Frühlings Erwachen Frank Wedekind Hintergrundmaterial für den Unterricht Premiere > 24. September. 2011 Spielzeit 2011/ 2012 Liebe Lehrerinnen und Lehrer, was Wendla, Melchior, Moritz und ihre Freunde durchleben, ist die Hölle. Und das Paradies. Die Jugendlichen stecken mitten in der Pubertät. So vieles ist neu und aufregend, manches macht Angst und anderes scheint, als ei es nicht zu bewältigen. Das Leben als adrenalingeladene Achterbahnfahrt in einem Tempo, das jeden ausschließt, der nicht mitfährt. Liebe und Lust wechseln sich rasant mit Versagensangst und Schmerz ab. Wer jung ist, ist frei! Oder besser gesagt: fühlt sich frei – und selbst das nur manchmal. Denn auch junge Menschen sind Teil des Systems. Von allen Seiten wird einem zugeflüstert, dass das richtige Leben erst noch kommt. Die Zukunft in einer globalisierten Welt steht vor der Tür. Hier kommen die Erwachsenen, Eltern und Lehrer, ins Spiel. Die Kinder sollen bestmöglich auf diese kommende Leben vorbereitet werden. Es entsteht ein kaum erfüllbarer Leistungsdruck – für beide Seiten. Für die Eltern, die nur alles richtig machen wollen und alles tun, um das (hoffentlich) hochbegabte Kind in die Erfolgsspur zu leiten. Diesen Druck spüren die Jugendlichen, die versuchen, den Anforderungen gerecht zu werden. Einerseits wissen sie, dass die Zukunft wichtig ist, andererseits sind sie damit beschäftigt, ein eigenes Ich zu finden. Einen eigenen Weg zu gehen ist darüber hinaus gar nicht so einfach, wenn so viele Wege schon beschritten, beschrieben und vorgezeichnet sind. Das Themenfeld der Leistungsgesellschaft ist Frank Wedekinds Erstlingsdrama FRÜHLINGS ERWACHEN eingeschrieben und macht den Text höchst aktuell. Regisseurin Catja Baumann setzt hier einen Schwerpunkt ihrer Inszenierung. Dabei geht es nicht darum, der welt der Erwachsenen die schuld zuzuschieben, weil sie die Freiheit ihrer Kinder einschränken. Vielmehr werden Fragen aufgeworfen, die beide Seiten betreffen. Ist es besser sich zu ducken und zu warten bis der Sturm der Pubertät vorüber ist? Reicht ein Realschulabschluss oder muss es ein Abitur mit Auszeichnung sein? Muss man die Leistungsgesellschaft aushalten oder lässt sich daraus ausbrechen? Und wenn ja: zu welchem Preis? Wir wünschen eine spannende Auseinandersetzung mit diesem Material und ein anregendes Theatererlebnis! Daniela Urban Theaterpädagogik SCHAUSPIELSTUTTGART [email protected] FON > 0711.2032-234 FAX > 0711.2032-595 Silke Duregger Schul- und Gruppenreferat SCHAUSPIELSTUTTGART [email protected] FON > 0711.2032-526 FAX > 0711.2032-595 Frühlings Erwachen > zur Inszenierung Koproduktion mit der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart Ernst liebt Hans. Das darf aber keiner wissen. Moritz bangt um seine Versetzung und hat keine Ahnung von Frauen. Melchior hat schulisch und sexuell alles im Griff und teilt mit dem Freund gerne sein Wissen. Als Moritz auf beiden Gebieten versagt, sieht er keinen Ausweg mehr und nimmt sich das Leben. Melchior, der auch noch aus Versehen Wendla geschwängert hat, wird von Schule und Eltern zum Verantwortlichen am Selbstmord des Freundes erklärt und hat plötzlich gar nichts mehr im Griff... Die unbeschwerte Kindheit ist vorbei, die Pubertät da - mit all ihren Schrecken. In der Schule herrscht ein kaum erfüllbarer Leistungsdruck. Die Eltern erwarten Höchstleistungen von ihren Kindern und gleichzeitig sollen Moritz, Melchior, Wendla und ihre Freunde die Unschuld des Kindseins bewahren. Die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste der Jugend dürfen dabei keine Rolle spielen. Auf der Suche nach sich selbst strotzen die Jugendlichen vor Energie, laufen los und werden immer aufs Neue in ihre Schranken gewiesen. Mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt - im Achterbahntempo durch neue, verwirrende Gefühls- und Vernunftswelten. Wer nicht mithalten kann, bleibt auf der Strecke. Das Leben als eine Gratwanderung zwischen Leistungsdruck und Freiheit. Catja Baumann, 1980 in Tübingen geboren, studierte Theater- und Medienwissenschaft, Geschichte und Pädagogik in Erlangen und absolvierte ein Regiestudium am Mozarteum in Salzburg. Von 2005 bis 2007 war sie Regieassistentin am Theater Heidelberg, wo sie u.a. Regie führte bei der Soap FRIEDRICHSTRAßE. Von 2007 bis 2009 hat sie als Regieassistentin am SCHAUSPIEL STUTTGART gearbeitet. Nach einer ersten Regiearbeit im Erdgeschoss eröffnete sie mit LA LÍNEA die Spielzeit 2009/10 im Depot. Besetzung: Wendla Ilse Martha Thea Melchior Moritz Hans Ernst Frau Bergmann / Frau Gabor / Rektorin Sonnenstich Herr Gabor / Lehrer Knochenbruch/ Pastor Kahlbauch Jenny Langner Anna Oussankina Meda Gheorghiu-Banciu Elena Weiß Lukas Engel Michel Bra Steffen Happel Sascha Werginz Lotte Ohm Regie Bühne / Kostüme Dramaturgie Musik Regieassistentin Catja Baumann Jelena Nagorni Katrin Spira Max Braun Sarah Schmid Bernhard Baier Frank Wedekind - Der Autor Frank Wedekind forderte in seinen Dramen die triebfeindliche, lebensfeindliche Moral heraus. Er entlarvte sie als Heuchelei und stellte eine lebensbejahende, die Sexualität feiernde Weltsicht gegenüber. Die Freiheit und Schönheit der Sexualität bejahenden Menschen fand er nur in den Außenseitern der Gesellschaft: beim Zirkus, bei den Hochstaplern und Dirnen, wenn auch in verzerrter Form. 1864 am 24. Juli wird Frank (Benjamin Franklin) Wedekind in Hannover als zweiter Sohn von sechs Kindern des Dr. med. Friedrich Wilhelm Wedekind (geb. 1816) und seiner Ehefrau Emilie Wedekind (geb. 1848) geboren. Die Eltern hatten sich als Emigranten in San Franzisko kennen gelernt, waren jedoch im Frühjahr 1864 nach Deutschland zurückgekehrt. 1872 Übersiedlung der Familie Wedekind in das Schloss Lenzburg bei Aarau in der Schweiz 1879 Besuch des Gymnasiums in Aarau. Erste philosophische und literarische Versuche. Kontakt mit der philosophischen Tante Olga Plümacher, einer Jugendfreundin seiner Mutter (Pessimismus – Diskussion) 1884 Abitur. Im Mai Studienbeginn in Lausanne, Germanistik und Romanistik, ab dem Wintersemester in München auf Wunsch des Vaters Jura. Häufige Theater- und Konzertbesuche. 1886 Der Schnellmaler (18889 erschienen, 1916 uraufgeführt). Bruch mit dem Vater. Ende des Jahres Übersiedlung nach Zürich und Vorsteher des Reklame- und Pressebüros der Firma Maggi. 1887 Durch die Freundschaft mit dem naturalistischen Dichter Karl Henckell Kontakt zu Mitgliedern des Kreises „Jüngstdeutscher Schriftsteller“, die vor den Sozialisten aus Deutschland geflohen waren, und über diesen Kreis Bekanntschaft mit Gerhart Hauptmann. Beiträge für die Neue Züricher Zeitung. Elins Erweckung (thematisch mit Frühlings Erwachen verwandtes dramatisches Fragment). 1888 Nach dem Tod des Vaters Rückkehr nach Schloss Lenzburg. Kurzfristig finanzielle Absicherung durch das väterliche Erbe. 1889 Aufenthalt in Berlin. Kontakt zum „Friedrichshagener Kreis“ und Bekanntschaft mit Otto Erich Hartleben. Übersiedlung nach München. 1890 Beginn mit der Niederschrift von Frühlings Erwachen. 1891 Erstausgabe von Frühlings Erwachen längere Reise nach Paris. bei Jean Groß in Zürich. Ende des Jahres 1892 Häufige Zirkus-, Varieté- und Ballettbesuche in Paris. Arbeit an Der Liebestrank und Die Büchse der Pandora (Dramen). 1894 Januar bis Juni Aufenthalt in London. Bekanntschaft mit dem Verleger Albert Langen. 1895 Nach Abstechern nach Paris und Berlin ab dem Sommer wieder in München. Der Erdgeist (= Neufassung des ersten Teils von Die Büchse der Pandora) im Verlag Alber Langen erscheint. Beginn mit MINE – HAHA. 1896 Mitarbeit beim Simplizissimus. 1897 Die Fürstin Russalka ( Prosa- und Lyriksammlung); Der Kammersänger ( Drama). 1898 Erdgeist- Uraufführung in Leipzig mit Wedekind in der Rolle des Dr. Schön. Engagement an das Münchner Schauspielhaus als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler. Aufgrund drohender Verhaftung wegen eines Simplizissimus – Gedichts im Oktober Flucht in die Schweiz. 1899 Der Marquis von Keith (Drama). Nach Selbstauslieferung an die Behörden Gerichtsprozess und Festungshaft auf der Feste Königstein. 1900 Im März Haftentlassung und Rückkehr nach München. Bekanntschaft mit Max Halbe. 1901 Gründungsmitglied des Münchener Kabaretts „ Elf Scharfrichter“. Vortrag eigener Balladen und Lieder. 1902 So ist das Leben Später unter dem Titel König Nicolo, Drama). 1903 Hidalla(Erstausgabe 1904, Uraufführung 1905). 1904 Uraufführung von Die Büchse der Pandora; Beschlagnahmung der Erstausgabe dieses Dramas. 1906 Heirat mit der Schauspielerin Tilly Newes (geb. 1886). Wohnsitz in Berlin. Geburt der Tochter Pamela. Uraufführung von Frühlings Erwachen unter Max Reinhardt in den Berliner Kammerspielen. 1907 Die Zensur (Drama). 1908 Musik, die junge Welt (Drama). Übersiedlung nach München. 1909 Beginn mit Schloss Wetterstein (Uraufführung 1917). 1911 Geburt der Tochter Kadidja. Franziska (Drama). 1912 Aufhebung des Aufführungsverbots für Frühlings Erwachen durch das Preußische Oberverwaltungsgericht. 1915 Tod der Mutter. Blinddarmoperation. 1917 Herakles (Drama). 1918 2. März Bruchoperation. 9. März Tod Frank Wedekinds. 12. März Beisetzung auf dem Münchener Waldfriedhof. aus: Horst Spittler: Frank Wedekind , Frühlings Erwachen: Interpretation, Oldenbourg 1999 Textanalyse und Textinterpretation Entstehung und Quellen Frank Wedekind arbeitet von Herbst 1890 bis Ostern 1891 in München an Frühlings Erwachen, 1891 erschien es – zunächst kaum beachtet – als seine erste Buchpublikation. Das Titelbild der Erstausgabe, das Frank Stuck nach den Vorgaben Wedekinds gezeichnet hat, ist voller lebensbejahender Motivik: Es zeigt eine Wiese mit Blumen und einen knospenden Baum, auf dem Schwalben sitzen. Das Titelbild weist auf die Heiterkeit hin, die Wedekind in seinem Drama enthalten wissen will; außerdem habe er eigene biographische Erfahrungen verarbeitet. „Ich begann zu schreiben ohne irgendeinen Plan, mit der Absicht zu schreiben, was mir vergnügen macht. Der Plan entstand nach der dritten Szene und setzte sich aus persönlichen Erlebnissen oder Erlebnissen meiner Schulkameraden zusammen. Fast jede Szene entspricht einem wirklichen Vorgang. Sogar die Worte: ‚Der Junge ist nicht von mir!’, die man mir als krasse Übertreibung vorgeworfen hat, fielen in Wirklichkeit“ Im deutschsprachigen Raum wäre jeder Aufführungsversuch von Frühlings Erwachen bereits an den Zensurbehörden gescheitert. Eine Aufführungsgenehmigung wäre dem Stück sowohl aufgrund der unerhört offenen Darstellung sexueller Handlungen als auch der Verunglimpfung von Amts- und Autoritätspersonen versagt geblieben. Dass dies keine hypothetische Behauptung ist, belegt die Fassung, in der das Stück an den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin 1906 durch Max Reinhardt uraufgeführt wurde. Die Bühnenfassung weist gegenüber der Buchausgabe eine Reihe von Streichungen und anderen erheblichen Änderungen auf. Komplett weggefallen sind drei Szenen: Hänschen Rilows Monolog, Korrektionsanstalt und Weinberg, alles Szenen mit anstößigem sexuellen Inhalt. Einzelne Streichungen betreffen vor allem die Gespräche der Jungen und Mädchen. Außerdem verfügt die Zensur noch, dass in III/1 das Wort „Beischlaf“ durch „Fortpflanzung“ ersetzt; und „Abortivmittel“ in „Geheimmittel“, geändert werden. Ferner verlangt sie die Verharmlosung der Lehrernamen in Rektor Sanftleben, Lindemann, Friedepohl, Schweighofer, Wunderhold, Morgenroth und Ehrsam. Wenn die Veränderten Lehrernamen tatsächlich von der Zensurbehörde festgelegt worden sind, ist das ein erstaunlicher Vorgang und die Frage sein erlaubt, ob ein Teil dieser Namen rein zufällig jüdisch klingt. Einen stärkeren Eingriff in das Drama bedeutet freilich die Streichung der drei Szenen. Dadurch wird die sexuelle Thematik auf die drei Protagonisten beschränkt, was leicht den Eindruck erwecken könnte, als handle es sich bei ihnen um Ausnahme-erscheinungen. Die Probleme mit der Zensur hörten erst auf, als das Preußische Oberverwaltungsgericht in einem beachtlichen Urteil aus dem Jahre 1912 das vom Regierungspräsidium erlassene Aufführungsverbot aufgehoben hat. Trotzdem ist es zur ersten vollständigen Aufführung des Dramas in der Originalfassung erst 1924 am Dresdener Alberttheater unter der Regie von Hans v. Wild gekommen. Skepsis gegenüber seiner Bühnentauglichkeit ging auch von den Theatern selber aus. Recht vordergründlich erscheint das Bedenken, dass die große Zahl jugendlicher Rollen, die das Drama fordert, von kaum einem Theater besetzt werden könne. Noch weniger überzeugend klingt der Einwand, der häufige Orts- und Szenenwechsel stellten das Theater vor unlösbare technische Probleme. Träfe dies zu, hätte es niemals zu einer Aufführung von Goethes Drama Götz von Berlichingen kommen dürfen, das nicht weniger als 54 Szenenwechsel vorsieht. Diese Einwände gegen die Aufführbarkeit von Frühlings Erwachen mögen aus heutiger Sicht vorgeschoben wirken, tatsächlich jedoch hielt man das Stück für reines Lesedrama, das keinen Anspruch erhob auf die Bühne zu gelangen. Ein Kritiker der Aufführung im Stuttgarter Residenztheater aus dem Jahre 1909 bringt die eigentlichen Vorbehalte auf den Punkt: „Dem Wedekindschen, gewiss niemals für die Bühne bestimmten und auch nicht auf die Bühne gehörenden allzu persönlich aufrichtigen Stück fehlt der Held, fehlt die geschlossene Handlung, fehlt der Stil. Es hat eine ganze Reihe Helden, so viel breit zerflatternde Handlungen als Szenen, die verschiedensten Stilformen.“ Letztlich waren es der naturalistische Zeitgeist und der Aufführungsstil, der Frühlings Erwachen so lange von der Bühne fern hielt, sein in Form und Sprache ausgesprochener Avantgardismus, der erst bei den Expressionisten auf Verständnis stieß und noch Friedrich Dürrenmatt sich auf Wedekind berufen lässt. Zeitgenössische Kritiken zu „Frühlings Erwachen“ Zur Uraufführung an den Kammerspielen, Berlin, 20.11.1906 | Regie: Max Reinhardt Ein Hauch schwebt über diesem Werk eines Leichtsinnigen, Torkelnden, Schludernden; ein Hauch, der die Grundmauern des Daseins anweht; Faustulus und Gretelchen; es sind kleine Faustusse der Pubertät, die hier erobern und schuldig werden und dennoch schuldlos untergehen. [...] Bei Wedekind, der in mattbunten Farben das Dasein zeichnet, wird kein ethisches Opfer gebracht, nur das ungewollte des eigenen Lebens um des grünen, schwärenden, geheimnisvollen Sinnendranges willen. (Alfred Kerr: "Frühlings Erwachen". Der Tag (Berlin), 23.11.1906) Zur Inszenierung am Schauspielhaus, München, 28.1.1907 | Regie: Fritz Basil Nach der Berliner Aufführung des Werkes ging ein Ton der Ergriffenheit durch die deutsche Kritik. Es war wie eine Abbitte an den Dichter. Die Verstocktesten gingen in sich, dickfellige Zeitungsschreiber waren erschüttert, hartnäckiger Unverstand beugte sich vor der Größe dieses Werkes. [...] Jeder empfand die Reinheit, die hier mit wehen und anklagenden Lauten aus den unschuldig obscönen Reden gewaltsam verdorbener Knaben spricht, den holden Hauch von Schwermut, der hier um tragisch versinkende Kinderhäupter webt, die süße Bitternis des Frühlings, dem junge Menschen zum Opfer fallen, jeder empfand sein eigenstes frühes Weh, wenn er sah, wie hier verzweifelte Kinder zu unsauberen Werkzeugen greifen, um an verschlossenen Pforten zu rütteln, an die sie der Drang des Blutes getrieben hat, jeder zitterte mit bei dem großen, heiligen Haß, der hier in dem wilden Herzen eines Schöpfers lebendig war, als er die Jugenderzieher und Lehrer zu grotesken Untieren knetete, und bei dem Kirchhofsspuk und den Worten des 'vermummten Herrn', aus denen ein bitterer Trost zu quellen scheint. Auch die Münchener Aufführung ergriff die Vorurteilsvollen. (Hans Brandenburg: Hanns von G. muß entfernt werden. München-Schwabing 1907, S. 6f.) Zitate von Jugendlichen – Eine Zeittafel 1929: Irma B. 18 Jahre, nach einem Sexualaufklärungsabend der Sozialistischen Arbeiterjugen, Hamburg „Ich weiß noch, wie ich abends nach hause kam: Am Küchentisch saßen meine Eltern. Vater holte seinen dicken Bleistift und ein Stück Papier, und ich erklärte den beiden den Aufbau der Geschlechtsorgane bei Mann und Frau. Beide saßen mit hochrotem Kopf da, keiner sagte was. Die passten aber ganz genau auf.“ 1932: Arbeiterin, 16 Jahre, Berlin „Nun bin Ich im Lohn gekürzt, und da haben Mutter und der Stiefvater gesagt, das ist viel zu wenig, mach dass du wegkommst und du dich nicht unnütz bei uns durchfrisst.“ 1955: Tagebuch Thomas, 16 Jahre „Gestern habe ich meine Erzeuger endlich durchschaut. Sie haben mit einem Nachschlüssel meinen Schrank geöffnet und durchwühlt. Auch meine Aufzeichnungen haben sie gelesen und beschmutzt. Diese Schweine! Nichts ist vor ihnen sicher, nicht einmal mein größtes Geheimnis, dieses Tagebuch. Sie wissen nun alles um Gudrun. Ich könnte verrückt werden.“ 1958: Tagebuch Ilse Brandt, 14 Jahre, Bodenteich, Niedersachsen „Heute Abend habe ich mit meinen Eltern verhandelt. Resultat: Ich darf weiter mit Hering gehen unter folgenden Bedingungen: 1. Nur mit Anke dabei, also nicht mit einem Jungen allein; 2. Nicht im Wals; 3. Nur Sonntags und nach Vereinbarung höchstens 2x in der Woche abends. Wenn wir etwas verköstigen, muss ich das von meinem Geld bezahlen.“ 1958: Liselotte H., 19 Jahre „ Als ich schwanger war, habe ich das meiner Stiefmutter erzählt. Sie sprach mit meinem Vater. Eines Abends kam ich von der Arbeit nach Hause und da standen Koffer vor der Tür, fertig gepackt. „ So, Liselotte, nun geh. Für sowas wie dich haben wir hier keinen Platz.““ 1967: Aus dem Aufsatz einer Realschülerin, 14 Jahre „Eigentlich bin ich das Oberhaupt der Familie. Respekt habe ich noch nie gehabt, ich bin die Jüngste und wurde nur verwöhnt, selten bekam ich einen Wunsch nicht erfüllt. Mein sehnlichster Wunsch war (und ist), einmal richtig verhaut zu werden.“ 1973: Tagebuch Christiane M., 15 Jahre „Ich bin meiner Mutter überlegen an Wissen und Selbstbeherrschung.“ 1984: Hauptschülerin, 16 Jahre „Ich glaube, die Zeit zwischen 15 und 18 ist das Einsamste Alter des Lebens. Alles, was man tut, scheint falsch zu sein. Wie immer man sich gibt, es wirkt sich ungünstig für sich selber aus. Neue Freunde sind schwer zu finden. Man fühlt sich von allen allein gelassen.“ 2007: Johannes Halbig, 17 Jahre, Leadsänger der Band Killerpilze „Mein Traum ist, dass ich am Ende eines jeden Tages nach Hause komme und dort jemand auf mich wartet. Im Moment sind das noch meine Eltern, sie sorgen für mich. So mit 26 oder 27, will ich eine eigene Familie haben, eine Frau und mindestens zwei Kinder.“ aus: Dummy / Jugend / Herbst 2010 / Ausgabe 28 Eine tätowierte Mutter macht das Jungsein nicht besser Interview: Oliver Gehrs Eltern mit iPod und Flip-Flops, Abitur nach der 12. Klasse, Merkel als Kanzlerin – pädophile Pfarrer, wo man geht und steht. Es hab schon mal bessere Zeiten jung zu sein. Diese Erkenntnis mussten wir der Soziologin Imke Behnken nicht mal in den Mund legen. Sie haben eine ihrer Studien mit „Null Zoff, Voll busy“ überschrieben. Wie ist das gemeint? Dass die Jungendlichen viel zu beschäftigt sind, um noch rebellieren zu können wie frühere Generationen. Wissen Sie, welchen Erwachsenen die Jugendlichen am meisten Vertrauen? Game-Show-Moderatoren, Spielentwicklern und DJs? Nein, Polizisten und Ärzten.(...) Wie kommt es denn zu dem Widerspruch? Dass sie Erwachsenen auf der einen Seite die Jugendlichen aus dem öffentlichen Raum vertreiben und auf der anderen Seite ihr ganzes Leben jugendlich bleiben wollen? Das ist kein Widerspruch. Es geht da um den Unterschied zwischen Jugendlichkeit als Wert und dem Jugendlichsein. Da es aber so viele Erwachsene gibt, werden den Jugendlichen deren Werte aufgedrückt: Sauberkeit, Ruhe und Ordnung. Kein Wunder also, dass die Jugendlichen ins Internet flüchten – in soziale Netzwerke... Ja, da können ihnen die Erwachsenen am wenigsten folgen. Wir müssen Jugendlichen in der medialen Öffentlichkeit mehr Gehör verschaffen, damit dort nicht nur die schrillen Töne vorkommen und die extremen Aussichten. (...) Außerdem stehen Kinder heute unter einem viel größeren Leistungsdruck. Das Abitur nach der 12. Klasse heißt ja auch, dass kaum noch Zeit für andere Dinge bleibt. Auch dadurch haben Jugendliche weniger Raum. Sie merken ja auch, dass die Erwachsenen ständig über Sicherheit sprechen, nie über das Glück der Kinder. Da geht es sehr früh nur darum, dass man die richtige Schule erwischt, auf der man dann zielstrebig zum Abitur durchmarschiert. Auf der einen Seite gibt es die Überhütung von Kindern, auf der anderen Seite gibt es leider auch Grenzüberschreitung – wie etwa bei den Missbrauchsfällen. Missbrauch gab es immer. Das schlimme ist, dass es kein natürliches Verhältnis mehr zu Kindern gibt. Ich erlebe Väter, die schon Angst haben, als pädophil zu gelten, wenn sie ihr Kind mal in den Arm nehmen. Wir müssen dringend zu einer gewissen Normalität zurückfinden. Das (alles) macht es den Jugendlichen noch schwerer, ihre Identität zu finden. Wenn die Mütter aussehen wollen wie ihre Töchter – von den Vätern ganz zu schweigen. Aber eine tätowierte Muttermacht das Jungsein nicht leichter. aus: Dummy / Jugend / Herbst 2010, Ausgabe 28 Die Jugend in Zahlen 1900 stirbt jedes fünfte deutsche Kind noch während seines ersten Lebensjahres. 1903 erlaubt Bayern als Zweites Land nach Baden jungen Frauen das Studium. 1904 arbeiten in der deutschen LWS 445.000 Kinder, die jünger sind als zehn. 1911 ist jeder zweite Deutsche jünger als 22. 1917 studieren im deutschen Reich nur noch 6200 junge Männer. 1923 hat jeder fünfte Jugendliche kein eigenes Bett. 1933 sind in Berlin 63% der jungen Männer zwischen 14 und 25 arbeitslos. 1940 beziehen bayrische Wehrmachtssoldaten im rheinischen Neuss ihr Winterquartier. Als sie im Frühling abziehen, lassen sie 52 geschwängerte Mädchen unter 18 zurück. 1949 werden in der BRD 300 Jeans verkauft. 1954 werden in der BRD 100.000 Jeans verkauft. 1955 jedes vierte schulfähige Kind wächst ohne Vater auf. 1958 Zwei von drei deutschen Jungen verwenden Frisiercreme. 1960 In 50.000 Gaststätten steht eine Musikbox. 1962 sind 33% der Deutschen zwischen 16 und 29 für Sex vor der Ehe. 1968 studiert nicht einmal jeder 10te junge Deutsche. 1970 sind 36,3%jünger als 25. 1972 tragen 32%der 16- bis 29-jährigen Männer lange Haara und/oder Bart. 1976 dürfen 48%der Jungen nach hause kommen wann sie wollen. 1982 hat sich der Abiturienten-Anteil in den vergangenen 12 Jahren verfünffacht. 1984 üben 20% aller 15- 17-jährigen einen Beruf aus. 1989 kommen 150 Menschen zur ersten Loveparade nach Berlin. 1993 hat jeder 4te Deutsche unter 25 Erfahrungen mit illegalen Drogen gemacht. 1997 ist jeder 4te Deutsche jünger als 25. 1998 tanzen mehr als 1 Millionen Menschen auf der Love Parade. 2000 erklären 57,8% der jungen Deutschen, hier lebten zu viele Ausländer. 2004 stammen 27,8% der jungen D. aus Familien mit Migrationshintergrund. 2009 55% aller jungen D. glauben, ihre Beziehung halte „für immer“. 2010 ist Deutschland so alt wie noch nie. 5,6%sind zwischen 15 und 20 Jahren. aus: Dummy / Jugend / Herbst 2010 / Ausgabe 28 Zicken, Zorn und Zoff – KINDER WERDEN ERWACHSEN Mit Beginn der Pubertät beginnt das Chaos. Im Körper der Jugendlichen tobt nicht nur ein Sturm der Hormone. Auch das Gehirn wird umgebaut. Die Jugend rebelliert. Sie bricht mit elterlichen Konventionen – und grenzt sich damit von den Erwachsenen ab. Konflikte sind programmiert. Keine Lebensphase ist so aufregend wie die Pubertät: Erster Kuss und erster Liebeskummer. Nicht selten fährt die Seele Achterbahn. „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Sokrates | 470-399 v. Chr. Für die Eltern sind die Jugendlichen indes oft auch Stein des Anstoßes: Streit über Ausgehen, Alkohol und Outfit. Bei der Gratwanderung zwischen Loslassen und Festhalten stoßen die Erwachsenen oft an ihre Grenzen. Die Antwort der Forscher auf die Frage, warum die Pubertät derart vertrackt ist, fällt beruhigend und beunruhigend zugleich aus, wie die 13. Europäische Konferenz zur Entwicklungspsychologie in Jena zeigte. Zum einen: Grenzgänge in der Jugend sind vollkommen normal. Die Suche nach ständigem Nervenkitzel rührt vor allem von massiven Veränderungen im Gehirn. Dennoch ist auch die Pubertät dem Wandel der Zeit unterworfen. Für die heutige Jugend ist es schwerer denn je, sich von den Erwachsenen abzugrenzen. Auch aus diesem Grund greifen die Heranwachsenden zu immer extremeren Mitteln. Noch dazu gelangen Kinder früher in die Pubertät als noch vor hundert Jahren. Insbesondere für Mädchen ist die frühe Fruchtbarkeit in vielen Fällen eine Bürde für das Leben. Meist zeigt sich die Pubertät bei völlig nebensächlichen Ereignissen: Die elfjährige Amelie etwa trägt seit Neuestem die künstlichen Nägel ihrer Freundin. Ihre Tante ist skeptisch: „Da kann ich gar nicht hinsehen, so furchtbar sieht das aus.“ Amelie steht am Beginn der Pubertät, ihr Aussehen ist ihr wichtiger denn je. Ihr Körper verändert sich wahnsinnig schnell. Unter den Achseln, im Schambereich und an den Beinen wachsen feine Härchen. Die Brüste beginnen sich zu wölben. Hüfte, Oberschenkel und Po legen mit jedem Monat an Umfang zu. Bald wird die erste Monatsblutung einsetzen. Jungen und Mädchen wachsen während der Pubertät einen halben Kopf im Jahr. Ihm sprießt ein Flaum, die Muskeln nehmen zu und ebenso die Körperbehaarung. Schließlich tauscht er die Knabenstimme gegen einen Männertenor ein. Mit 16 bis 17 Jahren ist der Wandel vom Bub zum Mann meist vollzogen. Kinder werden früher erwachsen Das war nicht immer so. 1840 begann die Pubertät in diesem Alter gerade erst. „Die körperliche Reifung hat sich massiv nach vorne verlagert. Erst in den letzten 20 Jahren ist dieser Trend zum Stillstand gekommen“, sagt Karina Weichold, Entwicklungspsychologin der Universität Jena. Dass Jungen und Mädchen in den Industrienationen heute wesentlich früher aus ihrem Kinderkörper herauswachsen, liegt vor allem an der üppigen Ernährung. Daneben auch an der besseren Hygiene und der modernen Medizin. Der Eiweißstoff Leptin aus den Fettzellen leitet maßgeblich den Beginn der Pubertät ein. Je mehr Fettdepots im Körper sitzen, desto höher klettert der Leptinspiegel im Blut. Daher ist es nicht verwunderlich, dass dicke Mädchen im Schnitt früher als andere ihre Menstruation bekommen. Umgekehrt verharren sehr magere Jugendliche länger in der Gestalt eines Kindes. Rutscht der Anteil der Energiereserven am Gewicht unter 17 Prozent, so blockiert das Gehirn das Erwachsenwerden aus purem Eigennutz: Ein derart ausgezehrter Mensch hat zu wenig Kraft für Nachwuchs. „Das Gehirn ist die oberste Instanz, die über die körperliche Reife wacht, sie beschleunigt oder verzögert“, sagt Weichold. Während sich das Erscheinungsbild der Jugendlichen wandelt, finden auch im Gehirn gewaltige Umstrukturierungen statt. Viele Verbindungen zwischen den Nervenzellen, den Synapsen, werden gekappt. Jede Sekunde verschwinden 30.000 dieser Verknüpfungen. „Das klingt dramatisch, ist aber ganz normal“, so die Entwicklungspsychologin. Die Tabula rasa im Kopf ermöglicht es sogar erst, dass die Jugendlichen zunehmend komplexe Entscheidungen treffen und Meinungen analysieren können. Erwachsene bemerken diesen Wandel im Denken zunächst im Alltag: Wenn Amalie etwa ihrer Tante trotzig entgegnet: „Ist mir egal, wenn dir meine Nägel nicht gefallen. Meine Freundinnen haben alle welche.“ Dann stellt sie deren Position infrage. Indem sie mehr und mehr geistige Eigenständigkeit erlangt, schwindet automatisch der Einfluss der Erwachsenen. „Mit ihrem Aufstand fordern die Jugendlichen die Akzeptanz ihrer Autonomie, nicht die Aufkündigung der emotionalen Beziehung. Sie brauchen ihre Eltern genauso wie in ihrer Kindheit“, warnt der Entwicklungspsychologe Rainer Silbereisen aus Jena. Die Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen ist ein normaler Weg. „Was nun zunächst die jungen Leute angeht, so sind sie heftig in ihrem Begehren und geneigt, das ins Werk zu setzen, wonach ihr Begehren steht. Von den leiblichen Begierden sind es vorzugsweise die des Liebesgenusses, denen sie nachgehen, und in diesem Punkt sind alle ohne Selbstbeherrschung [...] Sie sind zornmütig und leidenschaftlich aufwallend in ihrem Zorne. [...] Sie tun alles eben zu sehr, sie lieben zu sehr und hassen zu sehr, und ebenso in allen anderen Empfindungen.“ Aristoteles | 384-322 v. Chr. Allerdings ist es heute für die Jugendlichen steiniger denn je, ist Françoise Alsaker von der Universität Bern überzeugt: „Die Erwachsenen stehlen den Jugendlichen vieles, was ursprünglich alleine den Teenies vorbehalten war.“ Piercings, Tattoos, zerschlissene Jeans, Punk-Frisuren und Rastazöpfe waren einst die Insignien der Heranwachsenden. Heute versteckt sich unter dem Blazer manch eines Mittfünfzigers ein Nabel-Piercing, und der Supermarktverkäufer sieht aus wie Tokio-Hotel-Sänger Bill, nur könnte er sein Opa sein. Ähnliche eindrucksvolle Beweisfotos für den Jugendkult der Erwachsenen haben die Pubertätsforscher um Rainer Silbereisen zusammengetragen. „Es gibt eigentlich nur ein Symbol, das man der Jugend gelassen hat – das sind diese tief hängenden, übergroßen Hosen“, sagt Françoise Alsaker. „Jugendliche brauchten aber eine eigene Kultur. Jugendliche brauchen Dinge, die ihnen niemand wegschnappt, um eine eigene, starke Persönlichkeit zu entwickeln“, glaubt die Entwicklungspsychologin. Sie betrachtet es als Folge der geklauten Jungendbilder, dass Heranwachsende gegenwärtig immer extremere Erfahrungen suchen. Das Hirn stumpft ab Das Bild vom pöbelnden, unerträglichen Jugendlichen verfehlt die Wirklichkeit. „Nur ein kleiner Teil überschreitet die Grenzen und wird tatsächlich straffällig“, erklärt Alsaker. Zur Überraschung der Forscher verstanden sich 85 Prozent der Befragten sehr gut mit den Eltern. Natürlich gibt es Konflikte etwa über Ausgehzeiten, aber nur selten bestehen grundlegende Auseinandersetzungen, die eine Beziehung dauerhaft beschädigen“, so Alsaker. „Die verschiedenen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiedene Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, dass sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, dass sie alt sind. Und Junge begreifen nie, dass sie alt werden können.“ Kurt Tucholsky | 1890 – 1935 n. Chr. Das Bild der Jugendlichen in der Gesellschaft ist zu negativ, findet sie. Wenngleich sie die auffälligen Jugendlichen nicht wegreden will. Vor allem Jungen schlagen als Teenies über die Stränge. Gefährdet sind jene Knaben, die früh in die Pubertät kommen und viel Testosteron im Blut haben. Das Hormon erhöht die Aggressivität. Die Familie und das soziale Umfeld können allerdings Entgleisungen durchaus verhindern. In Kontakt bleiben, Freiräume zugestehen und Grenzen setzen, lautet das abstrakte Patentrezept der Psychologen. aus:http://www.welt.de/wissenschaft/article1131454/Zicken_Zorn_und_Zoff_Kinder_werden_erwachsen.html HILFE! -1- -2- Alex Rühle (Süddeutsche Zeitung 10/2010) Unsere pädagogische Unbedarftheit in den Anfangsjahren kann man schon daran erkennen, dass wir unserer Tochter Nina seinerzeit einfach irgendeinen Vornamen gegeben haben, der uns beiden gefiel. Ja, ich weiß heute selber, dass das ungefähr so verantwortungslos ist, als schickte man die Kinder per Zufallsgenerator irgendwohin in Urlaub. Aber von da an kommen sie immerhin nach vier Wochen zurück. Den Namen hingegen behält man ein Leben lang! Wer sein Kind nicht im Alter von drei Monaten in eine Ganztagsbetreuung gibt, züchtet ein egoistisches Wesen heran. Gleich nach der Lektüre meldeten wir unsere Tochter im Münchner Hort mit den längsten Öffnungszeiten an. Nina protestierte lautstark, was uns Beweis dafür war, wie recht Winterhoff doch hatte: Wir hatten eine kleine Tyrannin an unserem Busen genährt. Dank Bueb war der Wille des kleinen Biests schnell gebrochen. Wahrscheinlich deshalb stehen allein in der Münchner Hugendubel-Filiale zur Zeit 15 verschiedene Vornamenbücher. Nein, nicht 15 Exemplare eines Buches. 15 verschiedene Titel. Am profundesten erscheint mir heute das 528-seitige „Große Vornamenslexikon“ – „Kan-do-ro: in Kenia und Tansania vorkommende männlicher Vorname, der auf Suaheli Süßkartoffel bedeutet“. Es wehte jetzt eine steife Briese durch die Wohnung, harte Kante statt Marmeladenmantsche am Frühstückstisch. Für die beiden Jungs haben wir uns Annette Kast-Zahns Grundlagenwerk „Jedes Kind kann schlafen lernen“ besorgt. Sie ist die Supernanny der deutschen Familienschlafzimmern. Ihr Buch ist vollgestopft mit Tabellen, Zahlen und Diagrammen. Seit die Zwillinge da sind, weiß ich do etwas. Ja, sie haben richtig gehört: Zwillinge. Wobei das nicht das Problem war. Es haben schon viele Leute Zwillinge bekommen. Wir wussten, das würden wir schaffen. Sie beweist darin, dass Kinder nachts erst recht Tyrannen sind, weshalb man ihrem Weinen nicht nachgeben solle. Da meine Frau ein instinktiver Mensch ist, habe ich sie die ersten Nächte festgebunden, sie wäre sonst irgendwann aufgestanden und ins Kinderzimmer gegangen, so bitter, wie die beiden Jungs schluchzten. Die wirkliche Grauensnachricht: Wir bekamen zwei Jungen! Anfangs freuten wir uns auf die beiden. Bis uns wohlmeinende Freunde all diese Bücher zusteckten: “Kleine Jungs – große Not“, „Die Jungenkatastrophe“ oder „Jungs im Abseits“. Bücher, die uns schon im Titel jeweils dezent zu verstehen gaben, wohin unsere Familie in den kommenden Jahren unweigerlich driften würde: nach unten, in Richtung Problemzone und soziales Abseits. Jungen sind in den Ratgebern das, was Muslime in den Medien sind: kaum integrierbar, gewalttätig, Störrisch, gefährlich. Im Klapptext dazu heißt es: “Jungen sind zum Problem geworden. Das Buch handelt von diesen verstörten und rätselhaften Jungen. Sie sind eine Herausforderung. Bisher haben wir – und damit meine ich uns alle! – sie nicht bestanden.“ Nach der aufrüttelnden Lektüre haben wir – und damit meine ich uns beide! – für unsere Söhne sofort Plätze an den umliegenden Förder- und Hauptschulen reserviert. Da uns in all diesen Horrorbüchern auch eingebläut worden war, dass Jungen strukturell, neuronal und emotional benachteiligt seien, haben wir mit ihnen von Geburt an konsequent Englisch gesprochen und überhaupt für klare Strukturen gesorgt: Zunächst kauften wir die Bücher der beiden Angstmogule Bernhard Bueb und Michael Winterhoff, die damals gerade mit einer heilsamen Shock-and-Awe-Rhetorik in die verschnarchte deutsche Pädagogenzukunft eingebrochen waren: Es muss wieder durchregiert werden in den Kinderzimmern. Meine Frau wollte die Methode des teuer erstandenen Buches in Frage stellen, indem sie mich gegen halb fünf Uhr morgens anzischte, ob es für ein Kind, mit dem die Eltern tagsüber liebevoll umgehen, nicht ein unverständlicher Schock sei, wenn sein Weinen im Dunkel plötzlich ignoriert wird. Wie auch immer, nach einigen Wochen verendete das Gewimmer, woraufhin wir sofort Kast-Zahns Sequels „Jedes Kind kann richtig essen – jedes Kind kann Regeln lernen“. Apropos Regeln: Als treuer Ratgebeleser lernt man schnell die unsichtbare Regel Nummer eins dieser Buchgattung: Jeder Autor, der mehr als 250 Exemplare seines Buches verkauft, recycelt seine Erkenntnisse in Folgebüchern. Nachdem in der New York Times stand, dass bei den amerikanischen Kinderbüchern der Marktanteil der Bilderbücher in den letzten Jahren von 35 auf 20 Prozent geschrumpft ist, weil immer mehr Eltern im Rahmen der Frühförderung textlastige Bücher verlangen, haben wir all die Bilderbücher aus dem Kinderzimmer verbannt, lasen den Zwillingen aus dem Telefonbuch vor, um das numerische Gedächtnis zu schulen, sprachen wie gesagt Englisch mit ihnen und zeigten ab und zu im Chinesischwörterbuch warnend auf die Zeichen für „Synapse“ und „Zeitfenster“. Schnell stellten sich Erfolge ein: Als wir asiatisch kochten und ich den frühreifen Julius-Anaximander fragte, ob er mir Gewürze besorgen könnte, fragte er, ob ich Süd- oder Nordkoriander bräuchte. Apropos Regeln: Als treuer Ratgebeleser lernt man schnell die unsichtbare Regel Nummer eins dieser -3- Kevin-Demian dagegen machte uns Sorgen. Er konnte mit elf Monaten immer noch nicht stehen. Drei andere Jungen in seiner PekipGruppe liefen da schon, ein viertes Kind zog sich immerhin am Stuhl hoch. Wir hatten Angst, nackte Angst, dass er in der Globalisierung unter die Räder geraten würde. Stellen Sie sich vor: Die Globalisierung steht vor der Tür und mein Kind kann nicht mal aufmachen. Als Kevin-Demian mit zwölf Monaten immer noch nicht stehen wollte und auch noch keine Diphthonge bilden konnte, sind wir an den Zürichsee gefahren, zu dem Kinderarzt Remo Largo. Largo sagte, nachdem wir ihm von unseren Englisch-Chinesischbemühungen erzählt hatten, Gras wachse nicht schneller, wenn man daran ziehe. Auf der einen Seite war ich empört: Für so ein schlunzig herbeigegoogletes afrikanisches Sprichwort fahr ich doch nicht extra in die Schweiz. Andererseits hieß es auch plötzlich in den Medien, die ganze Frühförderung bringe überhaupt nichts, die Synapsen könnten das in dem Alter noch gar nicht verarbeiten. Wir sollten mit unseren Kindern lieber bewusst im Moment leben. Also besorgte ich mir Bücher wie „Das Dalai-Lama Prinzip für Eltern“, in dem „fernöstliche Philosophie auf das Thema Erziehung übertragen“ wird. Darin steht der Satz: „Die Tatsache, dass ich mit Finn im Karussell sitze, ist die wunderbare Wirklichkeit. Sie findet hier und jetzt statt.“ Sofort stellten wir alles um. Unsere Erziehung fand nun ganz’n’gar im Hier’n’Jetzt statt. Mein Lieblingsbuch aus dieser Phase, „Ein Löffelchen Zucker“, macht aus dem Alltag ein Reich voller klitzekleiner Wunder: “Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Putzen mit Musik viel besser geht oder dass wahnsinnig süße, kleine Seifenblasen entstehen, wenn man die Spülmittelflasche wieder hinstellt? „Ganze Nachmittage saß ich von da an schmunzelnd im Lehnstuhl und freute mich am jugendlichen „Drive“ dieser Werke. Meine Frau hatte an der Spüle leider kein Ohr dafür und brüllte, ich Idiot solle mir lieber mal Gedanken über meine Vaterrolle machen. Sofort lief ich in unseren Buchladen. Die Augen gingen mir über. Meterweise Vaterbücher. Ich fragte mich, wie all die Väter zwischen 500000 vor Christus und 2010 auch nur rudimentär ihre Vaterrolle ohne „Wickelpedia-Alles, was man(n) übers Vaterwerden wissen muss“. Bals wusste ich alles. Ich wurde zum Superpapa. Meine Frau durchlief währenddessen verschiedene Aufbaukurse zur besseren Körperwahrnehmung der Kinder. Yoga für Kinder, Feldenkrais und Rolfing – eine komplementärmedizinische manuelle Behandlungsmethode, die auch Strukturelle Integration genannt wird – gehören ja eh dazu. -4- So machten wir an den Energieschlössern unserer Kinder herum, ich als eine Art großer Bruder, meine Frau als Freizeitcoach. Es war mittlerweile ohnehin wie eine Droge. Hat man erst mal angefangen mit den Ratgebern, kann man kaum noch aufhören. „Das ErziehungsABC“, „Der Elternknigge“, all das signalisiert einem auf freundlich wärmende Weise Ordnung und Übersicht. Die Bücher nehmen uns hilflose Eltern in den Arm und sagen, schau, was ist schon die Katastrophe der amerikanischen Immobilienblase gegen das Wunder einer Spüliblase? Mittlerweile erscheinen so viele Ratgeber, dass wir die Lektüre aufteilen: Wenn meine Frau brüllte, es gebe jetzt Haue, sagte ich KüblingerDolbenhuber zitierend, es sei wunderbar, wenn die Kinder sich derart kreativ ausleben. Und was sei gegen ein totes Eichhörnchen im Kühlschrank einzuwenden? Eine Woche lang sorgte sie für Zucht und Ordnung, dann machte ich wieder auf chinesischen Drill und sie auf einfühlsamen Diskurs. Mag sein, dass das verwirrend war für unsere Kleinen, aber wir hätten unser Pensum sonst einfach nicht mehr bewältigt... Vor einigen Wochen dann wurden wir für unseren pädagogischen Fleiß belohnt: Der Verband der deutschen Erziehungsratgeber schrieb, ich sei mittlerweile einer seiner emsigsten Kunden, zum Dank würden sie mich einladen in ihre Druckerei in Norditalien. Ich fuhr los, in die Gegend hinter Como. Dort stand eine Lagerhalle und ein winzig kleines Büro. Darin war ein Computer, der alle deutschen Erziehungsratgeber eingelesen hat und per Zufallsgenerator alle paar Sekunden neue Contentbatzen zu je 160 Seiten erstellt. Hinten kommen Bücher raus. Ich war fassungslos und sagte, aber das müsse doch auffliegen. „Ach was“, grinste der Geschäftsführer, „die Leute vergessen nach ein paar Wochen, was genau drinsteht in solchen Büchern, die ganze Branche ist auf die Vergesslichkeit der Kunden angelegt, haben Sie denn noch nie vom Konzept des „Book on demenz“ gehört?“ Er drückte mir ein druckfrisches Werk in die Hand. In dem Buch hieß es, wir Eltern sollten „nur noch der Stimme unseres Herzens folgen“. Ich saß später am Autobahnrand und versuchte auf mein Herz zu lauschen, aber da war nichts mehr. Nur noch ein Loch, in dessen Mitte stumm ein Fragezeichen pulste. Axel Rühle (Süddeutsche Zeitung 10/2010) FRÜHLINGS ERWACHEN – Textauszüge Fassung > SCHAUSPIEL STUTTGART | Catja Baumann und Katrin Spira nach Wedekind 1. Akt | Szene 2.2 > Freunde, Träume MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR Moritz, ich möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind! Wozu gehen wir in die Schule? Werd ich je wissen, was ich werden will? Wieviel werde ich mal verdienen? Werd ich jemals glücklich verliebt sein? Mit wie viel Frauen werd ich schlafen? Und mit wie viel Männern? Werde ich jemals Kinder haben? Welche Drogen werde ich ausprobieren, bevor ich tot bin? Meine These ist: Wir gehen in die Schule, damit man uns examinieren kann! – Und wozu examiniert man uns? – Damit wir durchfallen, versagen, …verdammt! Wäre Papa nicht, ich würde einfach abhauen. Reden wir von etwas anderem. ›Der Tauwind fegt über die Berge.‹ Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge Dryade sein… Dryade? Die Dryaden sind Baumgeister der Griechischen Mythologie. Genaugenommen sind sie Nymphen der Eichbäume, aber der Begriff wurde für alle Baumnymphen üblich. Sie werden als schöne weibliche Wesen vorgestellt. Aha. Danke. Bitte. ›Der Tauwind fegt über die Berge.‹ Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt. Glaubst du nicht auch, Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist? Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Stell dir vor, du sollst dich vollständig vor deinem besten Freund ausziehen. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht gleichzeitig auch tut. Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Jungen und Mädchen, dann lasse ich sie von früh auf im selben Zimmer, wenn möglich in ein und demselben Bett, zusammen schlafen, lasse ich sie morgens und abends beim An- und Ausziehen einander behilflich sein und in der heißen Jahreszeit, tagsüber tragen sie nichts. – Ich glaube, wenn sie so heranwachsen, müßten sie später ruhiger sein, als wir es in der Regel sind. Das glaube ich entschieden, Moritz! – Die Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen, was dann? Wieso Kinder bekommen? Ich bitte dich, Moritz, wenn deine Jungen mit den Mädchen in ein und demselben Bett schlafen und es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen – ich wette mit dir… Eine Frage beiläufig – Ja? Aber du antwortest? Natürlich! Wahr? Ich schwöre. – – Nun, Moritz? Hast du die Arbeiten schon?? Jetzt sprich doch frisch von der Leber weg! – Hier hört und sieht uns ja niemand. MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR Selbstverständlich müßten meine Kinder tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder sich durch Spiele verausgaben, die mit körperlicher Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich verweichlicht. Doch echt! Das hab ich gelesen. – Jedenfalls glaube ich, man träumt gar nicht, wenn man hart schläft. Kein Traum, keine männliche Regung. Keine männliche Regung, kein Sex unter Geschwistern. Kein dreiköpfiges Kind… Vergangenen Winter hab ich einmal geträumt, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er sich nicht gerührt hat. Das war das Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. – Was schaust du mich so merkwürdig an? Hast du sie schon empfunden? Was? ›Männliche Regungen‹? M-hm. Allerdings! Ich auch Ich schon lange! Ich war wie vom Blitz gerührt. Du hattest geträumt? Aber nur ganz kurz… von Beinen im himmelblauen Kleid… Hänschen hat von seiner Mutter geträumt. Hat er dir das erzählt? Nach meinen Erfahrungen gibt es für das erste Auftreten dieser Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier. Drei Jahre ist der älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träumt bis heute von nichts als von Burgern und seiner Playstation. Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen! Er hat ihn gefragt. Und bei dir waren es also Beine in einem himmelblauen Kleid? Und wem haben sie gehört? Martha vielleicht? So. ich muß noch Aufgaben machen: Mittelamerika und Ludwig der Fünfzehnten vor mir. Dazu die sechzig Verse Homer, die sieben Gleichungen, der lateinische Aufsatz… Komm doch mit auf mein Zimmer. In dreiviertel Stunden habe ich den Homer, die Gleichungen und zwei Aufsätze. Ich korrigiere dir ein paar harmlose Flüchtigkeitsfehler hinein und die Sache ist geritzt. Mama bringt uns eine Limonade, und wir plaudern gemütlich über Frauen und die Fortpflanzung. Ich kann nicht. – Ich kann nicht gemütlich über die Fortpflanzung plaudern! Wenn es dir peinlich ist, können wir auch in einen schriftlichen Dialog darüber treten. Haha. Eine Frage, Moritz. Hm? Hast du schon einmal ein Mädchen gesehen? Ja! Aber ganz?! Ja! Nicht im Schwimmbad oder auf Youporn? Ich muß Arbeiten machen. – Gute Nacht. (geht ab) (ruft ihm nach) Streber. 1. Akt | Szene 5.1 > Schlag mich! MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA MELCHIOR WENDLA Schon seit Wochen will ich dich etwas fragen, Wendla Du, ich muß echt vor fünf zu Hause sein. Du, ich auch. (will gehen) Was wolltest du mich denn fragen, Melchior? Wendla, ich habe gehört, du gehst häufig zu armen Leuten. Du bringst ihnen Essen, auch Kleider und Geld. Machst du das aus eigenem Antrieb, oder schickt deine Mutter dich? Meistens schickt mich meine Mutter. Aber wie kommst du darauf? Nur so, gehst du gern oder ungern? Gern. Warum? Willst du mal mit? Nein, sicher nicht. Die Kinder sind schmutzig, die Frauen sind krank, die Wohnungen strotzen vor Dreck, die Männer hassen dich, weil du nicht arbeitest… Das ist nicht wahr, Melchior. Und wenn, würde ich erst recht gehen! Wieso erst recht? Weil es mir noch viel mehr Freude bereiten würde, ihnen helfen zu können. Du gehst also um deiner Freude willen zu armen Leuten? Nein, ich gehe zu ihnen, weil sie arm sind. Aber wenn es dir keine Freude wäre, würdest du nicht gehen? Kann ich denn was dafür, daß es mir Freude bereitet? Ach hör doch auf mit deiner Aufopferung! Es gibt keine Selbstlosigkeit! – Du machst das doch auch nur, damit du dir ein paar Punkte auf der Sozialskala bekommst. Diese Heuchelei ekelt mich an. Nicht jeder ist so ein Egoist wie du! Ich bin kein Egoist. Ich bin Realist. Manchmal träume ich, ich wäre arm, richtig arm und ich würde morgens um fünf schon zum Betteln auf die Straße geschickt, ich müßte betteln den ganzen langen Tag egal bei welchem Wetter, unter hartherzigen, rohen Menschen. Und wenn ich abends nach Hause komme, zitternd vor Hunger und Kälte, und hätte nicht so viel Geld, wie mein Vater verlangt, dann würd’ ich geschlagen – geschlagen – Das klingt doch wie ›Familien im Brennpunkt‹, das hat doch mit der Realität nichts zu tun. Martha Bessel wird Abend für Abend so geschlagen, daß man am nächsten Tag Striemen sieht. Sie tut mir so furchtbar leid. – Ich würde gern einmal acht Tage an ihrer Stelle sein. Man sollte den Vater verklagen. Dann würde ihm das Kind weggenommen. Ich bin in meinem Leben nie geschlagen worden – nicht ein einziges Mal. Ich kann mir kaum vorstellen, wie das ist, geschlagen zu werden. Ich glaube nicht, daß ein Kind dadurch besser wird. Daß man es schlägt. Ich habe mich schon selber geschlagen, um zu erfahren, wie es einem dabei geht. – Es muß ein grauenvolles Gefühl sein. - Melchior, würdest du mich schlagen? Was fällt dir ein, Wendla! Was ist denn dabei? Ich schlage dich doch nicht. Wenn ich dir’s doch erlaube! Nein! Aber wenn ich dich darum bitte, Melchior! Bist du nicht bei Verstand? Ich bin in meinem Leben nie geschlagen worden! Wenn du um so etwas bitten kannst… Schlag doch zu, du feige Sau! Er schlägt zu. 2. Akt | Szene 6 > Entschluß. FRAU GABOR Lieber Moritz! Es wird mir immer eine Freude sein meinen Sohn Melchior mit einem jungen Mann umgehen zu sehen, der auch meine vollste Sympathie gewonnen hat. Aber nachdem ich 24 Stunden über alles, was Du mir geschrieben hast, nachgedacht und wieder nachgedacht habe, antworte ich Dir schweren Herzens. Das Geld für die Reise nach Amerika kann ich Dir nicht geben. Erstens habe ich so viel nicht zu meiner Verfügung, und zweitens, wenn ich es hätte, wäre es die denkbar größte Sünde, Dir die Mittel zu einer so folgenschweren Unbedachtsamkeit an die Hand zu geben. Bitter Unrecht würdest Du mir tun, Moritz, in dieser Weigerung ein Zeichen mangelnder Liebe zu erblicken. Ich bin gern bereit – falls Du es wünschst – an Deine Eltern zu schreiben. Ich werde versuchen, Deine Eltern davon zu überzeugen, daß Du im Laufe dieses Halbjahrs getan hast, was Du tun konntest. Daß Du mir andeutungsweise drohst, falls ich Dir die Flucht nicht ermögliche, Dir das Leben nehmen zu wollen, hat mich, offen gesagt, lieber Moritz, etwas befremdet. Die Art und Weise, wie Du mich, die ich Dir stets nur Gutes erwiesen, für einen eventuellen entsetzlichen Frevel Deinerseits verantwortlich machen willst, hat etwas, das in den Augen eines schlechtdenkenden Menschen gar zu leicht zum Erpressungsversuch werden könnte. Indessen hege ich die feste Überzeugung, daß Du noch zu sehr unter dem Eindruck des ersten Schreckens standen, um Dir Deiner Handlungsweise vollkommen bewußt werden zu können. Und so hoffe ich denn auch zuversichtlich, daß diese meine Worte Dich bereits in gefassterer Gemütsstimmung antreffen. Nimm die Sache, wie sie ist. Wir haben zu viele Beispiele, daß sehr schlechte Schüler vorzügliche Menschen geworden und umgekehrt ausgezeichnete Schüler sich im Leben nicht sonderlich bewährt haben. Und somit Kopf hoch, Moritz! – Solche Krisen dieser oder jener Art gibt es immer wieder und sie wollen eben überstanden sein. Wollte da ein jeder gleich zu Messer oder Gift greifen, dann würde es bald keine Menschen mehr auf der Welt geben. Laß bald wieder etwas von Dir hören und sei herzlich gegrüßt von Deiner Dir unverändert zugetanen mütterlichen Freundin Fanny Gabor. 2. Akt | Szene 7.1 > Kurzschluß. MORITZ Besser ist besser. – Ich passe nicht hinein. Mögen sie einander auf die Köpfe steigen. – Ich ziehe die Tür hinter mir zu und trete ins Freie. – Ich lasse mich nicht herumdrücken. Ich habe mich nicht aufgedrängt. Was soll ich mich jetzt aufdrängen! – Ich habe keinen Vertrag mit dem lieben Gott. Man kann die Sache drehen, wie man sie drehen will. Man hat mich erpreßt und in die Enge getrieben. – Meine Eltern mache ich nicht verantwortlich. Immerhin, sie waren alt genug, um zu wissen, was sie taten. Ich dagegen war ein Säugling, als ich zur Welt kam – sonst wäre ich wohl schlau genug gewesen, ein anderer zu werden. – Was soll ich dafür büßen, daß alle andern schon da waren! Ich müßte ja auf den Kopf gefallen sein… Man wird ganz per Zufall geboren und was dann? Arbeiten, Arbeiten, vielleicht eine Frau haben, ein Haus, wozu das alles? Damit man alles wieder verliert? Mann es ist zum Totschießen! – Das Wetter ist wenigstens rücksichtsvoll. – Es herrscht eine seltene Ruhe in der Natur. Nirgends etwas Grelles, Aufreizendes. Und dabei scheint sich alles so wohl zu fühlen. Mit Martha habe ich zum letzten Mal getanzt. Ihr Kleid – – – Das wäre etwas, was mich noch fesseln könnte. – – – Ich werde es niemandem sagen, daß ich unverrichteter Sache wiederkehre. Ich werde so tun, als hätte ich all das mitgemacht… Es hat etwas Beschämendes, Mensch gewesen zu sein, ohne das Menschlichste kennengelernt zu haben. – Sie waren in Ägypten, verehrter Herr, und haben die Pyramiden nicht gesehen?! Ich will nicht wieder weinen. Ich will nicht wieder an mein Begräbnis denken – Melchior wird mir Blumen aufs Grab legen. Pastor Kahlbauch wird eine Rede halten und meine Eltern trösten. Die Rektorin Sonnenstich wird vielleicht auch kommen – Ich wünsche mir, daß alle fröhlich sind und nicht weinen und daß ich keinen häßlichen Grabstein bekomme – wobei – eigentlich egal. Die Denkmäler sind für die Lebenden, nicht für die Toten. Ich will nicht wieder weinen. – – – Wenn es so weit ist, will ich aus Leibeskräften an Schlagsahne denken. Schlagsahne hält nicht auf. Sie stopft und hinterläßt dabei doch einen angenehmen Nachgeschmack… Am Anfang habe ich wirklich gedacht, daß alle immer nur mein Bestes gewollt haben. Dabei war das doch alles nur Mitleid. Es tut so gut, sich von all dem zu lösen! Der Nebel zerrinnt; das Leben ist Geschmacksache. 3. Akt | Szene 1.1 Alles Gute für die Zukunft SONNENSTICH MELCHIOR SONNENSTICH MELCHIOR SONNENSTICH MELCHIOR SONNENSTICH MELCHIOR SONNENSTICH MELCHIOR SONNENSTICH MELCHIOR SONNENSTICH Gemeinsam sollten wir nun alles dafür tun, unsere Anstalt vor derart erschütternden Taten zu bewahren. Wir müssen eine Selbstmordepedemie an unserer Schule verhindern. Ein nachsichtiges Verfahren, das sich unserem schuldbeladenen Schüler gegenüber rechtfertigen ließe, ließe sich der Gesellschaft gegenüber nicht rechtfertigen. Herr Gabor, haben Sie Moritz Stiefel eine Waffe ausgehändigt? Ich habe… Beantworten Sie meine Fragen mit ›Ja‹ oder ›Nein‹. – Besitzen Sie eine Waffe? Ich wollte Moritz nur ablenken. Wir haben nur Spaß gemacht. Das verstehen Sie unter Spaß? Die war ja nicht mal geladen. Wie hätte ich wissen sollen, daß er gleich losrennt und sich erschießt. Ja, er hat sich aber erschossen! Ja, und Sie tragen dafür die Verantwortung, nicht ich. Ich kann Moritz mittlerweile sehr gut verstehen! Enttäuscht und frustriert sind wir alle. Wir werden auf individuelle Karriere getrimmt, auf ein persönliches Bessersein, das für Kollektivität, für ein solidarisches Stützen und Auffangen keinen Platz mehr bietet. Sie hatten Ihre Chance… Wir füttern unseren Lebenslauf, bis wir merken, dass wir selbst nichts gegessen haben. Sie haben sie nicht genutzt. Moritz ist nicht plötzlich durchgedreht, dem ist es zu viel geworden! Beim nächsten Mal da bleibt es nicht bei einem Toten, da können Sie sicher sein. Und Sie können sich sicher sein, daß wir das verhindern werden! Herr Gabor, sie verlassen unsere Schule vorzeitig. Ohne Abschluß. Alles Gute für ihre Zukunft. 3. Akt | Szene 4.1 > Ich möchte doch wissen, wozu... MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ MELCHIOR MORITZ Das Leben ist Geschmacksache. Hallo Melchior! Probleme? Moritz? (singt) Nein, ich bin eine Dryade, die sich in die Zweige gehängt hat. Willst Du mir nicht die Hand geben? Bin ich dein Mörder? Glaubst du immer alles, was andere sagen? Hab’ ich was falsch gemacht? Selig, die reinen Herzens sind, schön oder? Das ist doch ein seltsam glückliches Zusammentreffen, oder? Konntest du vergessen? Würdest du dich bei mir wohler fühlen? Hast du dein Leben weggeworfen? Sind die Lebenden zu bemitleiden? Ist es erhaben über sich selbst zu lachen? Glaubst du nicht, daß sich alles weisen wird? Warum hast du den Kopf nicht auf? Will ich unter Menschen? Hab’ ich irgendwann Gelegenheit meinen Horizont zu erweitern? Ist der Unterschied zwischen mir und dir so wesentlich? Werde ich jemals mit allem bekannt, was die Welt interessantes bietet? Bleibt dir denn eine Wahl? Ich möchte doch wissen: warum wir auf der Welt sind? (spielt Sterben) Kann ich dir auch nicht sagen, sorry. Ich bin weg! Find’s raus!