dem Massenmörder Blobel stammt, ist sie
unglaub- und diskussionsunwürdig. Sie steht im übrigen in einer Reihe mit zahl-
18
hauptete in seiner Haftbeschwerde nach seiner Verurteilung (1961), daß die Zahl der Todesurteile, die von SS- und Polizeigerichten gegen Angehörige der SS und Polizei wegen
Ungehorsams gegen gegebene Befehle ausgesprochen wurden, hoch gewesen wie überhaupt die »barbarische Härte« der SS- und Polizeigerichte nachträglich bagatellisiert und
geleugnet worden sei. Vgl. E. Ehrlinger, Haftbeschwerde (maschinenschriftl. 1963), S. 41
[Privatarchiv des Autors]. Vgl. dagegen Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer
Kriegsgefangener im »Fall Barbarossa«. Eine Dokumentation. Unter Berücksichtigung
der Unterlagen deutscher Strafverfolgungsbehörden und der Materialien der Zentralen
Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Heidelberg,
Karlsruhe 1981, S. 300 ff. In der Literatur hat sich das Sachverständigenurteil etabliert, daß
kein Fall bekannt sei, in dem eine Weigerung, an Exekutionen teilzunehmen, die Erschießung zur Folge gehabt habe. Vgl. zur strafrechtlichen Problematik des Befehlsnotstandes und anderer mit den NS-Prozessen verbundener Fragen den Aufsatz von Jürgen
Baumann, Die strafrechtliche Problematik der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen,
in: Reinhard Henkys, Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Geschichte und Gericht, 2., verb. Aufl., Stuttgart, Berlin 1965, S. 267-321. Siehe auch Wolfgang Scheffler,
Zur Praxis der SS- und Polizeigerichtsbarkeit im Dritten Reich, in: Klassenjustiz und Pluralismus. Festschrift für Ernst Fraenkel zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Günther Doeker
und Winfried Steffani, Hamburg 1973, S. 224-236; Hans Buchheim, Das Problem des sogenannten Befehlsnotstandes aus historischer Sicht, in: Rechtliche und politische Aspekte der NS-Verbrecherprozesse. Hrsg. von P. Schneider und H. Meyer, Mainz 1968, S. 25-37.
Dazu gibt es mittlerweile eine stattliche Literatur, besonders aus dem personellen Umfeld der »Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen« in Ludwigsburg, dem »Militärgeschichtlichen Forschungsamt« in Potsdam (vormals Freiburg), dem »Institut für Sozialforschung« in Hamburg und dem »Institut für Zeitgeschichte« in München, während
die universitäre Geschichtswissenschaft zu dem Thema bislang eher wenig beigetragen
hat. Die Bewertung des Krieges gegen die Sowjetunion als »rassenideologischer Vernichtungskrieg« ist in der Forschung seit den 60er Jahren im Grunde genommen akzeptiert. Gestritten wird allenfalls noch darüber, in welchem Ausmaß sich die Wehrmacht
an den völkerrechtswidrigen, verbrecherischen Handlungen beteiligte. Vgl. Gerd R. Ueberschär, Der Mord an den Juden und der Ostkrieg. Zum Forschungsstand über den Holocaust, in: Täter — Opfer — Folgen. Der Holocaust in Geschichte und Gegenwart. Hrsg.
von Heiner Lichtenstein und Otto R. Romberg, Bonn 1995 (= Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe, Bd 335), S. 49.
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reichen Äußerungen anderer beteiligter SS-Mitglieder nach dem Kriege, die tendenziell in die gleiche Richtung gehen, die der Forschung aber bisher nicht bekannt waren oder weitgehend von ihr vernachlässigt worden sind. So behauptete
etwa der 1961 in Karlsruhe wegen Beihilfe zum Mord zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilte ehemalige Oberführer Dr. Ehrlinger, 1941 Führer des Einsatzkommandos
lb, 1943 Befehlshaber der Sicherheitspolizei Weißruthenien sowie Chef der Einsatzgruppe B, in seiner Haftbeschwerde (siehe oben, Anm. 17), daß »mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen« sei, daß die Massenexekution von Kiev »zur Vergeltung für die Brandstiftung [...] vom OB. der 6. Armee,
von Reichenau, befohlen war.« Wenn diese — hier neueingeführte — und andere
Nachkriegsverlautbarungen mit ähnlicher Tendenz von der Forschung nicht wahrgenommen wurden bzw. unbeachtet blieben, so lassen sich dafür eine Reihe von
Gründen einführen. Viele Einsatzgruppenmitglieder hatten sich durch ihre Mordtaten und durch ihr Leugnungsverhalten vor Gericht in einer Weise diskreditiert,
daß auch ihre substantiellen historischen Sachaussagen von vornherein ins Zwielicht gerieten, zumal diese darüber hinaus häufig für eine bestimmte juristische
Verteidigungsstrategie zwecks Strafminderung instrumentalisiert wurden. Außerdem schien ja laut Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres vom 28. April 1941
zweifelsfrei festzustehen, daß die Einsatzgruppen »ihre Aufgaben in eigener Verantwortlichkeit« (Hervorhebung von mir, H.R.) durchführten und den Armeen nur
»hinsichtlich Marsch, Versorgung und Unterbringung unterstellt« waren, ihre »fachlichen Weisungen« jedoch vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD und nicht
etwa von höheren Wehrmachtchargen erhielten. Und schließlich stand den Ereignismeldungen der »Weltanschauungstruppe«, die Babij Jar sozusagen als ihr »Meisterstück« von Organisation und Tötungseffizienz feierte, auf den ersten Blick kein
entsprechendes Quellenäquivalent gegenüber, das eine alternative Deutung der
Verantwortlichkeit für dieses größte Massaker auf deutscher Seite während des
Zweiten Weltkrieges zugelassen hätte. Eher beiläufig machte erst vor nicht allzulanger Zeit ein Außenseiter der Zunft die sehr beachtenswerte Bemerkung, daß
Babij Jar in »Dimension und Anlage [...] ein Wehrmachtsunternehmen mit Polizeikräften als Schützenhilfe« (Jörg Friedrich) gewesen sei, was der traditionellen
Sicht auf das Geschehen in Kiev deutlich widersprach. Im folgenden soll unter anderem deshalb das Verhalten der Wehrmacht — speziell des AOK 6 und seines
Oberbefehlshabers von Reichenau — im Vor- und Umfeld des Massakers von Babij Jar, ausgehend von den provokanten Vorwürfen seitens ehemaliger SS-Mitglieder, genauer in Augenschein genommen werden. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht um die Entlastung der SS-Täter, die häufig aus durchsichtigen Motiven die Verantwortung von sich auf die Wehrmacht schoben. Wer
wehrlose Menschen umbringt, und sei es auch in gehorsamer Befehlserfüllung, offenbart damit ein pervertiertes Rechtsbewußtsein und die Verneinung elementarer
sittlicher Grundsätze der menschlichen Völkergemeinschaft und hat schwere Schuld
auf sich geladen.
Im Prozeß gegen Mitglieder des SK 4a in Darmstadt 1968 spielte das von Blobel in Nürnberg angeschnittene Thema ebenfalls eine auffällige Rolle. Die Vernehmung August Häfners brachte zum Tatkomplex Babij Jar eine Reihe von bisher
nicht bekannten Details an den Tag, so besonders hinsichtlich der Rolle der Wehrmacht bei diesem Geschehen. So behauptete Häfner, daß sich » Wehrmachtsangehörige
(Hervorhebung von mir, H.R.) [...] in übelster Form gegen die Juden, die auf die Erschießung warteten, vergriffen« hätten, »indem sie mit Knüppeln auf sie einBrought to you by | Université Paris Ouest Nanterre La Défense
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schlugen«19. Unmittelbar nach der Erschießung habe, so Häfner, ein Gespräch stattgefunden, »bei dem auch Wehrmachtsangehörige beteiligt waren. Es waren die
Herren, die bei der Erschießung dabei waren und der Armeerichter. Bei diesem
Gespräch wurde darüber gesprochen, daß diese Art der Erschießung für Opfer
und Schützen unterträglich sei [...]. Ich weiß nicht mehr, ob bei diesem Gespräch
über die Rechtmäßigkeit der Judenerschießung gesprochen worden ist. Es ist wahrscheinlich. Ich schließe es daraus, daß der Armeerichter auf Grund des Vortrags
verschiedener Fälle erläuterte, daß Reichenau als Gerichtsherr unerbittlich sei« (Hervorhebung von mir, H.R.)20. Ferner gab Häfner zu Protokoll, daß ihm die Erschießung der Juden vom Stadtkommandanten Generalmajor Eberhard persönlich mehrfach
befohlen worden sei, und zwar sogar unter Androhung möglicher kriegsgerichtlicher Schritte gegen ihn, falls er dem Befehl, wie erkennbar war, nicht unverzüglich
nachkäme. Blobel habe die von ihm, Häfner, geplante vorzeitige Absetzung des
Kommandos aus Kiev auf Befehl von Dr. Rasch im letzten Moment gestoppt21.
Natürlich muß man den historischen Wert der Aussagen Häfners mit der für solche NS-Prozesse gebotenen quellenkritischen Vorsicht betrachten22, zumal sein Bestreben, den eigenen Tatbeitrag als gering darzustellen und den strafmindernden
juristischen Sachverhalt des Befehlsnotstandes für sich zu beanspruchen, als Verteidigungsstrategie deutlich erkennbar wird23. Auch die Tatsache, daß alle von ihm
bezeichneten Personen mit höherer Befehlsgewalt zum Zeitpunkt seiner Aussage
nicht mehr am Leben waren, können Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkommen lassen. Dem steht allerdings entgegen, daß erstens eine ganze Reihe von Häfners Angaben, speziell auch diejenigen über die aktive Rolle des 1947 verstorbenen
Kiever Stadtkommandanten Generalmajor Eberhard bei der Inszenierung des Babij Jar-Massakers, von anderen Quellen bestätigt wird, zweitens einige bislang nicht
bekannte Tatsachen, wie die unmittelbare Beteiligung von Wehrmachtangehörigen (nicht als Schützen, sondern als »Zutreiber«) oder die Anwesenheit eines Ar19
20
21
22
23
Vgl. Vernehmung August Häfner, Landgericht Darmstadt am 16.6.1965, Js 4 / 6 5 (GStA),
Bl. 11. Der Abwehroffizier (Ic) des 29. Armeekorps, Gerhard Schirmer, bestätigte in einer Aussage vom 29.6.1966 die Forderung der SS in Kiev nach Abstellung von »Truppen zur Absperrung der Straßen, durch die die Juden marschieren sollten.« Zit. in: »Gott
mit uns« (wie Anm. 4), S. 120. Als ausgemacht gilt es in der bisherigen Babij Jar-Literatur, daß nur SS-Einheiten in Babij Jar beteiligt gewesen seien. Vgl. Enzyklopädie des Holocaust, hrsg. von Israel Gutman, 3 Bde, Berlin 1993, Stichwort »Babi Jar«, S. 144. Die
»Außerordentliche Staatskommission« zur Untersuchung der Naziverbrechen in Kiev
hatte 1944 allerdings auch die Anwesenheit von Feldgendarmerie konstatiert. Siehe oben
Anm. 7. Die Anwesenheit von »Wehrmachtsoffizieren« »in der Nähe des Exekutionsgeländes« bezeugte in einer Aussage am 31.5.1967 der ehemalige SS-OStf Chr. Schulte.
Vgl. »Gott mit uns« (wie Anm. 4), S. 119. Der ehemalige SS-OStf Häfner ist am 29.11.1968
durch Urteil des Schwurgerichts bei dem LG Darmstadt zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Vgl. Vernehmung Häfner (wie Anm. 12), Bl. 11.
Ebd., Bl. 12-14.
Vgl. grundsätzlich Wolfgang Scheffler, NS-Prozesse als Geschichtsquelle. Bedeutung und
Grenzen ihrer Auswertbarkeit durch Historiker, in: Lerntag über den Holocaust. Hrsg.
von Wolfgang Scheffler und Werner Bergmann, Berlin 1988, S. 13-27.
»Wir beschlossen, alles zu versuchen, damit wir SS-Führer vom leitenden Dienst und unser Kommando nicht in die Exekution hineingezogen würden [...]. Am nächsten Tag wurde ich wieder zu Eberhard befohlen [...]. Als ich ihm meldete, daß ich keine telefonische Verbindung mit Blobel bekommen könnte, wurde er furchtbar wütend und befahl mir, mit
der Exekution sofort zu beginnen [...]. Ich machte erneut Einwände. Er brüllte mich an:
>Sie kommen sofort vors Kriegsgerichte« Vernehmung Häfner (wie Anm. 12), Bl. 13.
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
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meerichters bei den Erschießungen, im Gesamtkontext des relevanten Quellenmaterials an Bedeutung und Wahrscheinlichkeit gewinnen und zu dem allgemeinen Bild des Zusammenspiels von SS und Wehrmacht besonders im Zuständigkeitsbereich der 6. Armee unter von Reichenau durchaus passen 24 und drittens einige vom Beschuldigten — dem das Gericht ein gutes Erinnerungsvermögen und
das Bemühen attestierte, zur Aufklärung der Taten beizutragen — erwähnte Details (etwa die Beobachtung, daß Juden mit Benzinkanistern in den Händen von Polizei durch die Straßen zur Hinrichtung getrieben wurden 2 5 ) unser bisheriges Wissen über die Vorgänge in Kiev punktuell vervollständigen. August Häfner behauptete in seiner Vernehmung, daß Generalmajor Eberhard die Erschießung aller
Kiever Juden befohlen habe: »Als Vergeltungsmaßnahme befahl er [...], daß sämtliche Juden Kiews zu erschießen seien. Ob ich ermächtigt sei, Juden zu erschießen,
fragte er mich dann. Wahrheitsgemäß bejahte ich die Frage. Auf seine Frage, wieviel Juden in Kiew seien, antwortete ich, das sei mir völlig unbekannt, schätzungsweise vielleicht 5000. Er gab mir dann den Befehl, alle Juden zu erschießen 26 .«
Diese schwerwiegende Anschuldigung an die Adresse des Kiever Stadtkommandanten muß hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit an dem überlieferten Verhalten Eberhards als Inhaber der vollziehenden Gewalt in Kiev und seiner aktenkundig gewordenen Verstrickung in Planung und Organisation des Massakers von Babij Jar überprüft werden. Der Stadtkommandant Eberhard hat auch im Oktober
und November 1941 umfangreiche Massenexekutionen befohlen und öffentlich
24
25
26
Siehe Bernd Boll und Hans Safrian, Auf dem Weg nach Stalingrad. Die 6. Armee 1941 /42,
in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hrsg. von Hannes Heer
und Klaus Naumann, Hamburg 1995, S. 260-296. Vgl. auch: Jörg Friedrich, Das Gesetz
des Krieges. Das deutsche Heer in Rußland 1941-1945. Der Prozeß gegen das Oberkommando der Wehrmacht, 2. Aufl., München, Zürich 1995 (= Serie Piper, Bd 2116),
S. 804 f. Die EM Nr. 128 vom 3.11.1941 (Nbg.Dok. NO-3157) der Egr C (zit. in: Der Überfall auf die Sowjetunion — wie Anm. 4 —, S. 319 f.) konstatiert, daß »zu sämtlichen Wehrmachtsdienststellen vom ersten Tag an ein ganz ausgezeichnetes Einvernehmen« bestand.
Die Benzinkanister konnten als Beweis dafür gelten, daß diese Juden Brandstifter und Saboteure waren. Aus den Worten Häfners geht nicht hervor, ob er dies wirklich glaubte
oder die Szene als eine absichtlich inszenierte deutete, die das Ziel hatte, die »Sühnemaßnahmen« nach außen hin zu rechtfertigen. In der EM Nr. 97 vom 28.9. (Nbg.Dok. NO-3145,
zit. in: Die Schoáh von Babij Jar — wie Anm. 2 —, S. 448 f.) wird behauptet, daß der große
Stadtbrand von Kiev von den Juden gelegt worden sei (davon abweichend EM Nr. 127
vom 31.10.1941; siehe auch die Aussage von Generaloberst Jodl in Nürnberg, zit. bei Reitlinger, Endlösung — wie Anm. 7 —, S. 136. Siehe unten Anm. 82). Wenn Raul Hilberg in
diesem Zusammenhang anmerkt, daß die Mühelosigkeit, mit der sich das Militär ohne
jede Beweise von der jüdischen Täterschaft überzeugen ließ, »für die Leichtgläubigkeit
der Wehrmacht« spreche, vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden,
Bd 2, Frankfurt a.M. 1990, S. 315, so ist das eine gravierende Verharmlosung des rassistischen, radikale Lösungen forcierenden Ideologieanteils in der Armeespitze.
Vernehmung Häfner 16.6.1965 (wie Anm. 12), Bl. 12. Zum Zeitpunkt der Entscheidung
über das Judenmassaker (26.9., siehe unten S. 13) lag Kiev noch nicht im Befehlsbereich
des rückwärtigen Heeresgebietes. Dies ist durch dessen Befehlshaber Karl v. Roques in
Nürnberg bestätigt worden. Vgl. Friedrich, Das Gesetz des Krieges (wie Anm. 24), S. 807.
Der Übergang der Befehlsgewalt in Kiev auf die 454. Sich.Div. und die ihr unterstehende Feldkommandantur 195, welche letztere vorübergehend Weisungen von der 6. Armee bezogen hatte, wurde endgültig am 1.10.1941 bei einem Besuch Oberst v. Krosigks,
des Stabschefs beim Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Süd, in Kiev vereinbart. Vgl. Funkspruch IA, Bfh. rückw.H.geb.Süd an 454. Sich.Div. über 6. Armee vom
28.9.41, BA-MA, RH 22-7 sowie Bericht 454. Sich.Div., Abt .VII vom 2.10.41, BA-MA, RH
26-454/28.
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Hartmut Rüß
bekannt gemacht, so am 22. Oktober (»wegen eines Sabotageaktes wurden heute
100 Einwohner von Kiew erschossen. Dies diene zur Warnung [...]. Der Stadtkommandant.«), am 2. November (»Die zunehmenden Fälle von Brandstiftungen
und Sabotageakte in Kiew zwingen mich zu durchgreifenden Maßnahmen. Es wurden daher heute 300 Einwohner von Kiew erschossen. Für jeden neuen Fall von
Brandstiftung und Sabotage wird eine mehrfache Zahl erschossen werden [...].
Eberhard, Generalmajor und Stadtkommandant.«) und am 29. November (»In Kiew
wurde eine Nachrichtenanlage, das Telefon- und Telegrafenkabel, böswillig beschädigt. Da die Täter nicht ermittelt werden konnten, wurden 400 Einwohner aus
Kiew erschossen [...]. Eberhard, Generalmajor und Stadtkommandant«) 2 7 . Nimmt
man ferner eine bereits am 28. September ergangene Ereignismeldung, die von einer ersten anvisierten »öffentliche[n] Hinrichtung von 20 Juden« (Hervorhebung
von mir, H.R.) auf Befürwortung des Kiever Stadtkommandanten berichtet, hinzu 28 ,
so kann unterstellt werden, daß — unter Berücksichtigung der bekannten Befehle
des O KW und des OKH im Vorfeld des Krieges gegen die Sowjetunion, des Oberbefehlshabers der 6. Armee vom 10. Oktober 1941 über die harte Sühne und Vergeltung am »jüdischen Untermenschentum« (siehe dazu Näheres unten, S. 1 5 , 1 8 , 2 0 )
und des Befehls des Generals Karl von Roques, Oberbefehlshaber im rückwärtigen Heeresgebiet Süd, vom 16. August 1941 über Vergeltung an Juden und Russen
bei Sabotageakten 2 9 — ausschließlich oder überwiegend Juden und sowjetische
Kommunisten erschossen wurden. Auf jeden Fall zeigen Eberhards Maßnahmen
in Kiev, daß er das Kriegsrecht als Inhaber der vollziehenden Gewalt extensiv im
Sinne der Hitlerschen Vorgaben eines rassistischen Vernichtungskrieges30 auszulegen
bereit war.
A m 28. September 1941 fanden sich ca. 2000 dreisprachige (Russisch/Ukrainisch/Deutsch) Maueranschläge in ganz Kiev mit folgender Aufforderung:
27
28
29
30
IMT (wie Anm. 2), Bd 39, 291-USSR, S. 472 (Bekanntmachung Eberhard, 29.11.41); Anlagebd Nr. 3 zum KTB Nr. 2, 454. Sich.-Div. -Führungsabt.- vom 1.1.42-30.6.42, Tätigkeitsberichte der Abt. Ic; Nbg.Dok. NOKW-2926; EM Nr. 143 (8.12.41) berichtet für die Zeit
vom 2. bis 8.11.1941 über die Erschießung von »414 Geiseln [...] im Einvernehmen mit
dem Stadtkommandanten von Kiew als Vergeltung für die zunehmenden Fälle von
Brandstiftungen und Sabotage.« Zit. nach Helmut Krausnick und Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938-1942, Stuttgart 1981 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd 22), S. 263, Anm. 622. Rudolf Aschenauer, Kriegsbefehle für das Unternehmen »Barbarossa« sowie für die Kriegsschauplätze im Südosten, Westen und Südwesten. Maschinenschr. verf., München 1964, S. 105 f.
EM Nr.97, zit. bei Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 324, Anm. 161.
Karl v. Roques glaubte in Nürnberg nach Kenntnisnahme dieser Ereignismeldung (NO3145, wie Anm. 25) auf die Diskrepanz zwischen anvisierten 50 000 in Kiev durch das
Einsatzkommando und 20 durch den Stadtkommandanten zu tötenden Juden hinweisen zu
müssen, vgl. Friedrich, Das Gesetz des Krieges (wie Anm. 24), S. 807, übersah freilich
geflissentlich den Unterschied zwischen einer getarnten »Umsiedlungs«- und einer öffentlichen Hinrichtungsaktion.
Befh. riickw. H.Geb. Süd, Abt. VII/Nr. 103/41 ; Anordnung Abt. VII, Nr. 7 vom 16.8.41,
(Nbg.Dok. NOKW-1691), vgl. Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 191 f.
Siehe auch unten S. 20 f.
In seiner berüchtigten, von Generaloberst Halder (Kriegstagebuch, bearb. von HansAdolf Jacobsen, Bd 2, Stuttgart 1963, S. 335-337) überlieferten Rede am 30.3.1941 hatte Hitler die anwesenden ca. 250 Truppenführer des Ostheeres und deren Chefs der Stäbe auf
den künftigen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eingeschworen: »Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich asoziales Verbrechertum [...]. Es handelt sich
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
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»Sämtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, dem
29. September 1941, um 8 Uhr Ecke der Melnik- und Dokteriwski-Strasse31 (an
den Friedhöfen) einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen, sowie warme Bekleidung, Waesche usw. Wer dieser Aufforderung nicht
nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen.
Wer in verlassene Wohnungen von Juden eindringt oder sich Gegenstaende
daraus aneignet, wird erschossen32.«
Die in der Druckerei der der 6. Armee zugeteilten Propagandakompanie 637 hergestellten33 und von ukrainischer Hilfspolizei angeschlagenen Plakate trugen, wie
die überlieferten Exemplare zeigen und wie auch Ilja Ehrenburg bezeugt34, keine
Unterschrift?5. Die Verwendung des herabsetzenden Terminus »zidy« statt des neutralen »evrei« für »Juden« stellt die einzige wertende Formulierung des Aufrufs
dar und hat möglicherweise die Perzeption des Geschehens der zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergerissenen Opfer beeinflußt36. Dagegen sorgte die in dem Plakataufruf geforderte Mitnahme von Papieren, Geld und Wertsachen, warmer Kleidung und Wäsche eher für eine Konnotation mit fürsorglichen
und sorgenden Akzenten und suggerierte eine bevorstehende Deportation, keine
Erschießung. Darüber hinaus gab sich die Besatzungsmacht deutlich legalistische
Züge, indem sie jedem mit Exekution drohte, der unberechtigt in verlassene jüdische Wohnungen eindringt. Dies alles sollte der Irreführung und Beruhigung der
Opfer dienen, was nach Augenzeugenschilderungen von den Sammelplätzen und
der Einschätzung der Einsatzgruppe selbst37 offenbar auch weitgehend gelang. Auf
31
32
33
34
35
36
37
um einen Vernichtungskampf [...]. Wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren [...]. Im Osten ist Härte mild für die Zukunft. Die Führer müssen von sich das Opfer
verlangen, ihre Bedenken zu überwinden.« Zit. in: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4), S. 249.
Im russischen Text heißen die Straßen »Mel'nikovskaja« und »Dochturovskaja«, richtig
mußte es heißen: »Mel'nikova« und »Degtjarevskaja«.
Abgedr. bei Wiehn, Die Schoáh von Kiew-Babij Jar (wie Anm. 7), S. 85. Die hier zitierte
deutsche Version unterscheidet sich von der russischen und ukrainischen nur durch das
Auslassen von 8 Uhr »morgens«. Die von Wiehn angefertigte Ubersetzung des russischen
und ukrainischen Textes ins Deutsche ist in winzigen Details ungenau (es muß heißen:
»neben den Friedhöfen« statt »neben dem Friedhof«). Die Aufforderung an die Juden
Kievs geschah laut EM Nr. 106 vom 7.10.1941 (wie Anm. 3) »in Vereinbarung mit dem
Stadtkommandanten«.
Vgl. Wiehn, Die Schoáh von Kiew-Babij Jar (wie Anm. 7), S. 84. Die besagte Propagandakompanie war bereits im August bei einer öffentlichen Hinrichtung in Zitomir (siehe
unten S. 19) in Erscheinung getreten.
Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman, »Das Schwarzbuch«. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Hrsg. von Arno Lustiger, Reinbek 1994, S. 48.
Der Originaltext befindet sich im Central'nyj gosudarstvennyj archiv Oktjabr'skoj revoljucii. Moskva, Fond 7021, opis 65, edinica chranenija 5. Nach Erinnerung von SS-Obersturmführer Christian Schulte, dem persönlichen Adjutanten des Chefs der Egr C, Dr. Dr.
Rasch, war hingegen das Plakat »unterschrieben von dem Stadtkommandanten, es kann
auch sein, daß die Unterschrift >Der Kampfkommandant< lautete«. Zit. in: »Gott mit uns«
(wie Anm. 4), S. 119.
Daß sprachliche Unkenntnis der deutschen Verfasser und der nicht erkannte Einfluß ihrer antisemitisch gesonnenen ukrainischen Helfershelfer bei der Formulierung und Verwendung von »zidy« eine Rolle gespielt haben könnten — die Zeitung »Ukrainskoe slovo« schrieb am 2.10.1941: »Der größte Feind des Volkes ist der Jude (¿id)« —, ist nicht
auszuschließen, aber nach der Ereignismeldung Nr. 112 vom 13.10.1941 der Egr C eher unwahrscheinlich, worin nämlich behauptet wird, daß, wer unter der Sowjetregierung die
Juden »zid« nannte — was als Schimpfwort galt — ins Gefängnis gesteckt worden sei.
Siehe die oben (Anm. 3) zit. EM Nr. 106 vom 7.10.1941.
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diese Weise wurde das Ziel, möglichst viele Kiever Juden der Vernichtung zuzuführen und zugleich in den Besitz ihres Geldes und ihrer Wertsachen zu gelangen,
in einem die Täter offenbar selbst überraschenden Ausmaß erreicht38.
Daß nicht nur die erwähnte Propagandakompanie der Wehrmacht mit dem
Drucken des Plakats, sondern auch andere Wehrmachteinheiten an der Aktion beteiligt waren, bestätigt indirekt August Häfner: Generalmajor Eberhard habe zwei
Infanteriebataillone zur Verfügung gehabt, also genügend Leute, um die Erschießungen selbst durchzuführen. Er habe jedoch erklärt, »daß laut Barbarossabefehl er alles Erforderliche zu tun habe und auch werde — nur Schießen müßten
laut ausdrücklichem Befehl die Einsatzkommandos. Er werde die Juden zusammentreiben lassen, Gruben ausheben, Munition geben [..,]39.« Es kann also mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden, daß die unmittelbar dem Stadtkommandanten Eberhard unterstehenden Wehrmachteinheiten an der Organisation und
Durchführung des Judenmassakers von Babij Jar ebenfalls aktiv beteiligt waren.
Das entsprach im übrigen auch der Befehlslage innerhalb der 6. Armee. In einer
Verfügung des AOK 6 vom 10. August 1941 wurde zwar — um einer Verwilderung der Truppe vorzubeugen und eine befehlsgemäße Kooperation mit der SS zu
gewährleisten — »jede Teilnahme von Soldaten der Armee als Zuschauer oder
Ausführende bei Exekutionen, die nicht von einem militärischen Vorgesetzten befohlen sind, verboten«, im Falle einer ordnungsgemäßen Absprache über Hilfestellungen war aber gegen die aktive Beteiligung bei »Exekutionen an verbrecherischen, bolschewistischen, meist jüdischen Elementen« nichts einzuwenden: »Tritt
der SD an Ortskommandanten mit der Bitte heran, einen für eine Exekution des SD
vorgesehenen Raum durch Absperrmannschaften gegen Zuschauer zu sichern, so
ist dieser Bitte Folge zu leisten40.« Es existieren daneben deutsche Zeugenaussa-
38
39
40
Siehe EM Nr. 128 (wie Anm. 4). Ein ehemaliges Mitglied des SK 4a gab in einer Vernehmung zu Protokoll: »Wir waren [...] einige Tage damit beschäftigt, Geldscheine zu glätten, die aus dem Eigentum der erschossenen Juden stammten.« Zit. bei Hans-Heinrich
Wilhelm, Rassenpolitik und Kriegführung. Sicherheitspolizei und Wehrmacht in Polen
und der Sowjetunion, Passau 1991, Nr. 28, S. 240 f.
Vernehmung Häfner, Js. 4 / 6 5 GStA, S. 12. In Kiev hielten sich zum Zeitpunkt des Massakers vermutlich mindestens folgende Truppenverbände auf: die Generalmajor Eberhard
unterstehende Feldkommandantur 195 (siehe oben, Anm. 26), die dem Korück 585 zugeteilte Gruppe IVWi, Außenstelle 45 des Wirtschaftsstabes Ost (vgl. Korück 585, Beitrag zum KTB der Gruppe IVWi bei Korück 585, BA-MA, RH 23-319), das Pionierbtl. 99,
Verbände des XXIX. Armeekorps (vgl. XXIX A.K./Ic, Tätigkeitsbericht und Anlagen vom
20.9.-19.11.41, BA-MA, RH 24-29/77), Einheiten der 454. Sich.Div., u.a. neben der FK195
Teile der FK 198, das Landesschützenbtl. 415, die Gruppe Geheime Feldpolizei 708 (vgl.
Sich.Div. 454/Ia Reg.Nr. 14411/41, Div.-Befehl Nr. 67 vom 25.9.41, BA-MA, RH 26-454/7),
ein Vorkommando des Wehrmachtbefehlshabers Ukraine sowie möglicherweise Teile
der 113. Inf.Div. (vgl. Sich.Div. 454/VII, 2.10.41, BA-MA, RH 26-454/28, siehe aber KTB
Nr. 1 der Führungsabt. der Sich.Div. 454, 15.5.41-31.12.41, BA-MA, RH 26-454/5,88).
Dankenswerter Hinweis von J.K. Arnold, Münster.
Anlageband 3 zum KTB XVII.A.K./Qu., Verfügung des AOK 6,10.8.1941, BA-MA, RH
24-17/255. Abschrift abgedr. in: Vernichtungskrieg. Ausstellungskatalog (wie Anm. 6),
S. 75. Der Verfügung ist zu entnehmen, daß sich »dienstfreie Soldaten [...] freiwillig dem
SD zur Mithilfe bei Durchführung von Exekutionen« angeboten hatten, »als Zuschauer
derartigen Maßnahmen beiwohnten und dabei photographische Aufnahmen machten.«
Ebd. Vgl. auch das Schreiben des Rüstungsinspekteurs Ukraine, Generalleutnant Hans
Leykauf, an das Wehrwirtschafts-Rüstungsamt im OKW, General Thomas, vom 2.12.1941,
in dem beklagt wird, daß die »planmäßige Erschießung der Juden durch dazu eigens
abgestellte Formationen der Ordnungspolizei [...] leider auch unter freiwilliger BeteiiiBrought to you by | Université Paris Ouest Nanterre La Défense
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
495
gen vor sowjetischen Gerichten, die die A n n a h m e einer Beteiligung v o n Wehrmachtseinheiten a m Massaker von Babij Jar bekräftigen 41 . Im Vernehmungsprotokoll des Zugwachtmeisters einer Polizeikompanie v o m 19.9.1965 heißt es:
»Die Juden wurden bewacht von Wehrmachtseinheiten (Hervorhebimg von mir,
H.R.) und von einem Hamburger Pol.Bat., das, soweit ich mich erinnern kann,
die Nr. 303 hatte 42 .«
Alle Quellen und die Zeugenaussagen nach d e m Krieg stimmen darin überein,
daß das Vorgehen gegen die Kiever Juden einvernehmlich zwischen SS und Wehrmacht beschlossen und durchgeführt wurde. Mit der kämpfenden Truppe gelangte
a m 19. September ein 50 Mann starkes Vorkommando des SK 4a nach Kiev. Das
Gros des Sonderkommandos erreichte die ukrainische Metropole a m 25. September. Das Vorkommando des Gruppenstabes w a r schon am 21. September hier eingetroffen. Der Gruppenstab selbst folgte a m 25. September 1941 4 3 . Blobel sagte in
Nürnberg aus, daß zu dieser Zeit — a m 26. September 1941 — eine Besprechung
zwischen ihm, Dr. Rasch (»oder seinem Stabsführer Hoffmann«), HSSPF Jeckeln
und dem Stadtkommandanten Eberhard stattgefunden habe, in der »Vergeltungswund » U m s i e d l u n g s « m a ß n a h m e n beschlossen wurden 4 4 . Die E r e i g n i s m e l d u n g
41
42
43
44
gung von Wehrmachtsangehörigen« erfolgte. Nbg. Dok. 3257-PS, hier zit. nach: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4), S. 338 f. Zu einer Erschießung von Juden in Witebsk im August 1941 äußerte ein Angehöriger des Sonderkommandos 7a: »Auf
dem Weg [zur Exekutionsstätte] begleiteten uns Flaksoldaten. Bei der eigentlichen Erschießung haben sich diese geradezu darum gerissen, die Juden zu erschießen.« RappVerfahren, Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg (ZStL), Aussage
Sparwasser vom 5.12.1962, Bd 8, Bl. 3033 f. Der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Süd, von Roques, wies am 29.7.1941 darauf hin, daß Soldaten, die sich »an Judenpogromen« beteiligten, das Ansehen der Wehrmacht schädigen würden. Vgl. Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 200. Am 1. September beklagte er neuerlich, »daß Soldaten und auch Offiziere selbständig Erschießungen von Juden vorgenommen oder sich daran beteiligt« hätten. Vgl. BA-MA, RH 26-454/10. Der
Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Generalfeldmarschall von Rundstedt, befahl
am 24.9.1941, daß »eigenmächtiges Vorgehen einzelner Wehrmachtsangehöriger oder
Beteiligung an Exzessen der ukrainischen Bevölkerung gegen die Juden« verboten sei.
Vgl. BA-MA, RH 26-44/33. Ein Befehl des kommandierenden Generals des 30. Armeekorps, Hans von Salmuth, vom 2.8.1941 unterstrich zwar die Notwendigkeit des »scharfen« Durchgreifens u.a. gegen die Juden, mit dem »Sonderkommandos« betraut seien,
er fährt dann aber fort:«Bei der Durchführung einer derartigen Aktion haben sich jedoch
in einem Ort Truppenangehörige in unerfreulicher Weise beteiligt [...]. An derartigen Aktionen dürfen sich nur Soldaten beteiligen, die ausdrücklich hierzu befohlen sind.«
Nbg.Dok. NOKW-2963, zit. bei Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie — NS-Täter in der
Bundesrepublik. Erw. und überarb. Neuausg., München, Zürich 1994, S. 89.
Richard Brunkes schrieb am 5.3.1948 das Massaker von Babij Jar — fälschlich und ausschließlich — Abteilungen der 75. Inf.Div. zu. Vgl. Bogdan A. Martinenko, Die Babij JarTragödie, in: Die Schoáh von Babij Jar (wie Anm. 2), S. 369.
Vgl. Die Ermordung der europäischen Juden (wie Anm. 11), S. 123 f. Daß vielen der bewachenden, abriegelnden, Sperrketten bildenden Wehrmachtsoldaten die bevorstehende Ermordung der Juden bekannt war, dürfte kaum zweifelhaft sein.
Vgl. EM Nr.106, 7.10.1941, abgedr. in: Die Schoäh von Babij Jar (wie Anm. 2), S. 663 sowie EM Nr. 97 vom 28.9.1941, vgl. Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 164.
Nbg., Fall IX, dt. Protokoll, S. 1605, vgl. Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2),
S. 324, Anm. 161 und S. 164. Siehe auch Urteil gegen Callsen vom 29.11.1968 (wie Anm. 2),
Bl. 440. Vgl. ferner Alfred Streim, Zum Beispiel: Die Verbrechen der Einsatzgruppen in
der Sowjetunion, in: NS-Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung: Möglichkeiten —
Grenzen — Ergebnisse. Hrsg. von Adalbert Rückerl, 2. Aufl., Karlsruhe 1972, S. 87,
Anm. 18. Anwesend war auch der Abwehroffizier des 29. Armeekorps. Vgl. Friedrich, Das
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Hartmut Rüß
Nr. 106 vom 7. Oktober 1941, die auf diese entscheidende Besprechung Bezug
nimmt, enthält den Satz, daß »in Vereinbarung mit dem Stadtkommandanten sämtliche Juden Kiews aufgefordert« wurden, »sich am Montag, dem 29.9. bis 6.00 Uhr
an einem bestimmten Platz einzufinden«45. Es kam hier das im Vorfeld des Krieges
vereinbarte Zusammenspiel bei der »Gegnerbekämpfung« zwischen SS und Wehrmacht in gleichsam idealtypischer Weise zum Tragen, was den von den Initiatoren gerühmten großen »Erfolg« der Aktion von Babij Jar erklärt, die diesen in der
Rückschau nicht zuletzt auch der Tatsache zuschrieben, daß »von der Wehrmacht
[...] die durchgeführten Maßnahmen ebenfalls gutgeheißen« wurden46. In einem
am 5. März 1941 vom Generalquartiermeister Wagner seinem Chef Halder vorgelegten Entwurf des OKW für »Richtlinien auf Sondergebieten zur Weisung Nr. 21'
(Fall Barbarossa)« hieß es nämlich: »Im Operationsgebiet des Heeres erhält der
Reichsführer SS zur Vorbereitung der politischen Verwaltung Sonderaufgaben im
Auftrag des Führers, die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier
entgegengesetzter politischer Systeme ergeben47.« Die endgültige Fassung des Entwurfs wurde am 13. März von Keitel als Chef des OKW linterzeichnet und in anschließenden Verhandlungen zwischen Wagner und dem Chef der Sicherheitspolizei
und des SD, SS-Gruppenführer Heydrich, zu einer Fassung eines Befehls des Oberbefehlshabers des Heeres an das Heer ausgearbeitet, welcher dem Einsatz besonderer SS-Kommandos in dessen Operationsgebiet den Weg bereitete48, was schließlich im Befehl Generalfeldmarschalls von Brauchitsch über die Zusammenarbeit
mit der Sicherheitspolizei und dem SD für den vorgesehenen Ostkrieg am 28. April
1941 seinen endgültigen Niederschlag fand49. Das besonders in Hitlers Rede vor
hohen Offizieren am 30. März 1941 angeschlagene Motiv eines rassenideologischen
Vernichtungskampfes gegen die Sowjetunion findet bereits hier und dann noch
deutlicher in den berüchtigten Wehrmachtbefehlen vom 13. Mai (Gerichtsbarkeitserlaß), 19. Mai (Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland), 6. Juni (Kommissarbefehl) und 16. Juni (Bestimmungen über das Kriegsgefangenenwesen im
»Fall Barbarossa«) seinen Widerhall. So werden in den »Richtlinien für das Verhalten der Truppe« neben »bolschewistische[nJ Hetzer[n], Freischärlerin], Saboteurein]« auch »Juden« als Zielgruppe der Vernichtung identifiziert50.
Mit der Feindideologie des Bolschewismus sollten auch dessen »jüdische Träger« ausgerottet werden. Rassische Diskriminierung und ideologische Stigmati-
45
46
47
48
49
50
Gesetz des Krieges (wie Anm. 24), S. 808. Am 27.9.1941 fand eine Besprechung über »Abwehrangelegenheiten« unter Leitung des le des XXIX. Armeekorps statt, an der u.a. Pionieroffiziere, der Ic der Stadtkommandantur, Vertreter des SD, der Polizei, der GFP, des
Reichsministers für die besetzten Ostgebiete und ein Vertreter des Reichskommissars für
die Ukraine teilnahmen. Vgl. XXIX A.K./Ic, Tätigkeitsbericht und Anlagen vom 20.9.19.11.41, BA-MA, RH 24-29/77.
EM Nr. 106 vom 7.10.1941, zit. in: Die Schoáh von Babij Jar (wie Anm. 2), S. 458 f.
Vgl. EM Nr. 106, 7.10.1941 (wie Anm. 3).
Zit. bei Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 98.
Entwurf vom 26.3.1941 (Nbg.Dok. NOKW-256), ebd., S. 99.
Abgedr. in: Der deutsche Uberfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4), S. 249 f.
Vgl. den Text ebd., S. 258. Zu antisemitischen Traditionen in der militärischen Führungselite vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmacht als tragende Säule des NS-Staates
(1933-1939), in: Die Wehrmacht im Rassenkrieg. Der Vernichtungskrieg hinter der Front.
Hrsg. von Walter Manoschek, Wien 1996, S. 39-54. Bereits während des Balkan-Feldzuges waren die zu bekämpfenden Gegnergruppen gegenüber dem Entwurf vom 26.3.1941
von Halder und Wagner auf »Kommunisten« und »Juden« (neben »Emigranten, Saboteuren, Terroristen«) erweitert worden. BA-MA, RH 31-I/v. 23 (2.4.1941).
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
497
sierung bilden in den nun auch in offiziellen Wehrmachtverlautbarungen zur Standardformel und zum griffigen Feindbild werdenden »jüdischen Bolschewismus«
eine verhängnisvolle und den Vernichtungswillen stimulierende Dualität.
Seinen krassesten A u s d r u c k fand die A k z e p t a n z der Hitlerschen Vernichtungsvorstellungen aber in dem Armeebefehl des Oberbefehlshabers der 6. Armee, Generalfeldmarschall von Reichenau, v o m 10. Oktober 1941, in dem es u.a.
hieß:
»Das wesentliche Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis. Hierdurch entstehen auch für
die Truppe Aufgaben, die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen. Der Soldat ist im Ostraum nicht nur Kämpfer nach den Regeln der
Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der
Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden 5 1 .«
Der Armeebefehl von Reichenaus erscheint wie ein Reflex auf die Ereignisse von
Babij Jar, die nur wenige Tage zurücklagen. Kiev lag im Befehlsbereich des Oberkommandierenden der 6. Armee, eben des Generalfeldmarschalls von Reichenau,
der seit langem keinen Hehl daraus machte, daß er sich — »auch ohne Parteibuch«
— als »politischen Soldaten« des Regimes verstand 5 2 . Das Massaker von Babij Jar
51
52
Zit. in: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4), S. 285. Chef und
Führungsabteilung des Stabes Reichenaus sollen sich geweigert haben, diesen Befehl zu
entwerfen. Vgl. Herbert Seile, Blombergs und Reichenaus Einstellung zu Hitler und zum
Nationalsozialismus, o.O. o.J. (Manuskript-Studie, BA-MA, Msg 1 /2), Bl. 17.
Walther von Reichenau, 1884-1942, 1933 Chef des Reichswehr-Ministeramtes (ab 1934
Wehrmachtsamt), Hitlers »politischster« General, betrieb als solcher die Heranführung
der Armee an den Nationalsozialismus. »Niemals«, behauptete er bereits im Januar 1933,
»war die Wehrmacht identischer mit dem Staat als heute.« Vgl. Karl-Dietrich Bracher,
Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln, Opladen 1960, S. 717. In seinen »Richtlinien für die Wehrpropaganda« (Nov. 1933) forderte
er »die Durchdringung der Wehrmacht mit nationalsozialistischem Gedankengut.« Vgl.
Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime
1933-1940, Stuttgart 1969, S. 592. In seiner Schrift »Der Soldat des Dritten Reiches« konstatiert er: »Die Wehrmacht eines nationalsozialistischen Volkes kann selbst nur nationalsozialistisch sein.« Vgl. BA-MA, Msg 1/1238, Bl. 71-73. Ein Artikel im »Militär-Wochenblatt« aus dem Sommer 1933, dessen Autor in der Nähe des von Reichenau geführten Reichswehr-Ministeramtes zu vermuten ist, betonte den »unlöslichen Zusammenhang von Volk — Rasse — Staat« und die »Notwendigkeit edler Menschenzucht« und
deshalb die »Bekämpfung alles Rassefremden und -schädigenden«. Vgl. Messerschmidt,
Die Wehrmacht (wie Anm. 50), S. 46. Als Vorsitzender des Reichsverteidigungsausschusses trieb Reichenau ab Januar 1934 die Wiederaufrüstung voran. Seinen entscheidenden Beitrag leistete er auf dem Gebiet der Wehrertüchtigung und militärischen Jugenderziehung. Er leitete die Zusammenarbeit zwischen Heer und Hitlerjugend ein.
Schon vor der Machtübernahme hatte Reichenau »die innere Bereitschaft zum Kampf, das
Wesen jeden echten Sportsmanns«, gelobt. Vgl. Brendan Simms, Walther von Reichenau
— Der politische General, in: Die Militärelite des Dritten Reiches. Hrsg. von Ronald
Smelser und Enrico Syring, Berlin, Frankfurt a.M. 1995, S. 431,434. Er war die eigentlich
treibende Kraft innerhalb des Militärs beim »Röhmputsch« am 30.6.1934. Er engagierte
sich für die Teilnahme der Wehrmacht an den Nürnberger Parteitagen. Ebd. Seine Ambition auf den Oberbefehl über das Heer stieß aber sowohl bei führenden Nationalsozialisten — zunächst nicht bei Hitler — als auch in der Wehrmacht auf unüberwindbaren
Widerstand. Im Polenfeldzug stand er an der Spitze der weitaus kampffähigsten 10. Armee, weniger spektakulär war seine Rolle im Westfeldzug an der Spitze der 6. Armee.
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Hartmut Rüß
geschah ohne Zweifel mit seinem Wissen und seiner Billigung. Denn bereits am
2. September hatte das AOK 6 den Wunsch an das SK 4a gerichtet, von geplanten
»Judenaktionen« vorher in Kenntnis gesetzt zu werden53. Zwar führten laut »Regelung des Einsatzes der Sicherheitspolizei und des SD im Verbände des Heeres«
vom 28. April 1941 die Einsatzgruppen »ihre Aufgaben in eigener Verantwortlichkeit durch [...]. Sie erhalten ihre fachlichen Weisungen vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD«54, aber der Oberbefehlshaber der Armee hatte das Recht,
den Einsatz der Sonderkommandos in Teilen des Armeegebietes auszuschließen,
»in denen durch den Einsatz Störungen der Organisationen eintreten können«55. Dieser Vorbehaltsfall war in Kiev zweifellos gegeben, nicht nur angesichts der Tatsache, daß die Innenstadt der ukrainischen Metropole von fortlaufenden, vorbereiteten Explosionen und Großbränden erschüttert wurde, und somit eine äußerst
angespannte Besatzungssituation herrschte, sondern auch wegen des zu erwartenden Ausmaßes der beschlossenen »Judenaktion«, das Reichenau bekannt sein
mußte. Eine Ereignismeldung der Einsatzgruppe C vom 28. September konstatiert
nämlich: »Angeblich 150 000 Juden vorhanden. [...] Exekution von mindestens
50 000 Juden vorgesehen56.« Eine solche Aktion konnte laut Befehlslage nur mit
Wissen und Zustimmung des Armeeoberbefehlshabers erfolgen, hieß es doch im
Befehl von Brauchitschs vom 28. April 1941, daß der Beauftragte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD im Bereich jeder Armee verpflichtet sei, »die ihm vom
Chef der Sicherheitspolizei und des SD zugegangenen Weisungen dem Oberbefehlshaber der Armee rechtzeitig zur Kenntnis zu bringen.« Und: »Maßnahmen, die
sich auf die Operationen auswirken können, bedürfen der Genehmigung des Oberbefehlshabers der Armee57.« Im Einklang mit dieser Befehlslage sagte der Chef der
Einsatzgruppe D, Otto Ohlendorf, in Nürnberg aus, daß »über dem [...] sachlichen
Weisungsrechte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD [...] sozusagen die Generalformulierung« schwebte, »daß die Armee Weisungen geben konnte, wenn es
53
54
55
56
57
Danach wurde er mit 56 Jahren zum jüngsten Generalfeldmarschall in der neueren deutschen Geschichte ernannt. In der Frühphase des Rußlandfeldzuges war Reichenau entscheidend an den weiträumigen Umfassungsschlachten bei Uman und Kiev beteiligt.
Der Stoß nach Kiev wurde allerdings von Halders bissiger Kritik gegen den »Egoisten
Reichenau« begleitet (wegen angeblich zu schleppender Operationen). Im Dezember
1941 übernahm Reichenau das Oberkommando der Heeresgruppe Süd. Er starb am
17. Januar 1942 nach einem Schlaganfall. Ebd., S. 435-440.
Vgl. AOK 6, le, KTB 1.9.-30.9.41 : BA-MA, AOK 6-15623/4. Vgl. auch Krausnick, Hitlers
Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 213 f. Ohlendorf behauptete am 24.4.1947 in Nürnberg,
daß die — unter »Geheimer Reichssache« laufenden — »Ereignismeldungen UdSSR«
auch den Armeebefehlshabern übermittelt wurden und daß die Einsatzgruppen die Armeechefs laufend über Sicherheitsfragen und andere Probleme in ihrem Bereich informierten. Nbg.Dok. NO-2890. In seiner Vernehmung durch Oberst Amen antwortete Ohlendorf auf die Frage, ob die Tötungsmission der Einsatzgruppen den Armeebefehlshabern bekannt gewesen sei, unter Hinweis auf Besprechungen »bei der Armee« und »Weisungen, die von der Armee« in bezug auf Liquidationsvorgänge »gegeben worden sind«,
bejahend. Vgl. Telford Taylor, Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und
Erkenntnisse aus heutiger Sicht, München 1995, S. 294 f.
Der deutsche Uberfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4; siehe auch oben S. 7), S. 250.
Ebd., S. 249.
EM Nr. 97 (Nbg.Dok. NO-3145), zit. bei Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2),
S. 324.
BA-MA, RH 22/155, abgedr. in: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4),
S. 250. Vgl. auch: Der Reichsführer SS, Tgb.Nr.114/41 g.Kdos vom 21.5.1941, BA-MA,
RH 22/156.
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
499
die operative Lage notwendig machte«58. Alle Fakten — die erforderliche und geschehene Verständigung zwischen Einsatzgruppe und Armeeoberkommando 6
über den Stadtkommandanten von Kiev, die Verlautbarungen und sichtbar gewordenen Einstellungen von Reichenaus vor und nach dem Massaker von Babij Jar59
sowie die späteren Zeugenaussagen von Einsatzgruppenmitgliedern vor alliierten
und deutschen Gerichten hinsichtlich einer maßgeblichen Verantwortung des Kiever Stadtkommandanten Eberhard und des Armeeoberbefehlshabers von Reichenau für die Vernichtimg der Kiever Juden — sprechen für die untendenziöse und
objektive Richtigkeit eines Satzes der auf das bevorstehende Massaker von Babij Jar
Bezug nehmenden Ereignismeldung Nr. 97 vom 28. September 1941: »Wehrmacht
begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen60.« Das konnte im übrigen
nicht nur als Aufforderung und Freibrief zur extensiven Auslegung des Mordprogramms an den Juden, sondern zugleich als eine von unbedingter militärischer
Notwendigkeit diktierte Maßnahme gedeutet werden, deren Vollzug durch die
dafür zuständigen SS-Kommandos von Seiten der Wehrmacht selbstverständlich
auch erwartet wurde. In formaler Hinsicht handelte es sich zwar nicht um einen
Befehl, die deutlich offenbarte Erwartungshaltung an die mordbereiten Einsatzgruppen kam jedoch praktisch einem solchen gleich. Denn eine mit dieserart drängendem Aufforderungsgestus vorgetragene »Bitte« verlieh unter Berücksichtigung
des vom OKH mit Himmler vereinbarten einvernehmlichen Handelns zwischen
Wehrmacht und Sicherheitspolizei bzw. SD der geplanten Vernichtungsaktion eine besondere Legitimation, so daß die von Blobel in Nürnberg getroffene Aussage,
die Exekutionen seien vom Oberbefehlshaber der 6. Armee angeordnet worden,
zwar nicht präzise den Befehlsweg bis hin zum Massenmord in Babij Jar wiedergab, da er die Befehlslinie vom Chef der Sicherheitspolizei und des SD zu den für
die Erschießungen zuständigen Einsatzgruppen unerwähnt ließ, aber dennoch angesichts des deutlich bekundeten Vemichtungswillens der Armeespitze nicht so
58
59
60
Vgl. IMT (wie Anm. 2), Bd 4, Verhandlungsschriften 17. Dezember 1945-8. Januar 1946,
Nürnberg 1947, S. 348.
Voll des Lobes für die weitgehende Unterstützung seitens der Wehrmacht und die positive Einstellung Reichenaus zur Tätigkeit der Einsatzgruppen ist EM UdSSR Nr.128
vom 3.11.1941: »Der Befehlshaber des AOK 6, Generalfeldmarschall von Reichenau, hat
[...] wiederholt die Arbeit der Einsatzkommandos in anerkennender Weise gewürdigt
und die Interessen des SD seinen Stäben gegenüber in entsprechender Weise vertreten.
[...] Für die Zukunft ist, soweit es sich um den Bereich des AOK 6 handelt, eine weitere
Unterstützung und Hilfsbereitschaft der Wehrmachtsdienststellen zu erwarten. Generalfeldmarschall von Reichenau hat nämlich unter dem 10. Oktober 1941 einen Befehl
herausgegeben, der eindeutig festlegt, daß der russische Soldat grundsätzlich als ein Vertreter des Bolschewismus anzusehen und dementsprechend auch von der Wehrmacht
zu behandeln ist.« Zit. in: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4), S. 320.
Zit. bei Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 324, Anm. 161 (Nbg.Dok.
NO-3145). Radikales Vorgehen als wirksame Befriedungsmethode galt auch späterhin
im Bereich der 6. Armee als legitimes Mittel etwa bei der Partisanenbekämpfung, wie
ein Bericht des AOK 6/Abt.Ia an die Heeresgruppe Süd vom 7.12.1941 bezeugt: »Im Armeegebiet ist das Partisanenwesen so gut wie beseitigt. Die Armee schreibt dies den rigorosen Maßnahmen zu, die angewandt wurden [...]«. Zit. bei Timm C. Richter, »Herrenmensch« und »Bandit«. Deutsche Kriegsführung und Besatzungspolitik als Kontext
des sowjetischen Partisanenkrieges (1941-44), Münster 1998 (= Zeitgeschichte — Zeitverständnis, Bd 3), S. 65. Reichenau hatte in einem Armeebefehl vom 9.11.1941 das »Abbrennen der Häuser, Erschießen von Geiseln und Aufhängen der Mitschuldigen« bei der
Partisanenbekämpfung für legitim erklärt. Nbg.Dok. NOKW-1321, zit. bei Krausnick/Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges (wie Anm. 27), S. 264.
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M G M 57 (1998)
Hartmut Rüß
abwegig war, wie sie den Richtern in Nürnberg offenbar vorkam. In dieser Perspektive erscheint auch der auf Bitte von Brauchitschs im gesamten Ostheer verbreitete 61 Armeebefehl des Generalfeldmarschalls von Reichenau v o m 10. Oktober
in einem von der traditionellen Auslegung solcher »Musterbefehle« deutlich abweichenden Licht: Es ging nicht nur u m verständnisvolles Kopfnicken und innere Zustimmung der Wehrmachtangehörigen zu den Massentötungen der SS-Einsatzgruppen, sondern u m eigene Beteiligung und Mitverantwortung (»Der Soldat ist im
Ostraum [...] Träger einer unerbittlichen völkischen Idee«), wie sie im Bereich der
6. Armee auch schon vor Babij Jar praktiziert bzw. offenbart worden sind. Nicht
umsonst stellten dort die Sonderkommandos fast durchgängig die positive Zusammenarbeit mit Wehrmachteinheiten heraus 6 2 , wobei dies in dem einen oder anderen Fall freilich auch so gedeutet werden kann, daß ein friktionsfreies Einvernehmen nicht immer und überall selbstverständlich war und deshalb besonders
betont wurde. Ein solcher Fall aus dem August 1941 wirft übrigens ein bezeichnendes Licht auf die Einstellung des Generalfeldmarschalls von Reichenau zu den
Judenvernichtungen in seinem Verantwortungsbereich. In Belaja Cerkov waren ca.
90 Kleinkinder von erschossenen Juden in einem schulähnlichen Gebäude ohne
Nahrung eingesperrt und ebenfalls für die Erschießung vorgesehen. Als zufällig der
Erste Generalstabsoffizier (Ia) der 295. Infanteriedivision, Oberstleutnant Groscurth, von dem Elend der Kinder und der geplanten Mordaktion erfuhr, berichtete er darüber telefonisch dem Ic-Offizier des A O K 6 und protestierte gegen die vorgesehene Tötung. Nach Beratung mit dem Stab der 6. Armee entschied der Oberbefehlshaber von Reichenau, »daß die einmal begonnene Aktion in zweckmäßiger
Weise durchzuführen sei« 63 , was nichts anderes als den Tod der Kinder bedeutete.
Das Beispiel macht dreierlei klar: Die zuständige Armeeführung machte in diesem
Fall erst durch ihren Befehl den Weg frei für die Exekution, d.h. ihr oblag es, eine
andere Entscheidung zu treffen — sonst wäre die Beratung im Stab überflüssig gewesen — und den Mordplan zu stoppen oder zumindest aufzuschieben. Zum zweiten scheint hier tatsächlich eine — zumindest momentane — Unterstellung Blobels
unter den Armeechef, wie er sie in Nürnberg behauptete, vorgelegen zu haben,
schreibt doch am 26. August Reichenau in einer Stellungnahme: »Ich gab den Auftrag (Hervorhebung von mir, H.R.), daß am 21.8. früh Standartenführer Blobel und
der Vertreter des Armee-Oberkommandos sich nach Bialacerkiew begeben sollten,
u m die Verhältnisse zu prüfen 6 4 .« Und z u m dritten wird deutlich, daß durchaus
61
62
63
64
Vgl. Der deutsche Uberfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4), S. 286. Vgl. auch Christian Streit, Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen und völkerrechtliche Probleme des Krieges gegen die Sowjetunion, in: ebd., S. 181.
Vgl. Hans Safrian, Komplizen des Genozids — Zum Anteil der Heeresgruppe Süd an
der Verfolgung und Ermordung der Juden in der Ukraine 1941, in: Die Wehrmacht im Rassenkrieg (wie Anm. 50), S. 108.
Vgl. Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940. Mit weiteren Dokumenten zur Militäropposition gegen Hitler. Hrsg. von Helmut Krausnick, Harold C.
Deutsch und Hildegard v. Kotze, Stuttgart 1970, S. 541. Die Dokumentation der Ermordung der Kinder von Belaja Cerkov in: »Schöne Zeiten« (wie Anm. 8), S. 131-145.
Zit. in: »Schöne Zeiten« (wie Anm. 8), S. 144. Nicht auszuschließen ist allerdings, daß
sich die Anweisung im Rahmen eines auf Zusammenarbeit angewiesenen Verhältnisses
auf den Vertreter des AOK allein beziehen kann. Nach Groscurth habe Blobel in der Beratung am 21.8. erklärt, »daß der Herr Oberbefehlshaber die Notwendigkeit der Beseitigung der Kinder anerkenne und durchgeführt wissen wolle« (Hervorhebung von mir,
H.R.). Zit. ebd., S. 141.
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
501
nicht alle Wehrmachtangehörigen bereit waren, den von Hitler eingeschlagenen
rassenideologischen Vernichtungskurs widerspruchslos hinzunehmen. Dies zeigt
die Richtigkeit der inzwischen zu breiter Anerkennung gelangten These, daß das
Zusammenwirken von Wehrmacht und SS bei der Vernichtung der sowjetischen Juden in einer großen Zahl von — durch die NS-Führung sowie OKW bzw. OKH gedeckten — Einzelentscheidungen bestand, weshalb beim derzeitigen Forschungsstand auch nur Urteile von partieller Gültigkeit hinsichtlich der Rolle der Wehrmacht in Rußland beim Genozid getroffen werden können.
Bereits Anfang August hatten Angehörige des Stabes und andere Wehrmachtangehörige der 6. Armee nach einer öffentlichen Hinrichtung in Zitomir und
der anschließenden Exekution von 400 jüdischen Männern außerhalb der Stadt
beim abendlichen Kasinogespräch ihrem »Unbehagen über diese Vorgänge Ausdruck« gegeben, welches, nach Darstellung eines Oberkriegsgerichtsrates, »an den
Oberbefehlshaber der Armee, Generalfeldmarschall von Reichenau, herangetragen worden« sei65. Bekannter ist der Bericht des Majors i.G. von Gersdorff über eine Frontreise im Bereich der 4. Armee im Dezember 1941, in dem er ausführt: »Bei
allen längeren Gesprächen mit Offizieren wurde ich, ohne darauf hingedeutet zu
haben, nach den Judenerschießungen gefragt. Ich habe den Eindruck gewonnen,
daß die Erschießung der Juden [...] fast allgemein im Offizierkorps abgelehnt wird
[...]. Die Erschießungen werden als eine Verletzung der Ehre der Deutschen Armee, in Sonderheit des Deutschen Offizierkorps betrachtet. Je nach Temperament
und Veranlagung der Betreffenden wurde in mehr oder weniger starker Form die
Frage der Verantwortung hierfür (Hervorhebung von mir, H.R.) zur Sprache gebracht«66, d.h. man war sich in Offizierkreisen durchaus im klaren darüber, daß die
Judenerschießungen herkömmliche soldatische Einstellungen bzw. Verantwortungsbereiche der Wehrmacht betrafen, was angesichts der möglichen persönlichen Schuldverstrickung in Massenverbrechen entsprechende Diskussionen auslöste.
65
Aussage Dr. A.N. (ZStL), Js.4/65. Der Ic der 403. Sicherungsdivision konstatierte in einem Bericht für den Monat Juli 1941, »daß nicht alle Soldaten die richtige Einstellung
dem Judentum gegenüber haben.« Ihm würde nicht immer mit der wünschenswerten
Rücksichtslosigkeit begegnet. Zit. bei Raul Hilberg, Wehrmacht und Judenvernichtung,
in: Die Wehrmacht im Rassenkrieg (wie Artm. 50), S. 26. Als sich der Kommandant des
Gefangenenlagers Dulag 185 in Mogilev, Major Wittmer, weigerte, jüdische Gefangene
an das Einsatzkommando 8 »für eine Sonderbehandlung herauszugeben«, fertigte SSOStf Koch einen Bericht über Wittmer an, in dem er beklagte, daß dieser »die seitens der
Reichsregierung vertretene bzw. angestrebte Lösung der Judenfrage nicht [...] den Erfordernissen entsprechend unterstützt.« Zit. bei Hartmut Lenhard, »Lebensraum im
Osten«. Deutsche in Belorußland 1941-1944. Quellen- und Materialmappe für Unterricht
und Erwachsenenbildungsarbeit, Düsseldorf 1991, S. 169. Die Erschießung von Juden
durch den lettischen Selbstschutz im Kreis Rositten im August 1941 löste in der Sicherungsdivision 281 »zum Teil Unwillen« aus. Nach einer weiteren »Aktion« veranlaßte
das den Divisionskommandanten Generalleutnant Bayer, die »ernste Mahnung« zu
äußern, »daß sich jeder Soldat einer Kritik und Stellungnahme diesen Dingen gegenüber
zu enthalten habe«. Zit. bei Hilberg, Wehrmacht und Judenvernichtung, S. 26. Staufenberg sprach 1942 vom verhängnisvollen Kurs der deutschen Ostpolitik, die Haß säe, »der
sich einstmals an unsern Kindern rächen werde«. Zit. bei Gerd R. Ueberschär, Die Haltung deutscher Widerstandskreise zu Hitlers Rußlandpolitik und Ostkrieg, in: Frieden
mit der Sowjetunion — eine unerledigte Aufgabe. Ein Memorandum, hrsg. von Dietrich
Goldschmidt, Gütersloh 1989, S. 130.
66
BA-MA, RH 1911/127, abgedr. in: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4),
S. 344.
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Und damit soll ein weiterer Aspekt des Reichenauschen Armeebefehls vom
10. Oktober 1941, der oben als Reflex auf das Massaker von Babij Jar bezeichnet
wurde, angesprochen werden, nämlich der der Rechtfertigung für die eben erfolgte Großaktion gegen die Kiever Juden und der indirekten Antwort auf jene Kritiker in der Wehrmacht, die ihrer Beteiligung und Mitverantwortung im »rassenideologischen Vernichtungskampf« distanziert bzw. ablehnend gegenüberstanden.
Im Gefühl eines überwältigenden Sieges glaubte von Reichenau, seine Truppen
auf eine einheitliche rassenideologische Vernichtungslinie, die den Vorstellungen
Hitlers entsprach, dessen zeitweilig verlorene Gunst er sich möglicherweise durch
dieses ideologische Vorpreschen zurückzuerobern erhoffte67, einschwören zu können. Tatsächlich hat Hitler Reichenaus Armeebefehl, den dieser ins »Führerhauptquartier« lancieren ließ, als »ausgezeichnet« gelobt68, da er seinen eigenen, in der
oben zitierten Rede vom 30. März 1941 dargelegten Vorstellungen eines rassischen
Vernichtungskrieges einen besonders prägnanten Ausdruck verlieh. Wenn Reichenau von »vielfach noch unklarefn] Vorstellungen« »gegenüber dem bolschewistischen System« innerhalb der Truppe sprach69, so ging das deutlich in die Richtung jener Soldaten und Offiziere seines Befehlsbereiches, wie Groscurth und anderer, die sich als Wehrmachtangehörige nicht von der rassenpolitischen Vemichtungsideologie des Nationalsozialismus vereinnahmen lassen wollten. Reichenau
forderte nun von ihnen »die erbarmungslose Ausrottung artfremder Heimtücke
und Grausamkeit und damit die Sicherung des Lebens der deutschen Wehrmacht
in Rußland. Nur so werden wir unserer geschichtlichen Aufgabe gerecht, das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr ein für allemal zu befreien70.« Weit
weniger forsch und eher defensiv angesichts der eben geschehenen Ungeheuerlichkeit von Babij Jar klang dagegen der Satz: »Deshalb muß der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum
volles Verständnis haben71.« Hier wird nun über den rein rassenideologischen Aspekt
hinaus das für viele überzeugendere, weil militärisch begründete und legitimierte
Vergeltungs- und Sühnemotiv angeschlagen, welches bei Reichenau mit der in dieser Pauschalität haltlosen Behauptung verknüpft wird, daß »Erhebungen im Rücken
der Wehrmacht [...] erfahrungsgemäß stets von Juden angezettelt wurden«72.
Er griff damit ein Motiv auf, das bereits im Juli in einer Weisung des Oberbefehlshabers im rückwärtigen Heeresgebiet Süd, von Roques, und in einer Führungs-
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So Simms, Walther von Reichenau (wie Anm. 52), S. 439.
Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, von Rundstedt, gab Reichenaus Befehl
mit dem Hinweis, sich mit dessen Inhalt voll einverstanden zu erklären, an die unterstellten Armeeoberkommandos am 12.10. weiter. Die Oberbefehlshaber der 17. Armee,
Hoth, und der 11. Armee, von Manstein, übernahmen Mitte November in von ihnen
selbst formulierten Befehlen die Argumentationslinien von Reichenaus. Bei Hoth hieß
es u.a.: »Ihre [der »jüdischen Menschenklasse«] Ausrottung ist ein Gebot der Selbsterhaltung«, bei Manstein: »Für die Notwendigkeit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bolschewistischen Terrors, muß der Soldat Verständnis aufbringen.«
Beide Befehle sind abgedruckt in: Der deutsche Uberfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4),
S. 287-290.
Ebd., S. 285.
Ebd., S. 286.
Ebd., S. 285. Reitlinger sieht in diesen Worten den Versuch, die eigenen Leute mit dem
auszusöhnen, »was sie zu Gesicht bekamen«. Zit. bei Wiehn, Die Schoáh von Kiew-Babij Jar (wie Anm. 7), S. 96.
Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4), S. 285.
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
503
anordnung des AOK 6 (19. Juli) deutlich angeklungen war, nämlich daß bei Sabotageanschlägen, deren Täter nicht eruiert werden konnten, Kollektivmaßnahmen
zu vollziehen seien: »Diese können im Erschießen von ortsansässigen Juden (Her-
vorhebung von mir, H.R.) oder Russen, Abbrennen von jüdischen oder russischen
Häusern bestehen73.« Eine solche »Vergeltungsaktion« großen Ausmaßes wurde
am 2. Juli in Luck praktiziert. In den dortigen Gefängnissen waren 1000 bis 1200
Ukrainer von abziehenden Rotarmisten ermordert worden74. Reichenau äußerte
hierauf persönlich den Wunsch, daß die Untersuchung der Mordtaten durch die Geheime Feldpolizei und das Sonderkommando 4a erfolgen solle75. Es ist nicht auszuschließen, wie Ralf Ogorreck konstatiert76, daß Generalfeldmarschall Reichenau
in die Befehlsgebung zur Tötung der 1160 männlichen Juden zwischen 16 und 60
Jahren eingegriffen hat, die vom Sonderkommando 4a — offenbar unter freiwilliger Beteiligung von Wehrmachtangehörigen77 — zur Vergeltung der Ukrainermorde erschossen wurden.
Das Vergeltungs- und Sühnemotiv spielte auch in der nachträglichen »Würdigung« des Massakers von Babij Jar eine wichtige, über die übliche, oft sinnentleerte
Legitimationsformel in Einsatzgruppenvollzugsmeldungen hinausgehende Rolle,
weil es die Hauptbegründung für das Wehrmachtengagement bei der Kiever »Judenaktion« abgab. Das Massaker von Babij Jar wurde nicht als rassistische Tat, sondern als militärische Vergeltungsaktion
wegen Sabotage hingestellt. Dies tat, wie ge-
sehen, der Generalfeldmarschall von Reichenau, dies tat der Beauftragte des Ministeriums für die besetzten Ostgebiete bei der Heeresgruppe Süd, Hauptmann
Dr. Koch (»Als Sühne für die offensichtliche Sabotage [...]«)7e, dies tat, nach Aussage August Häfners, der Stadtkommandant Eberhard (»Als Vergeltungsmaßnahme befahl er [...]«)79, und diese von Wehrmachtseite präfigurierte Kategori-
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62. ID, KTB-Ic, Eintragung 21.7.1941, BA-MA, RH-26-62/40. Für drakonische Maßnahmen bei Widerstandsaktionen sprach sich auch am 16.7.1941 Keitel aus. Vgl. IMT (wie
Arm. 2), Bd 38, S. 88. In diesem Sinne war auch der Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres vom 25.7.1941 formuliert. BA-MA, RH 22/271. Zu von Roques vgl. Jörn Hasenclever, Generalleutnant von Roques, der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Süd
im Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1942, Magisterarbeit Münster
1998.
Fernschreiben des Ic-Offiziers beim III. Armeekorps an die Panzergruppe 1, BA-MA, RH
24-3/134; vgl. auch RH 20-6/513. Der Tätigkeitsbericht der Gruppe Ic/AO im AOK 6
vermerkte am 30.6.1941 sogar 2800 ermordete Ukrainer in Luck, BA-MA, RH 20-6/489,
Bl. 188.
Callsen-Verfahren, ZStL, Aussage Paltzo vom 21.11.1966, Bd 22, Bl. 101; vgl. auch BAMA, RH 24-3/134.
Vgl. Ralf Ogorreck, Die Einsatzgruppen und die »Genesis der Endlösung«, Berlin 1996,
S. 132.
Callsen-Verfahren, ZStL, Abschlußbericht 4a, S. 156.
Siehe oben S. 3.
Siehe oben S. 9. Schon kurz vor der Einnahme Charkovs Ende Oktober 1941 befahl
das AOK 6 dem als Stadtkommandantur eingesetzten Stab des LV. Armeekorps, für erforderliche »kollektive Sühne« vor allem »jüdische und bolschewistische Personen« heranzuziehen. Vgl. Vernichtungskrieg. Ausstellungskatalog (wie Anm. 6), S. 96. Daß es neben der Vergeltung ein zentrales Motiv des Massakers von Babij Jar gewesen sei, die in
Kiev durch Kriegseinwirkung entstandene Hungersnot und den Wohnungsmangel zugunsten der nichtjüdischen Einwohnerschaft abzumildern, behauptet im Zuge seiner
generellen These von der Wichtigkeit des ernährungspolitischen und wirtschaftlichen
Faktors als Movens der Judenvernichtungen — allerdings in diesem Fall nicht überzeugend — Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen
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sierung des Massakers 80 wurde v o n der Einsatzgruppe C in ihrer Ereignismeldung
v o m 3. November 1941 übernommen 8 1 .
Worauf stützte sich das Vergeltungsmotiv? Was war geschehen? Vor ihrem Abzug hatten die russischen Truppen fast sämtliche öffentlichen Gebäude u n d Plätze unterminiert u n d mit Zeitzündungen zur Sprengung vorbereitet 82 . N a c h der
Einnahme Kievs durch die Deutschen kam es dann auch wiederholt z u Sprengungen und Brandstiftungen; Sprengmaterial wurde in erheblichen M e n g e n gefunden. A m 20. September erfolgte eine große Explosion in der Zitadelle, v o n der
der Stab einer Artillerieeinheit betroffen wurde. A m 24. September 1941 erfolgte
eine Explosion in der Beutesammelstelle Kiev, wobei das Gebäude der Feldkommandantur 195 zerstört wurde. Ebenfalls flog das erste Stockwerk des Hotels »Continental«, in d e m das Etappenkommando der 6. Armee untergebracht war, in die
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Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1998, S. 71 (hier unter Berufung
auf den Tätigkeits- und Lagebericht Nr. 6 der Einsatzgruppen für 1.-31.10.1941). Siehe
dagegen Sich.Div. 454/VII, Besuch bei der FK195 am 1.10.41, vom 2.10.41, BA-MA, RH
26-454/28 (»Die Versorgungsschwierigkeiten werden sich noch vergrößern, da durch
Wiln Süd/KVA [...] am 30.9. untersagt worden ist, Lebensmittel nach Kiew hineinzuschaffen.«) u n d Fernschreiben des OKH vom 11.10.41 an Berück Siid/Qu, O K H /
GenStdH/GenQu/Abt. K. Verw. (V.), Versorgungslage Kiew vom 11.10.41, BA-MA, RH
22-188 (Kiew wird »nur noch entsprechend den einschneidenden Anweisungen des
Staatssekr. Backe an Wi-In. Süd versorgt [...] Stadtkommandantur ist angewiesen, sich
mit veränderter Ernährungslage abzufinden und in jedem Fall für Ruhe zu sorgen.«).
Abgesehen von fehlenden, völkerrechtlich bindenden, formellen Voraussetzungen — eine gewisse Proportionalität zu dem vorausgegangenen Unrecht, ein Gerichtsverfahren
bzw. eine eingehende Untersuchung und die Zugehörigkeit der Repressalienopfer zur
Gruppe der Verursacher des begangenen Unrechts, vgl. Reinhart Maurach, Rechtsgutachten, Staatsanwaltschaft München I, Aktz.22Jsl89/61, S. 9 ff. — erfolgte die Exekution in Babij Jar heimlich und hinterlistig, ein sicherer Hinweis dafür, daß der Vergeltungszweck, nämlich die Einwirkung auf den Gegner, eigene Verbrechen zu unterlassen, nicht angestrebt war. Insofern handelte es sich in Babij Jar nicht u m eine Vergeltungsmaßnahme im völkerrechtlichen Sinne. »Bei der Besprechung [27.9.41, siehe oben
Anm. 44] war [...] keine Rede davon, daß diese Juden als Repressalie dafür evakuiert
würden, daß die Zeitzündungen der Russen in der Stadt Kiev hochgingen.« Aussage
des Ic des 29. Armeekorps, G. Schirmer, am29.6.1966, ZStL, Js 4/65, zit. nach Boll/Safrian,
Auf dem Weg nach Stalingrad (wie Anm. 24), S. 278. Der Begriff »Vergeltungsmaßnahme« diente hingegen als Legitimation und Vorwand zur Tarnung von rassisch motivierten Massenerschießungen, hauptsächlich von Juden, aufgrund eines allgemeinen
Vernichtungsbefehls. Dies wird besonders deutlich in der Ereignismeldung Nr. 128 vom
3.11.1941, in der es heißt: »Was die eigentliche Exekutive anbelangt, so sind von den
Kommandos der Einsatzgruppe [Egr C] bisher etwa 80 000 Personen liquidiert worden.
Darunter befinden sich etwa 8000 Personen, denen aufgrund von Ermittlungen eine
deutschfeindliche oder bolschewistische Tätigkeit nachgewiesen werden konnte. Der
verbleibende Rest ist aufgrund von Vergeltungsmaßnahmen erledigt worden. Mehrere
Vergeltungsmaßnahmen wurden im Rahmen von Großaktionen durchgeführt. Die größte dieser Aktionen fand unmittelbar nach der Einnahme Kiews statt; es wurden hierzu
ausschließlich Juden mit ihrer gesamten Familie verwandt [...]« Zit. nach: Der deutsche
Überfall auf die Sowjetunion (wie Anm. 4), S. 319.
Siehe vorangehende Anm. sowie auch die Blobel in Nürnberg als Schutzbehauptung
dienende These vom Vergeltungscharakter des Massakers. Vgl. auch Streim, Zum Beispiel: Die Verbrechen der Einsatzgruppen in der Sowjetunion (wie Anm. 44), S. 89 f.
Es war eine exakt geplante Aktion des NKWD. In der Sowjetunion wurde die Zerstörung
Kievs den Deutschen angelastet, obwohl alle das besser wußten. Jodl erinnerte in Nürnberg daran, daß den Deutschen der Plan der sowjetischen Minen in Kiev bekannt war,
also die Schuldzuweisung an die Juden wurde damit von höchster Stelle widerlegt. Vgl.
IMT (wie Anm. 2), Bd 15, S. 263.
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
505
Luft und es entwickelte sich anschließend im zentralen Kiever Prachtviertel
Krescatik mit seinen vielen Repräsentativgebäuden, Geschäften, Hotels usw. ein
Flächenbrand, der wegen Wassermangels nur unzureichend und allein mit gezielten Sprengungen bekämpft werden konnte. Der Ic des 29. Armeekorps konstatierte in der Tagesmeldung vom 25. September an das Armeeoberkommando
6: »Sabotageakte während des Brandes sind einwandfrei festgestellt83.« Der gesamte Krescatik mit den angrenzenden Nebenstraßen wurde in Schutt und Asche
gelegt. Die Explosionen hörten am 28. September auf, der Brand dauerte weitere
zwei Wochen, Rauch stieg noch im Dezember aus den Ruinen auf. Keine Hauptstadt Europas empfing Hitlers Soldaten nach anfänglich freundlicher Haltung der
Bevölkerung so abweisend und bedrohend, wie das brennende Kiev. »Auf den Gesichtern der Deutschen verschwand das Lächeln« (Anatolij Kuznecov). Das Ziel
der Sowjets, scharfe Maßnahmen gegen die Bevölkerung zu provozieren, war erreicht. Auch der Gruppenstab und das SK 4a mußten teilweise die Unterkünfte
räumen84.
Wieviele deutsche Soldaten bei den Explosionen und Löscharbeiten umgekommen sind, wurde niemals bekanntgegeben, aber einige Hundert werden es gewesen sein85.
Wenn die Maßgabe galt, daß für einen getöteten deutschen Soldaten 100 Zivilpersonen erschossen werden konnten86, so gewinnt die unglaubliche Zahl von über
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86
Vgl. BA-MA, RH 26-454/28.
Vgl. Verfahren gegen Callsen (wie Anm. 2), Bl. 438; Tagesmeldung des Ic des 29. Armeekorps vom 25.9.1941 und Bericht des Kriegsverwaltungsrates der Abt.VII der 454. Sicherungs-Division vom 2.10.41, BA-MA, RH 26-454/28; Kuznecov, Babij Jar (wie Anm. 4),
S. 77-88.
Vgl. Reitlinger, Endlösung (wie Anm. 7), S. 136; von »mehreren hundert Soldaten und Offizieren«, u.a. einem ganzen Stab des AOK 6, die den Minenexplosionen und Bränden zum
Opferfielen,spricht ebenfalls Ehrlinger, Haftbeschwerde (wie Anm. 17), S. 22 f., und diese Aussage hat insofern Gewicht, als Ehrlinger 1942 als stellvertretender Befehlshaber
der Sicherheitspolizei und des SD in Kiev vermutlich über entsprechende interne Informationen verfügte. Vgl. auch Friedrich, Das Gesetz des Krieges (wie Anm. 24), S. 806
(»Hunderte von Verlusten«), Hitler war offensichtlich erbost über die Wehrmachtverluste durch die Explosionen in der Stadt. »Kiew ist auf ausdrücklichen Führerbefehl von
Dienststellen und Truppenteilen umgehend zu räumen.« Berück Süd/Ia 2159/41 g., Femschreiben Nr. 1500 vom 24.10.41. BA-MA, RH 22-8/231. Vgl. ferner die aufgrund der
Kiever Erfahrungen entstandenen »Führer-Anordnungen« zur »Behandlung sowjetrussischer Großstädte« vom 26.10.41 (OKW, W.F.St/Abt. L, geh., BA-MA, RH 22-168) und
7.11.41 (BfH rückw. H.Geb. Süd, Abt. Ia 2327/41, BA-MA, RH 22-168). Siehe auch: Das
Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 4, Stuttgart 1983, S. 515. Heftige Kritik am
Stadtkommandanten Eberhard übte der Wehrmachtsbefehlshaber Ukraine, General Kitzinger, der gegenüber dem Kommandeur der Sich.Div. 454, Generalleutnant Wilck, den
Verdacht äußerte, daß Eberhard in Kiev überlastet und die Arbeit nicht richtig organisiert
sei. »Wir müssen unbedingt vermeiden, daß die Wehrmacht durch Brände und Sabotage Verluste erleidet.« WBH Ukr./Ia/OQu Nr. 1242 (622)/41 geh. an Kommandeur der
Sich.Div. 454 vom 3.11.41, BA-MA, RH 26-454/7.
In den kürzlich im Staatsarchiv Riga wieder aufgetauchten »Richtlinien für die militärische Sicherung und für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Ostland« des
Wehrmachtsbefehlshabers Ostland, General Braemer, vom 25.9.1941 werden u.a. »Juden
und judenfreundliche Kreise« zu den »die Ruhe und Ordnung gefährdenden Faktoren«
gezählt, die unschädlich zu machen seien. »Rasches Handeln und rücksichtsloses, brutales Vorgehen« sei geboten. Ein deutsches Soldatenleben sei mit 50 bis 100 getöteten
Kommunisten zu sühnen. W.B. Ostland/Ia Nr. 705/41g., gez. Braemer, dat. v. 25.9.1941,
mit zwei Anlagen, darunter OKW/WFSt/Abt. L(IV/Qu), Nr. 02041/41g., gez. Keitel,
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33 000 getöteten Menschen an zwei Tagen immerhin eine wenn auch fragwürdige
»rationale« Erklärung, wobei der gesamte Ablauf des Geschehens in Babij Jar eine
sich im Rahmen der Vorschriften bewegende, fest kalkulierte Zahl von »Vergeltungs«opfern, die aber voraussehbar groß sein würde und sollte, natürlich gar nicht
zuließ. Daß zur Vergeltung ausschließlich Juden »verwandt« wurden, wie die Ereignismeldung Nr. 128 formulierte, offenbart das eigentliche rassische Motiv des
Massakers von Babij Jar. Dieses hätte ohne ausdrückliche Zustimmung und aktive Beteiligung der Wehrmacht an seiner Planung und Durchführung nicht so reibungslos ablaufen und so ungeheure Ausmaße annehmen können, wie das dann
der Fall war. In seiner Vernehmung durch Oberst Amen in Nürnberg äußerte sich
Otto Ohlendorf auf die Frage, ob die Chefs der Armeegruppen und Armeen über
den »Befehl der Liquidierung der Juden [...] unterrichtet waren«, dahingehend,
daß »den Armeen die Unterstützung befohlen« war und »daß ohne diese Anweisung an die Armee ein Tätigwerden der Einsatzgruppen in diesem Sinne nicht
möglich gewesen wäre«87. Die Ereignisse von Babij Jar bekräftigen zudem die von
der Forschung zuletzt verdeutlichte Erkenntnis, daß im Raum der 6. Armee — aber
selbstverständlich nicht nur dort — Massenmorde an jüdischen Männern, Frauen
und Kindern ab August 1941 immer stärker in Form einer arbeitsteiligen und gut
funktionierenden Kooperation zwischen SS und Wehrmacht organisiert waren88.
Der ehemalige Leiter des Einsatzkommandos 5 der Einsatzgruppe C, Obersturmbannführer Erwin Schulz, machte im Verfahren gegen Bruno Streckenbach am
1.8.1958 folgende bemerkenswerte Aussage:
»Ich glaube, daß die Dinge in Rußland niemals diese Form angenommen hätten, wenn mehrere Führer von Einsatzkommandos und der Einsatzgruppen erklärt hätten, daß sie diese Liquidierungen nicht durchführen können. Ich kann
auch hier die Befehlshaber der Wehrmacht nicht ausnehmen, in deren Bereich die Liquidationen durchgeführt wurden, und die genauestens darüber Bescheid wußten,
(Hervorhebung von mir, H.R.) soweit ich dies überblicken kann. Meiner Meinung nach wäre der Lauf der Lawine noch aufzuhalten gewesen, wenn ein Feldmarschall und Führer einer Heeresgruppe entsprechend interveniert hätte89.«
Von einer solchen »Intervention« war allerdings der Generalfeldmarschall Walther
von Reichenau aus verschiedenen Gründen, zu denen mit Sicherheit auch ein in
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89
dat. v. 12.9.1941. Zentr.Staatl.Hist. Archiv Lettlands, P-l026-1-25, Bl. 11-17. Hier zit, nach
Hans-Heinrich Wilhelm, Motivation und »Kriegsbild« deutscher Generale und Offiziere im Krieg gegen die Sowjetunion, in: Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945. Hrsg. von Peter Jahn und Reinhard Rürup, Berlin 1991, S. 172 f.
Diese Vergeltungsanordnung geht auf einen OKW-Befehl vom 16.9.1941 zurück. Vgl.
Aschenauer, Kriegsbefehle (wie Anm. 27), S. 88 ff. Da eine entsprechende Maßgabe hinsichtlich der Anzahl der zu Erschießenden im Vergeltungsfall nur für die Wehrmacht
und nicht für die SS galt, könnte die mit den einschlägigen Wehrmacht Vorschriften in
Übereinstimmung zu bringende Größenordnung der Vernichtungsaktion von Babij Jar als
zusätzlicher Hinweis auf eine diesbezügliche Absprache zwischen der SS und dem verantwortlichen Wehrmachtbefehlshaber gewertet werden.
IMT (wie Anm. 2), Bd 4, Nürnberg 1947, S. 351.
Vgl. Safrian, Komplizen des Genozids (wie Anm. 62), S. 108. Nach ähnlichem Muster
wie in Kiev erfolgten »Umsiedlung« und Vernichtung eines Teils der Charkover Juden
durch das SK 4a im Dezember 1941. Vgl. EM Nr. 164,4.2.1942 (BA, R 58/220). Beispiele
für Zustimmung und Kooperation bei der Judenvernichtung seitens der Wehrmacht bei
Jürgen Förster, Die Sicherung des »Lebensraumes«, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 85), Bd 4, S. 1044-1046.
Streckenbach-Verfahren, Staatsanwaltschaft Hamburg, Bd 5, Bl. 721 f.
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Wer war verantwortlich für das Massaker von Babij Jar
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manchen Wehrmachtkreisen inzwischen bereits erheblich geschwächtes humanitäres und völkerrechtliches Empfinden zu zählen ist, weit entfernt90. Im AOK 6
wurde stattdessen ein Verhalten an den Tag gelegt, das als erheblicher Tat- und
Verantwortungsbeitrag zum Judenmord gewertet werden kann91. Wenn dies noch
eines Beweises bedarf, so liefert ihn der Vollzugsbericht des HSSPF Süd, Jeckeln,
über die Durchführung von »Säuberungsmaßnahmen« auf Befehl des Oberbefehlshabers der 6. Armee vom 1. August 1941. Dieser hatte am 19. Juli 1941 an
Himmler den Wunsch gerichtet, der Armee zwei Regimenter Waffen-SS und ein Polizeiregiment zur Verfügung zu stellen92. Fünf Tage später überbrachte Jeckeln persönlich die Mitteilung an Reichenau, daß Himmler die Waffen-SS-Brigade »Hermann« und ein bis zwei Bataillone des Polizeiregiments Süd für Befriedungsaufgaben südlich der Straße Rowno-Zwiahel im rückwärtigen Armeegebiet bereitstellen werde93.
Der Vollzugsbericht Jeckelns an das AOK 6, der in je einer Durchschrift an
Himmler, General v. Roques (Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes), Generalleutnant v. Puttkammer (Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes) und
an den Chef der Ordnungspolizei, Dalegue, ging, fuhr nach Feststellung, daß der
Reichsführer-SS »auf Anforderung Generalfeldmarschalls v. Reichenau« die 1. SSBrigade zu einer »Säuberungsaktion« zur Verfügung gestellt habe, folgendermaßen
fort: »Die Durchführung [...] erfolgte gemäß den Weisungen des Chefs des Stabs AOK 6
(Hervorhebung von mir, H.R.) [...] erschossen: 73 russische Soldaten [...] 165 Funktionäre [...] 1658 Juden [...] gez. Jeckeln«94. Das heißt, das zitierte Dokument bestätigt zum einen die von Einsatzgruppenmitgliedern nach dem Krieg behauptete Weisungsbefugnis des Armeeoberbefehlshabers gegenüber SS- und Polizeiformationen im Bedarfsfall bei sogenannten Vergeltungs- und Säuberungsaktionen95
und macht zum anderen deutlich, daß das AOK 6 genauestens über die unter dem
Deckmantel der Sicherung des rückwärtigen Armeegebietes exzessiv betriebene
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Zu Recht betont Jürgen Förster, daß die Rigorosität kollektiver Gewaltmaßnahmen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen und Unbeteiligte sich nicht allein mit dem Sicherheitsbedürfnis der Truppe erklären lasse, sondern vielmehr ideologische Hintergründe unübersehbar seien. Vgl. Die Sicherung des »Lebensraumes« (wie Anm. 88),
S. 1040.
Vgl. auch Alfred Streim, Saubere Wehrmacht? Die Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik und der DDR, in: Vernichtungskrieg (wie Anm. 24), S. 572.
BA-MA, RH 2 0 - 6 / 4 9 0 , Bl. 280.
Ebd., Bl. 220.
Ehrlinger, Haftbeschwerde (wie Anm. 17), S. 21 f., zit. nach Aschenauer, Kriegsbefehle (wie
Anm. 27), S. 104 f.; OGruf Jeckeln an 6. Armee, 1.8.1941, Nbg.Dok. NOKW-1165.
Es fällt auf, daß etwa Helmut Krausnick und Raul Hilberg dem zitierten Dokument einen gänzlich anderen Interpretationsschwerpunkt abgewinnen, ohne allerdings den von
mir angeführten Passus zu erwähnen: So glaubt Krausnick der Quelle die von SS-Seite
ausgehende Tendenz einer Förderung der »Integration der Wehrmacht in das von Hitler mit dem Rußlandkrieg verknüpfte Vernichtungswerk« entnehmen zu können, vgl.
Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen (wie Anm. 2), S. 193 f., was eigentlich eher den passiven, nichtinitiativen Charakter des Wehrmachtengagements bei der Judenvernichtung
suggeriert, während Hilberg das Dokument in erster Linie als Beweis für den bedeutenden Beitrag der den Höheren SS- und Ordnungspolizeiführern unterstehenden SSund Ordnungspolizeikräften bei Ausrottung der jüdischen Bevölkerung sieht, vgl. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd 2 (wie Anm. 25), S. 311. Von »Weisungen, die von der Armee in Bezug auf diese Durchführung [gemeint ist die Liquidierung von Juden und Sowjet-Funktionären] gegeben worden sind«, sprach in Nürnberg
Otto Ohlendorf. Vgl. IMT (wie Anm. 2), Bd 4, S. 352.
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Vernichtung von Juden im Sinne des Reichenauschen Befehls vom 10. Oktober 1941
informiert war und sie durch eine entsprechend weitgefaßte Kampfauftragsformulierung (»Vernichtung von [...] d) Personen, die dem bolschewistischen System
Vorschub geleistet haben«) stimuliert hatte. Wir haben ferner festgestellt, daß von
der durch die allgemeine Befehlslage gegebenen Möglichkeit unter Anwendung
und extensiver Ausschöpfung des Weisungsrechts der Wehrmacht gegenüber der
SS in militärisch-operativen Fragen, Vernichtungsaktionen hinauszuzögern oder
gar zu verhindern, von Seiten Reichenaus und seines Stabes nicht Gebrauch gemacht wurde. Der Fall der ermordeten jüdischen Kinder in Belaja Cerkov hatte unmißverständlich gezeigt, daß Reichenau sehr wohl seinen Einfluß als Armeeoberbefehlshaber auf Exekutionsvorhaben der Einsatzgruppen zur Geltung bringen
konnte (»habe ich entschieden«)96. Schenkt man den Aussagen der Angeklagten in
den Prozessen gegen Angehörige des SK 4a der Einsatzgruppe C sowie den auf
das Kiever Massaker Bezug nehmenden »Ereignismeldungen UdSSR« Glauben,
so ging im Falle von Babij Jar von der Armee nicht nur schweigende Duldung und
Zustimmung, sondern sogar eine Forcierung der als Vergeltungsmaßnahme getarnten Vernichtung der Kiever Judenschaft aus. Unzweifelhaft bewiesen ist die
materielle Unterstützung und personelle Beteiligung der Wehrmacht am Massaker von Babij Jar. Eine unheilvolle Rolle für das Kiever Judentum spielte der Stadtkommandant Generalmajor Eberhard, der aber die Rückendeckung Reichenaus
haben mußte, dem er unterstand und mit dessen Vorstellungen über ein »radikales Vorgehen« er sich offenbar in vollem Einklang befand. Beide waren, legt man
die in ihrem Bereich ergangenen Befehle und getroffenen Maßnahmen und insbesondere auch Reichenaus berüchtigten Armeebefehl vom 10. Oktober 1941 zugrunde, Befürworter einer rigorosen Vergeltungs-«Strategie«, die eine unverkennbare rassistische, antijüdische Stoßrichtung im Sinne des nationalsozialistischen
Ideologems vom »jüdischen Bolschewismus« hatte, was das Schicksal der Kiever
Juden besiegelte. Insofern geht die Verantwortlichkeit für das furchtbare Geschehen in Babij Jar durchaus nicht einseitig zu Lasten der SS, was das »Ob« der Judenliquidierung anbelangt. Nur das » Wie« der Tötungen und diese selbst lagen
ausschließlich in ihrem Verantwortungsbereich und waren nach 1945 Gegenstand
prozessualer Behandlung. Es geht demnach nicht nur um Verwicklung von Teilen
der Wehrmacht in den Genozid, sondern zumindest um Mitverantwortung für ihn,
und diese tritt im Falle von Babij Jar sehr deutlich zutage. Insofern ist durchaus zu
bezweifeln, ob in bezug auf die Täterschaft das 1991 in Kiev errichtete Mahnmal
der historischen Wahrheit mehr entspricht, wenn es »deutsche Sonderkommandos«
als Urheber des September-Massakers bezeichnet, als die allerdings die jüdische
Herkunft der Opfer verschweigende und in ihrer Pauschalität problematische Monumentinschrift von 197697, welche die »deutschen faschistischen Okkupanten«
als Verursacher der Kiever Massenmorde verewigte.
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Der zeitweilige Führer des EK9 und spätere Leiter des als Verbindungsstab zwischen SS
und General Vlasov fungierenden »Sonderkommandos Ost«, Obersturmbannführer Dr.
Friedrich Buchardt, schrieb: »Soweit im Armeebereich Einheiten der SS und der Polizei
zur Wahrnehmung von polizeilichen und der nachrichtendienstlichen Aufgaben eingesetzt waren, waren sie in ihrer Tätigkeit an die Zustimmung des Armeeoberkommandos gebunden und diesem weitgehend unterstellt.« Vgl. Die Behandlung des russischen
Problems während der Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland. Unveröffentl. Ms. 1946, S. 30 [Privatarchiv des Autors],
Vgl. Naum Mejman, Das Monument in Babij Jar, in: Kontinent, 9 (1978), S. 41-46.
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