Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes

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MEDIZIN
ÜBERSICHTSARBEIT
Geschlechtsidentitätsstörungen im
Kindes- und Jugendalter
Zur aktuellen Kontroverse um unterschiedliche Konzepte und Behandlungsstrategien
Alexander Korte, David Goecker, Heiko Krude, Ulrike Lehmkuhl,
Annette Grüters-Kieslich, Klaus Michael Beier
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund: Geschlechtsidentitätsstörungen (GIS) können
sich mit unterschiedlicher Ausprägung bereits ab dem
frühen Kleinkindalter manifestieren; die Prävalenzrate bei
Kindern und Jugendlichen liegt unter einem Prozent. GIS
gehen häufig mit emotionalen und Verhaltensproblemen
sowie einer hohen psychiatrischen Komorbidität einher
und zeigen eine große Variabilität im Verlauf. Unterschiedliche theoriegeleitete Erklärungs- und Therapieansätze, insbesondere frühzeitige hormonelle Interventionsstrategien,
werden derzeit kontrovers diskutiert.
Methodik: Selektive Medline-Literaturrecherche, Analyse
der (inter-)nationalen Leitlinien und Ergebnisse einer interdisziplinär geführten Expertendiskussion.
Ergebnisse: Weil größere Verlaufsstudien, insbesondere zu
den Entstehungsbedingungen, fehlen, erscheint es unumgänglich, die Ansprüche an die Evidenz unterschiedlicher
ätiologischer Konzepte etwas zu reduzieren. Es ist jedoch
von einem komplexen biopsychosozialen Krankheitsmodell
auszugehen. GIS sind nur in 2,5 bis 20 % Erstmanifestationen einer irreversiblen transsexuellen Entwicklung. Es gibt
nach derzeitigem Forschungsstand keine validen diagnostischen Parameter, die eine Persistenz der Symptomatik im
Sinne einer „Transsexualität“ sicher vorhersagen können
oder diese zumindest als wahrscheinlich gelten lassen.
Schlussfolgerung: Therapeutische Implikationen ergeben
sich insbesondere aus den entwicklungspsychologischen
und familiendynamischen Einflussfaktoren. Angesichts der
geringen Rate dauerhaft transsexueller Entwicklungen geschlechtsidentitätsgestörter Kinder sind irreversible körperverändernde Maßnahmen frühestens nach Abschluss
der psychosexuellen Entwicklung indiziert, deren identitätsstiftende Erfahrungen nicht durch pubertätsblockierende LHRH-Analoga eingeschränkt werden sollten.
Dtsch Arztebl 2008; 105(48): 834–41
DOI: 10.3238/arztebl.2008.0834
Schlüsselwörter: Geschlechtsidentitätsstörung, Transsexualität, Geschlechtsumwandlung, Hormonbehandlung, Kindergesundheit
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters: Dr. med. Korte, Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Lehmkuhl
Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin: Dr. med. Goecker, Prof. Dr.
Dr. med. Dr. phil. Beier
Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie: Prof. Dr. med. Krude,
Prof. Dr. med. Grüters-Kieslich
Charité – Universitätsmedizin Berlin
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S
törungen der Geschlechtsidentität können sich
mit unterschiedlicher Ausprägung bereits ab
dem frühen Kleinkindalter manifestieren (1, e1). Die
Betroffenen wünschen oder bestehen darauf, dem anderen Geschlecht anzugehören, zeigen geschlechtsatypische Verhaltensweisen, das heißt sie präferieren
(Rollen-)Spiele, Kleidung und Spielkameraden des
Gegengeschlechts und lehnen alles ab, was als zu
ihrem biologischen Geschlecht gehörig angesehen
wird (2, e2), sodass auch ihre Außenwelt sie – vor
dem Hintergrund soziokultureller Geschlechtsstereotypien – als diskordant zu ihrem Geburtsgeschlecht
wahrnimmt. Mitunter kommt es bereits bei jungen
Kindern zur radikalen Ablehnung oder Verleugnung
des eigenen Geschlechts oder zu der Überzeugung beziehungsweise dem Wunsch, konträrgeschlechtliche
Genitalien zu erlangen. Zur Kennzeichnung der
schwerer betroffenen Kinder wird die Bezeichnung
„GIS im engeren Sinne“ empfohlen.
Kasten 1 gibt die – bezüglich der Problematik zu
präziserenden – DSM-IV-TR-Kriterien für Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindes- und Jugendalter (GIS)
wieder (e3). Das Klassifikationssystem der WHO
(ICD-10) führt die „Störungen der Geschlechtsidentität im Kindesalter“ (F64.2) gesondert neben den
Entitäten „Transsexualismus“ (F64.0) und „Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen“ (F64.1) sowie den „sonstigen“ (F64.8) und „nicht
näher bezeichneten GIS“ (F64.9) im gemeinsamen
Kapitel F64, „Störungen der Geschlechtsidentität“,
auf (Kasten 2 und 3). Für die GIS im Kindesalter wird
ein Beginn der Symptomatik deutlich vor der Pubertät
gefordert; nachdrücklich weist die ICD-10 darauf hin,
dass ein bloßes Abweichen von den kulturellen Geschlechterstereotypien (also bloße Knabenhaftigkeit
bei Mädchen oder mädchenhaftes Verhalten bei Jungen) für diese Diagnose nicht ausreicht. „Transsexualismus“ (F64.0) darf nur im Erwachsenenalter diagnostiziert werden (e4).
GIS gelten als eine Erkrankung, die komplexen biopsychosozialen Bedingungen unterworfen ist (e5). Eine nennenswerte Anzahl von Patienten wird nur von
wenigen Kliniken mit entsprechendem Forschungsinteresse rekrutiert (Toronto, New York, London, Amsterdam – in Deutschland: Frankfurt, Hamburg und
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KASTEN 1
DSM-IV-TR: Geschlechtsidentitätsstörung im Kindesalter (302.6)
bzw. bei Jugendlichen und Erwachsenen (302.85)
A. Ein starkes und andauerndes Zugehörigkeitsgefühl zum anderen Geschlecht (das heißt nicht lediglich das Verlangen nach irgendwelchen kulturellen Vorteilen, die als mit der Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht verbunden empfunden werden).
Bei Kindern müssen mindestens vier der folgenden fünf Merkmale gegeben sein:
– wiederholt geäußertes Verlangen oder Bestehen darauf, dem anderen Geschlecht anzugehören
– bei Jungen Neigung zum Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts oder Imitation weiblicher Aufmachung; bei Mädchen das Bestehen
darauf, nur eine dem männlichen Stereotyp entsprechende Kleidung zu tragen
– starke und andauernde Neigung zum Auftreten als Angehöriger des anderen Geschlechts in Fantasie- und Rollenspielen oder anhaltende Fantasien über die eigene Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht
– intensiver Wunsch nach Teilnahme an Spielen oder Freizeitaktivitäten, die für das andere Geschlecht typisch sind
– ausgeprägte Präferenz von Spielgefährten des anderen Geschlechts.
Bei Jugendlichen und Erwachsenen manifestiert sich das Störungsbild durch Symptome wie geäußertes Verlangen nach Zugehörigkeit zum
anderen Geschlecht, häufiges Auftreten als Angehöriger des anderen Geschlechts, das Verlangen, wie ein Angehöriger des anderen Geschlechts
zu leben oder behandelt zu werden oder die Überzeugung, die typischen Gefühle und Reaktionsweisen des anderen Geschlechts aufzuweisen.
B. Anhaltendes Unbehagen im Geburtsgeschlecht oder Gefühl der Person, dass die Geschlechtsrolle dieses Geschlechts für sie
nicht die richtige ist.
Bei Kindern äußert sich dieses durch eines der folgenden Merkmale:
– bei Jungen die Behauptung, dass der Penis oder die Hoden abstoßend seien oder verschwinden werden oder die Behauptung, dass es besser
wäre, keinen Penis zu haben, oder eine Aversion gegen Rauf- und Tobespiele und eine Ablehnung von typischem Jungenspielzeug, Jungenspielen und Jungenbeschäftigungen
– bei Mädchen Ablehnung des Urinierens im Sitzen, die Behauptung, dass sie einen Penis haben oder ihnen ein solcher wachsen wird, oder die
Behauptung, dass sie keine Brust bekommen möchten oder nicht menstruieren möchten, oder eine ausgeprägte Aversion gegen normative
weibliche Bekleidung.
Bei Jugendlichen und Erwachsenen manifestiert sich das Störungsbild durch Symptome wie das Eingenommensein von dem Gedanken, die
primären und sekundären Geschlechtsmerkmale loszuwerden, zum Beispiel Nachsuchen um Hormone, Operation oder andere Maßnahmen,
welche körperlich die Geschlechtsmerkmale so verändern, dass das Aussehen des anderen Geschlechts simuliert wird, oder den Glauben, im
falschen Geschlecht geboren zu sein.
C. Das Störungsbild ist nicht von einem somatischen Intersex-Syndrom begleitet.
D. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
Berlin) (1, 3–5). Die Prävalenz von GIS im engeren
Sinne wird in einer Größenordnung unter 1 % angegeben (5, 6). Repräsentative Daten zur Häufigkeit von
GIS im Kindes- und Jugendalter im deutschsprachigen
Raum lieferten Bosinski et al., die für Schleswig-Holstein eine vergleichbare Prävalenzrate fanden (7);
neuere Daten liegen nicht vor. Im Kindesalter gelten
Jungen im Vergleich zu Mädchen als häufiger betroffen, wobei die Ursache dafür teilweise in der größeren
Akzeptanz seitens des sozialen Umfelds gegenüber
geschlechtsrollen-atypischem Verhalten bei Mädchen
liegen dürfte (e6). Trotz fehlender prospektiver Studien besteht Konsens darüber, dass GIS bei Kindern und
Jugendlichen einerseits häufig mit erheblichen emotionalen und Verhaltensproblemen und einer hohen
psychiatrischen Komorbidität einhergehen (1, 8), andererseits – infolge der noch nicht abgeschlossenen
psychosexuellen Entwicklung – eine große Variabilität
und Plastizität im Verlauf aufweisen (e2). Mögliche
Verläufe von GIS, zugleich wichtige Differenzialdiagnosen, zeigt die Grafik.
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Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte zwischen unterschiedlichen, mithin konträren wissenschaftlichen Positionen ist das Ziel dieses Beitrags,
nach der vorangegangenen Darstellung der Leitsymptome und Diagnosekriterien im Folgenden einen
Überblick über die Hypothesen zur bislang weitgehend
ungeklärten Ätiologie von GIS zu geben. Im Anschluss
wird die bisweilen sehr kontrovers geführte Diskussion
zur Frage des vermeintlich „richtigen“ Therapieansatzes und einer frühzeitigen Hormonbehandlung erörtert.
Dies schließt auch grundsätzliche Überlegungen zu
ethisch-moralischen Prinzipien ärztlich-therapeutischen Handelns unter besonderer Berücksichtigung
entwicklungspsychologischer Aspekte mit ein. Das methodische Vorgehen beruht auf einer selektiven Literaturrecherche inklusive einer Analyse der existierenden
internationalen Leitlinien unter Einbeziehung eigener
klinischer Erfahrungen und der Ergebnisse einer kritisch-konstruktiven Debatte innerhalb eines interdisziplinär-überregionalen Forschungsverbundes im Austausch mit internationalen Expertenteams.
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KASTEN 2
ICD-10 F64.2: Störung der Geschlechtsidentität im Kindesalter
Bei Mädchen
A. Andauerndes intensives Leiden daran, ein Mädchen zu sein, und erklärter Wunsch, ein Junge zu sein (nicht begründet mit kulturellen Vorteilen
für Jungen). Oder das Mädchen besteht darauf, bereits ein Junge zu sein.
B. Entweder 1. oder 2.:
1. anhaltende deutliche Aversion gegen üblicherweise weibliche Kleidung und Bestehen auf typisch männlicher Kleidung, zum Beispiel männlicher Unterwäsche und anderer Accessoires;
2. anhaltende Ablehnung weiblicher anatomischer Gegebenheiten, die sich in mindestens einem der folgenden Merkmale äußert:
– Behauptung, einen Penis zu besitzen oder dass ein Penis wachsen wird
– Ablehnung, im Sitzen zu urinieren
– Versicherung, keine Brüste zu bekommen oder nicht menstruieren zu wollen.
C. Das Mädchen hat bis jetzt nicht die Pubertät erreicht.
D. Die Störung muss mindestens sechs Monate vorliegen.
Bei Jungen
A. Andauerndes intensives Leiden daran, ein Junge zu sein, sowie intensiver Wunsch oder seltener, Behauptung, bereits ein Mädchen zu sein.
B. Entweder 1. oder 2.:
1. Beschäftigung mit typisch weiblichen Aktivitäten, zum Beispiel Tragen weiblicher Kleidungsstücke oder Nachahmung der weiblichen Erscheinung, intensiver Wunsch, an Spielen und Zeitvertreib von Mädchen teilzunehmen, und Ablehnung von typisch männlichem Spielzeug, Spielen
und Aktivitäten;
2. anhaltende Ablehnung männlicher anatomischer Gegebenheiten, die sich durch mindestens eine der folgenden wiederholten Behauptungen
äußert:
– dass er zu einer Frau heranwachsen wird (nicht nur in eine weibliche Rolle)
– dass sein Penis und seine Hoden ekelhaft sind oder verschwinden werden
– dass es besser wäre, keinen Penis oder Hoden zu haben.
C. Der Junge hat bis jetzt nicht die Pubertät erreicht.
D. Die Störung muss mindestens sechs Monate vorliegen.
Ätiopathogenese – Neurobiologische und
(entwicklungs-)psychologische Aspekte
Entwicklung und Aufrechterhaltung von GIS werden
als ein multifaktorielles Krankheitsgeschehen gesehen, bei dem individuell-psychische mit biologischen,
familiären und soziokulturellen Faktoren zusammenwirken (e2). Dabei ist unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten keineswegs von einem homogenen Patientenkollektiv mit einheitlicher Pathogenese auszugehen. Auf der Grundlage unterschiedlicher
theoriegeleiteter Konzepte gelangt man zu differenten,
nicht notwendigerweise widersprüchlichen, sondern
sich ergänzenden Aussagen bezüglich möglicher kausaler Bedingungen (e7). Angesichts der noch unbefriedigenden Datenlage sind verallgemeinernde Aussagen
nur mit Vorsicht zu treffen.
Die neurobiologisch-genetische Forschung hat bislang keine überzeugenden Nachweise einer vorrangig
genetisch beziehungsweise hormonell determinierten
Ätiologie der GIS erbringen können (1). Untersuchungsergebnisse, die einen möglichen pränatalen Sexualsteroid-Einfluss und eine unzureichende Maskulinisierung/
Defeminisierung hypothalamischer Kernregionen
(„gender-role-centers“) durch pathologisch veränderte
maternale Hormonspiegel nahelegen (e8, e9), wurden
zuletzt relativiert (9). Andererseits lassen die Erfahrungen mit der Geschlechtsidentität bei Patienten mit ver-
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schiedenen Intersex-Formen (zum Beispiel bei kompletten versus partiellen Androgenrezeptordefekten) eine
biologische Hypothese zur Ausbildung der Geschlechtsidentitätsstörung im Sinne einer auf das Gehirn begrenzten Hormonresistenz zu (10, 11). Auch hirnanatomische Befunde an den dichotomen Kernregionen
bei transsexuellen Patienten sprechen für eine biologische Teilkomponente in der komplexen Ätiologie der
GIS (12). Weiterhin ist die Geschlechtsidentität allein
durch Einflussnahme von außen, durch „Umerziehungsversuche“, bereits im Laufe des ersten Lebensjahres entgegen ursprünglicher Annahmen nicht mehr ohne Weiteres veränderbar (13), was ebenfalls auf eine frühe somatische Determinierung der Geschlechtsidentität hindeutet. Da außerdem körperlich-genitale Empfindungen die
psychosexuelle und Geschlechtsidentitätsentwicklung
erheblich beeinflussen können, ist insgesamt von einem
Wechselspiel biologischer und psychosozialer Faktoren
auszugehen; folglich sind ätiopathogenetische Einflüsse
in beiden Bereichen zu vermuten (e10).
Auf eine mögliche Traumaätiologie von GIS (14)
und die Schnittmenge der psychopathologischen Befunde mit denen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wurde mehrfach hingewiesen (15, e11, e12,
e13), wobei Letzteres nicht unumstritten ist (16). Ursächlich postuliert man eine empirisch häufig nachweisbare tiefgreifende Störung der Mutter-Kind-Be⏐ Jg. 105⏐
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ziehung (e14). Der Wunsch nach Zugehörigkeit zum
anderen Geschlecht stelle ein traumakompensatorisches Reaktionsmuster dar und entspreche bei Jungen
dem Versuch, die durch physische oder emotionale
Abwesenheit der primären Bezugsperson gestörte Beziehung zur selben in der Fantasie wiederherzustellen,
wobei er bei seinen Imitationsversuchen „Mutter sein“
mit „Mutter haben“ verwechsele (e15). Bei Mädchen
indes wurde als Motiv für den Geschlechts(rollen-)
wechsel ein Bedürfnis seitens des Kindes angenommen, sich selbst und die Mutter mittels des Erwerbs
männlicher Stärke vor einem gewalttätigen Vater zu
schützen (e16).
Andere Autoren führen, entsprechend der psychoanalytischen Theorie, den Wunsch, dem anderen Geschlecht anzugehören, nicht auf eine Traumatisierung
zurück, sondern betonen die klassisch-neurotische
Kompromissbildung, durch Geschlechtsumwandlung
auf symbolhafte Weise mit dem geliebten Elternteil
symbiotisch zu verschmelzen (15, e17, e18). Die übermäßige Identifizierung mit dem Wunschgeschlecht
diene der Bewältigung von Verlustängsten, die sich bei
Jungen auf die verloren geglaubte Zuwendung der
Mutter bezögen (17, e19, e20), während bei Mädchen
durch Identifizierung mit dem Vater eine defizitär erlebte Mutterbeziehung ausgeglichen werden soll (18).
Aus entwicklungspsycho(patho)logisch-psychiatrischer Perspektive sind derartige maladaptive Reaktionsweisen als Scheitern an einer Entwicklungsaufgabe, nämlich der Ablösung und Selbstbehauptung
sowie der sexuellen Reifung anzusehen. Die Geschlechtsumwandlung wird von einigen Heranwachsenden mitunter als Lösungsstrategie für sämtliche
Probleme betrachtet, wenn ihnen gänzlich andere Entwicklungsaufgaben jenseits der Geschlechtsidentitätsfindung subjektiv als nicht bewältigbar erscheinen. Gerade bei Kindern und Jugendlichen muss von
einer starken Intersubjektvariabilität bei der Verarbeitung von Konflikten beziehungsweise traumatischen
Erfahrungen ausgegangen werden, die maßgeblich
von individuellen Temperamentsfaktoren und vom jeweiligen Entwicklungsstand der kognitiven, emotionalen und sozialen Fertigkeiten abhängt (19).
Die Lerntheorie und abgeleitete Positionen favorisieren ein Kausalitätsmodell, in dem ein exogen-verstärkender, aktiv-manipulativer Einfluss seitens der
primären Bezugsperson(en) auf die Entwicklung konträrgeschlechtlicher Wesensmerkmale postuliert wird –
ein Erklärungsansatz, der vorrangig dem elterlichen
Wunsch, das Kind möge vom anderen Geschlecht sein,
eine wesentliche Bedeutung zuschreibt (3). Eine erhöhte Rate psychischer Auffälligkeiten der Eltern wurde
mehrfach hervorgehoben (20, 21). Es ist daher unabdingbar, die Psychopathologie der Bezugspersonen, deren „sexuelles Weltbild“, einschließlich eventuell erlittener sexueller Traumatisierungen, sorgfältig zu explorieren, um mögliche „transsexuellogene Einflüsse“
aufzudecken. Selbiges gilt für übergeordnete soziokulturelle Einflussvariablen. Besorgniserregend erscheint
die Präsenz zunehmend jüngerer Vorbilder in den Me⏐ Jg. 105⏐
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KASTEN 3
ICD-10 F64: Störungen der Geschlechtsidentität
(außer F64.2 ➔ Kasten 2)
F64.0 Transsexualismus
A. Die Betroffenen haben den Wunsch, als Angehörige des anderen Geschlechts zu leben und als solche akzeptiert zu werden, in der Regel
verbunden mit dem Wunsch, den eigenen Körper durch chirurgische
und hormonelle Behandlungen dem bevorzugten Geschlecht anzugleichen.
B. Die transsexuelle Identität besteht andauernd seit mindestens zwei
Jahren.
C. Der Transsexualismus ist nicht Symptom einer anderen Erkrankung,
wie zum Beispiel einer Schizophrenie und geht nicht mit einer Chromosomenaberration einher.
F64.1 Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen
A. Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts („cross-dressing“), um
sich vorübergehend dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen.
B. Fehlen jeder sexuellen Motivation für das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts.
C. Kein Wunsch nach endgültiger Geschlechtsumwandlung.
F64.8 Sonstige und F64.9 nicht näher bezeichnete Störung der
Geschlechtsidentität
Für diese Diagnosen ist kein spezielles Kriterium definiert.
dien, die euphorisiert über ihre Behandlung berichten.
Ferner scheinen der Machbarkeitsgedanke, die Vorstellung, dass im Rahmen heutiger medizinischer Möglichkeiten eine Geschlechtsumwandlung problemlos
durchgeführt werden kann, sowie die Tendenz, die
Wahl des Geschlechts als eine Art „Grundrecht“ anzusehen, für die Zunahme von Umwandlungsbegehren
bei Minderjährigen von Bedeutung zu sein (e10).
Aktuelle wissenschaftliche Kontroverse –
unterschiedliche Behandlungsstrategien
Bei der Recherche der wissenschaftlichen Literatur
findet man zwei verschiedene Positionen, welche zu
unterschiedlichen Behandlungsansätzen führen:
> Eine Reihe katamnestischer Untersuchungen liefern Hinweise, wonach geschlechtsatypische Verhaltensweisen im Kindesalter häufig zu einer
gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung im
Erwachsenenalter führen, jedoch nur in 2,5 bis
20 % der Fälle zu einer überdauernden Geschlechtsidentitätsstörung (3, 6, 22). Auch bei
Vorliegen eines deutlichen Unbehagens im eigenen Geschlecht mit Aversion gegenüber den Genitalien (GIS im engeren Sinne) ist dies nur bei einer
Minderheit der betroffenen Kinder Erstmanifestation einer irreversiblen transsexuellen Entwicklung (6). Die Irreversibilität der Symptomatik
wird aber als unabdingbare Voraussetzung für die
Diagnose „Transsexualismus“ und die Einleitung
körperverändernder Maßnahmen angesehen. Die-
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MEDIZIN
GRAFIK
Möglicher Verlauf von GIS im Kindesalter (F64.2) und Differenzialdiagnosen in der Adoleszenz.
Mit Ausnahme der Intersex-Syndrome und der psychotischen Verkennung der Geschlechtsidentität (im Rahmen einer schizophrenen, schizotypen oder wahnhaften Störung) lassen sich
viele Differenzialdiagnosen erst im diagnostisch-therapeutischen Prozess, nach Aufschlüsselung der vorliegenden sexuellen Präferenzstruktur ausschließen oder bestätigen.
ser Position entsprechend wird insbesondere in
England und Kanada eine Hormonbehandlung
oder Operation nicht vor Abschluss der somatound psychosexuellen Entwicklung empfohlen.
> Andernorts vertritt man die Auffassung, dass der
Einsatz von LHRH-Analoga (LuteinisierendesHormon-Releasing-Hormon), die zu einer Blockierung der Gonadotropinsekretion und sekundären
Hemmung der Sexualsteroide führen, als ein adäquates diagnostisch-therapeutisches Vorgehen anzusehen ist (23). Durch Einsatz der LHRH-Analoga soll der/die Patient/in Zeit haben, die Persistenz
der GIS zu überprüfen, und es soll verhindert werden, dass irreversible somatische Veränderungen
(insbesondere Stimmbruch und Barthaarinduktion) eintreten. Somit werde eine Entlastung erreicht
und einer psychiatrischen Komorbidität vorgebeugt (24). Nach den Standards der Harry Benjamin International Gender Dysphoria Association
(2001) folgen der „vollständig reversiblen“ Gonadotropinblockierung in einem zweiten und dritten
Schritt „partiell reversible“ (Östrogen/Testosteron-Therapie) und irreversibel-chirurgische Inter-
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ventionen (e2). Das erhöhte Risiko diagnostischer
Fehleinschätzungen bei frühem Therapiebeginn
wird mit einem besseren Behandlungsergebnis im
Falle zutreffender Indikation gerechtfertigt (e21).
In den Niederlanden ist als frühester Zeitpunkt für
eine Hormontherapie ein Mindestalter von zwölf
Jahren festgelegt (e22).
Analog den Leitlinien des British Royal College of
Psychiatrists (1998) (e5) empfehlen die Leitlinien der
Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2007) eine Therapie
mit gegengeschlechtlichen Hormonen „möglichst
nicht vor dem 16. Geburtstag“ zu beginnen, sprechen
sich jedoch in Einzelfällen für die Anwendung von
(reversibel) Sexualsteroid-hemmenden Substanzen zu
einem deutlich früheren Zeitpunkt aus (25).
Hierzu ist kritisch anzumerken, dass nicht das kalendarische, sondern vielmehr das Entwicklungsalter
beurteilungsrelevant ist: Ein Abschluss der somatound psychosexuellen Entwicklung kann in Einzelfällen bereits mit 16 Jahren vorliegen, die meisten Jugendlichen sind aber in diesem Alter noch mitten in
ihrer sexuellen Identitätsfindung, die man zunächst
diagnostisch-therapeutisch begleiten muss. Hieran
orientiert sich das Vorgehen der Autoren in einer seit
2007 an der Charité eingerichteten interdisziplinären
GIS-Spezialsprechstunde (Jugendpsychiatrie, Sexualmedizin, pädiatrische Endokrinologie). Die 21 bis
Mitte 2008 neu diagnostizierten Patienten (im Alter
von fünf bis 17 Jahren; zwölf männlichen, neun weiblichen Geschlechts) wiesen alle psychopathologische
Auffälligkeiten auf, die in vielen Fällen zur Vergabe
einer weiteren psychiatrischen Diagnose führten. In
der Regel fanden sich ebenfalls deutliche psychopathologische Auffälligkeiten bei den Eltern. Hintergrundproblematik beziehungsweise „Umwandlungsmotiv“ bei den 15 Jugendlichen war überwiegend eine
abgelehnte (ich-dystone) homosexuelle Orientierung
(Grafik); letztere hätte man durch pubertätsblockierende Maßnahmen in ihrer Entfaltung aufgehalten.
Pro und Kontra einer frühzeitigen
Hormontherapie
Neben den teils unbestrittenen, teils aus Autorensicht
zu relativierenden Pro-Argumenten
> einer raschen Reduktion des Leidensdrucks der
Betroffenen durch die Unterdrückung der weiteren somatosexuellen Entwicklung,
> dem Hinweis auf bessere kosmetische Ergebnisse im Falle späterer Umwandlungsoperationen
bei frühzeitig pubertätsblockierender und konträrgeschlechtlicher Hormontherapie
> sowie der Annahme einer Verbesserung des
psychosozialen und sexuellen Funktionsniveaus,
einschließlich einer Prävention psychiatrischer
Komorbidität
wird von den Befürwortern frühzeitiger hormoneller
Interventionen meist ins Feld geführt, dass die Effekte
einer pubertätsblockierenden Behandlung vollständig
reversibel seien. Zutreffend ist dies ausschließlich bezo⏐ Jg. 105⏐
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gen auf die somatischen Folgen, nicht jedoch in Bezug
auf die irreversible Beeinträchtigung des Prozesses der
psychosexuellen Entwicklung.
Den Vorteilen einer pubertätsblockierenden Behandlung stehen folgende Kontra-Argumente gegenüber:
> Eine derartige Behandlung beeinflusst das sexuelle
Erleben in Fantasie und Verhalten und verhindert
aufgrund der Beeinträchtigung der sexuellen Appetenz und Funktionsfähigkeit, dass die Betroffenen
altersgerechte (sozio-)sexuelle Erfahrungen sammeln und diese im Rahmen des diagnostisch-therapeutischen Prozesses auswerten können. Infolgedessen ist eine Aufschlüsselung der sich unter dem
Einfluss der nativen Sexualhormone konsolidierenden sexuellen Präferenzstruktur und endgültigen
geschlechtlichen Identität nahezu unmöglich (e10).
> Erfahrungen zeigen, dass sich in nicht wenigen
Fällen das zuvor mit aller Entschiedenheit vorgetragene Umwandlungsbegehren deutlich neutralisiert und im Verlauf ein homosexuelles ComingOut der Betroffenen erfolgt (1, 3). Insofern muss
der frühzeitige Einsatz hormoneller Maßnahmen
auch unter dem Gesichtpunkt betrachtet werden,
dass auf diese Weise homosexuelle Entwicklungen
behindert werden, was nicht im Interesse der Patienten sein kann, die infolge der Hormontherapie
nicht mehr die Möglichkeit haben, die entscheidenden Erfahrungen für ihre homosexuelle Identitätsfindung zu machen.
> Psychische Auffälligkeiten der Eltern (20) und deren Einflussnahme können die Konsolidierung von
GIS begünstigen (21). Die sorgfältige Analyse und
psycho- oder familientherapeutische Bearbeitung
psychodynamisch relevanter Konflikte beziehungsweise transsexuellogener Einflussfaktoren,
durchaus auch mit der Chance einer Auflösung des
Umwandlungsbegehrens, droht bei rein biologistischer Herangehensweise und frühzeitiger Herbeiführung „schneller Lösungen“ durch Hormonbehandlung ins Hintertreffen zu geraten.
> Es gibt bisher keine gesicherten Erkenntnisse, wie
sich eine hormonelle Behandlung vor Pubertätsabschluss auf die weitere Entwicklung der Geschlechtsidentität auswirkt oder inwiefern hierdurch gar iatrogen eine Persistenz der GIS induziert wird. Daher kann selbst bei einem retrospektiv als erfolgreich bewerteten Behandlungsfall
nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden,
dass ursprünglich eine sichere transsexuelle Determinierung vorlag.
> Ein Kind oder Jugendlicher besitzt in der Regel
nicht die nötige emotionale und kognitive Reife,
um in eine mit lebenslangen Konsequenzen verbundene Behandlung einzuwilligen. Zu berücksichtigen ist, dass Kinder mit GIS überdurchschnittlich oft Defizite sozialer Kompetenzen, Verhaltensauffälligkeiten und psychiatrische Komorbiditäten aufweisen (5, 8), weshalb sie besonders
empfänglich für die Verlockungen einer „schnellen
Lösung“ vermeintlich all ihrer Probleme sind.
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Fazit
Die Diagnostik und Therapie von GIS im Kindes- und
Jugendalter fällt in das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die jedoch regelhaft die Expertise
der Sexualmedizin und pädiatrischen Endokrinologie
heranziehen sollte. Sofern nicht der Patient den theoretischen Konstrukten unterworfen, sondern umgekehrt die diskutierten Entstehungskonzepte und Kausalitätszuschreibungen kritisch am individuellen Fall
überprüft werden, erscheint es statthaft, mithin sogar
notwendig, sich gleichzeitig mehrerer Erklärungsansätze zu bedienen und diese für die klinisch-therapeutische Arbeit zu nutzen. Therapeutische Implikationen ergeben sich insbesondere aus den familiendynamischen Einflussfaktoren.
Der Einsatz von entwicklungshemmenden (LHRHAnaloga) oder körperverändernden (Östrogene/Androgene) Hormontherapien darf aufgrund fehlender Datenlage und angesichts der potenziellen Gefahr einer
Aggravierung von Geschlechtsidentitätsstörungen aus
Sicht der Autoren nicht vor Abschluss der psychosexuellen Entwicklung erfolgen. Die somato-sexuelle Reife
ist bei Mädchen mit Eintritt der Menarche, bei Jungen
mit der ersten Ejakulation erreicht, was individuell sehr
variabel zwischen 11 und 16 Jahren der Fall sein kann.
Infolgedessen besteht auch hinsichtlich des Zeitpunktes der entscheidungsrelevanten Festlegung einer vollständig abgeschlossenen psycho-sexuellen Entwicklung ein großer Altersspielraum.
Die kritische Frage der Reifebeurteilung und die
damit verbundene Indikationsstellung für hormonelle
Interventionen sollte daher nicht am Alter festgemacht, sondern individuell, auf den einzelnen Patienten bezogen und grundsätzlich interdisziplinär
entschieden werden. Allerdings existieren keineswegs
einfache Kriterien, welche den Abschluss der psycho-sexuellen Entwicklung definieren könnten. Auch
die verfügbaren empirischen Daten über partnerbezogene sozio-sexuelle Entwicklungsschritte sind hierfür
nicht geeignet – sie machen aber gleichwohl deutlich,
dass im Alter von 17 Jahren immerhin ein Drittel
der Jugendlichen beispielsweise noch keinerlei Erfahrungen mit Genitalpetting oder koitaler Intimität
hat (e23).
Für die Zukunft ist es erforderlich, in der Versorgung bundesweit zu einem einheitlich-interdisziplinären Vorgehen zu gelangen. Unter dieser Voraussetzung wäre eine Multicenterstudie möglich, um
die Erfahrungen in der Betreuung von geschlechtsidentitätsgestörten Kindern und Jugendlichen auf
eine breitere empirische Basis zu stellen. Vorrangiges Ziel muss es sein, anhand des weiteren Entwicklungsverlaufs der in ihrer sexuellen Identitätsfindung psychotherapeutisch begleiteten Patienten/innen
fundierte Aussagen darüber treffen zu können, ob es
belastbare Kriterien gibt, die auch einen frühzeitigen Einsatz pubertätsblockierender oder konträrgeschlechtlich-hormoneller Maßnahmen zumindest bei
einer definierten Subgruppe vertretbar scheinen lassen.
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MEDIZIN
Klinische Kernaussagen
Geschlechtsidentitätsstörungen bei
Kindern und Jugendlichen
> GIS im Kindesalter (ICD-10: F62.2; DSM-IV: 302.60)
sind nur in 2,5 bis 20 % Erstmanifestationen einer
transsexuellen Entwicklung, gehen aber gleichwohl –
auch aufgrund massiver Ausgrenzungserlebnisse –
häufig mit einer erheblichen emotionalen Belastung betroffener Kinder (und ihrer Eltern) sowie einer hohen
psychiatrischen Komorbidität, insbesondere behandlungsbedürftigen affektiven und sozialen Verhaltensstörungen einher. Ein Zusammenhang mit intersexuellen Anomalien muss klinisch beziehungsweise genetisch-endokrinologisch ausgeschlossen sein.
> GIS weisen bezüglich ihres Verlaufs eine hohe Variabilität und Plastizität auf, sind oft Vorläufer einer homosexuellen Orientierung; in der Adoleszenz sind die
wichtigsten Differenzialdiagnosen einerseits Sexuelle
Reifungskrisen (ICD-10: F66.0) oder eine abgewehrte
(verdrängte beziehungsweise verleugnete) Ich-dystone
homosexuelle Orientierung (ICD-10: F66.1), andererseits transvestitisch-fetischistische Präferenzstörungen
(ICD-10: F65.1), schwere Persönlichkeitsstörungen sowie – seltener – psychotische Erkrankungen.
> Vorrangiges therapeutisches Prinzip im Umgang mit geschlechtsidentitätsgestörten Kindern ist die Stärkung
des Zugehörigkeitsgefühl zum Geburtsgeschlecht, ohne
ihr atypisches Geschlechtsrollenverhalten negativ zu
sanktionieren; die Einbeziehung der Eltern, meist auch
der Schule beziehungsweise des Kindergartens in die
Behandlung ist ebenso obligat wie die angemessene
Berücksichtigung komorbider psychiatrischer Erkrankungen.
> Bei Adoleszenten ist eine ausgangsoffene diagnostischtherapeutische Begleitung beziehungsweise jugendpsychiatrisch-sexualmedizinische Behandlung geboten,
die es den Betroffenen ermöglicht, ihren Identitätskonflikt auszuloten, wobei neben der Überprüfung der
Persistenz des Umwandlungsbegehrens besonderes
Augenmerk auch auf anderen ungelösten Entwicklungsaufgaben beziehungsweise -konflikten jenseits
der GIS-Problematik liegen sollte.
> Die Diagnose einer transsexuellen, das heißt irreversiblen GIS ist erst nach Abschluss der psychosexuellen
Entwicklung und genauer Aufschlüsselung der – sich
nur unter den Bedingungen eines nativen Hormonstatus
konsolidierenden! – sexuellen Präferenzstruktur zulässig, weshalb der Einsatz pubertätsblockierender LHRHAnaloga oder konträrgeschlechtlicher Sexualsteroide
während der Adoleszenz, unabhängig vom chronologischen Alter, nur in Einzelfällen und nach strenger Indikationsstellung, bei sicherem Vorliegen einer „Transsexualität in statu nascendi“ vertretbar erscheint.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien
des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 19. 3. 2008, revidierte Fassung angenommen: 15.10. 2008
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Deutsches Ärzteblatt⏐
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Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Alexander Korte
Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters
Charité – Universitätsmedizin (CVK)
Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
E-Mail: [email protected]
SUMMARY
Gender Identity Disorders in Childhood and Adolescence:
Currently Debated Concepts and Treatment Strategies
Introduction: Gender identity disorders (GID) can appear even in early
infancy with a variable degree of severity. Their prevalence in childhood and adolescence is below 1%. GID are often associated with
emotional and behavioral problems as well as a high rate of psychiatric comorbidity. Their clinical course is highly variable. There is controversy at present over theoretical explanations of the causes of GID
and over treatment approaches, particularly with respect to early hormonal intervention strategies.
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Methods: This review is based on a selective Medline literature
search, existing national and international guidelines, and the results
of a discussion among experts from multiple relevant disciplines.
Results: As there have been no large studies to date on the course of
GID, and, in particular, no studies focusing on causal factors for GID,
the evidence level for the various etiological models that have been
proposed is generally low. Most models of these disorders assume
that they result from a complex biopsychosocial interaction. Only
2.5% to 20% of all cases of GID in childhood and adolescence are
the initial manifestation of irreversible transsexualism. The current
state of research on this subject does not allow any valid diagnostic
parameters to be identified with which one could reliably predict
whether the manifestations of GID will persist, i.e., whether transsexualism will develop with certainty or, at least, a high degree of
probability.
Conclusions: The types of modulating influences that are known from
the fields of developmental psychology and family dynamics have
therapeutic implications for GID. As children with GID only rarely go
on to have permanent transsexualism, irreversible physical interventions are clearly not indicated until after the individual’s psychosexual
development ist complete. The identity-creating experiences of this
phase of development should not be restricted by the use of LHRH
analogues that prevent puberty.
Dtsch Arztebl 2008; 105(48): 834–41
DOI: 10.3238/arztebl.2008.0834
Key words: gender identity disorder, transsexuality, sex change,
hormone treatment, child health
@
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
www.aerzteblatt.de/lit4808
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
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MEDIZIN
ÜBERSICHTSARBEIT
Geschlechtsidentitätsstörungen im Kindesund Jugendalter
Zur aktuellen Kontroverse um unterschiedliche Konzepte und Behandlungsstrategien
Alexander Korte, David Goecker, Heiko Krude, Ulrike Lehmkuhl,
Annette Grüters-Kieslich, Klaus Michael Beier
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