Musik als "tönend bewegte Form"?

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Essay
Musik als "tönend bewegte Form"?
Eduard Hanslick und sein Kampf gegen die "verrottete
Gefühlsästhetik"
Von Jens Hagestedt
Sendung: Montag, 29.02.2016, 22.03 Uhr
Redaktion: Lydia Jeschke
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
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Musik als »tönend bewegte Form«?
Eduard Hanslick und sein Kampf gegen die »verrottete Gefühlsästhetik«
Eine Sendung von Jens Hagestedt
<Musik 1:
Wolfgang Amadeus Mozart: Symphonie g-moll KV 550
Concertgebouw-Orchester Amsterdam
Leitung: Nikolaus Harnoncourt
Teldec 4509-97490-2
3'00
<S 1> Exposition und Durchführung des Finales von Mozarts g-moll-Symphonie KV
550, gespielt vom Concertgebouw-Orchester Amsterdam unter der Leitung von
Nikolaus Harnoncourt. Ist diese Musik ein einziger Ausdruck von Verzweiflung?
<S 2> »Des Leidens müde«,
<S 1> so ein Kommentator des 19. Jahrhunderts,
<S 2> »des Leidens müde, wird die Seele unwillig und empört gegen das Leiden; sie
überläßt sich einem ungestümen Zorne, der [...] beinahe in Wildheit ausartet. [...] Ich
zweifle, daß es in der Musik etwas tiefer Einschneidendes, grausamer
Schmerzliches, heftiger Bestürztes, trotziger Leidenschaftliches gibt, als die
[Durchführung] dieses Finale's. [...] Aus welchem Begegnisse seines innern Lebens,
aus welchem Paroxismus des Herzens hat Mozart diese wie irre redende und doch
so classische Inspiration genommen, und wie hat dieser Ausfluß der Leidenschaft
den Ausfluß der [kompositorischen] Wissenschaft überholt?«1
<S 1> Der Kommentator war der russische Musikkritiker Aleksandr Dmitrijewitsch
Ulybyschew, das Zitat entstammt seiner dreibändigen Mozart-Monographie, die er in
französischer Sprache 1843 in St. Petersburg veröffentlicht hatte. Für Ulybyschew,
dessen Werk 1847 auch auf Deutsch erschien, brachte Mozarts g-moll-Symphonie,
<S 2> »die Wünsche und Leiden einer unglücklichen Liebe«
<S 1> zum Ausdruck, »einen rückhalts- und grenzenlosen Schmerz [...], welcher
Angesichts der ganzen Welt ausbricht und diese mit seinen Seufzern erfüllen
möchte«.2
S 1> Ulybyschews Kollege Eduard Hanslick, der namhafteste Musikkritiker des 19.
Jahrhunderts, wollte von derlei Deutungen nichts wissen.
<S 3> »Sind [sie] an sich schon vom Uebel, so [sind] sie es doppelt bei Mozart,
welcher – die musikalischste Natur, so die Kunstgeschichte aufzuweisen hat – Alles
was er nur berührt hat, in Musik verwandelte«,
<S 1> schrieb Hanslick in seiner 1854 erschienenen Abhandlung Vom MusikalischSchönen.
1
<S 3> »Die G-moll-Symphonie ist Musik und weiter nichts. [...] Man suche nicht die
Darstellung bestimmter Seelenprocesse oder Ereignisse in Tonstücken, sondern vor
Allem Musik, und man wird rein genießen, was sie vollständig gibt.«3
<S 1> »Musik und weiter nichts«? Oder: »vor Allem Musik«, also Musik und noch
etwas mehr? Was haben, Hanslick zufolge, »Tonstücke« zum Inhalt? Diese Fragen,
aufgeworfen von den beiden nicht vollkommen deckungsgleichen Formulierungen
des zitierten Satzes, stehen im Zentrum der Auseinandersetzungen, die seit mehr als
150 Jahren um seine Ästhetik geführt werden. Seine Extremposition hat Hanslick in
einem Satz ausgesprochen, der die wohl berühmteste musikästhetische
Formulierung des 19. Jahrhunderts enthält:
<S 3> »Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der
Musik.«4
<S 1> »Tönend bewegte Formen« – was ist darunter zu verstehen? Hanslick
antwortet mit einem Vergleich:
<S 3> »In welcher Weise uns die Musik schöne Formen ohne den Inhalt eines
bestimmten Affectes bringen kann, zeigt uns recht treffend ein Zweig der Ornamentik
in der bildenden Kunst: die Arabeske. Wir erblicken geschwungene Linien, hier sanft
sich neigend, dort kühn emporstrebend, sich findend und loslassend, in kleinen und
großen Bogen correspondirend, scheinbar incommensurabel, doch immer
wohlgegliedert, überall ein Gegen- oder Seitenstück begrüßend, eine Sammlung
kleiner Einzelnheiten, und doch ein Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske nicht
todt und ruhend, sondern in fortwährender Selbstbildung vor unsern Augen
entstehend. Wie die starken und die feinen Linien einander verfolgen, aus kleiner
Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann wieder senken, sich erweitern,
zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und Anspannung das Auge
stets neu überraschen! Da wird das Bild schon höher und würdiger. Denken wir uns
vollends diese lebendige Arabeske als thätige Ausströmung eines künstlerischen
Geistes, der die ganze Fülle seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser
Bewegung ergießt, wird dieser Eindruck dem musikalischen nicht einigermaßen
nahekommend sein?«5 »Die sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr
Zusammenstimmen und Widerstreben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr
Aufschwingen und Ersterben, – dies ist, was in freien Formen vor unser geistiges
Anschauen tritt und als schön gefällt.«6
<S 1> Musik als bloßes Ornament, weder Ausdruck tiefer Gefühle und großer
Leidenschaften noch auf diese beim Hörer zielend: wer war der Mann, der die
musikalische Erfahrung als »geistiges Anschauen« klingender Linienkünste auffaßte
oder aufzufassen vorgab? Eduard Hanslick wurde 1825 in Prag geboren. Der Vater,
Bibliotheksschreiber, hatte sich dagegen entschieden, als Konzertpianist oder
-sänger Karriere zu machen oder Professor für Philosophie zu werden, hatte dieses
Fach aber studiert und seinen Lebensunterhalt derweil als Musiklehrer finanziert. Die
Möglichkeit, eine seiner Schülerinnen, Tochter aus gutem Hause, zu ehelichen,
verdankte er einem Lotteriegewinn. Seine fünf Kinder unterrichtete er selbst – in
sämtlichen Fächern.
Der musikalisch hochbegabte Sohn wurde, nachdem der Vater die Grundlagen
gelegt hatte, zu strenger vierjähriger Ausbildung in Klavierspiel und Musiktheorie dem
2
Komponisten Wenzel Johann Tomaschek anvertraut. Nach dem Abitur studierte der
junge Hanslick parallel Rechtswissenschaften, um mit dieser Qualifikation in den
Staatsdienst einzutreten. Die beiden letzten Semester absolvierte er in Wien, wo er
ab 1852 als Kritiker und ab 1856 als Privatdozent für Geschichte und Ästhetik der
Musik wirkte – beides im Nebenberuf. 1861 nahm die Wiener Universität seine
Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen als Habilitationsschrift an und machte ihn
zum Professor. Die Juristerei konnte er endlich an den Nagel hängen. Bleibt jedoch
die Frage, warum sich Hanslick nicht für eine Musikerlaufbahn entschieden hatte. In
seiner 1894 erschienenen Autobiographie Aus meinem Leben schreibt er:
<S 3> »Nach vier Jahren war ich aus Tomascheks strenger Schule als tüchtiger
Klavierspieler und wohlbeschlagen in der musikalischen Theorie hervorgegangen,
wie das von ihm sehr förmlich abgefaßte, mit Stempel und Siegel versehene
Absolutorium mir bezeugt. Mein Vater, liberal und ein Feind des Zwanges in allem,
stellte es mir völlig anheim, ob ich die Musik als Lebensberuf wählen wolle. Trotz
meiner Liebe zur Musik konnte ich mich nicht dazu entschließen. Die
Virtuosenlaufbahn widerstrebte mir entschieden, obwohl Tomaschek dazu riet. Noch
weniger reizte es mich, Musiklehrer zu werden oder eine Stelle als Dirigent
anzustreben. Blieb also nur – das Schönste, der Beruf des Komponisten. Daß ich
aber diesem nur in einem sehr begrenzten, unbedeutenden Teil zu genügen
vermöchte, war mir selbst vollkommen klar. Ich hatte einige kleine Klaviersächelchen
und einen ansehnlichen Haufen Lieder komponiert, deren melodiöser Zug und
ungesucht innige Empfindung meinen Freunden zu Herzen sprach. Mit solchen
Kleinigkeiten, das fühlte ich deutlich, ist der Welt nicht gedient und füllt man kein
Leben aus. Mir fehlte der Mut, etwas Größeres zu versuchen, ein Quartett, eine
Ouvertüre oder Symphonie; ich traute mir musikalisch starke, triebkräftige Ideen nicht
zu.«7
<S 1> Wie immer man über Hanslicks Rolle in der Musikkritik des 19. Jahrhunderts
denken mag: ein Kritiker, der sich so freimütig über seine Grenzen äußert, hat sein
Metier nicht mit dem Ressentiment des verhinderten Musikers gewählt – um es
denen heimzuzahlen, die mit größeren Begabungen gesegnet sind. Als
»Kritikerpapst« wäre er sehr unzutreffend bezeichnet. Hanslick hatte nichts
Päpstliches. Er war auch kein Eiferer, geschweige denn ein kleinlicher Krittler. Die
Figur des Beckmesser, die Wagner polemisch auf Hanslick gemünzt hat, verfehlt
dessen Persönlichkeit vollkommen. Den frühen Wagner, vor allem den des
Tannhäuser, schätzte und förderte Hanslick übrigens, um den späteren hat er sich
bemüht. Dass er ihn, mit Ausnahme etwa der Meistersinger, dass er auch den Liszt
der programmusikalischen Symphonischen Dichtungen ablehnte, basierte jedenfalls
nicht auf Voreingenommenheit.
Im persönlichen Verkehr war Hanslick umgänglich. Seine Autobiographie erweist mit
ihren Dutzenden Porträts von Zeitgenossen Hanslicks Fähigkeit, Menschen
wahrzunehmen, Freundschaften zu unterhalten. Daß Liszt mit seinem
entschiedensten Gegner entspannt und respektvoll verkehrte, mit ihm vierhändig
spielte, ihn sogar in seiner Wiener Wohnung besuchte, bezeugt die Großherzigkeit
des großherzigsten aller Komponisten, bezeugt aber auch seinen Glauben, daß
Hanslick es wert sei. Wie sehr es Hanslick um die Sache zu tun war, geht es aus
seiner Gepflogenheit hervor, in Konzertkritiken über keine Komposition zu urteilen,
3
<S 3> »ohne sie vor der Aufführung und nochmals nach derselben zu lesen oder
durchzuspielen« –
<S 1> eine Praxis, der er immer gewissenhaft treu geblieben sei.8
Was nun brachte den jungen, noch nicht dreißigjährigen Enthusiasten dazu, der
Musik allen Gefühlsinhalt abzusprechen? Hanslick reagierte polemisch überzogen
auf die Art und Weise, wie über Musik gesprochen und geschrieben wurde, und er tat
dies auf der Basis theoretischer Vorannahmen, die der Sache nicht gerecht wurden,
sondern das, was er sagen wollte, weiter zuspitzten.
Was die historische Situation betrifft, in der Hanslicks Büchlein entstand, berichtet
der Kritiker in seiner Autobiographie von der Lektüre ungezählter Bücher
musikästhetischen Inhalts, die
<S 3> »alle das Wesen der Musik in die durch sie erregten ›Gefühle‹ setzten und ihr
eine sehr bestimmte Ausdrucksfähigkeit zuschrieben [...]. Gleichzeitig erhoben sich
lärmend die ersten enthusiastischen Stimmen für Wagners Opern und Liszts
Programm-Sinfonien.«9
<S 1> Die These, Hanslick habe sich Einseitigkeiten mit bewusster eigener
Einseitigkeit entgegengestemmt, scheint plausibel. Er könnte sich etwa gefragt
haben: Liegt darin, dass Musik zugestandenermaßen Gefühle erregt, wie es
besonders deutlich der Wagner-Rausch des Publikums bezeugt, auch das Wesen
der Musik? Vermag sie mit ihrer Ausdrucksfähigkeit Inhalte, selbst begriffliche Inhalte
tatsächlich auf »sehr bestimmte« Weise auszudrücken, wie Liszts Symphonische
Dichtungen angeblich beweisen? Und er hätte sich, da das Boot nach der einen
Seite hin zu kentern drohte, auf die andere geworfen, indem er behauptete, Gefühle
gehörten überhaupt nicht zum Inhalt der Musik: was Musik artikuliere, seien weder
Gefühle noch gar Begriffe.
Neben strategischen Rücksichten sind in Hanslicks Stellungnahme aber, wie gesagt,
auch anfechtbare theoretische Vorannahmen eingegangen. Hanslick geht es um
»objective Erkenntniß«10 musikalischer Sachverhalte, nicht darum, welche
Wirkungen diese auf hörende Subjekte haben. So weit, so gut. Aber Hanslick denkt
objektive Erkenntnis in Analogie zur visuellen Wahrnehmung.
Wenn wir über die Sinneswahrnehmungen, vor allem über das Sehen und das Hören
nachdenken, sind jahrtausendealte begriffliche Konnotationen im Spiel. Das Sehen
etwa gilt als der auf den Raum bezogene Sinn schlechthin, obwohl das Hören
ebenso auf den Raum bezogen ist. Ein Beispiel aus der Musik: welche Klänge wo im
Orchester entspringen, das hört der aufmerksame Konzertbesucher ganz genau.
Dennoch war zumindest das abendländische Denken immer geneigt, das Hören als
einen subjektiveren Sinn aufzufassen: als weniger auf die drei Dimensionen des
Raumes denn auf die vierte der Zeit gerichtet. Da die Zeit aber in der sogenannten
»Außenwelt« nicht unmittelbar wahrnehmbar ist, müsse sie einer »Innenwelt«
angehören (die freilich unauffindbar ist, was wiederum den Begriff der »Außenwelt«
untergräbt). Für den von Hanslick genau gelesenen Hegel konnte die Musik, die
Kunst des Zeitsinns, des »inneren« Sinns, ihre höchste Blüte erst in einem Zeitalter
der »Innerlichkeit« – im christlichen Zeitalter – hervortreiben. Mit dem Begriff der
Innerlichkeit verband Hegel die Vorstellung eines im Vergleich zur nach »außen«
gewandten heidnischen Antike reicher ausgebildeten Gefühls- und Gedankenlebens:
Gedanken und Gefühle gehören also der »Innenwelt« subjektiven Bewusstseins an.
4
Solche Konnotationen ruft Hanslick hervor, wenn er das Hören von Musik mit einer
auf die visuelle Wahrnehmung zurückgehenden Metapher als »Anschauen«
bezeichnet: Konnotationen, die die Musik im Rahmen der Unterscheidung von
»Außenwelt« und »Innenwelt« aus der »Innenwelt« des Hörens und des Gefühls in
die »Außenwelt« rein ästhetisch wahrgenommener Schönheit verlegen. Sie führen
ihn, Hanslick, in seiner Bestimmung dessen, was Musik ihrem Wesen nach ist, in die
Irre. Bezeichnend seine Formulierung,
<S 3> »daß in ästhetischen Untersuchungen [...] das schöne Object und nicht das
empfindende Subject zu erforschen sei«,11
<S 1> – das schöne Objekt, das »angeschaut«, nicht »empfunden« zu werden
verlange, obwohl die Empfindungen des empfindenden Subjekts von ihm
»hervorgerufen« werden, wie Hanslick schreibt.12
<S 3> »Das Schöne hat nichts Anderes zu thun als schön zu sein, mag es gleich
immerhin leiden, daß wir außer dem Anschauen – der eigentlich ästhetischen
Thätigkeit – auch im Fühlen und Empfinden ein Uebriges thun.«13
<S 1> Hanslick gebraucht in diesen Sätzen zweimal einen Begriff, mit dem eine
weitere theoretische Vorannahme verbunden ist: den Begriff des »Ästhetischen«.
Aber werden ästhetische Fragestellungen der wirkenden Macht und dem
existentiellen Sinn von Kunst gerecht? Sind Kunstwerke letztlich ästhetische
Gegenstände, dazu bestimmt, aus der Distanz angeschaut, d. h. in ihren Strukturen
»genießend« nachvollzogen zu werden? Wir brauchen nur an Nietzsche zu denken,
den bedeutendsten »Ästhetiker« der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der den
höchsten Sinn von Kunst in der Erzeugung dionysischer oder genauer dionysischapollinischer Räusche sah, um zu erkennen, dass Hanslicks Auffassung nicht
selbstverständlich war. Sie war »apollinisch« in jenem beschränkten Sinne, für den
Nietzsche uns die Augen geöffnet hat. Kunst ist aber die höchste Form sprachlichen
oder bildnerischen Verhaltens zur Wirklichkeit. Sie schafft daher keine abgesonderte
Sphäre neben der vermeintlich eigentlichen Wirklichkeit, sondern repräsentiert genau
diese eigentliche Wirklichkeit, und zwar angemessener als jede andere Form im
weitesten Sinne sprachlichen Weltbezugs, mit Ausnahme des philosophischen
Denkens. Sie stiftet Weltverständnis und hat insofern grundlegend existentielle, nicht
nur ästhetische Bedeutung – ein Sachverhalt, aus dem im 20. Jahrhundert Martin
Heidegger konsequenterweise die Forderung abgeleitet hat, die Ästhetik als die der
Kunst vermeintlich adäquateste Betrachtungsweise zu verabschieden. Hanslicks
Satz
<S 3> »Dem Schönen entspricht ein Genießen, kein Erleiden, wie ja das Wort
›Kunstgenuß‹ sinnig ausdrückt«14
<S 1> – diesen Satz hätte Nietzsche nicht unterschrieben. Er hätte ihm vielmehr eine
falsche Alternative attestiert und über den bildungsbürgerlichen Begriff
»Kunstgenuß« gespottet. Nietzsche hätte eine Abhandlung über das Wesen der
Musik auch nicht, wie Hanslick, mit dem Titel »Vom Musikalisch-Schönen«
überschrieben: wobei Hanslicks Betonung auf »Musikalisch« liegt, weil er wie
selbstverständlich davon ausgeht, dass Kunst es nur mit dem Schönen zu tun habe.
Richard Strauss bezeichnet er später lakonisch als
5
<S 2 »großes Talent für falsche Musik, für das musikalisch Häßliche«.15
<S 1> Demgegenüber war Nietzsche durch die Erfahrung der »nicht mehr schönen«
Künste gegangen, die in der Literatur mit Namen wie Baudelaire und Edgar Allen
Poe verbunden ist, und hatte in die grässlichen Abgründe des schon
angesprochenen, von ihm so genannten »Dionysischen« geblickt. Auch wenn
Hanslick geltend zu machen versucht hätte, dass das Hässliche in der Kunst
irgendwie »schön« sein müsse, um Kunst zu sein – man fühlt das Verharmlosende,
das in der Rede von der Kunst als einem Reich des »Schönen« liegt. Und das
Existentielle der Kunst liegt tiefer als ihre beiden ästhetischen Pole – tiefer als ihr
Schönes und als ihr Hässliches.
Musik, so Hanslick, kann Gefühle »erregen« – so wie alles und jedes Gefühle
erregen kann. Gefühle »darstellen«, intentional »ausdrücken« kann Musik aber
nicht.16 Eines der besten Argumente Hanslicks für diese These ist das sogenannte
»Parodieverfahren« in der Vokalmusik: ein Verfahren, in dem einer textierten Melodie
ein anderer Text unterlegt wird, der in extremen Fällen gegensätzlichen
Gefühlsgehalt aufweisen kann. Bachs Weihnachtsoratorium ist ein klassisches
Beispiel: ein Werk, dessen Sätze erwiesenermaßen fast ausnahmslos auf bereits
existierende Bachsche Stücke, zumeist aus weltlichen Kantaten, zurückgehen. Ein
extremer Fall ist die Alt-Arie »Bereite dich, Zion« aus dem ersten Teil, ein freudiger
geistlicher Verheißungsgesang. Die Musik stammt aus der Kantate Laßt uns sorgen,
laßt uns wachen BWV 213, genauer: sie basiert auf der Arie »Ich will dich nicht
hören« des Herkules, einer Absage an Sinnlichkeit und »Wollust«. Wenn dieselben
Melodien im geistlichen Zusammenhang den Ausdruck von Liebe – nämlich der zu
Jesus Christus –, im weltlichen den Ausdruck von Absage an Liebe – nämlich an die
sündige des Fleisches – haben: haben sie dann überhaupt einen bestimmten
Gefühlsausdruck? Man würde es sich zu leicht machen, wenn man argumentierte,
daß die geistliche Liebe zu Jesus Christus aufs beste mit der Absage an die
Sexualität vereinbar sei. Die Grundhaltung des einen Textes ist nämlich bejahend,
die des anderen verneinend – und insoweit sind die Texte nicht miteinander
vereinbar. Aber hören wir beide Stücke darauf hin an, was sie musikalisch zum
Ausdruck bringen und was nicht. Zunächst das frühere Stück, die Arie des Herkules.
Der vollständige Text aus dem Libretto von Picander alias Christian Friedrich Henrici
lautet: »Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen,/ Verworfene Wollust, ich
kenne dich nicht./ Denn die Schlangen,/ So mich wollten wiegend fangen,/ Hab ich
schon lange zermalmet, zerrissen.« Es singt Barbara Hölzl, es spielt das Arco
Baroque Orchestra unter der Leitung von Heinz Hennig.
<Musik 2:
Johann Sebastian Bach: „Laßt uns sorgen, laßt uns wachen“ BWV 213
Arco Baroque Orchestra
Leitung: Heinz Hennig
Ars Musici 232335
1'34
Hat diese Musik den verneinenden Charakter einer Absage? Oder ist sie lediglich
vereinbar mit einer vom Text artikulierten Absage? Und sollte das letztere der Fall
sein: würde dies bedeuten, dass die Musik überhaupt keinen eigenen
gefühlsmäßigen Ausdruck besitzt? Hören wir, mit diesen Fragen im Hinterkopf, die
6
Arie aus dem Weihnachtsoratorium. Der Text, wahrscheinlich wieder verfasst von
Picander, lautet: »Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben,/ Den Schönsten, den
Liebsten bald bei dir zu sehn./ Deine Wangen/ Müssen heut viel schöner prangen,/
Eile, den Bräutigam sehnlichst zu lieben!« Die Solistin ist Anne Sofie von Otter, unter
der Leitung von John Eliot Gardiner spielen The English Baroque Soloists.
<Musik 3:
Johann Sebastian Bach:
3‘02
„Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben“ aus dem Weihnachtsoratorium BWV 248
Anne Sofie von Otter
The English Baroque Soloists
Leitung: John Eliot Gardiner
DG 423 232-2
Denken wir, mit dem intimeren Mittelsatz über die prangenden Wangen im Ohr, an
die Parallelstelle über die versucherischen Schlangen der »verworfenen Wollust«
zurück: Klingen die musikalisch im wesentlichen identischen Passagen im Lichte der
ihnen unterlegten grundverschiedenen Verse der weltlichen Kantate und des
geistlichen Oratoriums in ihrem Gefühlsausdruck so grundverschieden, dass man
ihnen, wie Hanslick behaupten würde, keinen eigenen Gefühlsausdruck attestieren
kann? Albert Schweitzer beispielsweise hat diese Frage implizit verneint und Bachs
Adaption kritisiert: die Vertonung werde nur dem Text der Kantate gerecht.
Schweitzer verwies auf die sich in Sechszehnteln ergehende Bassfigur der Passage,
ein
<S 2> »bekanntes Motiv, das die windende Bewegung einer Schlange oder eines
Drachens«
<S 1> darstelle.17 Es handelt sich um ein abstraktes musikalisches Symbol, das als
solches aber auf dem konkreten Eigen-Sinn dieser und ähnlicher Tonfolgen aufruht:
Nur weil derartige Tonfolgen unwillkürlich unter anderem an Schlangen und alles,
was mit Schlangen zusammenhängt, denken lassen, können sie zum abstrakten
Symbol gemacht werden. Mit der Vorstellung Schlange evozieren diese Tonfolgen
natürlich auch den Begriff der Versuchung und – worum es hier ja geht – darüber
hinaus ein Gefühl: nämlich das Unbehagen, es mit einem Appell an »niedere Triebe«
zu tun zu haben, die sich die Oberhand über die Vernunft verschaffen könnten. Damit
wäre der eigenste Gefühlsgehalt der Passage umrissen – ein musikalischer Gehalt,
von dessen Existenz Hanslick nichts wissen will.
Dass Musik zum Träger symbolischer Bedeutungen werden kann, erkennt Hanslick
übrigens an. Er übersieht aber, dass musikalische Symbole selten auf vollkommen
willkürlicher Zuweisung von Bedeutungen zu Tonkomplexen beruhen. Wenn der
verminderte Septakkord, eines von Hanslicks Beispielen, einst als symbolischer
Ausdruck für Verzweiflung verwendet werden konnte, dann deshalb, weil er im
Rahmen einer bestimmten historischen Formation der musikalischen Sprache
unmittelbar als Ausdruck eines sehr unlustvollen Gefühls gehört wurde. Aus ihm ein
Symbol zu machen, bedeutete nur, ihn aufgrund dieses unmittelbaren Ausdrucks
zum Zeichen zu verfestigen.
Als Produkt menschlichen Geistes ist Musik immer Ausdruck von Befindlichkeit,
Gestimmtheit, »Gefühl« im weitesten Sinne. Was sie von den anderen Künsten
unterscheidet, ist, daß sie sich auf die Artikulation dieser Schicht des Geistigen
7
weitgehend beschränkt und spezialisiert. Hanslick mißversteht die von ihm so
genannte »verrottete Gefühlsästhetik«,18 wenn er deren Grundthese dahingehend
wiedergibt, daß Musik die »Ideen«, d. h. die anschaulich gewordenen Begriffe »der
Liebe, des Zornes, der Furcht« usw. darstelle.19 Dergleichen hat nur Programmusik
versucht, etwa die allegorische des 18. Jahrhunderts, die bereits von E. T. A.
Hoffmann gegeißelt worden war.20 Während aber Werke wie Dittersdorfs
Combattimento delle umane passioni, »Der Kampf zwischen den menschlichen
Leidenschaften«, vom Hörer erwarten, daß er die in Tönen artikulierten
Leidenschaften ihren Begriffen nach erkennt, d. h. in Worte übersetzt, soll Musik den
Hörer in der Regel nur in die artikulierten Gefühle und Gestimmtheiten einstimmen
und deren Wechsel rein emotional nachvollziehen lassen. In der für das breite
Publikum bestimmten Werkschicht ist das sogar die Hauptsache. Man denke an das
»Per aspera ad astra« Beethovenscher Sonaten und Symphonien, an jene
psychologischen Prozesse und gleichnishaften Schicksalsdramen, die in eine
Schlußapotheose, ein »Alles wird gut« münden: wie kann Hanslick bestreiten, dass
es in solcher Musik zentral um den Ausdruck von Gefühlen geht?
Dass diese emotionale Schicht beim Hören von Musik auch weit zurücktreten kann
gegenüber dem, was Hanslick das »spezifisch Musikalische« nennt,21 sei
zugestanden. Die modern-modernistischen Ostinatostudien, die der späte Liszt in
seinen Mephisto-Walzern Nr. 2 bis 4 und in seiner Mephisto-Polka komponiert hat,
sind für Kenner mit Sinn für das kompositorisch Experimentelle bestimmt.
<Musik 4:
György Ligeti: Musica Ricercata
Cathy Krier, Klavier
LC 15080 CAvi-music, Best.-Nr. 8553308
2‘32
György Ligetis Musica ricercata ist eine geistreiche Probe aufs Exempel, was sich mit
zwei, drei, vier Tönen der chromatischen Tonleiter alles anstellen lässt, ein Zyklus,
der vom Hörer erwartet, daß er den Stufengang nachvollziehe, bis im letzten, alle
zwölf Halbtöne verwendenden Stück gleichsam die ganze Musik beisammen ist.
Dennoch war Ligeti darauf bedacht, den Stücken klare, deutlich voneinander
unterschiedene Ausdruckscharaktere einzukomponieren, und Liszt dürfte Walzer und
Polka im Titel mit der Figur des Mephisto verknüpft haben, damit dem Hörer aus der
teuflischen Monotonie der Strukturen Schwefelgeruch in die Nase steige...
Daß in der musikalischen Erfahrung auch ohne verbale Winke von Texten und Titeln
in eminentem Maße Gefühle im Spiel sind, diese Tatsache hat Hanslick nicht
bestritten. Sie hat ihn vielmehr bewogen, ihr in einem längeren Kapitel seiner
Abhandlung nachzugehen und seine Auffassung vom »Inhalt« des musikalischen
Werkes gegen sie zu verteidigen. Hanslick spricht zunächst von zweierlei
musikalischer Erfahrung, nämlich der des Komponisten und der des Hörers, und
äußert sich zum Interpreten erst später. Seine Darlegungen müssen jedoch ihr Ziel
verfehlen, weil sie Gefühle nur als psychische Gegebenheiten behandeln, nicht auch
als Gehalte sprachlichen Ausdrucks: Komponisten haben Gefühle, Hörer haben
Gefühle, musikalische Werke haben keine Gefühle. Richtig. Aber bedeutet das, daß
Gefühle nicht den Inhalt der Werke mit ausmachen? Dass die Gefühle eines
Komponisten nicht in seine Werke eingehen und die des Hörers nicht aus ihnen
hervorgehen?
8
<S 3> »Streng ästhetisch können wir von irgend einem Thema sagen, es klinge stolz
oder trübe, nicht aber: es sei ein Ausdruck der stolzen oder der trüben Gefühle des
Componisten.«22
<S 1> Hanslick wendet sich damit gegen die psychologisch-biographische
Deutungsmethode, die den »streng ästhetischen« Aspekt vernachlässigt oder gar
ignoriert und über ein Kunstwerk alles Wesentliche gesagt zu haben glaubt, wenn sie
es aus den Lebensumständen des Künstlers »erklärt« hat. Und doch ist das
musikalische Thema »Ausdruck« von Gefühlen, nämlich intersubjektiv verständlicher,
Sprache gewordener Ausdruck stolzer oder trüber Gefühle des Komponisten, die,
wie gedämpft auch immer, in ihm lebendig sein mußten, wollte er in der Lage sein,
das Thema zu gestalten. Wenn Hanslick sagt, die Stimmung des arbeitenden
Komponisten nehme die »Färbung« des werdenden Werkes an,23 so gilt eher das
Umgekehrte. Und was ist die »Färbung« des Werkes anderes als der sprachliche
Ausdruck von Stimmung, von Gefühl? Das Gefühl ist daher, was zu sein Hanslick
ihm abspricht: »schaffender Factor«,24 wenn auch nur, neben der musikalischen
»Phantasie« im engeren Sinne, einer von zwei Faktoren. Es ist die Grundlage des
künstlerischen Urteilsvermögens, und es ist die treibende Kraft, wenn das
gestaltende Tun jene inspirierte Intensität erlangt, die nicht zu Unrecht oft als
schaffende Begeisterung oder als Schaffensrausch bezeichnet worden ist. Dagegen
Hanslick:
<S 3> »Gesetzt selbst, ein starkes, bestimmtes Pathos erfüllte [den Komponisten]
gänzlich, so wird dasselbe Anlaß und Weihe manches Kunstwerks werden, allein [...]
niemals dessen Gegenstand. Ein inneres Singen, nicht ein inneres Fühlen treibt den
musikalisch Talentirten zur Erfindung eines Tonstücks.«25
<S 1> Doch, auch ein inneres Fühlen, denn das innere Singen ist in ein Gefühl
gestimmt. Doch das Gefühl wird »vom Kunstwerk aufgesogen«, wie Hanslick im
Hinblick auf den ausnahmsweise aus dem Affekt heraus schaffenden Komponisten
richtig sagt. Es wird »aufgesogen« und
<S 3> »interessiert [...] sodann nur mehr als musikalische Bestimmtheit, als
Charakter des Stücks, nicht mehr des Componisten«.26
<S 1> Aufgesogen ist aber nicht aufgehoben! Ja, faktisch, so Hanslick selbst, ist
Musik stets Musik mit Gefühl, und je »subjektiver« ein Komponist ist, je mehr es ihm
um »Aussprache« seiner »Innerlichkeit zu thun ist«, umso subjektiver stattet er seine
Werke in den Grenzen »objektiven« Formens aus.
<S 3> »Ins Extrem gesteigert, läßt sich daher wohl eine Musik denken, welche blos
Musik, aber keine, die blos Gefühl wäre.«27
<S 1> So zutreffend das Letztere ist, so entschieden sei das Erstere bestritten: nicht
einmal denken lässt sich Musik, die »blos Musik« wäre. Entscheidend aber ist, daß
Hanslick eine solche Musik denken, sich vorstellen muß: weil es sie eben nicht gibt.
Nicht mehr vollständig aufgesogen vom Werk, so Hanslick, wird das Gefühl im Akt
der Reproduktion, der klingenden Darstellung. Gemeint ist das Gefühl des
ausführenden Interpreten:
9
<S 3> »Dem Spieler ist es gegönnt, sich von dem Gefühl, das ihn eben beherrscht,
unmittelbar durch sein Instrument zu befreien und in seinen Vortrag das wilde
Stürmen, das sehnliche Glühen, die heitere Kraft und Freude seines Innern zu
hauchen. Schon das körperlich Innige, das durch meine Fingerspitzen die innere
Bebung unvermittelt an die Saite drückt oder den Bogen reißt oder gar im Gesange
selbsttönend wird, macht den persönlichsten Erguß der Stimmung im Musicieren
recht eigentlich möglich. Eine Subjectivität wird hier unmittelbar in Tönen tönend
wirksam, nicht blos stumm in ihnen formend.«28
<S 1> »[I]n Tönen tönend«: das Gefühl des Sängers oder Spielers äußert sich
letztlich in den Tönen, die er singt oder spielt – und die doch angeblich unvermögend
sind, »bestimmte Gefühle darzustellen«.29 Hanslick spricht sogar von der
<S 3>»Offenbarung eines Seelenzustandes durch Musik«!30
<S 1> Woher aber kommt das Gefühl, das den Sänger oder Spieler »eben
beherrscht«, wie Hanslick schreibt, wenn nicht aus den Tönen selbst? Woher kommt
der sich offenbarende Seelenzustand, wenn nicht aus der Musik, in der er sich
offenbart? – »Formend«, »Schöpfung des Geistes aus geistfähigem [...] Material«,
wie Hanslick es vom Komponieren sagt,31 ist im übrigen auch das Reproduzieren.
Es ist gleichgültig, ob diese Schöpfung nur die Dauer der Echtzeit des Stückes in
Anspruch nimmt oder Stunden, Tage, Wochen, Monate, gar Jahre des immer wieder
Ansetzens mit den Gefühlen, die »stumm« den Prozeß des Formens leiten. Das
Resultat des Formens aber, sowohl des komponierenden als auch des
reproduzierenden, sind die vielzitierten »tönend bewegten Formen«: »beseelte«,
nicht »leere« Formen, wie Hanslick in seiner Autobiographie präzisiert.32 Alles
Beseelte aber ist in Befindlichkeiten, Gefühle gestimmt.
Hanslick selbst widerspricht der reinen Lehre seiner musikästhetischen
Grundlagenschrift selbst mehrfach. In der Autobiographie erinnert er sich seiner
frühen Lieder, deren, so wörtlich, »ungesucht innige Empfindung« seinen Freunden
zu Herzen gegangen sei. Und natürlich drängt sich die Frage auf, inwieweit er seine
radikale ästhetische Position in seinen Hunderten von Kritiken durchgehalten hat.
Schon 1922 hat sich Rudolf Schäfke durch das vielbändige kritische Schaffen
Hanslicks gearbeitet, um dieser Frage nachzugehen, mit dem Ergebnis, dass
Hanslick vor 1854, dem Erscheinungsjahr seiner berühmten Schrift, von einer
gefühlsästhetischen Position ausgegangen und nach 1854 allmählich zu ihr
zurückgekehrt sei. So schrieb Hanslick beispielsweise 1849, dass
<S 3> »kein zweiter Komponist einen solchen Schatz subjektiver Religion in seinen
Werken niedergelegt«
<S 1> habe wie Beethoven33 – womit nichts anderes gemeint sein konnte als der
Ausdruck subjektiver religiöser Gefühle.
<S 3> »Edle Kompositionen«,
<S 1> so derselbe Autor, der kurz darauf mit der »verrotteten Gefühlsästhetik«
abrechnen wird,
10
<S 3> »edle Kompositionen sind aus der Tiefe des Menschenherzens geholt und
müssen darum wieder das Menschenherz in seiner Tiefe bewegen. Sie halten
jeglichem, der Gleiches gefühlt, einen tönenden Spiegel entgegen, aus dem ihn sein
Eigenbild mit so treuen, festen Augen anschaut, daß sich die eigenen mit Tränen
füllen.«34
<S 1> An Beethoven bewunderte Hanslick später das »schöne, edle Pathos, das
Großartige in Empfindung und Phantasie«, und Schubert attestierte er, dem Lied
eine vorher nie dagewesene »psychologische Vertiefung« gestiftet zu haben.35 Vom
späten Brahms schrieb er:
<S 3> »Immer [...] bewußter findet er seine Stärke im Ausdruck gesunder,
verhältnismäßig einfacher Gefühle.«36
<S 1> Der italienischen Musik sagte Hanslick nach, dass ihr im Unterschied zur
deutschen »der Ausdruck ruhiger, seelenvoller Innigkeit nicht gegeben« sei, und der
französischen, dass sie einen »Mangel an Innigkeit und Vertiefung des Gefühls«
aufweise. Was nicht hieß: einen Mangel an Gefühl überhaupt. Die französische
Musik liebe es vielmehr
<S 3> »jede Leidenschaft bis zum lautesten Aufschrei, jede Empfindung auf die
äußerste Spitze zu treiben«.37
<S 1> Historisch betrachtet hatte die Musik
<S 3> »in der Schilderung der Seelenzustände, in der Stimmungsmalerei, kurz in
ihrem psychologischen Teile«
<S 1> große Fortschritte gemacht und
<S 3> »mit der psychologischen Sonde in jeden Gefühlsreflex einzudringen
gelernt«.38
<S 1> Man traut seinen Augen kaum: all dies vom selben Autor ausgesprochen, der
in jeder neuen, durchgesehenen Auflage seines ästhetischen Traktats weiterhin die
These vertrat, Musik könne keine Gefühle zum Ausdruck bringen...
In der Oper billigte Hanslick das »instinktive, stetige Vorwärtsdrängen« der
Gegenwartsproduktion
<S 3> »vom Rein-Musikalischen zum Charakteristisch-Dramatischen«.39
<S 1> Und der Programmmusik bescheinigte er, dass sie, »mit der deutlichen
Benennung an der Stirne«, ihr Sujet zwar nicht »darzustellen«, wohl aber darauf
»anzuspielen« und seine »Grundstimmung« zu evozieren vermöge.40 Ein Titel wie
»Aus der neuen Welt«, der
<S 3> »wie eine angeschlagene Stimmgabel nur den durchklingenden poetischen
Grundton des Stückes angibt«,
11
<S 1> lasse dem Hörer »Freiheit genug«: allerdings nur dann, wenn der Komponist
selbst sich die Freiheit gelassen habe, seiner musikalischen Phantasie zu folgen.41
In seiner Rezension von Joseph Joachims Ouvertüre In Memoriam Heinrich von
Kleist konnte Hanslick sogar schreiben, dass in dem Stück »der grübelnde,
melancholische Zug« Kleists lebe. Und er konnte den Ausdruck eines anderen
Gefühlskomplexes vermissen, nämlich
<S 3> »das leidenschaftliche Aufflammende, Gewaltige, ja Gewaltsame, das Kleists
Wesen kennzeichnet und seine Dichtungen prägt«.42
<S 1> Dennoch, so berechtigt es ist, Hanslick gegen sich selbst, gegen seinen
Traktat Vom Musikalisch-Schönen zu verteidigen, so bedenkenswert ist Rudolf
Schäfkes Urteil, dass in eben diesem Traktat und den darin vertretenen radikalen
Ansichten die »historische Bedeutung« Hanslicks liege:43 nicht nur, weil die
überspitzte These, Musik artikuliere keine Gefühle, ein willkommenes Korrektiv der
überzogenen Gefühlsästhetik war und ist, derzufolge der Sinn von Musik allein die
Darstellung und Erregung von Gefühlen sei. Die »historische Bedeutung« Hanslicks
könnte vielmehr auch deshalb in seiner überspitzten These liegen, weil diese, die fast
die gesamte Musik seiner Zeit verfehlte, Kategorien für das Verständnis von Musik
an die Hand gibt, die vom Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen zugunsten
anderer gestalterischer Intentionen so weit wie möglich abzusehen scheint. Ob die
Kontrapunktik des Barock so weit ging? Hanslick war natürlich dieser Meinung. Von
den zweimal achtundvierzig Fugen und Präludien aus Bachs Wohltemperiertem
Klavier etwa heißt es in seiner Abhandlung,
<S 3> »daß Niemand« in einem dieser Stücke »ein Gefühl werde nachweisen
können, das den Inhalt de[s]selben bilde«.44
<S 1> Nach dem Erscheinen von Philipp Spittas monumentaler zweibändiger BachMonographie ergänzte Hanslick polemisch, dass
<S 3> »Bachianer wie Spitta die Fugen und Suiten [ihres Meisters] mit ebenso
beredten und positiven Gefühlsergüssen interpretieren, wie nur ein subtiler
Beethovenianer seines Meisters Sonaten«.45
<S 1> Nun, »Gefühlsergüsse« finden sich bei Spitta nicht, wohl aber attestiert der
bedeutende Forscher seinem »Meister«, in seinen Kompositionen Gefühle zum
Ausdruck zu bringen. Zu Recht oder zu Unrecht? Bilde sich jeder sein eigenes Urteil
anhand einer Fuge aus dem ersten Band des Wohltemperiertem Klaviers, über die
Spitta schreibt:
<S 2> »Ein scharf geschnittenes Charakterbild bietet die D dur-Fuge, deren Thema
mit trotzigem Lockenschütteln das Haupt erhebt, um dann stolz und mit etwas steifer
Würde einher zu schreiten. Höchst interessante motivische Bildungen« – »jähes
Aufbrausen und pathetische Grandezza« – »nehmen einen nicht unbedeutenden
Raum ein, was bei der eigentümlichen Gestalt und der Kürze des Themas geboten
war [...].«46
<S 1> Am Klavier Angela Hewitt.
12
<Musik 5:
Johann Sebastian Bach:
Ausschnitt aus dem Wohltemperierten Klavier BWV 855
Angela Hewitt
Hyperion CDA67301/2
1‘15
<S 1> Von »trotzigem Lockenschütteln« hatte Spitta gesprochen, von »[S]tolz« und
»steifer Würde«, von »jähem Aufbrausen« und »pathetischer Grandezza«: man mag
das nuanciert anders empfinden, aber sind diese Charakterisierungen, wie Hanslick
behauptet hätte, völlig aus der Luft gegriffen? Für Hanslicks These, Musik bringe
keine Gefühle zum Ausdruck, werden die meisten Kenner in dieser Fuge und
allgemein in der barocken Kontrapunktik wohl kein gutes Argument sehen.
Dagegen wird man jede Menge Musik der Moderne, beginnend mit der SchönbergSchule, finden, die keine Gefühle im traditionellen Sinne mehr darstellt, sondern sich
auf sehr vermittelte Weise zum Ausdruck komplexerer Befindlichkeiten macht. Schon
am Horizont erblickt hat solche Musik zu Hanslicks Lebzeiten vielleicht Franz Liszt,
als er 1885 die Bagatelle ohne Tonart schrieb. Liszt hat sich in diesem Stück, das
ursprünglich Vierter Mephisto-Walzer (ohne Tonart) heißen sollte, zum advocatum
diaboli gemacht, indem er dem impliziten Hörer nicht nur die Möglichkeit tonaler
Orientierung verwehrte, sondern auch, soweit möglich, den Ausdruck von Gefühlen,
in die der Hörer sich mehr oder minder behaglich hätte einfühlen können. Pure
Bosheit? Kaum. Eher hätte Liszt auf diese Frage ironisch und zugleich doch voller
Vertrauen auf seinen künstlerischen Instinkt mit Goethe geantwortet, er sei »ein Teil
von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft«. Dagegen dürfte
Hanslick das Stück, sollte er es gekannt haben, was unwahrscheinlich ist, ähnlich wie
Liszts ersten Mephisto-Walzer empfunden haben, bei dem dem Hörer
<S 3> »eine Schlangenhaut über den Rücken läuft und die Zähne wehtun«,
<S 1> so Hanslick in einem Verriss.
<S 3> »Unfähig, aus eigenen Mitteln Schönes zu schaffen, ersinnt Liszt mit Absicht
das Häßliche.«47
<S 1> Und doch entsprach dieses Stück, ob schön oder häßlich, der Ästhetik von
Hanslicks Traktat mehr als das Allermeiste, was seit der Renaissance bis dahin
komponiert worden war. Auch darin liegt eine Ironie.
<Musik 6:
Franz Liszt: Bagatelle ohne Tonart
Cyprien Katsaris
TELDEC 8.42829, tr. 5; 2'36>
2‘41
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Mozarts Leben, nebst einer Uebersicht der allgemeinen Geschichte der Musik und einer Analyse
der Hauptwerke Mozart's von Alexander Oulibicheff, Ehrenmitglied der philharmonischen
Gesellschaft zu St. Petersburg. Für deutsche Leser bearbeitet von A. [Albert] Schraishuon.
Dritter Theil. Stuttgart 1847, 314 f.
Ebd. 310 f.
Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen: ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der
Tonkunst. Darmstadt 1976, 42.
Ebd. 32.
Ebd. 32 f.
Ebd. 32.
Eduard Hanslick, Aus meinem Leben. Mit einem Nachwort herausgegeben von Peter
Wapnewski. Kassel 1987, 26.
Ebd. 39.
Ebd. 150.
Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen 1.
Ebd. 2.
Ebd.
Ebd. 3 f.
Ebd. 77.
Zitiert nach Werner Abegg, Musikästhetik und Musikkritik bei Eduard Hanslick. Regensburg
1974, 75.
Ebd. 14.
Albert Schweitzer, J. S. Bach. Vorrede von Charles Marie Widor. Wiesbaden 1976, 616.
Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen V.
Ebd. 16.
E. T. A. Hoffmann, »Ludwig van Beethoven: 5. Sinfonie«, in Hoffmann, Schriften zur
Musik: Aufsätze und Rezensionen. Neubearbeitete Ausgabe. Nach dem Text der Erstdrucke
und Handschriften herausgegeben sowie mit Nachwort und Anmerkungen versehen von
Friedrich Schnapp. München 1977, 34.
Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen 31.
Ebd. 55.
Ebd. 52 f.
Ebd. 54.
Ebd.
Ebd.
Ebd. 55.
Ebd. 57.
Ebd. 18.
Ebd. 58; meine Hervorhebung.
Ebd. 104.
Hanslick, Aus meinem Leben 155.
Zitiert nach Rudolf Schäfke, Eduard Hanslick und die Musikästhetik. Reprint der Ausgabe
Leipzig 1922, Nendeln/Liechtenstein 1976, 63.
Zit. ebd. 69 f.
Zit. ebd. 63.
Zit. nach Abegg, Musikästhetik und Musikkritik bei Eduard Hanslick 65.
Zit. nach Schäfke, Eduard Hanslick und die Musikästhetik 64.
Zit. ebd. 65.
Zit. ebd. 67.
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Zit. nach Abegg, Musikästhetik und Musikkritik bei Eduard Hanslick 93.
Zit. ebd. 101 f.
Zit. ebd. 100.
Schäfke, Eduard Hanslick und die Musikästhetik 70.
Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen 19.
Dietmar Strauß, Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der
Ästhetik in der Tonkunst. Teil 1: Historisch-kritische Ausgabe. Mainz 1990, 52.
Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach. Bd. 1, Leipzig 1873, 776.
Zit. nach Abegg, Musikästhetik und Musikkritik bei Eduard Hanslick 74.
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