Computertechnologien und das Verhältnis von Sicherheit, Vertrauen

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Computertechnologien und das Verhältnis von
Sicherheit, Vertrauen & Wissen
ITAS (Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse)
Judith Simon
KIT – Universität des Landes Baden-Württemberg und
nationales Forschungszentrum in der Helmholtz-Gemeinschaft
www.kit.edu
Struktur
!   Vertrauen, Wissen und Sicherheit – Einleitung
!   Vertrauen in der Wissenschaft – Ein Exkurs in die Philosophie
!   Vertrauen und Computertechnologien
!   Unsicherheiten & (In-)Transparenz
!   Vertrauen und Informations- und Kommunikationstechnologien
!   Konklusionen
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ITAS
Vertrauen, Wissen und Sicherheit
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ITAS
Das Problem des Vertrauens
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ITAS
Wissen, Vertrauen & Sicherheit
!   Vertrauen ist allgegenwärtig, wir vertrauen permanent Personen,
Dingen, Technologien, Institutionen, Prozessen
!   Nicht zu vertrauen würde unsere Handlungsfähigkeit enorm
einschränken
!   Meistens ist uns gar nicht bewusst, dass wir vertrauen. Das
Bewusstwerden von Vertrauen ist oft ein Zeichen des Zweifels:
“Vertrau mir!”
!   Manchmal vertrauen wir, um etwas zu wissen: dies ist
epistemisches Vertrauen
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ITAS
Wissen, Vertrauen & Sicherheit
!   Epistemisches Vertrauen beschreibt die Tatsache, dass ein
Großteil unseres Wissens auf den Aussagen anderer Personen
basiert, auf deren Zeugenschaft.
!   Ohne anderen Personen zu vertrauen, wüßten wir weder die
grundlegensten Fakten unseres Lebens (z.B. Geburtstag & -ort),
noch würden wir über wissenschaftliches Wissen verfügen.
!   Darüber hinaus vertrauen wir nicht nur anderen Personen,
sondern auch nicht-menschlichen Entitäten wie Institutionen,
Prozessen oder Technologien, um zu wissen.
!   Wir können nicht wissen, ohne zu vertrauen!
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ITAS
Wissen, Vertrauen & Sicherheit
Wo ist das Problem?
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ITAS
Wissen, Vertrauen & Sicherheit
!   Vertrauen beinhaltet inhärent das Risiko enttäuscht zu werden,
es ist per definitionem nicht Sicherheit.
!   Und in Bezug auf epistemisches Vertrauen: sollte Wissen nicht
sicher sein? Wie kann ich wissen, wenn ich mir nicht sicher bin,
ob mich jemand angelogen hat? Wie kann ich wissen, wenn ich
nicht sicher sein kann, ob eine Berechnung korrekte Resultate
geliefert hat, wenn ich eine Berechnung nicht nachvollziehen
kann?
!   Die grundlegende philosophische Frage ist: unter welchen
Bedingungen ist (epistemisches) Vertrauen gerechtfertigt?
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ITAS
Vertrauen in der Wissenschaft
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ITAS
Vertrauen & Wissen in der Philosophie
!   In der Erkenntnistheorie ist das Thema Vertrauen im Diskurs um
Zeugenschaft verankert
!   Zeugenschaft (testimony) als vierte Wissensquelle neben
Wahrnehmung, Gedächtnis und logischem Schließen
!   Allerdings wird Zeugenschaft häufig als minderwertige
Wissensquelle angesehen, weil sie als fehlbarer gilt
!   Epistemischer Individualismus der Westlichen Philosophie:
Wissende als isolierte Denker
!   Annahme: Um zu wissen, müssen wir Beweise anführen können,
wir müssen Wissensansprüche rechtfertigen können. Wir können
nicht einfach wissen indem wir dem vertrauen, was andere uns
erzählen.
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ITAS
Vertrauen in der Wissenschaft I
Hardwig (1991): "The role of trust in knowledge"
! 
Es wird normalerweise angenommen, dass Wissenschaft auf
Beweisen (Evidence) basiert und nicht auf Vertrauen
= antithetische Konzeptualisierung von Wissen und Vertrauen
”[w]e can not know by trusting in the opinion of others; we may
have to trust those opinions when we do not know”
(Hardwig 1991: 693)
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ITAS
Vertrauen in der Wissenschaft I
Hardwig (1991): "The role of trust in knowledge"
Aber: Moderne Wissenschaft ist kollaborativ
! 
! 
! 
Fallstudien in Nuklearphysik und Mathematik
Aufgrund von Spezialisierung und Zeitdruck gilt:
“[m]odern knowers cannot be independent and self-reliant, not
even in their own fields of specialization”
Hardwig 1991, p.693
 
Wissenschaftler müssen sich gegenseitig vertrauen
hinsichtlich ihrer
a) 
b) 
c) 
 
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Kompetenz
Ehrlichkeit
Adäquater epistemischer Selbsteinschätzung
Diese Beurteilung ist epistemisch und moralisch!
ITAS
Vertrauen in der Wissenschaft II
Shapin (1994): „A social history of truth“
! 
Historische Analyse der Rolle der Zeugenschaft von
Gentlemen für die Entwicklung der Experimentalphilosophie
als Vorgänger der experimentellen Wissenschaften im England
des 17. Jahrhunderts
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http://images2.fanpop.com/image/photos/13000000/So-called-gentlemen-looking-at-the-undies-image-LOLvintage-13055407-975-1200.jpg
ITAS
Vertrauen in der Wissenschaft II
Shapin (1994): „A social history of truth“
! 
Historische Analyse der Rolle der Zeugenschaft von
Gentlemen für die Entwicklung der Experimentalphilosophie
als Vorgänger der experimentellen Wissenschaften im England
des 17. Jahrhunderts
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! 
“[k]nowledge is a collective good. In securing our knowledge
we rely upon others, and we cannot dispense with that
reliance. That means that the relations in which we have and
hold our knowledge have a moral character, and the word I
use to indicate that moral relation is trust” (Shapin: XXV)
! 
Wenn unser Wissen über die Welt vom Wissen anderer
abhängt, sollten wir diese sorgsam auswählen: Vertrau den
Vertrauenswürdigen!
 Aber wie findet man diese?
ITAS
Vertrauen in der Wissenschaft II
Shapin (1994): „A social history of truth“
! 
Vertrauenswürdig = unparteiisch & frei = Gentlemen
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! 
Gentlemen waren ökonomisch frei, sie mußten nicht arbeiten
! 
Ökonomische Freiheit als Voraussetzung für moralische Freiheit
! 
Sozialer Status  Moralischer Status  Epistemischer Status von
Aussagen
! 
Frauen waren entsprechend nicht vertrauenswürdig, weil sie
ökonimisch abhängig waren!
! 
Plus: Gentlemen vertrauten sich nicht nur aufgrund Ihrer
vorgeblichen ökonomischen Unabhängigkeit, sondern auch weil:
“they belonged to the same club” (Lipton 1998: 12).
ITAS
Vertrauen in der Wissenschaft II
Feministische Kritik an epistemischem Vertrauen
! 
Wenn soziale Kriterien verwendet werden, um epistemische
Vertrauenswürdigkeit abzuschätzen öffnet dies Tür & Tor für
Ungerechtigkeiten und Diskriminierung
Fricker (2007) „Epistemic Injustice: Power and the Ethics of
Knowing“
! 
! 
“testimonial injustice occurs when prejudice causes a hearer to
give a deflated level of credibility to a speaker’s word” (Fricker
2007: 1).”
  β-Fehler des Vertrauens: Vertrauenswürdigen misstrauen
  α-Fehler des Vertrauens: Nicht-Vertrauenswürdigen vertrauen
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ITAS
Vertrauen & Computertechnologien
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ITAS
Vertrauen & Computertechnologien
MacKenzie (2001): Mechanizing proof: computing, risk, and trust
! 
Die meisten Aspekte unseres Lebens hängen mittlerweile von
Computertechnologien ab: wie können wir sicher sein, wie
können wir wissen, dass diese Technologien vertrauenswürdig
sind?
! 
MacKenzie vergleicht menschliche mathematische
Beweisführung mit formaler automatisierter Beweisführung
(Vier-Farben-Satz) in den Anfängen der KI und schließt :
„Yet the human community is now not the only ‚trustworthy agent‘ to
which to turn: it has been joined by the machine. […] Modernity‘s‚ trust
in numbers can, it appears, lead back to a grounding not in trust in
people, but trust in machines.“ (Mackenzie 2001:12)
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ITAS
Vertrauen & Computertechnologien
Humphreys (2004): Extending Ourselves: Computational Science,
Empiricism, and Scientific Method
! 
! 
! 
Wissenschaft nicht limitiert durch menschliche Sinneswahrnehmung: Ergänzung durch Instrumente & neue
mathematische Verfahren wie Simulationen
Komplexe Berechnung (z.B. in Physik) bedürfen Computer.
Das Problem "epistemischer Opazität“:
! 

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ein Rechenprozess ist zu schnell/komplex um von Menschen
nachvollzogen zu werden, es gibt keinen expliziten Algorithmus
der Input und Output verknüpft, etc.
Wo beginnen wir zu vertrauen in der Nutzung von
Simulationen und komplexer mathematischer Verfahren?
Welche Auswirkungen hat diese Unsicherheit, dieses
Vertrauen auf das so generierte Wissen?
ITAS
Vertrauen & Sicherheit in der Wissenschaft
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ITAS
Vertrauen, Wissen & Sicherheit
In der Wissenschaft ist Vertrauen in andere Personen ebenso
unumgänglich wie das Vertrauen in andere Entitäten:
! 
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Das Vertrauen zwischen diesen Entitäten ist verbunden
! 
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! 
! 
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Trust Propagation: Ich vertraue den Daten von Forscherin X, weil
sie an einer anerkannten Institution arbeitet, bzw. die Ergebnisse
in einem renommierten Journal publiziert wurden...
Heuristiken spielen große Rolle in der Abschätzung von
Vertrauenswürdigkeit
! 
! 
Prozesse und Methoden
Institutionen und Organisationen
Bestehendes Wissen
Instrumente und Technologien, besonders Computertechnologien
Heuristiken sind häufig epistemisch vorteilhaft, bergen jedoch
epistemische und ethische Risiken (α & β-Fehler des Vertrauens)
Prinzipiell nicht zu vertrauen ist unmöglich: endloser Regress
& inhärente Unsicherheit an den Grenzen des Wissens
Daher sind Wissensprozesse fundamental unsicher & riskant
ITAS
Beispiel: Energieszenarien
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ITAS
Vertrauen, Wissen und Vertrauenswürdigkeit
Bsp: Energieszenarien
Quelle: Keles et al. , 2009
Percentage of the German Primary Energy Demand (PED) for 2050 in Different Scenarios
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ITAS
Vertrauen, Wissen und Vertrauenswürdigkeit
Bsp: Energieszenarien
!   Wem vertrauen?
Vertrauen den Gentlemen &
mistraue allen mit persönlichem
Interesse!
Steven Shapin (1994)
„A social history of truth“
Überprüfe aber nicht nur, wer ehrlich
ist (bzw. zumindest keinen Grund hat
zu lügen), sondern auch wer
kompetent ist und die Grenzen der
eigenen Kompetenz kennt!
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ITAS
Vertrauen, Wissen und Vertrauenswürdigkeit
Bsp: Energieszenarien
!   Wem vertrauen? Den Vertrauenswürdigen! Und denen, die Ihre
Methoden, Prozesse, Daten und Interessen transparent machen.
!   Vertrauenswürdigkeit als epistemische und moralische Leistung
!   Transparenz ermöglicht prinzipielle Überprüfung von
Vertrauenswürdigkeit auch wenn tatsächliche Überprüfung ausbleibt
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ITAS
Unsicherheiten und (In)Tranparenz
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ITAS
Unsicherheiten & Strategien der Transparenz
!   Unsicherheit von Wissen I: Vertrauen in Ehrlichkeit & Kompetenz anderer
!   Verwendung (fehlbarer) Heuristiken & Track Records
!   Transparenz von Forschungsprozessen um checks & balances zu
ermöglichen (Stichwort: open data, Zugang zu Forschungsdaten)
!   Offenlegungen von Interessen, Affiliationen, Finanzierungen, ...
!   Unsicherheit von Wissen II: Vertrauen in Prozesse & Methoden
(Messunsicherheit, Biases, statistische Artefakte, ...)
!   Angaben von Konfidenzintervallen, Replizierbarkeit, Transparenz über
Methoden, ...
!   Unsicherheit von Wissen II: Vertrauen in Computertechnologien –
Epistemische Opazität komplexer Berechnungen
!   Transparenz als epistemisches Ziel, Erkundung der Grenzen des Wissens
(Noch-Nichtwissen – Nicht-wissen-können)
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ITAS
Vertrauen, Wissen & IKT im Alltag
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ITAS
Vertrauen, Wissen & IKT
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ITAS
Vertrauen, Wissen & IKT
!   Auch hier ist Vertrauen in andere Agenten (menschliche wie nichtmenschliche) zentral für Wissensakquise
!   Auch hier ist Transparenz zentral um epistemisch verantwortlich zu
handeln, um zu wissen wann man wem in welchem Ausmaß vertrauen
kann
!   Diese Transparenz ist aber meist nicht gegeben
!   a) willentliche und schwer umgehbare Intransparenz (z.B.
Geschäftsgeheimnisse bei Suchalgorithmen)
!   b) unwillentlichen und auflösbare Intransparenz : wie genau kann/soll man
Prozesse transparent machen (intelligente Visualisierungen, etc)?
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ITAS
Vertrauen, Wissen & IKT
!   Smart Environments
„What is new here is that the computational layer that mediates our access to
knowledge and information is anticipating us, creating a single contingency:
whereas it has access to the data to make its inferences, we have no such
access and no way of guessing how we are being ‘read’ by our novel smart
environments.“
(...) first, to develop human machine interfaces that give us unobtrusive intuitive
access to how we are being profiled, and, second, a new hermeneutics that
allows us to trace at the technical level how the algorithms can be ‘read’ and
contested.
Mireille Hildebrandt (2013:4)
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ITAS
Konklusionen
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ITAS
Offene Fragen - anstelle von Konklusionen
!   Wie/Wem vertrauen wir in Wissensprozessen – und wie/wem sollten
wir vertrauen in sozio-technischen epistemischen Systemen?
!   Was sind die (epistemischen) Verantwortlichkeiten von verschiedenen
Akteuren
!   Wissenschaft: Forschung, Lehre, Politik, Wirtschaft, …
!   Alltag: Nutzer oder Designer von Suchmaschinen, RS, etc.
!   Wie kann man Konzepte wie, Vertrauen, Wissen, Sicherheit,
Verantwortung und Verantwortlichkeit in sozio-technischen Systemen
überhaupt verstehen?
!   TA
!   Wie kann & soll verantwortlich mit politisch nachgefragtem Wissen
(Stichwort: Energiewende & Rohstoffprognosen; Klimaszenarien;
Machbarkeitsstudien; Simulationen, etc.) unter der Bedingung von
Vertrauen und Unsicherheit umgegangen werden?
!   Welche neuen (Design)aufgaben ergeben sich ggf. für TA (Stichwort
privacy-by-design  transparency-by-design)?
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ITAS
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!
[email protected]
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07.06.2013
ITAS
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